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Eine Familientragödie in einer noblen Villengegend vor den Toren Stockholms: Der Wissenschaftler Dr. Artur Hesselman wirkt schon seit Monaten reizbar und nervös. Keiner darf sein Arbeitszimmer betreten - nicht einmal seine Tochter Pauline. Dafür gehen regelmäßig Unbekannte bei ihm ein und aus. Als Pauline eine rätselhafte blaue Zickzacklinie an der Gartentür findet, macht sie sich große Sorgen. Zu Recht, denn noch in derselben Nacht fallen drei Schüsse, und Dr. Hesselman wird tot in seinem Zimmer aufgefunden. Der Detektivreporter Maurice Wallion verspricht Pauline, den Mord an ihrem Vater aufzuklären. Schon bald wird er mit kniffligen Fragen konfrontiert: Was hat es mit dem Postpaket aus Hamburg auf sich, das der Ermordete einige Wochen zuvor erhalten hat? Was verschweigt der alte Diener John Andersson? Wer ist die Frau mit Akzent, die Wallion am Telefon rät, den Fall nicht weiter zu verfolgen? Was bedeutet die blaue Spur - und wohin führt sie? In Schweden galt Maurice Wallion in den 1910er und 1920er Jahren als einheimische Antwort auf Sherlock Holmes: Allerdings ist er robuster als sein Londoner Vorbild - und weniger exzentrisch. Heute könnte man ihn genauso gut als eine Art "Urvater" von Stieg Larssons Protagonisten Mikael Blomkvist bezeichnen: Wallion ist nämlich kein herkömmlicher Privatdetektiv, er ist Journalist. Sein Ruf eilt ihm voraus: Der "Detektivreporter" und "Problemjäger" vom Dagens Kurir. In Zukunft werden bei krimischaetze.de regelmäßig weitere Titel erscheinen - überarbeitet, in neuer Rechtschreibung und mit erklärenden Fußnoten versehen. krimischaetze.de 1. Auflage (Vollständig, überarbeitet, kommentiert) Umfang: 233 Buchseiten bzw. 212 Normseiten Null Papier Verlag
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Julius Regis
Die blaue Spur
Maurice Wallion ermittelt.Ein Schwedenkrimi aus den 1920er Jahren
Julius Regis
Die blaue Spur
Maurice Wallion ermittelt.Ein Schwedenkrimi aus den 1920er Jahren
Original: Leipzig, Buchverl. Axia [Zenith-Verl.], E. Stolpe, 1928
Übersetzung: E. von Kraatz
Überarbeitung, Umschlaggestaltung: Null Papier Verlag
Published by Null Papier Verlag, Deutschland
Copyright © 2014 by Null Papier Verlag
1. Auflage, ISBN 978-3-95418-530-6
Umfang: 212 Normseiten bzw. 233 Buchseiten
www.krimischaetze.de
Kriminalromane sind heutzutage erfolgreich wie nie. Krimi-Klassiker? Da denken die meisten sofort an Agatha Christie (1890-1976) oder Edgar Wallace (1875-1932). Tatsächlich gehörten die britischen Autoren zu den ersten, die in den »wilden« 1920er Jahren ins Deutsche übersetzt wurden. Krimi-Fans kennen oft auch den Schweizer Friedrich Glauser (1896-1938), den Namensgeber des Glauser-Preises – eine der wichtigsten Auszeichnungen für deutschsprachige Krimi-Autoren. Wie vielfältig die Krimi-Szene in der Weimarer Republik war, ist in der breiten Öffentlichkeit jedoch vollkommen in Vergessenheit geraten. Für krimischaetze.de haben sich Jürgen Schulze, Verleger des Null Papier-Verlages, und Sebastian Brück, Autor und Journalist, zusammengetan, um alte Krimi-Bestseller neu zu entdecken und als E-Book verfügbar zu machen – überarbeitet, in neuer Rechtschreibung und mit erklärenden Fußnoten versehen.
Das krimischaetze.de-Programm startet zunächst mit sechs Titeln – sowohl Übersetzungen aus dem Englischen (S.S. Van Dine) und Schwedischen (Julius Regis), als auch deutschsprachige Originale: In je zwei Fällen ermitteln Philo Vance, der »amerikanische Sherlock Holmes«, und Maurice Wallion, der »Detektivreporter« und »Urvater« von Stieg Larssons »Millenium«-Protagonist Mikael Blomqvist. Ebenfalls vertreten sind die vergessenen Werke zweier jüdischer Autoren: Die in Budapest, Paris und San Sebastián spielende Krimikomödie »Fräulein Bandit« des Österreichers Joseph Delmont sowie der humorvolle Kriminalroman »Das verschwundene Haus – oder: Der Maharadscha von Breckendorf« des Frankfurters Karl Ettlinger.
In Zukunft werden bei www.krimischaetze.de regelmäßig weitere Titel erscheinen.
Julius Regis Pettersson schuf die erste schwedische Krimiserie, in der ein Journalist die Hauptrolle übernimmt. Seine Maurice-Wallion-Romane waren ein großer Erfolg – sowohl in seiner Heimat, als auch darüber hinaus (Übersetzungen unter anderem ins Englische und Deutsche).
Regis wurde 1889 in Stockholm als Sohn einer Kaufmannsfamilie geboren und machte 1909 im Stadtteil Södermalm seinen Schulabschluss. Danach studierte er an der Stockholms Högskola Literaturgeschichte und arbeitete als Schlussredakteur in einem Verlag. Nebenbei begann er zu schreiben: Meist kurze Abenteuergeschichten – stark beeinflusst von dem in Schweden sehr populärem Jules Verne –, die in verschiedenen Literaturzeitschriften erschienen. Von den ersten Erfolgen angespornt, kündigte er seine Stelle und startete eine erfolgreiche Doppelkarriere als Filmkritiker und von Arthur Conan Doyle und Gaston Leroux inspirierter Kriminalschriftsteller. Außerdem war er als Übersetzer tätig und verantwortete unter anderen einige schwedische Ausgaben der Werke von Robert Louis Stevenson. Regis war nicht verheiratet und hatte keine Kinder. Er starb 1925, mit nur 35 Jahren und auf dem Höhepunkt seiner Karriere, an einer chronischen Herzmuskelentzündung.
In Schweden galt Maurice Wallion in den 1910er und 1920er Jahren als einheimische Antwort auf Sherlock Holmes: Allerdings ist er robuster als sein Londoner Vorbild – und weniger exzentrisch. Heute könnte man ihn genauso gut als eine Art »Urvater« von Stieg Larssons Protagonisten Mikael Blomkvist bezeichnen: Wallion ist nämlich kein herkömmlicher Privatdetektiv, er ist Journalist. Sein Ruf eilt ihm voraus: Der »Detektivreporter« und »Problemjäger« vom Dagens Kurir.
Maurice Wallion wohnt am Valhallavägen im noblen Stockholmer Bezirk Östermalm Mit seiner breiten Stirn und dem vorspringenden Kinn ist er zwar nicht besonders gutaussehend, wohl aber eine energische und charismatische Persönlichkeit, die Menschen für sich einnimmt. Er hat eine tiefe Stimme, graue Augen und ein scharfgeschnittenes, stets glattrasiertes Gesicht. Wallion ist elegant gekleidet, raucht viel und glaubt nicht an Zufälle: Er sieht in jedem Ereignis das Glied einer Kette, »und wenn man diese Kette verfolgt, findet man allemal die Erklärung.« Wallion kann sehr charmant sein – wenn er jedoch in gefährliche Situationen gerät, in denen ihm seinen intellektuellen Fähigkeiten nicht mehr weiter helfen, zögert er keine Sekunde, seine Fäuste einzusetzen.
Eine Familientragödie in einer noblen Villengegend vor den Toren Stockholms: Der Wissenschaftler Dr. Artur Hesselman wirkt schon seit Monaten reizbar und nervös. Keiner darf sein Arbeitszimmer betreten – nicht einmal seine Tochter Pauline. Dafür gehen regelmäßig Unbekannte bei ihm ein und aus. Als Pauline eine rätselhafte blaue Zickzacklinie an der Gartentür findet, macht sie sich große Sorgen. Zu Recht, denn noch in derselben Nacht fallen drei Schüsse, und Dr. Hesselman wird tot in seinem Zimmer aufgefunden. Der Detektivreporter Maurice Wallion verspricht Pauline, den Mord an ihrem Vater aufzuklären. Schon bald wird er mit kniffligen Fragen konfrontiert: Was hat es mit dem Postpaket aus Hamburg auf sich, das der Ermordete einige Wochen zuvor erhalten hat? Was verschweigt der alte Diener John Andersson? Wer ist die Frau mit Akzent, die Wallion am Telefon rät, den Fall nicht weiter zu verfolgen? Was bedeutet die blaue Spur – und wohin führt sie?
Maurice Wallion: Journalist mit detektivischen Fähigkeiten
Dr. Artur Hesselman: Gelehrter mit merkwürdigen Gewohnheiten
Pauline Hesselman: Seine Tochter
Steno Beyler: Ihr Cousin. Journalist beim Dagens Kurir und Freund von Maurice Wallion
John Andersson: Der alte Hausdiener der Familie Hesselman
Agnes Brandt: Zimmermädchen der Hesselmans
Anna Nielsson: Köchin der Hesselmans
Bredin: Arzt und Nachbar der Hesselmans
Hedenborg: Polizeikommissar, Leiter der Ermittlungen
Ferlin: Oberkonstabler bei der Kriminalpolizei
Storm-Nissen: Bekannter norwegischer Berufseinbrecher
Thander: Geborener Schweizer, Konsul von Costazuela
Max Gallenberg: Privatdetektiv, spezialisiert auf Erbstreitigkeiten und Ehescheidungen
Malte Beckman: Redakteur beim Dagens Kurir
Nikelson: Australisch-schwedischer Aussteiger, lebt auf einer einsamen Insel in den Schären.
Was sich am Abend des 25. Mai ereignete.
Eine blaue Zickzacklinie an der Gartentür?«
»Ja, auf der weißen Farbe.«
Steno Beyler blickte das junge Mädchen verwundert an. Sie lachte nicht und ihr Antlitz leuchtete weiß unter dem Kirschbaum.
»Eine blaue Zickzacklinie?«, wiederholte er.
Dabei beugte er sich vor und sah, dass Paulines Augen voller Angst und Unruhe waren. Ihm war, als ob diese Unruhe auf seltsame Weise mit der regenschweren, grauen Dämmerung übereinstimmte, die sich langsam auf Garten und Villa herabsenkte.
»Was meinst du, Pauline?«, fragte er hastig.
Eine der weißen Blüten fiel auf ihr blondes Haar. Sie erschauerte und zog ihr Spitzentuch fester um sich.
»Ich meine, dass ich aus Papa nicht mehr klug werde«, sagte sie leise. »Warum war er heute Morgen so erregt? Schau mal, von hier aus kannst du die Tür sehen, die von Papas Arbeitszimmer in den Garten führt. Als ich heute Morgen herauskam, entdeckte ich eine dicke, zickzackförmige Linie daran, die wie von einem spielenden Kind mit Blaustift gezeichnet war. Ich rief nach Papa, und da geriet er ganz außer sich. Niemand weiß, wer diese Nacht im Garten gewesen ist, aber wer immer es gewesen sein mag, er hat weiter nichts getan, als diese Linie zu zeichnen und dann seines Weges zu gehen.«
»Ein Dummer-Jungen-Streich!«, warf Steno Beyler ein.
»Und doch …«, sagte das junge Mädchen und blickte ihm in die Augen … »und doch war Papa so aufgeregt, dass er ohne ein Wort zu sagen in sein Zimmer zurückgekehrt ist!«
Cousin und Cousine betrachteten einander wortlos.
»Liebe Pauline«, begann Steno nach einer Weile, »ich muss gestehen, dass die Nervosität deines Vaters mir nicht nur heute aufgefallen ist. Manchmal kommt er mir geradezu verwandelt vor. Seit wann ist er eigentlich so … so nervös?«
Paulines Lippen zitterten. »Papa ist so merkwürdig geworden«, flüsterte sie. »Reizbar und menschenscheu – du weißt ja, dass er mir seit Monaten nicht mehr erlaubt, seinen Flügel des Hauses zu betreten. Und auch niemand anderem. Er sagt, es störe ihn bei der Arbeit…«
Sie hielt plötzlich mitten im Satz inne, und beide drehten sich um. Doktor Hesselmans große, breitschultrige Gestalt kam ihnen langsam auf dem Kiesweg entgegen. Er ging etwas gebeugt, mit den Händen auf dem Rücken, und die Augen hinter der Brille blickten abwesend und müde.
Steno, der von klein auf respektvoll zu dem schweigsamen Wissenschaftler aufgeschaut hatte, fasste ihn scharf ins Auge, und dabei bemerkte er plötzlich, wie alt und krank sein Onkel trotz seiner noch nicht fünfzig Jahre aussah.
»Papa!«, sagte Pauline in scheuem Ton.
Der Doktor blieb stehen und blickte auf. »Ach so, ihr seid da!«, brummte er gutmütig. »Macht, dass Ihr rein kommt.«
Pauline schmiegte sich an ihn. »Musst du heute Abend arbeiten?«, fragte sie leise.
Ihr Vater strich nervös mit der Hand über seinen Bart. »Arbeiten? Arbeiten?«, murmelte er mit einem zerstreuten Blick durch die Brille. »Ja, ich werde arbeiten … natürlich …«
»Du solltest dir ein wenig Ruhe gönnen, Onkel!«, warf Steno Beyler in übertrieben munterem Ton ein.
Doktor Hesselman antwortete nicht. Er blieb einen Augenblick schweigend stehen und setzte dann seinen Weg fort, als ob er sie schon völlig vergessen hätte. Die beiden jungen Leute blickten ihm stumm nach, bis er durch die Gartentür in seinem Arbeitszimmer verschwand.
Dann ergriff Steno die Hand seiner Cousine und zog sie durch seinen Arm.
»Die Frühlingsluft ist kalt«, sagte er. »Komm herein.«
Sie kehrten durch die großen Glastüren zwischen den vorspringenden Flügeln der Villa in den Speisesaal zurück.
»Weißt du, mit welcher Art von Arbeit dein Vater sich augenblicklich beschäftigt?«, fragte Steno nachdenklich.
Pauline schüttelte den Kopf. »Er spricht nicht darüber, und ich wage ihn nicht zu fragen. Und der alte John weiß es auch nicht.«
»John Andersson sagt nicht mehr, als er will«, bemerkte Steno nach einer Weile.
»Ja, er ist sehr verschwiegen«, räumte Pauline ein. »Er ist übrigens der einzige, der bei Papa aus- und eingehen darf. Ach, ich wünschte mir, er würde seine Arbeit bald abschließen! Manchmal ist im Laboratorium die ganze Nacht hindurch Licht. Stell dir vor, Steno, ich habe selbst gesehen, dass fremde Menschen abends durch den Garten bei ihm eingelassen wurden, und ich darf nicht hinein!«
Ihre blauen Augen füllten sich mit Tränen.
»Beruhige dich, Pauline, seine Nerven sind überreizt, weil er zu angestrengt arbeitet.«
Sie trocknete sich die Augen und fuhr fort: »Hast du nicht auch das Gefühl, als ob etwas Unbekanntes, Unheimliches im Hause wäre, etwas Schreckliches, das uns umgibt, ohne dass wir es sehen können? Aber niemand, niemand sagt mir etwas! Papa schließt sich die ganzen Tage über ein, und ich bin immer allein.«
Sie stand auf und trat ans Fenster. »Im Arbeitszimmer ist Licht«, sagte sie. »Da wird er wieder die Nacht hindurch arbeiten.«
Steno erhob sich und zündete eine Zigarette an.
»Bei Nachtarbeit fällt mir ein, dass ich heute Abend nicht mehr in die Redaktion muss«, bemerkte er. »Ich kann also über Nacht hierbleiben, wenn es zu deiner Beruhigung beitragen würde.«
»Oh, tu das, Steno!«, bat sie. »Du kannst ja wie immer oben im Salon auf dem Sofa schlafen.«
Der Journalist sah auf die Uhr. »Es ist gleich acht«, sagte er. »Ich werde meine Hauswirtin anrufen und ihr sagen, dass ich hier übernachte.«
»Ich danke dir«, sagte sie leise und ging nach oben, um die erforderlichen Anordnungen zu treffen. Steno blickte ihr gedankenvoll nach und begab sich dann in die Halle, um zu telefonieren.
Gerade als er wieder aufhängte, öffnete sich die Bibliothekstür, und Doktor Hesselman kam heraus. In der Halle war es bereits so gut wie ganz dunkel.
»Ist John hier?«, fragte der Doktor erregt.
»Nein, ich bin’s«, erwiderte Steno. »Ich bleibe die Nacht hier, wenn du nichts dagegen hast, Onkel.«
Der Doktor blieb eine Weile stehen, ohne zu antworten. »Diese Nacht?«, brummte er. »Nun, für Pauline ist es vielleicht das Beste.«
Steno fuhr zusammen. Am besten für Pauline? Warum das? Im selben Augenblick kam der alte Diener die Treppe herunter.
»Soll ich abschließen?«, fragte er.
»Ja«, befahl der Doktor, »schließ’ zu und überprüfe noch einmal alle Fenster und Türen. Und dann komm zu mir.«
Die Bibliothekstür schloss sich wieder. Steno Beyler stand schweigend dabei und sah zu, wie der Diener erst die großen Haustüren nach vorn hinaus und dann die Glastüren im Speisesaal sehr sorgfältig verschloss. Dann verschwand der Diener im Bibliothekszimmer, und Steno hörte, wie er auch diese Tür hinter sich zuschloss.
Das junge Mädchen war kaum eingeschlafen, als es auch schon zu träumen begann.
Mit halb offenem Mund und auf der Brust gefalteten Händen lag sie regungslos im Bett. Ihr Kopf war unnatürlich stark zurückgebogen, und die blauen Äderchen an den Schläfen schwollen an.
Einmal sagte sie ohne zu erwachen mit lauter, klarer Stimme: »Papa!«
Als die Uhr in der Halle unten mit grellen und hartnäckigen Tönen elf schlug, öffnete sie plötzlich die Augen, ohne ihre Lage zu ändern, sank aber bald wieder ins Land der Träume zurück …
Dann weckten sie zwei dumpfe, harte Laute komplett auf. Sie fuhr in die Höhe und lauschte. Was war das, was sie gehört hatte? Etwas, was sie nicht geträumt hatte? Zitternd hielt sie den Atem an.
Beim dritten dumpfen Widerhall sprang sie aus dem Bett und machte Licht. Sie rannte zum Fenster, zog den Vorhang auf und blickte zum Arbeitszimmer ihres Vaters hinüber. Jetzt war es da unten dunkel, aber eine Fensterscheibe stand offen, und die Gardine bewegte sich leise. Im ganzen Haus herrschte tiefe Stille.
Außer sich, klopfte sie an die Wand und schrie: »Steno! Steno!«
Keine Antwort. Jetzt sah sie, dass die Gartenpforte angelehnt stand, und im Nu wurde ihr klar, was für ein Laut es gewesen war, der sie geweckt hatte.
Es waren drei Revolverschüsse gewesen.
Im nächsten Augenblick war sie angekleidet und draußen auf dem Flur. Mit geballten Händen schlug sie gegen die Salontür.
»Steno, wach’ auf!«, schrie sie atemlos. »Wach’ auf, ich hab’ Angst, dass etwas Fürchterliches geschehen ist.«
Drinnen fiel ein Stuhl um, und ihr Cousin kam und öffnete. Er war in Hemdsärmeln. »Was ist denn?«, murmelte er verschlafen.
»Oh, Steno, schluchzte das junge Mädchen, ich glaube, jemand hat Papa erschossen!«
»Gott im Himmel!«, rief Steno Beyler und blickte sie plötzlich hellwach an.
Er lief an ihr vorüber und stürzte die Treppe hinunter, um dort ohne Zögern heftig an die Bibliothekstür zu hämmern.
»Onkel!«, rief er laut. »Onkel, bist du wach?«
Er bekam keine Antwort. Als er sich umsah, stand Pauline dicht hinter ihm.
»Geh’ weg!«, sagte er. »Es geht nicht mit rechten Dingen zu. Ich will die Tür aufbrechen …« Er stemmte den linken Fuß gegen einen Türflügel und packte den Türgriff mit beiden Händen. Im nächsten Augenblick war es geschehen. Ein langer Splitter brach aus dem Holzwerk heraus, und die Tür gab krachend nach. Sie stürzten ins Zimmer hinein, und der Journalist machte Licht. Ein starker Pulvergeruch schlug ihnen entgegen. Das Zimmer war leer, aber aus dem Laboratorium kam jemand mit lauten, schweren Schritten die Wendeltreppe herab. Es war der alte Diener, und sein Gesicht war grau vor Erregung.
Ohne auf die beiden jungen Leute zu achten, ging er zaudernd auf die Tür zum Arbeitszimmer zu, legte den Kopf dagegen und sagte leise: »Hier ist John!« Er lauschte, da aber keine Antwort kam, sprang er wie ein Wolf gegen die Tür, schüttelte sie mit aller Gewalt und schrie: »Lasst mich ’rein, zur Hölle! Lasst mich ’rein!«
»Wir müssen die Tür aufbrechen«, rief Steno.
»Ja, Herr Beyler«, erwiderte der Diener. »Ich habe nur Angst, dass es schon zu spät ist.«
Steno antwortete nicht. Er warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür, die krachte, aber standhielt.
»Beide zugleich!«, keuchte der Journalist.
Minutenlang bearbeiteten sie die Tür wie die Berserker – aber vergeblich.
»Durchs Fenster!«, rief der Diener plötzlich mit flammenden Augen. »Durchs Fenster!«
Steno wollte mit, aber der Diener hielt ihn zurück. »Sie dürfen sie nicht allein lassen«, sagte er leiser und deutete auf die schreckensbleich, aber regungslos dastehende Pauline. »Sie brauch Sie.«
Er stürmte hinaus, und Steno kehrte zu der verschlossenen Tür zurück und legte das Ohr ans Schlüsselloch, um zu horchen. War jemand drinnen? Er hätte darauf schwören können, dass er hinter der Tür Schritte hörte, aber nur für einen Augenblick – gleich darauf war alles still.
»Wenn jemand da ist, so öffnen Sie!«, rief er aus und klopfte von neuem.
Doch drinnen blieb es totenstill. Jetzt hörte er ein kratzendes Geräusch: Das musste der Diener sein, der durchs Fenster kletterte. Ein gedämpfter Laut der Überraschung folgte, und dann war wieder nichts zu hören.
»Öffnen sie, John!«, schrie der Journalist und hämmerte gegen die Tür. »Öffnen sie! Was ist geschehen?«
Eine Hand tastete am Schloss herum. Der Schlüssel rasselte. Nach einer Minute atemloser Spannung ging die Tür auf, und sie sahen die verzweifelte Geste, mit der John ihnen die Hände entgegenstreckte.
Die Deckenleuchte warf helles Licht übers Zimmer. Vor dem Schreibtisch lag Artur Hesselman mit ausgestreckten Armen tot am Boden. Neben ihm ein Revolver.
Die Gardinen bewegten sich immer noch sachte im Luftzug, auf dem Fußboden lagen zwei oder drei Papiere. Es war ganz still und schweigsam im Zimmer, aber nichts konnte schweigsamer, unheimlich stiller und regungsloser sein als die lang ausgestreckte tote Gestalt, die auf der braunen Korkmatte lag.
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