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Wenn es Nacht wird, schwimmt Commissario Brusketta von der Mordkommission Venedig gerne ein paar Runden durch die Kanäle der Lagunenstadt. Das braucht er zur Entspannung. Denn in Venedig herrscht ein unerbittlicher Bandenkrieg zwischen deutschen und italienischen Verbrechern. Als eine der schönsten Brücken der Stadt in die Luft fliegt, hört man den Kommissar laut seufzen. Doch das ist erst der Anfang. Der italienische Geheimdienst und eine Sonderkommission ermitteln in einem rätselhaften Fall, der eine der beliebtesten Städte Italiens in Angst und Schrecken versetzt. Es geht um Fleisch, es geht um Geld. Ob Mord, ob Totschlag, ob Tierquälereien, ob Erpressung, ob Diebstahl, die Mordkommission in Venedig hat alle Hände voll zu tun. Kurz vor dem Besuch des neuen Papstes kommt es auf dem Markusplatz zu einem grausamen Zwischenfall. Ein Pastor fällt vom Himmel. Auch auf der vorgelagerten Geisterinsel Poveglia spielen sich merkwürdige Dinge ab. Selbst den Tauben von Venedig, die auf den Bordsteinen sitzen, geht es an den Kragen. Und zwar nicht nur den Kragentauben. Schwere Zeiten für Commissario Brusketta.
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Seitenzahl: 225
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Als ich endlich zum Mittagessen aufbrechen wollte, klingelte im Kommissariat das Telefon. »Commissario Brusketta, Mordkommission Venedig«, raunzte ich in den Hörer.
»Hallo Bulle«, knurrte mein Gegenüber, »ich komme aus Deutschland und soll euch vergiften, teeren, federn, waschen. Und schließlich legen. Umlegen. Ich denke, du weißt, was ich meine, Bruschetta.«
»Brusketta ist mein Name. Ja und, was habe ich damit zu tun? Sind Sie von Bürgermeister Ascento beauftragt worden? Die Viecher scheißen wirklich alles voll«, sagte ich.
»Unsinn, Bruschetta, ich habe die Tauben mit keinem Wort erwähnt. In der nächsten Zeit wird es hoch hergehen in eurer verdammten Stadt. Schnallt eure Gondeln fest. Du wirst schon bald von mir hören«, zischte der Fremde und legte auf.
Was sollte mir dieser Anruf sagen? Wahrscheinlich wieder so ein psychisch Kranker, der auf sich aufmerksam machen wollte. Aber es sollte ganz anders kommen.
Der 2. November 2018 war ein trüber Tag. Ein typischer Novembertag mit Nebel, Sonne, Wind und Regen. Aprilwetter eben. Es war kurz nach 12 Uhr mittags. Ich saß mit meiner Kollegin Francesca Fraportini-Langenfeld im Sole da Bonito, dem mit Abstand besten Deutschen hier in Venedig. Hubert Kalkreuter, ein weit entfernter Verwandter von Oscar Kalkreuter, dem Erfinder der weltberühmten Kalkreuter Spiralkochtöpfe aus München, war bereits vor 27 Jahren aus Bayern nach Venedig gekommen und brachte die gute deutsche Küche nach Bella Italia. Eine Mischung aus bayerischer Hausmannskost, gepaart mit der Nouvelle Cuisine aus China, mit einem Schuss orientalischem Einschlag haben aus dem Sole da Bonito eines der führenden Feinschmeckerlokale in ganz Italien gemacht. Auch wenn man mich hier in Venedig nicht sehr schätzte, Hubert Kalkreuter war einer der wenigen, die sich freuten, wenn ich jeweils zum Monatsanfang dort auftauchte und mit offenen Händen empfangen wurde. Selbstverständlich bekam ich den besten Tisch zugewiesen. Direkt am Fenster gegenüber des Palazzo Ducale mit Blick auf die Basilika San Giorgio Maggiore, die sich idyllisch auf der vorgelagerten gleichnamigen Insel in der Lagune von Venedig befindet. Man erreicht die Insel nur mit kleinen Ausflugsbooten, die zu unbestimmten Zeiten an verschiedenen Punkten abfahren.
Wir saßen gerade gemütlich beim Gruß aus der Küche, einem Stück Eisbein mit Metaxasauce auf Linsengemüse rot-weiß, als es direkt unter unserem Fenster zu einem Zwischenfall kam. Mit einem lauten Knall zerbarst eine der abgestellten Gondeln. Ich riss meine reizende Kollegin zu Boden und wir verschanzten uns unter dem Tisch. Die Fensterscheiben flogen durch die Wucht der Detonation aus den Rahmen und nach einer knappen halben Minute war der Spuk auch schon zu Ende. Im Restaurant herrschte gegen Mittag Gott sei Dank noch nicht so viel Betrieb.
Nachdem ich mir einen ersten Überblick verschafft hatte, war ich beruhigt. Zumindest hier im Lokal schien niemand zu Schaden gekommen zu sein. Doch als ich aus dem ehemaligen Fenster blickte, wurde mir ganz anders. Die Detonation hatte ein ziemliches Chaos angerichtet. Auf der Piazzetta San Marco lagen überall Holzsplitter der teils historischen Boote herum. Menschen schrien und liefen verwirrt über die Plätze. Hoffentlich gab es keine Opfer zu beklagen.
Anschließend rief ich direkt im Kommissariat an. Luigi Motta und Pietro Katapultini waren bereits über die Warn-App Mayday Venice informiert worden. Also eine App, die auch nützlich zu sein schien. Alles lief nach Plan. Selbst das Innenministerium wusste bereits Bescheid. Nach einer halben Stunde waren sämtliche polizeilichen Einsatzkräfte vor Ort und aus der Luft nahte Verstärkung der Gebirgsjäger des italienischen Heeres per Heli. Nach ersten Ermittlungen kam es nur zu einigen kleinen Verletzungen. Doch leider wurde auch ein Todesopfer beklagt. Zunächst wussten wir nicht, dass es sich dabei um einen Agenten vom Geheimdienst gehandelt hatte.
Es gab nun jede Menge zu tun. Erste Augenzeugen berichteten von einem Fahrradfahrer, der einen Kaffeesack auf eine der Gondeln geworfen haben sollte und mit einem lauten Seufzer in Richtung der kleinen Brücke weiter geradelt sei. Kurz darauf kam es dann zu der Explosion. Manche Zeugen sprachen gar von fünf lauten Detonationen. Ich verspürte plötzlich ein heftiges Vibrieren. Ich wurde unruhig. Aber es war nur mein Smartphone, das sich bemerkbar machte.
»Brusketta«, meldete ich mich.
»Und hier spricht Papst Ritzinger der Letzte«, entgegnete die Stimme am anderen Ende der Leitung.
»Reden Sie kein dummes Zeug, wer sind Sie eigentlich?«, wollte ich wissen.
»Ich wiederhole mich nur ungern«, sagte der Fremde, »hier spricht der Papst aus Karl-Marx-Stadt.«
»Jetzt reicht's«, schnauzte ich mein Gegenüber an, »was wollen Sie, verdammt noch mal?«
»Bruschetta, ich hatte dich gewarnt. Das war erst der Anfang. Wenn ihr meine Anweisungen nicht befolgt, wird es ganz böse enden. Mehr dazu in Kürze.«
Ehe ich etwas erwidern konnte, hatte der unbekannte Anrufer bereits wieder aufgelegt.
Am späten Nachmittag glich Venedig einer Festung und mittendrin ein Haufen unverschämter Journalisten. Unentwegt klingelte in unserem Kommissariat das Telefon. So langsam reichte es mir. Der nächste Anrufer hatte schlechte Karten.
Als das Fernmeldegerät wieder bimmelte, riss ich den Hörer von der Gabel und brüllte den Anrufer an: »Du dumme Sau, weißt du überhaupt, was hier los ist, verfluchter Wichser, kann man nicht in Ruhe seine Arbeit machen? Leg sofort auf, sonst reiß ich dir den Arsch auf.«
»Das glaube ich kaum, mein Herr, hier spricht Innenminister Calzonetti«, drang eine energische Stimme in meinen Gehörgang.
»Wissen Sie denn, wer hier spricht?«, fragte ich kleinlaut.
»Woher sollte ich«, antwortete der Staatsbedienstete.
»Gott sei Dank«, erwiderte ich und legte schnell auf.
Das war gerade noch einmal gut gegangen. Doch jetzt musste ich mich auf meine Ermittlungen konzentrieren.
Für den nächsten Morgen hatte sich Minister Calzonetti angekündigt. Unsere Ministerpräsidentin Isabella Salsiccia sollte auch dabei sein. Mein Chef, Marco Stupido, war ganz aufgeregt.
»Lorenzo«, sagte er »wir dürfen keine Fehler machen. Das mit dem Anschlag gestern könnte der Beginn einer Terrorwelle sein. Höchste Konzentration. Das gilt auch für Sie, Motta.«
Mein Kollege zuckte kurz zusammen und bohrte dann weiter gelangweilt in der Nase.
»Hören Sie auf zu popeln, Himmel noch mal«, schrie Stupido, »machen Sie mich nicht bekloppt!«
Ich sagte nichts dazu, sondern begab mich in mein Büro. Francesca Fraportini-Langenfeld saß vor ihrem PC und schien nach Verdächtigen zu suchen, denn eine der vielen Kameras, die es in Venedig an jeder Ecke gibt, müsste doch etwas aufgezeichnet haben.
Ich trat hinter die hübsche Mittzwanzigerin und schaute ihr über die Schulter.
»Und, hast Du schon was entdeckt?«, fragte ich sie.
»Ja, von Laurel de Paris, ein neuer Duft, den muss ich unbedingt haben.«
Ich glaubte, nicht richtig zu hören.
»Du surfst doch wohl nicht privat umher?«, fragte ich meine Kollegin.
»Lorenzo, ich bitte dich«, säuselte die hübsche Frau und drehte sich mit ihrem Bürostuhl zu mir um. Meine Güte, welch kurzer Rock.
»Brusketta, lass es«, schien mir eine innere Stimme zu sagen.
Francesca klimperte mit den Wimpern und berührte wie zufällig mit ihrem rechten Knie meinen Körper.
»Entschuldige bitte, Lorenzo«, sagte sie und wandte sich wieder den Suchergebnissen zu.
Der Tag verging wie im Flug. Ich hatte gehofft, dass sich der mutmaßliche Täter noch einmal melden würde, aber es blieb ruhig. Stupido war vollkommen ratlos.
»Kein Bekennerschreiben, kein Motiv, keine Toten, das ist doch kein Kriminalroman«, sagte er und knallte die Tür zu seinem Büro hinter sich zu.
Mir reichte es für diesen Tag. Ich fuhr den PC herunter, verabschiedete mich von Francesca, die immer noch ermittelte und wahrscheinlich auch einen passenden Duft bestellen würde. Von Motta lagen nur noch die Popel auf dem Schreibtisch, Kollege Katapultini war ebenfalls schon auf dem Heimweg. Ich nahm meine Jacke und verließ das Kommissariat gegen 21 Uhr.
Als ich zuhause angekommen war, öffnete ich den Kühlschrank und griff nach einem kalten Bier. In einem Schluck kippte ich mir das Gesöff in den Schlund. Das tat gut. Nachdem ich mir noch eine Pizza aufgewärmt und sie verschlungen hatte, ging es mir schon etwas besser. Doch in meinem Schädel ratterte es immer weiter. Was hatten die Täter – oder war es nur ein Verrückter – vor? Es war auch auffällig, dass nach der Explosion keine Tauben erschreckt aufgeflogen waren. Ich musste abschalten.
Wenn man in Venedig an einer kaum befahrenen Wasserstraße wie dem Rio del Megio wohnt, hat das durchaus Vorteile. Schnell zog ich mir meine Bermudas an und öffnete das Fenster. Meine Wohnung befand sich im ersten Stock. Ich räumte die Orchideen von der Fensterbank, setzte mir eine Nasenklammer auf und stand kurz darauf auf dem schmalen Fenstersims. Wie ich es in der Kindheit gelernt hatte, blickte ich erst nach links, dann nach rechts, sah keine Gondeln weit und breit und stürzte mich kopfüber in den Kanal, der etwa einen Meter unter mir lag. Für einen Novemberabend war es schon ganz schön kalt. Da in den Kanal jedoch auch die Abwässer aus halb Venedig eingelassen wurden, ging es mit der Wassertemperatur aber so einigermaßen.
Ich schwamm zunächst in Richtung Biblioteca Museo di Storia Naturale. Auch hier war nicht viel los. Aber das erwartet man um diese Uhrzeit auch nicht mehr. Lediglich die Touristen, die in der Stadt übernachteten, polterten durch die engen Gassen. Vom Museum hat man einen schönen Blick auf das Casino, das gegenüber auf der anderen Seite des Canal Grande steht. Hell erleuchtet ist es auch nachts zu sehen. Ich weiß nicht mehr warum, aber ich hatte das Gefühl, dass dort drüben im Casino gleich etwas passieren würde. Kurzerhand durchquerte ich den Canal Grande, der an dieser Stelle gerade mal 35 Meter breit ist und erreichte vier Minuten später das Ufer vor dem erleuchteten Palast. Als ich nach oben blickte, sah ich nur noch, wie ein Strahl Wasser in meine Richtung plätscherte. Es war zu spät und ich konnte den Mund nicht mehr rechtzeitig schließen. Ich hörte, wie ein Reißverschluss zugezogen wurde. Anschließend verschwand ein Mann, der offenbar seine Notdurft verrichtet hatte, im Dunkel der Nacht. Natürlich kochte ich vor Wut. Ich stemmte meinen Astralkörper gegen die Bordsteinkante und hievte mich selbst aus dem Wasser.
»Ey, du alter Penner«, schrie ich hinter dem Pisser her, »bleib stehen, sonst geht es dir an den Kragen.«
Der Mann ließ sich jedoch nichts anmerken und verschwand schließlich im Casino. So wie ich aussah, hatte ich kaum eine Chance, in den Spielertempel eingelassen zu werden. Also zog ich unverrichteter Dinge wieder ab. Mit einer Arschbombe und einem doppelt gesprungenen Auerbach tauchte ich erneut in die Fluten ein und schwamm zu meiner Wohnung zurück.
Nachdem ich mich abgetrocknet und wieder angezogen hatte, goss ich mir erst einmal einen Martini ein. Ich gab noch ein Pinnchen mit Absinth hinzu, rührte erst das Glas, trank und schüttelte anschließend mich. Irgendwie musste ich an einen britischen Geheimagenten denken. Wenn ich mal so schlau wäre wie er, aber Venedig ist eben Venedig. Hier waren schon ganz andere Kommissare gescheitert. Das sollte mir natürlich nicht passieren.
Nachdem ich die Flasche geleert hatte, trank ich noch ein Alsterwasser, rauchte eine Havanna, stellte den Wecker auf sieben Uhr und fiel danach müde in mein Bett.
Am nächsten Morgen brummte mein Schädel und ich hatte einen unangenehmen Geschmack im Mund. Also ab ins Bad und Zähneputzen. Die Glocken – und davon gibt es in Venedig wahrlich genug – raubten mir schon am frühen Morgen den Nerv. Ich wollte gerade das Fenster schließen, da sah ich, wie eine Horde aufgescheuchter Tauben gen Himmel flog. Irgendwas musste sie erschreckt haben. Es machte plötzlich zweimal kurz hintereinander »Plopp« und mein Badezimmerspiegel zerbarst in tausend Einzelteile. Eindeutig, jemand hatte versucht, mich zu erschießen. Der Tag fing ja prima an.
Ich kroch aus dem Badezimmer, nahm meine Dienstwaffe, die auf dem Sofatisch lag und schoss mir das Licht aus, obwohl ich eigentlich kein Revolverheld bin. Im Radio lief eine Platte, die ich nicht mochte. Also schoss ich auch das Radio aus. Es kratzte an meiner Tür. Was tun? Sicherheitshalber feuerte ich in den unteren Türbereich, wo normalerweise die Füße eines Menschen sind. Ich hörte jedoch nur ein lautes »Miau«. Tote Katze am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen. Ich war gespannt, was heute noch alles passieren würde.
»Morgen zusammen«, grüßte ich höflich, als ich das Büro betrat. Francesca streifte wie zufällig mit ihrem Unterarm meinen Hintern. Sie kniff mir ein Auge zu und begab sich an ihren Schreibtisch. Und dann dieser Duft. Die Frau hatte Geschmack. Nicht wegen des Parfums, vielmehr wegen ihres Unterarms. Ich sollte mich gefälligst zusammenreißen.
Um neun Uhr mussten wir alle antanzen. Stupido lud zur Lagebesprechung. Er sah etwas übernächtigt aus. Als wir alle beisammen saßen, klopfte es an der Tür. Instinktiv riss ich meinen Revolver aus dem Halfter. Bevor ich abdrücken konnte, schlug mir Katapultini die Waffe aus der Hand. Ein kluger Mann. Denn Ministerpräsidentin Salsiccia und Innenminister Calzonetti, der wie zusammengeklappt aussah, betraten durch die winkelförmig geöffnete Tür den Raum.
Stupido schleimte sich sogleich heran: »Kaffee, Exzellenz? Cappuccino, Herr Innenminister?« Nach ein wenig Smalltalk ging es dann richtig zur Sache. Calzonetti hatte in Windeseile einen Krisenstab zusammengestellt und nachdem drei hohe Geheimdienstleute nacheinander über das bisher zum gestrigen Zwischenfall bekannt Gewordene berichtet hatten, wussten wir danach schon viel mehr. Eins war nun klar. Hinter diesem Anschlag steckte kein Einzeltäter, vielmehr hatten wir es mit einer der gefährlichsten Banden Europas zu tun. Der Carne-Bande. Der Servizio per le Informazioni e la Sicurezza Militare, kurz SISMI genannt, war der Gang auf den Fersen.
Calzonetti begann mit seinem Referat: »Wir vermuten, dass der Kopf, oder soll ich sagen Köpfin dieser Carne-Bande die 39-jährige Sizilianerin Maria Carne ist. Sie ist das älteste von sieben Kindern Giovanni Carnes, dem Inhaber von einer der führenden Metzgerei-Ketten Siziliens. Weiterhin beobachten wir Federico Colombaia, Fastfood-Magnat, Elzbieatta Vacchetta und Emilio Sciattone, zwei uneheliche Kinder von Augusto Canossa, seines Zeichens Wurstfabrikant in Rom.
Seit Langem geht das Gerücht um, dass diese vier Personen mit dem Preisverfall auf dem Fleischmarkt zu tun haben. Eine Art Kartell, das nach Belieben die Preise manipulieren kann und damit auf dem Börsenparkett für Unruhe einerseits aber auch durch Spekulationsgewinne anderseits Gewinne in horrenden Summen machen kann. Es ist ein Firmenkonglomerat ohnegleichen. Das Wirtschaftsministerium hat diese Bande, die man in Ganovenkreisen die »B-Fleischtruppe« nennt, seit langem in Verdacht. Nachweisen konnte man ihnen bislang jedoch nichts. Über einen eingeschleusten V-Mann wären wir fast an erste Erkenntnisse gelangt. Aber wie wir seit gestern wussten, hatte sich unser Verbindungsmann im wahrsten Sinne des Wortes in Luft aufgelöst. Er war einer der besten Männer des SISMI. Was uns nach wie vor rätselhaft erschien, ist die Tatsache, dass wir nicht wussten, warum es zu dieser Explosion gekommen war. Es war kaum anzunehmen, dass man die Bevölkerung verunsichern wollte, sicher war nur, dass es sich bei dem Anschlag um einen gezielten Angriff auf unseren V-Mann gehandelt hatte. Woher der oder die Attentäter einen Wink bekommen hatten, dass man sie beobachtete, war mir nicht bekannt. Wir würden weiter ermitteln. Aber wie wir gesehen hatten, waren das skrupellose Verbrecher, die vor nichts zurückschreckten. Sehr merkwürdig die ganze Geschichte. Meine Damen und Herren, ich zähle auf ihre Mithilfe und vor allen Dingen auf ihre Diskretion. Sobald wir etwas Neues erfahren, werden wir Hauptkommissar Stupido unterrichten. Ab Montag stellt das Innenministerium Ihnen einen Mitarbeiter zur Verfügung, der die Ermittlungen in dem Fall dann in Zusammenarbeit mit Ihnen leiten wird. Hiermit rufe ich das SEK Wojtala ins Leben. Mögen wir unseren Feinden das gleichnamige ab sofort zur Hölle machen. Panzer, Raketen, Signalhaubitzen, Infanterie, Marine, Granaten und notfalls auch Pfefferspray stehen Ihnen jederzeit zur Verfügung. Ich danke Ihnen!«
Innenminister Calzonetti war zur Hochform aufgelaufen. Sein Kopf leuchtete knallrot und Schweißperlen, ach was, Schweißbäche liefen von seiner Stirn bis tief hinunter in seine Springerstiefel.
Ministerpräsidentin Salsiccia war sehr angetan von ihrem Innenminister: »Bravo Calzonetti, großartige Rede. Es lebe das italienische Volk, Hossa.«
Wer bislang noch nicht wusste, warum unsere Ministerpräsidentin von vielen scherzhaft als Signora Gildo bezeichnet wurde, kam der Sache nun ein wenig näher. Hossa!
Am Wochenende wollte ich für nichts und niemanden zu erreichen sein. Also nahm ich schon am frühen Morgen ein Gondeltaxi und ließ mich über Umwege - man konnte ja nicht wissen - durch die kleineren Kanäle kutschieren, stieg dann auf ein kleines Motorboot, um auf der Landzunge des Lido Venezia, kurz hinter Piazzale Malamocco in der hervorragenden Trattoria Don Boskoop zu frühstücken. Außer mir war an diesem Novembervormittag nur eine Handvoll Touristen in dem Lokal, das in vielen Reiseführern als Top-Frühstücksadresse außerhalb des Tourirummels angepriesen wird und seitdem Top-Rummeladresse ist. Heute war das jedoch nicht der Fall. Mir sollte das recht sein. Schließlich freute ich mich auf ein ruhiges Wochenende.
Nachdem ich ausgiebig gegessen hatte, ging ich noch ungefähr 300 Meter weiter in Richtung des ehemaligen Fischerhafens. Vor einem alten Schuppen, der vom Verfall bedroht war, blieb ich stehen. Ich schaute mich kurz um, ob mir jemand gefolgt war. Das war nicht der Fall, also lehnte ich mich mit meinem Rücken gegen das morsche Eingangstor und wäre fast mit der Tür ins Haus gefallen. Mit einem lauten Geknarrze drückte ich das morsche Teil hinter mir zurück ins Schloss. Ich befand mich in einem relativ hohen Gebäude. In dem Schuppen gab es einen weiteren kleinen, abschließbaren Bootsplatz. Schon als Kind hatte ich hier immer gerne gespielt. Daher wusste ich auch, dass man durch einen abgelegenen Hintereingang in das Bootshaus gelangen konnte. Ich staunte nicht schlecht, als ich plötzlich vor einem kleinen U-Boot stand. Zirka acht Meter lang und einsfünfzig breit. Eigentlich hatte ich hier ein Schlauchboot erwartet, mit dem man am Wochenende, wenn Signor Callistro, ein verschrobener alter Mann, der früher als Fischer arbeitete und heute als Touristenführer vor dem Markusplatz Touristen umherführte, nicht anwesend war, doch stattdessen wurde das hier ein Schachtelsatz, aus dem ich erst wieder herausfinden muss, um zu sagen, was ich eigentlich sagen wollte. Nämlich, dass man mit diesem Schlauchboot schön vor der Lagune umher schippern konnte. Aber nun dieses U-Boot? Ich war in meinem ganzen Leben noch nicht mit einem U-Boot gefahren. Aber einmal ist immer das erste Mal. Flugs öffnete ich den Turm, der als Einstieg diente. Über eine kleine Eisenleiter gelangte ich dann in den Rumpf des Schiffes.
»Bitte nicht öffnen«, stand vor den kleinen Bullaugen, die sich im Abstand von 80 Zentimetern auf der rechten Seite des Unterwasserbootes befanden.
»Bitte nur vor der Tür rauchen«, prangte in einer weiteren Schilderbotschaft an der leicht angerosteten Wand.
»Wir dürfen hier nicht rein«, »Fußballspielen verboten«, »Veteranen haften für ihr Alter«, »Vorsicht, frisch gestrichen« und »Im Westen nichts Neues«, so lauteten weitere gelbe Hinweisschilder, die wahrscheinlich irgendein Witzbold hier installiert hatte.
Mich interessierte vielmehr, wie ich das Gefährt in Gang setzen konnte.
Nach einigem Hin- und Hergesuche stand ich schließlich vor einem versenkbaren Fernrohr. Auf der rechten Seite befand sich in Hüfthöhe ein Zündschloss. Und siehe da, der Schlüssel steckte. Ich drehte das silberne Teil nach links, nichts tat sich, ich drehte das Teil nach rechts. Ah!! Es tuckerte. Nachdem ich den Vorgang fünf- bis achtmal wiederholt hatte, sprang der Kahn tatsächlich an.
Aus einem kleinen Lautsprecher hörte man eine Stimme: »Bitte den Ausguck schließen. Schnallen Sie sich an und begeben Sie sich an Ihre Positionen. Wir werden nun sinken.«
Ich betätigte einen kleinen grünen Hebel und drückte den Griff nach vorn. Schon bemerkte ich, dass sich das Boot in Bewegung setzte.
Mit dem Kopf nach unten tuckerte es in Richtung Schuppenende. Durch das Ausguckrohr konnte ich sehen, dass wir uns bereits zu 90 Prozent unter Wasser befanden. So langsam machte mir die Sache Spaß. Nach drei Minuten war ich komplett abgetaucht. Erstaunlicherweise befanden sich GPS und ein Echolot-Gerät an Bord. Wie ich es von einem Navigationsgerät am Auto kannte, gab es unter dem Menüpunkt Weitere Einstellungen den Befehl Frühere Fahrten. Dort erschien nur ein Name: Poveglia. Ich schluckte. Was in aller Welt hatte der Besitzer beziehungsweise der Fahrer auf der verwunschenen Insel, die kurz vor Venedig liegt, zu suchen gehabt? Mein kriminologisches Gen machte sich bemerkbar. Das merkte ich daran, dass mein rechter Hoden sich auf und ab bewegte.
»Schiff ahoi«, dachte ich und bestätigte das Navigationsziel Poveglia.
Wer sich jemals mit der Geschichte dieser Insel beschäftigt hat, der weiß, warum ich ein komisches Gefühl in der Magengegend hatte. Als im 17. Jahrhundert die Pest wütete, wurden sämtliche Leichen aus Venedig hinüber nach Poveglia geschafft, wo sie von Hilfskräften verscharrt wurden. Nach und nach karrte man aber auch Gesunde auf das vermaledeite Eiland. Heutzutage nennen die Krankenkassen so etwas Prävention. Die armen Menschen starben ohne Grund. Der Sage nach spukt es seitdem auf der Insel und es soll tatsächlich schon zu mysteriösen Todesfällen gekommen sein. Viele Neugierige, die Poveglia betraten, kehrten nie wieder zurück. Aber ich befand mich auf dem besten Wege, die Insel zunächst einmal zu betreten. Das U-Boot lag gut in der Hand und nach einer schnellen Fahrt mit ca. 350 Stundenkilometern war ich bereits nach eineinhalb Minuten in der Nähe des ehemaligen Anlegers. Ich war gespannt, was mich auf der Toteninsel erwarten würde.
Als ich aufgetaucht war, sah ich zunächst ein Plakat mit der Aufschrift: »Ami go Home!!«
Glück gehabt, denn ich war ja kein Ami, sondern Commissario Brusketta auf dem Weg ins Wochenende. Und das Ende schien tatsächlich nicht mehr weit zu sein. Kaum hielt ich den Kopf aus dem Turm, spürte ich den Luftzug, den eine Pistolenkugel erzeugt, wenn sie knapp das linke Ohrläppchen verfehlt. Zack, schnell die Klappe zu und nix wie untertauchen! Metall prallte auf Metall. Das schien eine Maschinenpistole gewesen zu sein. Ich war froh, als ich wieder unter Tage war. Ich beschloss, zurück in den Heimathafen zu fahren, um mich anschließend direkt ins Präsidium zu begeben und Bericht zu erstatten. Das Wochenende war für mich gelaufen.
Katapultini, der an diesem Wochenende Dienst hatte, schüttelte nur ungläubig den Kopf.
»Lorenzo«, sagte er, »nie im Leben würde ich auf die Idee kommen, Poveglia zu betreten. Syphilis, Pest, Cholera, Diphtherie, Masern, Windpocken und noch schlimmer: Spliss. Alles unheilbare Krankheiten. Alter, du hast verdammt viel Glück gehabt. Ich möchte gar nicht wissen, wer dort auf dich geschossen hat.«
Ich erinnerte mich sofort an einen Film aus meiner Jugend: »Die Nacht der reitenden Leichen«. Aber ich hegte auch einen Verdacht. Vielleicht gab es ja auf dieser Insel einen Zusammenhang mit dem Vorfall am Montag hier bei uns in Venedig.
Obwohl wir am nächsten Tag mit mehreren Polizisten die Insel durchkämmten, konnten wir niemanden auf diesem verhassten Eiland entdecken. Also legten wir den Vorfall erst einmal unter »ferner liefen« ab. Ich musste aber noch das Bürokratische erledigen. Ich schrieb ein Protokoll, füllte einen Dienstreiseantrag aus, anschließend das Formular »Unvorhergesehene Unkostenerstattung für ausgefallene Wochenenden«. Für die Frühstücksrechnung benötigte ich eine Essenszuschussanfrage und für den Geheimdienst eine detaillierte Beschreibung der U-Bootfahrten.
Gegen 22 Uhr war ich wieder in meiner Wohnung. Ich schaltete den Fernseher ein und staunte nicht schlecht, als ich auf RAI 6 als Breaking News im Laufband am unteren Bildschirmrand lesen konnte: »Fleischvergiftung bei Fastfoodkette – Bislang 27 Tote und über 120 Vergiftete«. Keine Minute später klingelte das Diensthandy.
»Commissario Brusketta, was kann ich für sie tun?«, fragte ich.
»Morgen Abend wird die Rialto-Brücke gesprengt«, sagte eine verstellt klingende Stimme und kurz darauf hörte ich nur noch ein Besetztzeichen. Auf RAI 6 gab es schon wieder Neuigkeiten: »Rialto-Brücke gesprengt – Wir berichten in Kürze«. Wieder klingelte das Telefon.
»Es tut mir leid, Bruschetta, meine Uhr geht offensichtlich nach. Hahahaha!«
Was für ein Blödmann, dachte ich, schnappte mir meinen Übergangsmantel und begab mich sofort in Richtung Rialto-Brücke.
Als ich dort ankam, gab es die Brücke nicht mehr. Eines der Wahrzeichen Venedigs war Mir nix Dir nix in die Luft gejagt worden. Die ersten Krankenwagen hatten den Ort schnell erreicht. Um diese Zeit liefen zum Glück kaum noch Menschen durch die Stadt.
Mein Chef gab bereits die ersten Interviews, denn in Italien sind die Papperazzen stets mitten im Geschehen.
»Brusketta, kommen Sie«, sagte Stupido, als er mich sah.
Er zog mich zu sich heran und zischte »Alarmstufe 3« in meinen Gehörgang. »Lassen Sie uns direkt ins Office gehen. Und Sie, Motta, halten uns die Reporter vom Leib.«
Motta nahm seinen Daumen aus der Nase und stammelte: »Si, si, Capitano!«
Er nestelte an seinem Pistolenhalfter, riss die Schmidt- und Nesson-Waffe hervor und schoss dreimal in die Luft.
Eine Menge aufgescheuchter Tauben hob ab und verschwand ebenso wie einige neugierige Passanten, die sich nach und nach am Tatort eingefunden hatten.
Kaum saßen Stupido und ich im Büro, erreichte uns die nächste Hiobsbotschaft.
Innenminister Calzonetti rief an. Er berichtete von einem weiteren Anschlag in Rom.
»Stellen Sie sich das einmal vor«, überschlug sich seine Stimme, »da haben die Ganoven doch tatsächlich dem Neptun in der Fontana di Trevi den Kopf abgeschlagen und ihm stattdessen einen Spidermangipskopf aufgesetzt. Wir machen uns doch so langsam zum Gespött der Leute.«
Stupido war beruhigt, als er die Geschichte hörte.
»Das war wahrscheinlich nur ein Pennälerstreich. Wenn es mehr nicht gewesen ist! Herr Innenminister, wir müssen klaren Kopf bewahren. Auf Wiederhören.«
Hut ab, das hätte ich meinem Chef nicht zugetraut. Er, der sonst immer so ängstlich war, er blieb total cool. Ich bemerkte jedoch, dass er sich einen Strohhalm aus der Küche holte, eine Linie mit weißem Pulver auf die Schreibtischkante zeichnete und seinem Zinken eine Prise davon gönnte. Gut, dass Motta draußen Dienst hatte.
Die Nacht verging wie im Flug. Immer neue Einzelheiten drangen ans Licht. Und gegen fünf Uhr in der Früh sahen wir schon etwas klarer.
»Wir haben jetzt fünf Bekennerschreiben«, sagte Stupido, »am ehesten würde ich auf die Gruppo pro Peninsularis tippen.«
»Warum?«, wollte ich wissen.
»Weil genau diese Aktivisten seit über fünf Jahren für die Übergabe der Insel Poveglia an die arbeitende Bevölkerung sind. Außerdem halte ich die immer noch für am sympathischsten«, ereiferte sich mein Vorgesetzter.
Als er seinen Kopf am Schreibtisch etwas nach links drehte, erinnerte mich sein Profil irgendwie an Che Guevara. Als er aufstand jedoch eher an Rainer Calmund. Aber das waren nun mal Bagatellen und die gehören nicht in einen Kriminalroman.
Den ganzen Tag über trafen Hinweise aus der Bevölkerung ein. Und immer wieder tauchte der Name Maria Carne auf. Mehrere Zeugen hatten die Chefin der Carne-Bande zur Tatzeit, als die Brücke in die Luft flog, angeblich auf einem lila Motorboot mit einer Deutschlandfahne am Bug durch die engen Wasserstraßen rasen sehen. Was aber wollte die Bande mit den Sprengungen bewirken? Sollte die Fremdenverkehrsindustrie geschädigt werden. Das würde Sinn machen, denn schließlich wehrte sich der Bürgermeister von Venedig seit Jahr und Tag gegen die Eröffnung von Restaurants der Fastfoodkette von Carne und Konsorten. Und seit Jahr und Tag versuchte die Carne-Bande die politisch Verantwortlichen für ihre Sache gefügig zu machen.
»Je länger ich darüber nachdenke«, sagte ich und blickte zu Kollegin Fraportini-Langenfeld, »je länger ich nachdenke, desto mehr komme ich zu dem Schluss, dass Oppositionsführer Dulce geschmiert worden sein muss.«
»Geschmiert?«, fragte meine Kollegin und klickte mit der Maus auf den »Jetzt Kaufen«-Button.
»Ja, es läuft wie geschmiert, ich habe mir gerade noch eine Feuchtigkeitscreme mit Hyaluron bestellt. Die Anti-Aging-Creme von Verrutschi hatte meine schöne Haut voll krass ausgetrocknet.«
Ich hatte das dumme Gefühl, dass die gute Francesca nicht so ganz bei der Sache war. Zumindest nicht bei der Sache, die für uns relevant gewesen war. Also versuchte ich, alleine im Netz zu recherchieren. Je tiefer ich mich in die Untiefen des World Wide Webs vertiefte, desto mehr erfuhr ich über diesen alten Bekannten: Alberto Dulce.
Dass er schwul war, wusste halb Venedig. War auch vollkommen normal. Dass er drogenabhängig war, war mir jedoch neu.