Die Bischöfe von Innsbruck - Martin Kolozs - E-Book

Die Bischöfe von Innsbruck E-Book

Martin Kolozs

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Beschreibung

Eine Reise in die Vergangenheit Innsbrucks - lebendig in persönlichen Erinnerungen!Verglichen mit anderen Bistümern ist die Diözese Innsbruck noch relativ jung: Ihre tatsächliche Eigenständigkeit erhielt sie erst 1968. Seither standen ihr fünf Bischöfe vor, deren pastorale und administrative Leistungen hier vorgestellt und gewürdigt werden: Paulus Rusch, Reinhold Stecher, Alois Kothgasser, Manfred Scheuer und Hermann Glettler.Jeder von ihnen hatte seine eigene Vision und sein eigenes Amtsverständnis und wurde auf unterschiedliche Weise in der Öffentlichkeit wahrgenommen. In seiner Hommage an die Bischöfe von Innsbruck gibt Martin Kolozs einen umfassenden Einblick in ihr Leben und Wirken für die "Kirche im Gebirge".

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ERINNERUNGEN AN INNSBRUCK

Band 7:

Martin Kolozs

Die Bischöfe von Innsbruck

Paulus Rusch

Reinhold Stecher

Alois Kothgasser

Manfred Scheuer

Hermann Glettler

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Vorwort und Dank
EINE KURZE GESCHICHTE DER DIÖZESE INNSBRUCK
PAULUS RUSCH (1903–1986)
CHRISTUS, DEM KÖNIG, UNSER LEBEN (1938/64–1980)
Einleitung
Der jüngste Bischof Europas
Kirche in Ketten
Kirche des Aufbaus
Kirche des Umbruchs
Kirche der Krise
Der missverstandene Bischof
Kirche der Zukunft
REINHOLD STECHER (1921–2013)
DIENEN UND VERTRAUEN (1981–1997)
Einleitung
Ein wirklicher Konzilsbischof
Die mutige Kirche
Ein unbequemer Volksbischof
Die bergende Kirche
Ein nimmermüder Altbischof
ALOIS KOTHGASSER SDB (*1937)
DIE WAHRHEIT IN LIEBE TUN (1997–2002)
Einführung
Ein Salesianer-Bischof
Die sympathische Kirche
Kein Schreibtisch-Bischof
Die Kirche Jesu Christi
Ein Kurzzeit-Bischof
MANFRED SCHEUER (*1955)
DER GEIST MACHT LEBENDIG (2003–2015)
Einführung
Der unerwartete Bischof
Kirche im Widerstand
Kirche, Gesellschaft und Politik
Konflikte mit „Wir sind Kirche“
Der unerwartete Abschied
HERMANN GLETTLER (*1965)
GEHT, HEILT UND VERKÜNDET (SEIT 2017)
Einführung
Was die Zukunft bringt
Was die Gegenwart braucht
SCHLUSSWORT DES VERFASSERS
ANMERKUNGEN
VERWENDETE UND WEITERFÜHRENDE LITERATUR
Martin Kolozs
Zum Autor
Impressum

Altes und neues Wappen der Diözese Innsbruck

Vorwort und Dank

Verglichen mit Größe und Alter anderer Bistümer ist die Diözese Innsbruck relativ klein und jung; die Grenzen ihres Jurisdiktionsgebietes sind enger gefasst als die Landesgrenzen Tirols und ihre tatsächliche Eigenständigkeit erhielt sie erst 1968, also vor genau 50 Jahren.

Während dieser kurzen Zeitspanne standen der Diözese Innsbruck fünf Bischöfe vor, deren pastorale und administrative Leistungen hier beispielhaft vorgestellt und gewürdigt werden sollen: Paulus Rusch, Reinhold Stecher, Alois Kothgasser SDB, Manfred Scheuer, Hermann Glettler.

Jeder von ihnen hatte und hat sein eigenes Amtsverständnis und wurde bzw. wird auf unterschiedliche Weise in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Dennoch verbindet sie alle ihre gemeinsame Sorge um die Kirche im Gebirge, damals wie heute. Diesen Zusammenhang aufzuzeigen, ist Ausgangspunkt und Ziel dieses Buches.

Danken möchte ich an dieser Stelle im Besonderen den hochwürdigen Herren Erzbischof em. Alois Kothgasser SDB, Bischof Manfred Scheuer und Bischof Hermann Glettler für die persönlichen Gespräche. Außerdem: P. Peter van Meijl SDS für seine wertvollen Literaturhinweise, Bürgermeister Vitus Monitzer aus St. Veit in Defereggen sowie Markus Renk und Markus Hatzer (Wagner’sche Buchverlag), die meiner Idee einer Chronik der Bischöfe von Innsbruck vorab das Vertrauen geschenkt haben.

Gewidmet ist dieses Buch dem Andenken an Bischof Paulus Rusch († 1986) und Bischof Reinhold Stecher († 2013).

Der Verfasser

EINE KURZE GESCHICHTE DER DIÖZESE INNSBRUCK

Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges (1914 bis 1918) und dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns begann für die Kirche Tirols ein neues Kapitel.1 So regelte etwa der Vertrag von Saint-Germain (1919/20), welcher zwischen den alliierten bzw. assoziierten Streitkräften und der neu geschaffenen Republik Österreich (damals: Deutsch-Österreich) geschlossen wurde, die Bedingungen der Staatengründung. Eine davon war u. a. der Verlust Südtirols an das Königreich Italien, wodurch die italienisch-österreichische Staatengrenze mitten durch das Jurisdiktionsgebiet der Diözese Brixen gezogen wurde, welcher Nordtirol zu diesem Zeitpunkt noch angehörte.

Anfang 1921 wurde infolgedessen vom Heiligen Stuhl ebenfalls eine Teilung der Diözese, entsprechend des neuen Grenzverlaufes, erwogen, was jedoch erst 1925 realisiert werden konnte. Damals wurde der ehemalige Weihbischof von Brixen, Sigismund Waitz (1864 bis 1941), zum Apostolischen Administrator von Innsbruck-Feldkirch mit allen Rechten und Pflichten eines Residentalbischofs ernannt, was einer kirchlichen Trennung des südlichen vom nördlichen Landesteil faktisch gleichkam. Der dadurch entstandene selbständige kirchliche Verwaltungsbezirk maß rund 12.200 km² und zählte insgesamt 400.000 Katholiken.

Als Sigismund Waitz 1934 zum Fürsterzbischof von Salzburg gewählt und im Jahr darauf gleichzeitig inthronisiert (27. Januar) bzw. als Apostolischer Administrator von Innsbruck-Feldkirch bestätigt wurde (17. Januar), kam es aufgrund von Kompetenzüberschreitungen immer wieder zu Konflikten und einem unhaltbaren Zustand. Um diesem Abhilfe zu schaffen, wurde im Jahre 1938 der erst 35-jährige Paulus Rusch (1903 bis 1986) durch Papst Pius XI. (eigentlich: Achille Ratti, 1857 bis 1939) zum Apostolischen Administrator von Innsbruck-Feldkirch, mit allen Rechten und Pflichten eines residierenden Bischofs, ernannt (15. Oktober) und von seinem zurückgetretenen Vorgänger Sigismund Waitz in Innsbruck/St. Jakob konsekriert (30. November).

In dieser Funktion blieb Paulus Rusch bis 1964, als durch die päpstliche Bulle Sedis Apostolicae die Apostolische Administratur Innsbruck-Feldkirch, ohne Veränderung der Grenzen, zur Diözese Innsbruck-Feldkirch erhoben (6. August) und infolge Paulus Rusch zum ersten Diözesanbischof des neu entstandenen Bistums ernannt wurde (26. November).

Völlige Eigenständigkeit erhielt die Diözese Innsbruck, wie wir sie heute kennen, im Jahre 1968, als die Abtrennung des Bundeslandes Vorarlberg als Diözese Feldkirch (8. Dezember) erfolgte. Ihr Gebiet umfasst etwa 9.845 km² (westlicher und mittlerer Teil von Nordtirol, bis zur Diözesangrenze Ziller-Fluss, danach Erzdiözese Salzburg sowie Osttirol)2 und zählt circa 385.500 Katholiken (Stand 2016) in sechzehn Dekanaten (Axams, Breitenwang, Hall, Imst, Innsbruck, Jenbach-Fügen, Lienz, Matrei am Brenner, Matrei in Osttirol, Prutz, Schwaz, Sillian, Silz, Telfs, Wilten-Land, Zams) mit insgesamt 246 Pfarrgemeinden. Schutzpatron der Diözese Innsbruck ist der Heilige Petrus Canisius (1521 bis 1597).3

Gebet für die Diözese Innsbruck

„Herr Jesus Christus,

du bist das Haupt der Kirche,

du bist das Haupt unserer Diözese.

Gib uns füreinander den Blick der Liebe,

das rechte Wort, die helfende Tat.

Behüte die Schwachen, erleuchte die Zweifelnden,

stärke die Verzagten, führe die Suchenden.

Hilf uns, einander zu geben, wessen wir bedürfen,

dass einer des anderen Last trage. Amen.“4

PAULUS RUSCH (1903–1986)

CHRISTUS, DEM KÖNIG, UNSER LEBEN (1938/64–1980)

Einleitung

Im Rückblick ergibt das Episkopat von Paulus Rusch kein einheitliches Bild. Das liegt vordergründig an der Dauer seiner Amtszeit – 42 Jahre: „Für die große Welt- und Kirchengeschichte, aber auch für den kleinen Sektor der Kirchengeschichte des Landes im Gebirge bedeutet die hier angesprochene Epoche eine derartig geballte Fülle von Schicksal und Veränderung, von Wechselbädern der Zeit und äußerer wie innerer Problematik, dass sich Ähnliches in einem halben Jahrhundert der letzten tausend Jahre nicht so leicht finden wird.“1

Je nach Betrachtungsweise lassen sich somit mindestens drei oder mehr Phasen seines Wirkens unterscheiden. Meinrad Schumacher etwa beschreibt in seiner Tiroler Kirchengeschichte die Abschnitte: 1938 bis 1945 (Rusch, der von den Machthabern nicht anerkannte Bischof), 1945 bis 1968 (Rusch, der visionäre Sozialbischof), 1968 bis 1980 (Rusch, der belächelte Traditionalist).2 Reinhold Stecher hingegen erkannte in Bischof Paulus Rusch den selbstbewussten Vor- und Versteher einer Kirche im ständigen Wandel: Kirche in Ketten (Nationalsozialismus), Kirche der Hilfe und des Aufbaus (Nachkriegszeit), Kirche des Umbruchs (Konzil), Kirche der Krise (1968er-Generation), Kirche der Hoffnung (Aktion Bruder in Not usw.)3, und charakterisierte ihn treffend: „Bischof Dr. Rusch war in keiner Phase seines Wirkens ein bequemer Mann, aber seine Wegbegleiter, seine Gläubigen, seine Zeitgenossen und die ihm Fernstehenden haben ihn als Mann mit Linie und Profil kennengelernt.“4

Ähnliches sagte auch Joseph Ratzinger (seit 2005: Papst Benedikt XVI., 2013 emeritiert) in einer Predigt zum 40-jährigen Bischofsjubiläum von Pauls Rusch im Jahre 1978: „In diesen vier Jahrzehnten, in denen Bischof Rusch hier im Gottesvolk priesterlich gedient hat, waren manche Höhen und manche Täler zu durchschreiten. Nach den Nöten des Krieges: der große seelische Aufbruch, der damals kam, das Verlangen, wieder ein gefülltes Christentum zu leben, das aus den reinsten Wassern des Glaubens seine Wurzeln nährt; der Aufbruch in ein Christsein hinein, das für immer Bollwerk gegen solche Vorgänge sein sollte, wie wir sie erlebt hatten; die Freude der neuen Lebendigkeit, der Weite und Größe der Ursprünge des Glaubens, die dann in die Jahre des Konzils hineinführten. Bischof Rusch hat dort Entscheidendes getan, dass die großen Gedanken des Glaubens, die gerade hier in Innsbruck von Josef Andreas Jungmann [Jesuit, 1889 bis 1975], Karl [Jesuit, 1904 bis 1984] und Hugo Rahner [Jesuit, 1900 bis 1968] und anderen gedacht wurde, Raum gewannen, fruchtbar wurden in die Weite der ganzen Kirche hinein. Und wahrhaftig ging es dabei nicht darum, wie es jetzt manchen scheint, den Glauben billig zu machen, ihn zu verwässern, sondern ihm das reine Wasser des Ursprungs in Fülle zu geben. Weil er so im Konzil gestanden hatte, konnte er auch hernach, ohne sich wenden zu müssen, in aller Nüchternheit Wegweiser aus der Weisung Jesu Christi für sein Bistum bleiben, mit dem ihm anvertrauten Hirtenstab die Scheidelinie ziehen zwischen Geist und Ungeist, zwischen wahrer und falscher Erneuerung.“5

Trotz dieser Vielschichtigkeit von Episkopat und Persönlichkeit des ersten Bischofs von Innsbruck, Paulus Rusch, sind vor allem die letzten Jahre seiner über vier Dekaden andauernden Amtszeit im kollektiven Gedächtnis geblieben und haben Meinung und Urteil über ihn nachträglich (negativ) beeinflusst. Während dieser Zeitspanne galt er seinen Befürwortern als „Fels im Strom der Zeit“ und seinen Gegnern als „Hort des Traditionalismus“, als „ewig Gestriger“, und wurde medial zum Spottbild eines Kirchenfürsten gemacht, der den Kontakt zur Gegenwart und seinen Gläubigen verloren hatte.6

Zwar kann dieser Vorwurf nicht zur Gänze ausgeräumt werden, aber ihm kann dennoch einiges Positives und weiter Erklärendes entgegengesetzt werden, was die schiere Einseitigkeit der Kritik aufwiegt und Paulus Rusch als Mensch und Bischof in ein versöhnlicheres Licht stellt; dazu sind die folgenden Seiten geschrieben.

Der jüngste Bischof Europas

Die Ernennung des erst 35-jährigen Paulus Rusch zum Apostolischen Administrator von Innsbruck-Feldkirch7 mit allen Rechten und Pflichten eines Diözesanbischofs und seiner anschließenden Weihe am 30. November 1938 in Innsbruck/St. Jakob kam überraschend. Erzbischof Sigismund Waitz, der das Amt zuvor erfüllt und aufgrund der Unvereinbarkeit mit seinem Episkopat in Salzburg vakant gestellt hatte, hätte sich seinen Mitarbeiter und Vertrauten, den nachmaligen Provikar Dr. Carl Lampert (1894 bis 1944) als Nachfolger gewünscht; auch der damalige Propst von Innsbruck, Dr. Josef Weingartner (1885 bis 1957) war diesbezüglich im Gespräch gewesen und wurde von der nationalsozialistischen Gauleitung wegen seiner liberalen Haltung favorisiert – in einem Artikel erinnert er sich an die Anfänge des damals jüngsten Bischofs der katholischen Welt in Europa: „Dr. Paulus Rusch hat bei seinem Amtsantritt die Leitung eines Kirchengebietes übernommen, das rechtlich noch keine Diözese und das durch keine alte Tradition zu einem fest gefügten Gebilde mit eigenem Gesicht zusammengewachsen war. Noch mehr, er war von Haus aus auch selber mit diesem Gebiet und mit seinem Klerus nicht allzu eng verbunden. Wohl hatte er ein paar Jahre in Vorarlberg gewirkt und darauf als Regens des Innsbrucker Priesterseminars mehrere Jahrgänge des Jungklerus herangebildet, die nach seinem Geist geformt waren und auf die er sich als eine Art Stoßtruppe stützen konnte. Aber weder seine Gymnasialjahre in Lindau noch seine theologischen Studien an der mehr internationalen theologischen Fakultät Innsbrucks hatten ihm eine ausgesprochen bodenständige Note aufgeprägt und dazu kam noch, dass er in seinem ungewöhnlichen Eifer für die Wissenschaft weithin an den Büchern sein Genügen fand und für geselligen Umgang kein Bedürfnis verspürte. Nimmt man dazu, dass er bei seiner Bischofsweihe erst 35 Jahre zählte und dass auch die glänzendsten Geistesgaben und der brennendste Eifer die praktische Erfahrung nicht restlos zu ersetzen vermögen, so war es von vorneherein absehbar, dass dem jungen Bischof zumal in den ersten Jahren manche Schwierigkeiten und Enttäuschungen nicht erspart bleiben würden. Auf der anderen Seite brachte aber Dr. Rusch für sein hohes Amt derart ungewöhnliche Eigenschaften mit, dass man an seine Amtsübernahme von allem Anfang an die größten Hoffnungen knüpfen konnte. Er verfügte über eine so vielseitige und tiefe theologische sowie allgemein-wissenschaftliche Bildung, dass sein Name schon während der Studienjahre über die Mauern des Canisianums hinaus gedrungen war. Mit diesem Wissen verbanden sich ein seltener Arbeitseifer, ein glühender Drang nach Betätigung, ein vorwärts stürmender, durch keine Zweifel und Bedenken gehemmter Mut und eine unermüdliche Energie. […] Was daher an der Tätigkeit des neuen Oberhirten zu allererst und zu allermeist in die Augen sprang, war die Tatsache, dass wir mit ihm einen sehr modernen Bischof erhalten hatten, der für die in der Zeit liegenden Ideen und Forderungen ein sicheres Gespür besaß und von vorneherein entschlossen war, neue und zeitgemäße Wege zu gehen.“8

Bestes Beispiel für die einerseits intellektuellen Gaben von Paulus Rusch und seinen andererseits starken Willen, neue Methoden der Pastoral auszuprobieren, ist sein 1935 erschienenes Buch „Gott will es – Zur sozialen Gerechtigkeit“, in dem er die Sozialenzykliken Pius’ XI. „Quadragesimo anno“ von 1931 nicht nur analysiert und in vereinfachter Sprache sowie anhand alltäglicher Beispiele dem (nicht theologisch geschulten) Leser zugänglich zu machen versucht, sondern darin auch seine eigene Auslegung und Beantwortung der sozialen Frage kundtut. Ein gewichtiges Problem, das ihn auch später als Bischof noch stark beschäftigen und ihm den Beinamen „roter Bischof“ eintragen wird.

Was letztlich zur (für alle und nicht zuletzt Paulus Rusch selbst) überraschenden Berufung in das Amt des Bischofs geführt hatte, darüber scheiden sich bis heute die Geister – in Helmuth Alexanders lesenswerter Biographie werden darüber verschiedene Mutmaßungen angestellt:

1. Bereits als Seminarist galt Paulus Rusch als eine Art „Supertalent“, das man für höhere Aufgaben (und Weihen) im Auge behielt.

2. Im Besonderen wurde die Ernennung Paulus Ruschs hinter den Kulissen von den Jesuiten betrieben, die sich von dem jungen, energischen und hoch gebildeten Regens des Priesterseminars einen wirksamen Schutz vor den antiklerikalen Umtrieben der Tiroler Gauleitung erhofften.

3. Größere Aufmerksamkeit des Vatikans zog Paulus Rusch dadurch auf sich, dass er im Frühjahr 1938 gegen die Erklärung der Österreichischen Bischöfe für die geplante Volksabstimmung über den Anschluss von Österreich an das nationalsozialistische deutsche Reich (18. März 1938) intervenierte und die Verlesung des Hirtenbriefes (27. März 1938) verhindern wollte, was letztlich zwar misslang, aber bei Papst Pius XI., der die die Rassenideologie der Nazis scharf verurteilte9, einen bleibenden Eindruck hinterließ.

4. Im Frühjahr 1938 traf Paulus Rusch während einer Sonderaudienz auf Papst Pius XI., der von dem talentierten Regens des Innsbrucker Priesterseminars bereits gehört hatte, und der den Standpunkt vertrat, dass Bischöfe bei ihrer Ernennung, neben allen persönlichen und fachlichen Qualifikationen, nicht älter als 50 Jahre sein sollten, was wiederum den erst 35-jährigen, bestens ausgebildeten und integren Paulus Rusch als perfekten Kandidaten für ein Bischofsamt erscheinen ließ.10

Welcher der hier genannten Punkte schlussendlich entscheidend für die Ernennung Paulus Ruschs war, oder ob eine Mischung aus allen dazu geführt hatte, muss an dieser Stelle unbeantwortet bleiben. Fest steht jedoch, dass in den neuen Apostolischen Administrator von Innsbruck-Feldkirch große Erwartungen gesetzt wurden, was sich auch darin zeigte, dass er mit allen Funktionen, Rechten und Pflichten eines Residentalbischofs ausgestattet wurde, obwohl er streng genommen keiner Diözese vorstand.

Kirche in Ketten

Aufgrund des geltenden Reichskonkordats11 vom 20. Juli 1933 musste die Ernennung von Paulus Rusch nicht an den Gauleiter von Tirol-Vorarlberg, Franz Hofer (1902 bis 1975), gemeldet werden, sondern wurde direkt dem Auswärtigen Amt in Berlin zur Kenntnis gebracht. Eine Folge daraus war, dass Gauleiter Hofer sich in der Entscheidungsfindung übergangen fühlte und seinen an sich schon antiklerikalen Kurs aus Kränkung noch intensivierte.

Eine weitere und von Paulus Rusch bestimmt nicht unbewusst gesetzte Provokation war der Leitspruch im Wappen des neuen Bischofs: „Christo regi vita nostra – Christus, dem König, unser Leben“, zweifelsohne als eine Art Gegenprogramm zu allem zu lesen, wofür Franz Hofer stand, insbesondere der absoluten Hörigkeit gegenüber dem Reichsführer Adolf Hitler (1889 bis 1945), zu dessen 50. Geburtstag (20. April 1939) Franz Hofer einen klosterfreien Gau Tirol-Vorarlberg versprach.

Vor diesem Hintergrund erinnerte sich Reinhold Stecher, der damals noch Schüler des Akademischen Gymnasiums in Innsbruck war, in einer von ihm 1973 gehaltenen Predigt: „In Innsbruck begann das Bischofsamt ohne jeden Glanz. Und das nicht nur, weil in unserem Bereich jede fürstlich-episkopale Tradition fehlte, sondern weil der junge Bischof eine Kirche in Ketten übernahm. Zu seinem täglichen Brot zählten Verhaftungen und Beschlagnahmungen, Aufhebung und Auflösung, Plünderung und Schikanen, Verhöre und verzweifelte Angehörige von Häftlingen, Todesnachrichten aus dem KZ und von der Front […]“12

Einen genaueren Einblick in die verschiedenartigen Repressionen, die Bischof Rusch persönlich13, aber vor allem die Kirche in Tirol und Vorarlberg in dieser Zeit erdulden musste, gibt ein siebzehnseitiger Bericht des Jahres 1940, der von Paulus Rusch, dem damaligen Seelsorgeamtsleiter Msgr. Michael Weiskopf (1890 bis 1966), Kanzler Msgr. Kassian Lechleitner (1885 bis 1946) und Provikar Msgr. Carl Lampert erstellt und an die Nuntiatur in Berlin geschickt wurde, in dem alle „einschränkenden Maßnahmen auf dem Gebiete des religiös-kirchlichen Lebens im Bereich der Apostolischen Administratur“14 aufgelistet und angezeigt werden:

1. Schließung von Kirchen und Kapellen

2. Maßnahmen hinsichtlich der Ausübung von Seelsorge

3. Maßnahmen gegen den Klerus (Verhaftung, Inhaftierung usw.)

4. Maßnahmen auf dem Gebiet der Schule

5. Schikanen gegen das Priesterseminar

6. Auflösung von katholischen Stiftungen und Vereinen

7. Maßnahmen gegen karitative Einrichtungen

8. Verbote gegenüber religiösem Schrifttum und katholischer Presse

9. Maßnahmen gegen katholische Laien (Absetzung, Verhaftung usw.)

10. Einschränkung auf dem Gebiet der Kirchenbeiträge

11. Von der Abfallsbewegung (aufgrund vehementer Abfallspropaganda)

Das Dokument ist ein ebenso berührendes wie erschütterndes Zeugnis über die bedrängte Situation der Kirche in Tirol und Vorarlberg und belegt auf das Anschaulichste ihre unnachgiebige Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus und seinen menschenverachtenden Überzeugungen: „Insgesamt hatte Tirol den Tod von elf Priestern zu beklagen, weitere dreizehn befanden sich in einem Konzentrationslager und zweihundertsechs waren inhaftiert worden.“15

Dass Teile des Dossiers über Radio Vatikan veröffentlicht und somit die gewaltsamen Pressionen gegen das religiös-kirchliche Leben in Tirol und Vorarlberg einer breiten Öffentlichkeit zur Kenntnis gebracht wurden, nahm Gauleiter Franz Hofer als weiteren Vorwand, um verschärft gegen Bischof Rusch – wegen des Verdachts auf Landesverrat –, den heimischen Klerus und kirchliche Institutionen vorzugehen. Dahinter steckte Methode und Absicht, „weil man“ – wie Paulus Rusch richtig erkannte – „mich kaltstellen wollte.“16

Neben den Plünderungen von Klöstern, der Aufhebung von Orden und zahlreichen Gauverweisen von Geistlichen kam es zu einer Welle von Verhaftungen und brutaler Verhöre durch die Gestapo.

Ein prominentes Opfer dieser verheerenden Maßnahmen war der Provikar des Tiroler Teils der Apostolischen Administratur Innsbruck-Feldkirch, Carl Lampert. Seine Verurteilung und Enthauptung am 13. November 1944 in Halle/Saale (Deutschland) wird oft mit Paulus Ruschs unnachgiebiger Haltung gegenüber Gauleiter Franz Hofer in Verbindung gebracht, dessen direkte Opfer u. a. nahestehende Mitarbeiter des Bischofs wurden: „Ich wurde selbstverständlich, so wie viele meiner Mitbrüder, von der NS-Regierung bedrängt […] es war das Prinzip, mich persönlich möglichst zu bedrängen, mir meine persönliche Umgebung zu nehmen, durch Verhaftungen und dergleichen, mein eigener [Provikar Dr. Carl Lampert] ist wiederholt verhaftet worden, und schließlich wurde er in Halle an der Saale enthauptet. Man hat mir wiederholt gesagt, dass dies alles Absicht sei, weil man kaltstellen wolle. Ich habe alles einigermaßen überwunden, bis die Zeit wieder besser wurde.“17

Tatsächlich kann aber nicht zweifelsfrei geklärt werden, in welchem Zusammenhang die spezielle antiklerikale Situation im Gau Tirol-Vorarlberg mit dem Tod von Carl Lampert zu tun hat, obwohl immer wieder „Beweise“ erbracht werden, wie etwa vermeintliche Aussagen von Franz Hofer, dass Provikar Lampert anstelle von Bischof Rusch hingerichtet wurde.18 Will man nämlich das Martyrium des 2011 selig gesprochenen Carl Lampert wirklich ernst nehmen und voll anerkennen, muss man sein ganzes selbstbestimmtes Wirken gegen den Nationalsozialismus19 und sein bewusst selbst gewähltes Bekenntnis für Jesus und seine Kirche („In Christi nomine pro ecclesia“) betrachten; erst durch diese Sichtweise ist er nicht nur Bauernopfer, sondern Blutzeuge.

Was die (Mit-)Verantwortung von Bischof Paulus Rusch am Martyrium von Provikar Carl Lampert betrifft, lässt sich nichts Eindeutiges feststellen, mit Ausnahme des Abschiedsbriefes von Carl Lampert an Paulus Rusch vom Tag seiner Hinrichtung, der ohne Vorwurf oder Anklage, sondern freundschaftlich und dankbar lautet:

„[…] Dir, lieber Paulus, in aller Eile herzlichen Abschiedsgruß und Dank und Segen für ein langes Wirken für den Herrn; – ach, ich hätte zu gerne mitgearbeitet!!!