Die Blaue Libelle - Klaus Germer - E-Book

Die Blaue Libelle E-Book

Klaus Germer

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Beschreibung

DIE BLAUE LIBELLE führt einen älteren, seriösen Herrn in die Welt des Verbrechens und der Gewalt. Als Handlanger einer berüchtigten Hamburger Unterweltgröße schreckt er auch vor Auftragsmorden nicht zurück. Bis er den falschen Zwilling umbringt...

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Alles frei erfunden.

Inhaltsverzeichnis

1. Déja Vu

2. Arbeitsende

3. Autowerkstadt

4. Neue Karriere

5. Lübeck

6. Volkan

7. Berlin

8. Management

9. Murat

10. Hassan

11. "Sag-niemals-Jenny-zu-mir"

12. Övelgönne

13. Boxen-Liebe

14. Hochzeit

15. Zwillingsfrau

16. Zwillingspech

17. Glück

18. Flucht

19. Motive

20. Horst

21. Falsch

22. Schweiz

23. St. Pauli

24. Billstraße

25. Hong Kong

26. Straßenseite

27. Aus

28. Erlöst

29. Barrier Reef

30. Dank

1. Déja Vu

Als ich im düsteren Parkhaus des Hanseviertels in mein Auto steigen wollte, blickte ich in das schwarze Loch einer Pistole. Dahinter einer in einem Wegwerf-Maleranzug mit Plastiktüten an den Füßen und Latexhandschuhen. Der Zeigefinger seiner rechten Hand krümmte sich langsam.

“Verflixt und zugenäht”, dachte ich, “das wird eng.”

2. Arbeitsende

Was tun, wenn man bei Klassentreffen mitkriegte, wie sich die Freunde über den Vorruhestand unterhielten und sich darauf freuten, die angesammelten Summen auf Fernreisen auf den Kopf zu hauen? Keiner wollte mir so recht glauben, dass ich bis zum bitteren Ende arbeiten müsste, weil sich in fünfundvierzig Erwerbsjahren einfach keine großen Reichtümer angesammelt hatten.

Die Jahre gingen ins Land und das Geld wurde nicht mehr. Die zu erwartenden Erbschaften waren schön und die Lebensversicherung nett, die würden uns aber auch nicht durch das gesamte Rentnerdasein bringen. Jedenfalls nicht, wenn man sich mal was gönnen wollte.

Es blieben Lotto oder ein Verbrechen.

Ich entschied mich für‘s Verbrechen.

Meine Strategie war einfach: Als unbescholtener seriöser älterer Herr würde ich mich in Bereichen bewegen, wo sich sonst nur einschlägig bekannte unseriöse Menschen tummelten, das würde ich ein paar Deals lang tun und hätte dann mein Alterszubrot zusammen. Ich würde vor keinem Abgrund zurückschrecken.

Grau ist alle Theorie.

3. Autowerkstatt

Der Anblick des schönen Karmann Ghia veränderte alles.

Alles.

Ab jetzt gab es vor dem Karmann und nach dem Karmann.

In der seltenen Hamburger Sonne stand er da. Und jeder weiß: Wenn es in Hamburg schön ist, dann ist es richtig schön.

“Hübsch, was?”

Ich drehte mich um.

“Jim” stand in Schreibschrift auf seinem Overall. Darüber ein südländisches Gesicht, aber nur ein bisschen.

Ich wieder: “Das war mein erstes Auto. Neunundsechziger Karmann.” Innen schon Gummischalter, außen noch kleine Blinker und Rückleuchten. Das einzige Auto, dass die Unterschrift seines Designers esstellergroß und stolz auf der Motorhaube trug wie eine Schildkröte ihren Panzer. Die Motorhaube war natürlich hinten.

Hamburg-Borgfelde. Hier arbeitete ich. Grob Hafennähe, früher Arbeitergegend, deshalb bevorzugtes Bombenabwurfziel während der Operation Gomorrha 1943. Alles kaputt. Nach dem Krieg wurden nur die Häuser nördlich der Eiffestraße, der West-Ost-Arterie vom Hauptbahnhof bis in die östlichen Vororte Hamburgs, wiederaufgebaut. In Richtung Süden blieb eine riesige Brache. Viel Platz, nichts drauf, irgendwann kam das Verkehrsamt, dann Führerscheinstelle, An-, Um- und Abmeldeabteilung und so weiter. Exporteure stießen dazu: Alte Volkswagen nach Ghana, alte Taxis in den Iran. Dann wie die Schmeißfliegen Firmen, die sich auf das Ausschlachten von Bussen spezialisiert hatten, Schilderdrucker, Übersetzer, Hinterhofwerkstätten, Speditionen, Polsterer. Und irgendwann ging’s wieder nach oben: Auch Mercedes, Porsche, Jaguar hatten hier ihre eigenen Niederlassungen. Als neuestes Maserati, auf dem Hof des Nissan-Händlers.

Ich stand kurz vor der Pension, stromerte mittags lange durch die Gegend. Manche verlotterten Höfe sahen richtig romantisch aus, mit Autowracks wie schlafende Tiere. Ein Pole hatte sich darauf festgelegt, einen alten Benz auf den anderen zu stellen. Einige Plätze hatten bis zu zwanzig Briefkästen am Maschendrahtzaun neben ihrer Einfahrt hängen.

Manchmal ging ich auch auf die Höfe und sah mir einige besondere Schmuckstücke an. Einmal ließ ich prüfen, ob man den alten Opel meiner Mutter noch durch den TÜV bringen könnte. Könnte man, wäre aber zu teuer. Dann eher nicht. Der Chef hatte das Schwarze unter den Nägeln eingewachsen.

An der Süderstraße stand ich nun vor einer dieser typischen Werkstätten: Schmuddelig und unordentlich. Dabei wäre es doch ganz einfach, alles ein wenig einladender zu machen. Aber eines war an diesem Laden hier anders: Die ausgestellten Autos waren nicht ohne. Opels, Peugeots, natürlich VWs und die unvermeidlichen Mercedes’, alle mindestens fünfzehn Jahre alt. Aber diese sahen halbwegs gepflegt aus. Als ob sich jemand um sie gekümmert hätte.

Er nickte. Wir redeten über den Karmann, er hatte mehr Ahnung als ich. Er schien mich zu mögen, das ging mir öfter so.

“Willst du ’n Kaffee?”

Alles gleich per Du hier. Ich folgte ihm in das staubige Büro.

Er ging an eine erstaunlich saubere Espressomaschine.

“Alte Autos, neues Leben.” Ich las ihm vor, was auf der Rückseite seines klinisch reinen Overalls stand.

Er rollte mit den Augen.

“Wir sind mit dem Namen noch nicht durch. „‘Wir hauchen Ihren Autos neues Leben ein’ trifft den Kern eher, ist aber irgendwie langatmig.”

Es roch nach fertigem Espresso, und er hielt mir eine saubere Hand entgegen:

“Cem, also Jim.”

“Olaf.”

Er war Mitte-Ende Dreißig, hatte braune Augen und dunkles welliges zurückgekämmtes Haar. Schlank und kräftig, ungefähr einen Meter achtzig groß. Autoverkäuferrolex. Sympathisch. Früher bestimmt Mädchenschwarm. Ein Menschenfänger.

“Zucker?”

Er hatte diese weiche Hamburger Sprachfärbung, wie Bierschaum, sympathisch. Büschen atemlos bei allem, was er sagte.

Ich schüttelte den Kopf.

“Du guckst dir 50 Jahre alten Karmann an und träumst von der guten alten Zeit. Ein Traum für Autohöker. Aber der ist schade schon vergeben.” Er sprach ein bisschen komisch.

Meine einzige Begegnung mit einem Autohändler lag fünfundzwanzig Jahre zurück und war kompliziert. Am Ende hatte ich ihn beschissen und er war sauer. Immerhin.

“Wie oft hörst du, dass Menschen an ihr erstes Auto denken? ”

Mit Pathos konnte man bei den Menschen aus dem Nahen und Mittleren Osten punkten.

Er verdrehte die Augen. Bei dem hier nicht.

Ich hielt es nicht mehr aus und fragte, was mich schon länger wurmte.

“Warum sehen diese Läden hier in der Gegend alle so verkommen aus? Wieso macht hier nirgends mal einer Ordnung, äußerlich?”

Er ging drauf ein: “Natürlich hast du Recht, aber ich bin eben nicht immer hier und habe keine Lust, Zeit mit Putzen zu verdaddeln.”

“Außerdem haben wir noch einen Laden, Winterhude, der ist sauberer, da machen wir nur Einzelstücke fit, richtige Edelsteine. Da gehört der da auch hin.” Er zeigte auf den Karmann. “Was machst du denn so?”

Ich erzählte es ihm.

“Wie alt bist du?”

Ich erzählte ihm auch das.

“Bist du selbständig?”

Ich verneinte.

Als ich sein Firmengelände verließ, hatte er mir ein Jobangebot gemacht. Als Innendienstleiter. 50€ die Stunde auf die Hand, Einzelheiten später.

Drei Tage später ging ich wieder hin, sagte zu.

Jim trug dieses Mal keinen weißen Overall, sondern einen schwarzen und dazu blankpolierte institutionelle Sicherheitsschuhe. Frisch rasiert, ordentlich gekämmt und seine Hände waren wieder sauber. Oder immer noch.

Aber Chaos im Laden: Er räumte und wischte auf seinem Schreibtisch herum, grinste mich an, machte eine Geste durch die Luft und legte los: “Bring hier System rein, innen wie außen.”

Handschlag.

Vier Wochen später war ich offiziell im Ruhestand und fing gleich bei Atatürk an.

So hieß der Laden tatsächlich. Sein Vater, in den sechziger Jahren als blutjunger Landmaschinemechaniker aus der Türkei gekommen, war das Improvisieren gewohnt und konnte sich seine Stelle aussuchen. Der Autoexport fing gerade an, und Jims Vater stellte keine Fragen. Er fand eine Stelle, wo er über der Werkstatt wohnen und eine Familie gründen konnte. Später übernahm er den Laden, gab ihn an seinen Sohn weiter, aber wohnte dort noch immer. Mit seiner Frau. Über der Werkstatt.

Daher hieß die Bude weiterhin “Atatürk”.

Später erfuhr ich auch den Rest: Jim wuchs mit einem nur unwesentlich älteren Bruder genau dort auf, sie hatten eine wunderbare Jugend. Weil der Alte immer davon träumte, das Industriegebiet zumindest wohnlich zu verlassen, gingen sie im neutralen Winterhude aufs Gymnasium. Aber so richtig wollte dann doch keiner von der Familie dort weg, darum blieben sie. Sie hatten mit zehn ihre ersten Autos getunt, und sie waren beide gut darin. Jim wollte nichts anderes als Autos, sein Bruder war etwas schlauer:

“Bruder hör zu: Wir können beide Autos, aber ich kann auch Autos, wenn ich Arzt mache. Wenn du aber nur Autos machst, kannst du nur Autos.”

“Ja Mann, aber wenn ich nur Autos mache, dann mache ich auch Knete, wenn du Doktor machst.”

Beide hatten Deutsch Leistungskurs; beide mit überdurchschnittlichen Resultaten.

Nach dem Abitur trennten sich ihre Wege: Sein Bruder studierte Medizin, ergatterte ein Stipendium in Harvard und verliebte sich dort in eine lebenslustige Kommilitonin aus Kalifornien. Er folgte ihr und landete als Herz-Lungen-Spezialist in einer Privatklinik in Palo Alto.

Jim schlug nach dem Alten: Er machte sein Abitur, dann eine Lehre zum Automechaniker in einer auf alte Mercedes spezialisierten Werkstatt in Blankenese. Auf der Berufsschule lernte er Lisa kennen. Sie war die Tochter der Oldtimer-Koryphäe ganz Norddeutschlands. Er machte ihr, nicht nur deswegen, schöne Augen und landete tatsächlich bei ihr.

Lisa und Jim waren gleichzeitig fertig, und wollten sich gleich für die Meisterschule bewerben. Auf der romantischen Ebene ließen sie es ruhig angehen und trennten sich sogar für zwei Jahre. Stellten dann aber beide fest, dass das Gras auf der anderen Seite auch nicht grüner war. Vor allem Lisa, die sogar verlobt war und fast vor dem Traualtar gelandet wäre. Sie hatten aber in all dieser Zeit locker Kontakt gehalten, waren sich allerdings nur selten begegnet. Zudem hatte Lisa nach ihrer aufgelösten Verlobung eine Auszeit gebraucht und war mit einer Freundin ein halbes Jahr durch Australien gegurkt. In wechselnden alten Holdens...

Dann aber begann es wieder leicht zu glimmen und zu flimmern und auf der Meistersprechungs-Feier der Hamburger Kfz-Innung kam es zur Eruption. Zuerst ging Lisas Mutter zu Jim und gratulierte ihm. Er machte sie seinen Eltern und seinem extra aus den USA angereisten Bruder bekannt. Der raunte ihm zu: “Ich bin stolz, Bruder. Was ist Harvard-Doktor gegen guten deutschen Handwerksmeister, hm? Übrigens, was mit Lisa? Sowas lässt du gehen? Brauchst du Hinterkopf?”

Die einzigen, die der hausbackenen Feier konzentriert und stolz folgten, waren Jims Eltern. Sein Bruder hatte zwar schon mit 23 Jahren seinen ersten Doktortitel erworben und seine Eltern zur entsprechenden Zeremonie in Harvard eingeladen. Mit Business-Class-Flug und Luxushotel – das ging, denn er verdiente sich teils horrende Summen mit dem Service und Tunen der Porsches und Corvettes seiner high-society-Mitstudierenden hinzu. Aber das hier war etwas anderes. Ein Deutscher Meisterbrief!

Jims Eltern waren nicht sehr gebildet und sprachen auch nach vierzig Jahren Hamburg kein fehlerfreies Deutsch. Aber sie hatten beide eine gehörige Portion Mutterwitz; gepaart mit einer wuchtigen Prise Bauernschläue ergab das eine explosive Mischung, die jedes gesellige Beisammensein zum Vulkan machte. Die Partys auf dem Hof und in den Hallen der Werkstatt waren in den Kreisen von Jims Schulfreunden legendär. Noch Jahre nach dem Abitur ließ jeder seiner alten Freunde seine Eltern grüßen.

All dies war Lisas instinktsicherer Mutter nicht entgangen, die Gedankenfolge vom herzlichen Händeschütteln mit Jims Eltern bis zum endgültigen Heranwinken ihres eher ruhigen Mannes muss etwa so abgelaufen sein:

‚Ach da ist ja Jim – gut sieht er aus – verdammt gut - warum hat der Lisa denn ziehen lassen – ach nein, sie hat sich ja von ihm getrennt – ist das sein Bruder – wow – und oh je, seine Eltern – sehen ja ein bisschen verhärmt aus – sein Vater kommt heran – er gibt mir höflich die Hand und lächelt - ach ist der süß - gratuliert mir zu Lisa – ich fasse es nicht - und seine Mutter - trägt eine Cartier – ob die echt ist – ja die ist echt – Gold – hier ist der Bruder wieder – war der nicht Arzt – die Mutter lacht – alle lachen – Lisa fühlt sich wohl bei denen – sehr wohl – so wohl – wo bleibt denn... - ach da ist er ja – das macht Spaß - vielleicht können wir ja noch...‘

Jims Bruder hatte ihn während der allgemeinen Begrüßungsorgie kurz beiseite genommen und zuerst verstand Jim ihn nicht, sprach er englisch, ach nein, es war Schriftdeutsch, das sprach er mit ihm sonst nie:

“Pass auf Bruder, das braucht jetzt eine ordnende, eine starke Hand, ich helfe dir, du musst dir diese Frau jetzt ein für allemal sichern, hast du das verstanden?”

Jim nickte schwer atmend.

"Mein Vorschlag: Wir gehen alle irgendwohin, ok?”

Jim nickte nochmals.

“Ok, ich checke ab wie wo was und ob alle wollen; die wollen, das sage ich dir, und du bringst das mit der Frau über die Bühne, ich will euch nie wieder getrennt sehen, ist das klar? Hast du mich verstanden?”

Nun hatte auch Jim selbst erkannt, dass hier eine Chance lag, und er wäre auch von allein auf die Idee gekommen, dass hier Großes dabei war, zusammenzuwachsen. Dieser letzte Schubser seines Bruders half ihm, zu fokussieren. Er nickte nochmals.

“Ok, ich mache das jetzt.”

“Gut. Und hör auf, mit Fingern so in Tasche rumzufummeln, was sollen Leute denken?”

Sein Bruder rutschte wieder in ihren üblichen Sprachduktus, für ihn war das erledigt. So wie Alfred Hitchcock Filme drehte: Alles im Kopf fertig, kurz umsetzen, nächstes Projekt.

Jim setzte alles auf eine Karte: Er ging zu Lisa, griff sie am Ellenbogen und steuerte sie aus dem Quirl von Menschen und Geschnatter, mittendrin seine über das ganze Gesicht lachenden Eltern, in etwas ruhigere Gewässer.

“Ist das nicht süß, unsere Eltern verstehen sich prima, und dein Bruder lädt uns alle, hinterher, mit allen meinen Schwestern, schade, dass der schon vergeben ist...”

“Willst du mich heiraten?”

“...ein, er checkt gerade...was?”

“Wollen wir heiraten?”

Es war wie im Film, er sprach sehr laut, abgehackt, um seinen Drei-Wörter-Text nicht durcheinander zu bringen, aber doch höchst präzis in genau dem Moment, in dem alle anderen halbwegs ruhig blieben, er hob die letzte Silbe unnötigerweise soweit an, dass sie nach dem Fragezeichen grollend zu Boden glitt und sein donnernder Antrag, so unausgegoren er auch sein mochte, wurde von allen als mutige Heldentat anerkannt. Wer schreit, hat Recht.

Die versammelten Großfamilien, und mit ihnen einige andere Meisterfeierer, die das ganze Theater mitbekommen hatten, schauten erst Jim fragend an, dann Lisa, nach dem Grollen. Dann wieder Jim. Wie beim Tennis. Jim fummelte ständig mit irgendwas in seiner Hosentasche herum. Lisa hatte erst einen hochroten Kopf bekommen, auf dem machte sich dann aber schnell ein triumphierendes Grinsen breit. Ihre Augen fingen dann doch etwas zu schimmern an, und ihr schöner, roter, leicht breiter Mund öffnete sich:

“Ja!”, schrie sie, “Na klar!” und betrachtete erstaunt, fast zärtlich, das Gebilde, das Jim aus seiner Tasche zog: Einen in letzter Sekunde aller Schlüssel beraubten Schlüsselring, den er ihr unfallfrei über ihren linken Ringfinger schob.

“Dann nimm das als Beweis meiner Treue und Redlichkeit!”

Und das war‘s.

Danach ging‘s in den Hafen, wo Jims Bruder über einen befreundeten BMW-501-fahrenden Facharzt einen Tisch für zehn mit Elbblick ergattern konnte.

Alle lagen sich in den Armen und hatten eine tolle Zeit.

“Bruder, so geht Drama.”

Sein Bruder lehnte mit ihm am Geländer der Terrasse, unter ihnen die Elbe, und schnorrte einen Zigarillo.

“Hätte nicht gedacht, dass du extrem gehst. Hut ab. Auch tolle Rede Mann: ‘Treu und redlich.’ Und nun?”

Jim lachte.

“Ich zieh durch, Alterchen. Hab Vater gesprochen, nochmals ordentlich Hand angehalten.”

“Bruder. Meine Ehrfurcht wächst.”

Und so wurden zwei Familien mit Benzin im Blut zusammengeführt und es kamen zwei Töchter hinzu, Mercedes, klar, und Isabella, und Lisa und Jim führten zwei Werkstätten. Sie die elegante Oldtimergarage ihres Vaters in Winterhude und Jim das Gewusel in Borgfelde.

All dies erfuhr ich im Laufe von Wochen und Monaten, Stück für Stück.

Zum Beispiel, dass der Name „Atatürk“ für eine gewisse Beunruhigung in Islamisten-Kreisen in Hamburg sorgte, das verlief aber dann irgendwie im Sande.

Dass es durchaus eine Art Mafia in Borgfelde gab, die aber ebendieser Werkstatt hier nicht so wirklich etwas anhaben wollte oder konnte. Oder nur kaum.

Wie auch immer, mein neues Leben begann, als ich morgens um acht bei Jim auftauchte und in die Feinheiten meines neuen Jobs eingewiesen wurde:

„Komm wann du denkst, geh wann du denkst, sag nur Bescheid. 50€ die Stunde cash, Lohntüte einmal die Woche, schreib bitte jede Stunde auf. “ Und dann: „Autos haben wir genug, wir haben mehrere Wechselnummern, nimm dir, was du möchtest, aber sprich das mit dem Boss ab.“

Der „Boss“ hieß Volkan, war zwei Meter groß und wirkte immer mürrisch, hatte aber, gemäß Jim, „Mechaniker-Zauberhände und alle respektieren ihn, da gibt es nie Ärger im Shop und mit Kunden.” Er wurde im Laufe der ersten Wochen mein ständiger Ansprechpartner und Ratgeber.

Ich wurde in der Werkstatt als „Olaf, neuer Innendienstleiter“ vorgestellt, ich gab allen die Hand, man war per Du, Geschäftssprache war Deutsch und als zweites, was mich wunderte, Englisch.

„Wir sind immer zehn Mann hier, zwei Deutsche, Volkan und ich, ach nee, drei, du ja auch, das sind elf in toto, ein Palästinenser, ein Ghanaer, ein Südafrikaner, ein Russe, ein Japaner, ein Kolumbianer, ein Türke und ein Finne, der macht Mechatronik. Plus Hiwis für Verschiffungen plus alles das, was du für nötig hältst, Putzfrau, Catering, Juwelier?“

Jim lachte, Volkan nicht.

„Hiwis?“

„Wenn wir eine Ladung was auch immer nach zum Beispiel Uruguay fertig machen, dann holen wir uns ein paar, die spanisch sprechen, auch wegen der Papiere. Oder wenn irgendeiner zehn absolut identische Ladas haben will, dann brauchen wir Russen. Ansonsten machen wir hier ausschließlich Autos fertig; alte neu, kaputte heil, rote grün, ohne TÜV mit, bauen ein, bauen um, von Smart bis Bulli. Porsche bis Maserati. Sogar Tesla, darum Heikki, der Finne. Keine LKW, keine Mopeds. Wir können auch alt, aber das geben wir Lisa.“

Ich machte meine Runde und stellte schnell fest, dass sich trotz des Nationengemischs so etwas wie eine gemeinsame Sprache, oder sagen wir Kommunikation herauslas. Irgendein frecher Kerl zeigte auf meine grauen Haare und nannte mich, auf deutsch, „Alter Mann“, und das sollte an mir hängen bleiben. Lange.

Zu meiner Erstausstattung gehörte ein neues MacBook, mit dem ich allerdings keinerlei Zugriff auf irgendetwas hatte sowie ein alter aber penibel gesäuberter und innen wie neu aussehender Opel Corsa.

„Hat Bluetooth, neue Maschine, Klima und bleibt erstmal deiner, wenn zu klein oder was Cooles brauchst, sag Bescheid“, brummte Volkan und gab mir mit einer fast zärtlichen Bewegung die Schlüssel.

Ich machte mich an die Arbeit.

Nach drei Monaten durchgehender Sechzig-Stunden-Wochen lud Jim mich zu sich nach Hause ein.

„Irgendwas Besonderes?“

„Nein, wollte nur mal in Ruhe mit dir über alles reden, in der Firma hat man ja keinen Frieden.“

Und das stimmte, wir sahen uns zwar fast täglich, aber meine Arbeit war für ihn etwas unter der Sichtachse.

Er wohnte in der Oderfelder Straße in Eppendorf Ecke Harvestehude in einer traumhaften Penthouse-Wohnung mit Blick.

Wir standen auf seinem Balkon und bewunderten die Aussicht.

„Gleich da drüben, auf der anderen Straßenseite, wohnt Murat, den kennst du doch auch.“

Murat war sein bester Freund seit Kindertagen, sie waren zusammen aufs Gymnasium gegangen und Murat kam mindestens zweimal die Woche vorbei. Mal nur für einen Kaffee, mal für fachliche Dinge. Er fuhr einen mittelalten Benz, den er zu jeder Jahreszeit in perfektem Neuzustand haben wollte.

Volkan verstand das nicht: „Kann sich alles leisten, steckt aber Höllengeld in alte Schleuder. Weißt du, was Frau fährt?“

„Nein, was?“

Aber Volkan hatte das Interesse an diesem Thema verloren und wandte sich wieder einem Vergaser zu.

So war es mit Volkan.

Wir standen auf Jims Balkon? Terrasse?

„Wir nennen das ‚Deck‘, wie die Amis. Eine Porch wäre zwar cooler, aber Deck geht auch, Alter Mann.“

Immer komplett „Alter Mann“, alle. Fast alle. Nie in englisch oder sonst einer Sprache, nie nur „Alter“ oder hamburgisch „Aller“ oder „Oller“, nein: Immer komplett respektvoll „Alter Mann“. Für mich war das ok. Hauptsache ich kam nicht ans andere Ende dieses furchtbaren “Digga”, welches einem in Bus und Bahn ständig um die Ohren flog.

„Olaf, wie schön!“

Lisa kam angeschneit. Wie immer mit einem Auftritt wie eine A-Prominente, die bei einer Gala einen Riesenscheck an eine Wohltätigkeitsorganisation überreichen soll. Sie war der Hammer und sprach mich immer mit meinem richtigen Namen an.

Sie umarmte mich herzlich, während sie schon oder noch Anweisungen in den Raum schmiss: „Ich esse jetzt was mit euch, dann düse ich zu diesen Leuten da und die Mädels schlafen bei meinen Eltern und nehmt euch auch Nachtisch und Jimmy…“

Jimmy? Ich guckte ihn an. Er verdrehte die Augen. „…morgen sind wir bei deinen Eltern und dann, warte mal, wann war noch mal…?“ Ihr Mund blieb offen, während wir uns voneinander lösten.

„Wann war was?“

„Egal – kommt Küche, essen.“

Die Küche war komplett verglast und hatte in der Mitte als Tisch eine alte Werkbank aus irgendeiner Werkstatt aus den Fünfzigern, die so sauber aussah, dass man sein Essen direkt von der Tischplatte lecken würde.

„Der berühmte Tisch!“

„Ja. Hochzeitsgeschenk von meinem Bruder, den hat er irgendwo im Mittleren Westen aufgegabelt. Da steckte ein Beil derart fest drin, dass zwei Mann daran zerren mussten, um es da raus zu kriegen.“

Lisa kaute und wollte schon wieder loslegen, aber Jim hob nur kurz die Hand und erzählte seine Story zu Ende.

„Und dann war es raus und da war dieser Spalt und was machen wir mit dem, haben wir uns gefragt, na ja, und dann haben wir den mit Messing gefüllt, und da ist was drin, das sagen wir aber nicht.“

Jeder wusste, dass in dem Spalt der Schlüsselring war, den Jim Lisa als Spontan-Verlobungsring angesteckt hatte, während sie eine exakte Replika dieses Schlüsselrings aus Platin an der linken Hand trug.

„Würde sogar als Schlüsselring funktionieren,“ hatte Volkan mir in einem seltenen Anfall von Schwatzlust zugeflüstert.

„Genau“, Lisa war fertig mit Kauen und konnte der Geschichte nichts hinzufügen. Gute Story.

Sie war sehr groß, breitschultrig und nicht wirklich gertenschlank, eine Erscheinung, die jedem Raum Erleuchtung gab. Sie war nicht superschlau, und ihr Riesenvorteil war, dass sie genau das wusste. Jedem war aber klar, dass sie ein Genie mit Autos war, sie kannte die Geheimnisse jedes für sie relevanten Motors, also mindestens fünfzig Jahre alt. Und dabei sah sie trotz täglicher Schrauberei an Motoren, meistens sogar am Offenen Herzen, immer sauber und rein wie ein frisch geduschtes Landmädel aus.

„Wie machst du das?“

„Immer Handschuhe aus Baby-Geißenleder. Hauteng. Die armen Tiere.“

Wir aßen von ihr höchstpersönlich zubereitete Sandwiches und tranken alkoholfreies Craftbier. Jim trank überhaupt nicht, Lisa nicht mehr, seit eine ihrer Schwestern im Vollrausch einen kapitalen Verkehrsunfall mit drei Toten verursacht hatte und seitdem querschnittsgelähmt und psychisch und finanziell ruiniert im Rollstuhl saß.

Sie fragte mich über meine Kinder aus und meine Frau und dass man sich ja mal kennenlernen müsse, und nach einer Stunde sprang sie auf und düste ab. Sie musste einem Kunden die Vorzüge einer Vollbehandlung seines sechsundfünfziger SL (Flügeltüren) in ihrer Werkstatt schmackhaft machen.

„Das kostet sechsstellig“, sagte Jim und wir lauschten dem satten aber dennoch unaufdringlichen Sound ihres siebenundsechziger SL (Pagode), als sie drei Stockwerke unter uns vom Hof fuhr.

„Die Garagen da unten waren fast so teuer wie die ganze Bude hier.“

Jim lachte wieder und blinzelte mich freundlich an.

„Jetzt mal im Ernst, Jim, wie bleibt sie immer so sauber? Ich mache mich schon dreckig, wenn ich nur mal mein Fahrrad aufpumpen muss.“

„Ist ihr Ding, in jahrelanger Kleinarbeit hat sie sich abgewöhnt, schmutzig zu sein. Sie hat was gegen Schmutz, Staub, Spinnweben, Unordnung – guck dich doch nur mal um hier.“

„Na, wenn man deine Bude so sieht, dann ist da wohl nicht viel abgefärbt.“

„Das stimmt, aber sie hatte auch schon durch ihren Alten von klein auf eine andere Klientel. Du weißt ja, dass sie ihre Kunden meistens im Arztkittel empfängt, Jeans darunter, weiße Schuhe, Brille mit, man könnte denken, Fensterglas – aber, pst, das stimmt nicht! Meistens hat sie sogar ein Stethoskop umhängen und viele Stifte in den Brusttaschen.“

Das hatte ich auch schon mal gesehen, als ich in ihrer Werkstatt, die sie wechselweise und meiner Meinung nach nur im Halbspott „Studio“, „Kanzlei“, Praxis“ oder auch schon mal „Institut“ nannte, etwas abholen sollte. Ärztekittel mit dicken silbernen Knöpfen, nur stand „Lisa“ auf der Brusttasche und darunter klein ihr Logo, ein stilisierter SL (Flügeltüren), das war auch auf dem Rücken, wie ein großes Tattoo.

„Mit dem macht sie immer eine Show und horcht den Motor im Standgas ab.“

„Hört man da was?“

„Sie ja, sagt sie…“

Wir schwiegen einen Moment.

„So, Alter Mann, der Grund unserer Zusammenkunft, ich wollte ein Quali-Gespräch mit dir führen. Doppeltes Feedback sozusagen.“

Bei „Quali“ hatte ich mich verschluckt, und wir lachten die Sache zusammen weg und kamen gleich zur Sache: „Fang mal an, was hast du gemacht bisher, was sind deine Ideen, gefällt es dir? Genug Geld hast du ja verdient…“

Das hörte sich nicht wie ein Vorwurf an, was auch unfair wäre, denn ich hatte zwar bisher gute vierzigtausend Euro verdient, ihm aber auch eine Menge Profit eingebracht.

Nachdem ich sein Büro aufgeräumt und umgestellt und neu organisiert hatte, hatten wir schon etwas Grund in der Sache. Ich heuerte eine Crew zum Grundreinemachen an und renovierte. Alle Ausgaben ließ ich mir von Jim genehmigen, seine erste Frage war immer: „Wieviel?“

Es war immer okay.

Nach innen kam außen dran – alles Kaputte wurde repariert oder entfernt, das Gelände gereinigt und bepflanzt. Das rostige Tor vom Rost befreit, gestrichen, das Firmenschild geputzt und angeleuchtet, dann ließ ich die auf dem Hof stehenden Autos ausrichten.

Dann die Werkstatt: Außen war sie plötzlich blütenweiß, das Rolltor wurde generalüberholt und erhielt eine Beschriftung analog zu dem „Atatürk“ auf dem Firmenschild. Einmal dabei, ließ ich Visitenkarten, Briefpapier, Notizzettel und sonstigen Kleinkram mit dem Schriftzug bedrucken, dann Kittel, Overalls, kaufte T-Shirts und Polohemden.

„Corporate Design, Volkan.“

Innerhalb der heiligen Hallen war es schwieriger, denn ans Werkzeug durfte ich den Jungs nicht. Ich ließ sie in dem Glauben, dass sie weiterhin das Sagen hätten und drehte die Bude sanft in meine Richtung: Besorgte altmodische Werkzeugwagen und peppte die Wände mit themenlastiger Neonwerbung und alten Blechschildern auf. Ich ließ den Betonboden mehrfach mit ultraresistentem Speziallack versiegeln, so dass er immer wie nass aussah. War trotzdem rutschfest. Alle waren begeistert. Den vereinzelten Vorwurf, Atatürk sähe jetzt aus wie ein Hipster-Friseur, ließ ich elegant an mir abperlen.

Da ich all diese Arbeiten delegierte und den Mechanikern nur selten in die Quere kam, und wenn, sofort angeranzt wurde: „Was ist dein Auftrag, Alter Mann, lass mich Arbeit!“, blieb genügend Zeit, die Organisation der einzelnen Abläufe unter die Lupe zu nehmen.

„Prozesse, Volkan, wir müssen prozessorientiert denken.“

Ich richtete ein Auftragsbuch mit Terminkalenderfunktion ein, welches auf einem großen Bildschirm in die Halle gespiegelt wurde. Wir gewannen Zeit und Jim holte Aufträge ins Haus. Unglaublich, wen er alles kannte. Und wer von denen wieder jemanden kannte. Ich bin nie dahintergekommen, woher genau Großaufträge für Afrika, Mittelost oder Russland kamen, plötzlich waren sie da. Nach zwei Monaten hatten alle mein System besser verstanden als ich selbst, was mich natürlich hin und wieder alt aussehen ließ: Vertraute ich dem Russen, so bellte mich der Finne an, und Volkan musste mehr als einmal schiedsrichtern und mich in die Tücken der Zeitvorgaben bei Reparaturen oder Umbauten einweisen. „Prozess, Alter Mann, immer an Prozess denken. Prozess plus Zeit ist Erfolg.“

Nun verdrehte ich die Augen.

Aber es wurde, und alle merkten es. Jim hatte überall Freunde und Bekannte, kannte Gott und die Welt, Murat kam oft vorbei und sorgte dafür, dass wir noch mehr Aufträge bekamen. Er war immer freundlich, fragte, ob Jim mich gut behandelte und raunte: „Alter Mann, wenn du hier fertig bist, dann komm zu mir, ich habe immer kleine ‚Rentner-Jobs’.“

Das war nur Halbspott.

Und tatsächlich, nach drei Monaten war die Aufgabe soweit erledigt, dass es nur noch ums Erhalten ging. Mein Job war getan.

„Einiges kann man noch verbessern, aber mit einer festangestellten Bürokraft solltest du hinkommen.“

Wir hatten das schon besprochen und ich hatte ihm vorgeschlagen, die Suche in Lisas Hände zu legen.

„Warum?“

„Mach mal so, echt. Wart’s ab.“

Und tatsächlich: Lisa fand eine Bekannte, die den Job machen wollte und vor allem konnte. Sie hatte ihren Frühling schon überschritten, war aber in Ehren ergraut und somit kein Fressen für die multinationale Mechaniker-Meute, die ihr Respekt erwies und manchmal sogar die Tür aufhielt.

Lisa jetzt: „Olaf, du denkst doch wohl nicht, dass ich eifersüchtig bin, oder?“

Sie hatte einen Adenauer-Mercedes in Wedel abgegeben und mich gebeten, sie dort abzuholen und in ihre Werkstatt zu bringen.

Ich, scheinheilig: „Nein, wieso?“

„Guter Schachzug, mich die Bürokraft aussuchen zu lassen. Nicht blöd.“

„Olaf, der Frauenversteher.“

Sie lachte.

Arztkittel, Stethoskop, Jeans, barfuß in weißen Birkenstock-Flipflops. Die langen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.

„Ich weiß, ich sehe aus wie aus einem Schwesternporno, aber glaub mir, das wirkt.“

„Lisa, mal was anderes…“

„Was?“

„Murat.“

„Was ist mit ihm?“

„Der ist doch Jims bester Freund.“

„Seit Ewigkeiten, ja.“

„Was macht der eigentlich?“

„‚Dienstleistungen’ nennt er das. ‚Service aller Art‘. ‚Beratungen‘ – so genau weiß ich das nicht. Hat Spielhallen, ist an Reinigungen beteiligt, tief in der Türken-Community verwurzelt, tiefer als Jim. Anders. Hat Jura studiert. Warum fragst du?“

„Er hat mir angeboten, bei ihm mal reinzugucken, wenn ich bei Jim fertig bin. Hätte was für mich.“

„Pass auf, Olaf: Murat ist ein Supertyp, als Freund. Er hat uns allen schon geholfen, sogar meinem Vater, als der mal Probleme mit einem Kunden hatte. Wenn dir einer irgendwie blöd kommt, nicht bezahlt oder sonstwie – geh zu Murat. Er ist nett, witzig und großzügig, lieb zu seiner Frau, ein toller Vater, und die Story seiner Kinder ist wirklich heftig. Man kann sich immer auf ihn verlassen. Als Freund.“

„Aber?“

„Sagen wir so: Ich möchte nicht auf der gegenüberliegenden Seite stehen, verstehst Du?“

„Ja. Das verstehe ich.“

Jim war zwar absolut sauber, aber ab und an kamen schon merkwürdige Gestalten auf seinen Hof. Die sahen dann nicht immer den lustigen, zuvorkommenden Jim, aber alles in allem ging es immer nur um Autos. Wir schweißten keine Drogen in Querträger und steckten keine Leichen in Kofferräume. Zumindest hatte ich das nie gesehen.

„Lisa, was sagt dein Gefühl: Soll ich bei Murat mal vorbei gucken, hören, was er mir zu sagen hat?“

„Mach das, er respektiert Jim zu sehr, als dass er dir schaden wird, denn Jim hält große Stücke auf dich. Aber zwei Sachen: Pass auf, wenn du Freundschaft und Geschäft vermischt.“

„Und zweitens?“

„Pass auf, wenn du Geschäft und Freundschaft vermischt. Murat ist ein Freund der alten Schule.“

Und dann waren wir an ihrer Werkstatt. Sie drückte mir einen Kuss auf die Wange, bedankte sich und entschwand. Ich war mir nicht sicher, ob sie Jim von unserer Unterhaltung erzählen würde, und ich war nicht sicher, ob ich das wollte...

4. Neue Karriere

Ich traf Murat an der Außenalster. Wir saßen auf einem Steg, tranken Gin Tonics und ließen uns die Abendsonne ins Gesicht scheinen. Das ging auf dieser Seite nämlich.

“Pass auf, lange Rede kurzer Sinn, wir reden jetzt etwas um den heißen Brei, du verstehst, und wenn wir uns nicht einig werden, dann vergisst du das alles wieder und es ist nichts angebrannt, okay?”

“Ja.”

“Und wenn nicht, dann erzähle ich dir etwas mehr, ok?”

"Ja.”

“Dann kannst du aber nicht mehr zurück, hast du das verstanden? Ich sage dir Bescheid, sobald der point of no return kommt, ok?”

“Ja.”

“Aber zuerst will ich von dir etwas wissen.”

Er war so alt wie Jim, Mitte dreißig. Einsfünfundsiebzig, perfekte Figur: Breite Schultern, kräftige Gliedmaßen, kompakt. Grüne Augen und dunkelbraune Haare, was auf eine Herkunft außerhalb Anatoliens schließen ließ, aber da verfing ich mich vielleicht in einem Vorurteil. Er sprach auch mit Hamburger Zungenschlag, aber etwas feiner und raffinierter als Jim. Er war wie immer perfekt hanseatisch gekleidet – dunkle Hose, offenes maßgeschneidertes Hemd, teuer aussehende Budapester. Ich habe ihn später mal gefragt, ob die auch maßangefertigt seien, und er nickte nur. “Pferdeleder?” - “Ja. Immer.”

“Du weißt ja so ungefähr, was dich erwartet?”

Es war sinnlos, das abzustreiten.

„Ich frage mich: Warum?“

Mein Übergang in das Rentenleben wäre finanziell gesehen zwar keine Katastrophe, der uns lieb gewordene Lebensstandard würde sich aber verändern. In unseren Dreißigern, das dritte Kind war gerade geboren, hatten wir uns ein Haus gekauft, die Zuschüsse für kinderreiche Familien waren großzügig, aber nur für selbst genutzte Immobilien. Dann aber lockte das Abenteuer, wir gingen ins Ausland, vermieteten das Haus, die Zuschüsse blieben aus. Als wir uns nach fünfzehn Jahren entschieden, die Bude zu verkaufen, stellte ein Gutachter schwere Substanzschäden fest, die Minderung beim Erlös war bitter und fraß unser im Ausland Erspartes auf. Für neues Eigentum war es nicht zu spät, aber da einer meiner beruflichen Vorteile meine Ortsungebundenheit war, zogen wir vor, zur Miete zu wohnen. Das gegenüber einem Kauf gesparte Geld legten wir dann in Urlaube und luxuriöse Begleiterscheinungen an, nicht in Festverzinsliches.

Als junger Mann war ich gern gesegelt, aber meine Frau, obwohl an der Küste aufgewachsen, fühlte sich auf dem Wasser mit kleinen Kindern nicht wohl, so dass ich dieses Hobby ruhen ließ. Als die Kinder aus dem Haus waren, gab sich ihre Scheu aber, sie machte sogar einen Segelschein, und so schafften wir uns einen Segelkutter an, zu irgendwas mussten diverse Abfindungen ja gut sein. Wir nannten das Schiff natürlich „Die Blaue Libelle“ und vercharterten es zeitweise, wodurch es sich fast selbst finanzierte. Aber wie man es auch drehen und wenden mochte, regelmäßige Zuwendungen kämen gut an.

All dies erzählte ich Murat. Er nickte.

“Das hatte ich mir so gedacht. Du musst nicht, aber du willst dir was dazu verdienen, um es schön zu haben. Da ist nichts wirklich Großes, oder? Keine Kredithaie auf deinen Fersen?”

“Nein. Alles genauso, wie ich es dir eben erzählt habe.”

“Kein Problem, hör zu.”

Und ich hörte zu.

Als er sagte, “So, nun ist der Punkt, an dem...” gestikulierte ich, dass er weiterreden solle. Er hob leicht die Brauen, nickte und sprach weiter.

Zunächst sollte ich nach München fliegen und einen Karton Pralinen bei einer Adresse in der Au abgeben. Morgens hin, abends zurück. Fünfhundert Euro, in bar.