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Der Kinderbuchklassiker – neu und märchenhaft schön illustriert! Unter den Dielen eines alten viktorianischen Landhauses leben die letzten Borger: Pod und Homily Clock und Arrietty, ihre vierzehnjährige Tochter. Die nur handgroßen Clocks haben sich das Leben recht beschaulich und sehr geordnet eingerichtet. Sie bestreiten ihren Lebensunterhalt durch das seit Generationen gelernte Borgen: Radiergummis, Stecknadeln, Garnröllchen – all die kleinen Dinge sind ihr Beutegut. Verbotenerweise freundet Arrietty sich mit einem Menschenjungen an. Als die Haushälterin sie schließlich entdeckt und Fallen aufstellt, müssen die Clocks fliehen ... Mary Norton beschreibt ihre Helden liebevoll und ironisch– sie sind Menschen wie wir, nur viel kleiner. Mit diesem Perspektivwechsel hat Mary Norton ein Meisterwerk voller Poesie und Atmosphäre geschaffen. Die atemberaubend schönen Bilder von Emilia Dziubak fangen den Zauber dieses Kinderbuchklassikers ein und machen ihn zu einem Augenschmaus für Jung und Alt.
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Zeit:4 Std. 27 min
Mary Norton
Die Borger
Übersetzt von Christiane Jung
Mit Illustrationen von Emilia Dziubak
FISCHER E-Books
Die Borger besitzen nichts Eigenes – alles ist geborgt, sogar ihre Namen.
Die Clocks borgten sich ihren Namen von der alten Standuhr in der Halle, unter der sie wohnten. Auf Englisch heißt die Standuhr clock. Zur Familie der Clocks gehören Homily, Pod, Arrietty, Onkel Hendreary, Tante Lupy, Eggletina und ihre Geschwister.
Die Harpsichords lebten im Wohnzimmer hinter der Wandtäfelung. Früher stand vor der Wand einmal ein Cembalo, dessen Namen sie sich borgten. Auf Englisch heißt das Cembalo harpsichord. Bevor sie dort hinzogen, hießen sie allerdings Linen-Press, was auf Deutsch Wäschemangel bedeutet.
Die Rain-Pipes So heißt Tante Lupys Familie. Die Rain-Pipes lebten bei den Ställen und borgten sich ihren Namen von dem Rohr, durch das das Regenwasser vom Dach geleitet wurde und das auf Englisch rain-pipe heißt.
Die Overmantels borgten sich ihren Namen von dem hohen Kaminsims im Frühstückszimmer, hinter dem sie wohnten. Der Kaminsims heißt auf Englisch overmantel.
Die Sinks waren Jugendfreunde von Pod und Homily. Sie lebten in der Spülküche, wahrscheinlich in der Nähe des Waschbeckens. Auf Englisch heißt das Waschbecken sink.
Die Broom-Cupboards Auch sie waren früher Freunde von Pod und Homily. Ihrem Namen nach wohnten sie wohl in der Besenkammer, die auf Englisch broom-cupboard heißt.
Die Hon.-John-Studdingtons Hinter dem Bild des Ehrenwerten John Studdington lebte diese Familie, die sich den Namen des Mannes auf dem Bild borgte. »Ehrenwert« heißt auf Englisch honourable, abgekürzt hon.
Es war Mrs May, die mir zuerst von ihnen erzählte. Nein – nicht mir. Warum hätte sie es auch ausgerechnet mir erzählen sollen, einem wilden, unordentlichen, eigensinnigen kleinen Mädchen mit funkelnden Augen, von dem man sagte, dass es manchmal vor Wut mit den Zähnen knirsche? Kate sollte sie lieber heißen. Ja, genau: Kate. Nicht, dass ihr Name von großer Bedeutung wäre, denn eigentlich kommt sie in dieser Geschichte kaum vor.
Mrs May bewohnte zwei Zimmer in Kates Elternhaus in London. Ich glaube, sie war so eine Art Verwandte. Ihr Schlafzimmer befand sich im ersten Stock, und ihre Wohnstube war gleichzeitig das Frühstückszimmer des Hauses. Nun, Frühstückszimmer sind gut am Morgen, wenn die Sonne ihr Licht über Toast und Marmelade verströmt. Am Nachmittag aber scheinen sie ein wenig zu verschwimmen und sich mit einem seltsamen, silbrigen Licht anzufüllen, ihrem ganz eigenen Zwielicht. Dann liegt so eine Art Traurigkeit über ihnen. Eine Traurigkeit aber, die Kate als Kind gern hatte. Kurz bevor es Tee gab, schlüpfte sie zu Mrs May hinein und lernte bei ihr häkeln.
Mrs May war alt, und ihre Gelenke waren steif. Sie war nicht eigentlich streng, aber sie hatte eine gewisse Ausstrahlung, die Strenge überflüssig machte. Bei ihr war Kate niemals wild, auch nicht unordentlich oder eigensinnig. Mrs May zeigte ihr außer dem Häkeln viele andere Dinge: wie man Wolle zu einem eiförmigen Ball wickelt, verdeckt säumt, einen Stopfflecken anlegt oder eine Schublade aufräumt und über ihren Inhalt, wie einen Segen, ein Stück raschelndes Seidenpapier zum Schutz gegen den Staub legt.
»Warum so still, Kind?«, fragte Mrs May eines Tages, als Kate zusammengekauert und untätig auf ihrem Kniekissen hockte. »Was ist los mit dir? Hast du etwa die Sprache verloren?«
»Nein«, sagte Kate und zog an ihrem Schnürsenkel. »Ich habe meine Häkelnadel verloren.« Sie häkelten gerade eine Decke aus Wollquadraten, und dreißig waren noch zu machen. »Ich weiß genau, wo ich sie hingelegt habe«, fuhr sie hastig fort. »Ich habe sie auf das unterste Brett des Bücherregals gelegt, direkt neben meinem Bett.«
»Auf das unterste Brett?«, wiederholte Mrs May, und ihre Nadel blinkte dabei im Feuerschein. »Ganz nah am Fußboden?«
»Ja«, sagte Kate, »aber ich habe den Fußboden schon abgesucht und überall unter den Teppich geschaut. Die Wolle war noch dort, wo ich sie hingelegt hatte.«
»Oh, du meine Güte«, rief Mrs May leise, »sag nicht, dass sie auch in diesem Haus sind!«
»Sie?«, fragte Kate.
»Die Borger«, sagte Mrs May, und im Dämmerlicht schien sie zu lächeln.
Kate schaute ein wenig ängstlich drein. »Gibt es denn solche, solche …?«, begann sie nach einer Weile.
»Solche was?«
Kate blinzelte. »Solche Leute, andere Leute, die in einem Haus leben und Sachen borgen?«
Mrs May legte ihre Arbeit beiseite. »Was glaubst du?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht«, sagte Kate. Sie sah weg und zog kräftig an ihrem Schnürsenkel. »Eigentlich kann es nicht sein. Und doch«, sie hob ihren Kopf, »und doch denke ich manchmal, es muss sie geben.«
»Warum denkst du, es müsse sie geben?«, fragte Mrs May.
»Wegen all der Dinge, die verschwinden. Sicherheitsnadeln zum Beispiel. Die Fabriken stellen immer neue Sicherheitsnadeln her, und jeden Tag kaufen Leute Sicherheitsnadeln, und trotzdem ist nie eine Sicherheitsnadel zur Hand, wenn man gerade eine braucht. Wo sind sie alle geblieben? Jetzt, in dieser Minute? Wohin verschwinden sie? Oder Nadeln«, fuhr sie fort, »all die Nadeln, die meine Mutter jemals gekauft hat. Es müssen Hunderte sein, sie können unmöglich alle irgendwo in diesem Haus herumliegen.«
»Sie liegen nicht im Haus herum, nein«, stimmte Mrs May zu.
»Und all die anderen Dinge, die wir ständig kaufen, wieder und immer wieder. Bleistifte und Streichholzschachteln und Siegellack und Haarspangen und Malstifte und Fingerhüte.«
»Und Hutnadeln«, warf Mrs May ein. »Und Löschpapier.«
»Ja, Löschpapier«, stimmte Kate zu, »aber keine Hutnadeln.«
»Da irrst du dich«, sagte Mrs May und nahm ihre Arbeit wieder zur Hand. »Es gab nämlich einen guten Grund für Hutnadeln.«
Kate starrte sie an. »Einen Grund?«, wiederholte sie. »Ich meine, was denn für einen Grund?«
»Nun, eigentlich sind es zwei Gründe. Eine Hutnadel ist eine sehr nützliche Waffe und …«, Mrs May lachte plötzlich. »Aber das klingt alles so verrückt, und«, sie zögerte, »es ist schon so lange her.«
»Aber erzähl es mir doch«, bat Kate. »Erzähl mir, woher du das mit den Hutnadeln weißt. Hast du denn jemals welche gesehen?«
Mrs May warf ihr einen erstaunten Blick zu.
»Nun ja«, begann sie.
»Ich meine keine Hutnadel«, unterbrach Kate sie ungeduldig, »sondern einen, einen Borger.«
Mrs May holte tief Luft. »Nein«, sagte sie schnell. »Ich habe niemals einen gesehen.«
»Aber irgendjemand hat einen gesehen!«, rief Kate. »Und du weißt davon. Das sehe ich dir an!«
»Still«, sagte Mrs May. »Kein Grund zu schreien.« Sie blickte in Kates gespanntes Gesicht, dann lächelte sie, und ihr Blick glitt in die Ferne. »Ich hatte einen Bruder …«, begann sie zögernd.
Kate kniete sich auf das Kissen. »Und er hat einen gesehen!«
»Ich weiß nicht«, sagte Mrs May und schüttelte ihren Kopf. »Ich weiß es wirklich nicht!« Sie breitete ihre Arbeit auf den Knien aus. »Er erzählte uns so viele Dinge, meiner Schwester und mir, unmögliche Dinge. Er wurde erschossen«, fügte sie leise hinzu, »vor vielen Jahren, an der Nordwestfront. Er war Regimentsoberst. Er starb den ›Heldentod‹, wie man so schön sagt.«
»War er dein einziger Bruder?«
»Ja, unser kleiner Bruder. Ich glaube, das war auch der Grund«, sie lächelte und überlegte einen Augenblick, »ja, der Grund, warum er uns diese unwahrscheinlichen, phantastischen Geschichten erzählte. Ich glaube, er war eifersüchtig, weil wir älter waren und weil wir besser lesen konnten. Er wollte uns beeindrucken. Vielleicht wollte er uns auch schockieren. Und doch«, sie blickte ins Feuer, »war da irgendetwas mit ihm, vielleicht weil wir in Indien aufgewachsen waren, umgeben von Geheimnissen, Zauberei und Legenden. Etwas gab uns das Gefühl, er könne Dinge sehen, die andere Menschen nicht sehen konnten. Manchmal wussten wir, dass er phantasierte, aber manchmal wieder – nun, da waren wir nicht so sicher.« Sie beugte sich vor und fegte in ihrer ordentlichen Art etwas Asche unter den Feuerrost. Mit der Bürste in der Hand starrte sie wieder ins Feuer. »Er war kein sehr kräftiger kleiner Junge. Als wir das erste Mal aus Indien nach Hause kamen, bekam er rheumatisches Fieber. Er verpasste ein ganzes Schulhalbjahr und wurde zur Erholung aufs Land geschickt, in das Haus einer Großtante. Später kam ich selbst auch dorthin. Es war ein seltsames altes Haus.« Sie hängte die Bürste an den Messinghaken und säuberte sich die Hände mit ihrem Taschentuch. Dann nahm sie wieder ihre Handarbeit auf. »Mach lieber das Licht an«, sagte sie.
»Noch nicht«, bettelte Kate. »Bitte, erzähl es mir, bitte!«
»Aber ich habe es dir doch erzählt.«
»Nein, das hast du nicht. Dieses alte Haus, war es dort, wo er, wo er …?«
Mrs May lachte. »Wo er die Borger gesehen hat? Ja, das war jedenfalls das, was er uns erzählte, was er uns glauben machen wollte. Und er hatte sie nicht nur gesehen: Es schien, dass er sie sogar sehr gut kennengelernt hatte, dass er ein Teil ihres Lebens geworden war. Fast könnte man sagen, dass er selbst ein Borger geworden war.«
»Oh, erzähl es mir! Versuch, dich zu erinnern, von Anfang an!«
»Aber ich erinnere mich ja«, sagte Mrs May. »Seltsam genug, aber ich erinnere mich besser daran als an viele Dinge, die wirklich passiert sind. Vielleicht war es ja wirklich so. Ich weiß es nicht. Weißt du, auf dem Rückweg nach Indien mussten mein Bruder und ich uns eine Kabine teilen, meine Schwester schlief immer bei unserem Kindermädchen. Während der heißen Nächte auf dem Schiff, wenn wir nicht einschlafen konnten, erzählte mir mein Bruder stundenlang von ihnen, in allen Einzelheiten. Selbst an Unterhaltungen konnte er sich genau erinnern. Er fragte sich, wie es ihnen wohl ginge und was sie täten.«
»Sie? Wer waren sie – ich meine, genau?«
»Homily, Pod und die kleine Arrietty.«
»Pod?«
»Ja, selbst ihre Namen waren nie ganz richtig. Sie stellten sich zwar vor, dass sie ihre eigenen Namen hätten, ziemlich verschieden von menschlichen Namen, aber wenn man genau hinhörte, merkte man, dass auch ihre Namen geborgt waren. Alles, was sie hatten, war geborgt. Sie besaßen nichts Eigenes. Trotzdem, sagte mein Bruder, waren sie empfindlich und eitel und glaubten, ihnen gehöre die ganze Welt.«
»Wie meinst du das?«
»Sie dachten, die Menschen seien eigens dazu erfunden worden, die Schmutzarbeit zu machen, große Sklaven, die sie einfach benutzen konnten. So hatten sie es jedenfalls gelernt. Aber mein Bruder meinte, dass sie im Grunde sehr ängstlich waren. Und das, so glaubte er, sei auch der Grund dafür gewesen, dass sie so klein geworden waren. Von Generation zu Generation waren sie kleiner und kleiner geworden und lebten immer versteckter. Unsere Vorfahren sprachen noch ganz offen von dem kleinen Volk, und mancherorts ist das noch heute so.«
»Ja«, sagte Kate, »ich weiß.«
»Heutzutage, nehme ich an«, fuhr Mrs May langsam fort, »kann man sie, wenn es sie wirklich gibt, nur in alten, stillen Häusern auf dem Land finden, wo die Menschen nach festen Gewohnheiten leben. Feste Gewohnheiten, das bedeutet Sicherheit für sie. Es ist wichtig für sie zu wissen, welche Räume benutzt werden und welche nicht. Sie bleiben nie lange an einem Ort, wo es gedankenlose Menschen, unbändige Kinder und gewisse Haustiere gibt.
Dieses alte Haus war ideal für sie, obgleich es einigen von ihnen ein bisschen zu kalt und leer war. Großtante Sophy war durch einen lange zurückliegenden Jagdunfall bettlägerig geworden. Außer ihr lebten dort nur noch Mrs Driver, die Köchin, Crampfurl, der Gärtner, und ab und an irgendein Hausmädchen. Auch mein Bruder musste lange Zeit das Bett hüten, als er wegen seines rheumatischen Fiebers dort war. Und während dieser Zeit schienen die Borger seine Anwesenheit nicht bemerkt zu haben.
Er schlief in dem alten Kinderschlafzimmer hinter dem Schulraum. Der Schulraum war damals mit Tüchern verhängt und stand voller Gerümpel: alte Koffer, eine kaputte Nähmaschine, ein Schreibtisch, eine Schneiderpuppe, ein Tisch und ein paar Stühle sowie ein ausrangiertes Klavier. Sachen, die Großtante Sophys Kindern gehört hatten, die längst erwachsen, verheiratet, verstorben oder fortgezogen waren. Das Kinderschlafzimmer öffnete sich zum Schulraum hin, und von seinem Bett aus konnte mein Bruder ein Ölgemälde der Schlacht von Waterloo sehen, das über dem Kamin im Schulraum hing, und einen Eckschrank mit Glastüren, in dem an Haken und auf Regalen ein sehr feines, sehr altes Puppen-Service aufbewahrt wurde. Nachts, wenn die Tür zum Schulraum offen stand, konnte er den erleuchteten Flur entlangblicken, der zum Treppenhaus führte. Es beruhigte ihn, wenn Mrs Driver jeden Abend in der Dämmerung mit einem Tablett in der Hand auf dem Treppenabsatz erschien, auf dem sie Bath-Oliver-Kekse und eine große Kristallkaraffe mit Fine Old Pale Madeira für Großtante Sophy trug. Auf dem Rückweg machte Mrs Driver immer halt und drehte die Gaslampe im Flur herunter, bis die Flamme klein und blau wurde. Dann stapfte sie die Treppe hinunter, und durch die Stäbe des Treppengeländers konnte er sie beobachten, bis sie seinen Blicken entschwunden war.
Unter diesem Flur befand sich die Halle. Dort stand eine Uhr. Während der Nacht konnte er hören, wie sie die Stunden schlug. Es war eine Großvateruhr, und sie war sehr, sehr alt. Mr Frith aus Leighton Buzzard kam einmal im Monat, um sie aufzuziehen, wie es schon sein Vater und sein Großvater vor ihm getan hatten. Seit achtzig Jahren (das wusste Mr Frith genau) war sie nicht ein einziges Mal stehengeblieben und, soweit man wusste, auch nicht in den achtzig Jahren davor. Das Besondere an dieser Uhr war, dass sie niemals von ihrem Platz verschoben werden durfte. Sie stand direkt an der Wandtäfelung. Die Steinfliesen ringsherum waren so oft geschrubbt worden, dass die Uhr auf einer kleinen Plattform stand.
Und hinter der Uhr, unterhalb der Wandtäfelung, war ein Loch.«
Es war Pods Loch, das Tor seiner Festung, der Eingang zu seinem Heim. Sein Heim befand sich keineswegs in der Nähe der Uhr. Weit davon entfernt, könnte man sagen.
Es gab lange dunkle und staubige Gänge mit kleinen Holztüren zwischen den Balken und Metalltoren zum Schutz gegen die Mäuse. Pod benutzte alle möglichen Sachen für diese Tore: das flache Blatt einer zusammenschiebbaren Käsereibe zum Beispiel oder den Klappdeckel einer kleinen Geldkassette, Quadrate aus durchbohrtem Zinkblech von einem alten Fliegenschrank und eine Fliegenklatsche aus Draht. »Nicht, dass ich Angst vor Mäusen hätte«, sagte Homily immer, »aber ich kann nun mal ihren Geruch nicht ausstehen.« Arrietty hatte sich vergebens eine eigene kleine Maus gewünscht, eine kleine, blinde Maus, die sie eigenhändig großziehen konnte, »wie Eggletina sie besessen hatte«. Aber dann klapperte Homily mit den Topfdeckeln und rief: »Denk daran, was mit Eggletina passiert ist!«
»Was ist denn mit Eggletina passiert?«, fragte Arrietty dann. Aber niemand erzählte es ihr.
Nur Pod kannte den Weg durch die verschlungenen Gänge bis zu dem Loch unter der Uhr. Und nur er konnte die Tore öffnen. Da gab es komplizierte Verschlüsse aus Haarspangen und Sicherheitsnadeln, deren Geheimnis nur Pod allein kannte. Seine Frau und sein Kind lebten ein behütetes Leben in den gemütlichen Zimmern unter der Küche, weit weg von den Gefahren, die in dem gefürchteten Haus über ihnen lauerten. Aber es gab ein Gitter in der Backsteinwand des Hauses, genau unter dem Küchenfußboden, durch das Arrietty den Garten sehen konnte: ein Stück Kiesweg und eine Böschung. Dort blühten im Frühling die Krokusse, die Blüten eines unsichtbaren Baumes schwebten vorbei, und später blühte auch ein Azaleenbusch. Vögel kamen vorbei und pickten und schnäbelten, und manchmal kämpften sie miteinander. »Die vielen Stunden, die du mit diesen Vögeln verschwendest«, sagte Homily dann. »Und wenn dann mal etwas zu tun ist, hast du keine Zeit. Ich bin in einem Haus aufgewachsen«, fuhr Homily fort, »wo es überhaupt keine Gitter gab, und damit waren wir vollkommen zufrieden. Jetzt geh und hol mir die Kartoffel.«
An diesem Tag gab Arrietty der Kartoffel einen wütenden Tritt, als sie sie aus der Vorratskammer den staubigen Gang unter der Diele entlangrollte, so dass sie mit ziemlicher Geschwindigkeit in die Küche kullerte, wo Homily sich gerade über den Herd beugte.
»Du schon wieder!«, rief Homily und drehte sich ärgerlich um. »Du hast mich beinahe in die Suppe geschubst. Und wenn ich ›Kartoffel‹ sage, dann meine ich nicht die ganze Kartoffel. Nimm die Schere und schneid mir eine Scheibe ab.«
»Wusste ja nicht, wie viel du wolltest«, murmelte Arrietty, als Homily schnaufend und schnaubend eine halbe Nagelschere von ihrem Platz an der Wand nahm und anfing, damit die Kartoffel zu schälen.
»Du hast diese Kartoffel ruiniert«, grummelte sie. »Man kann sie nicht mehr durch den Staub zurückrollen, wenn sie erst mal angeschnitten ist.«
»Es gibt ja noch so viele andere«, sagte Arrietty.
»Das ist ja eine reizende Art zu reden: ›Noch so viele andere!‹ Weißt du eigentlich«, fuhr Homily ernst fort und legte die halbe Nagelschere nieder, »dass dein armer Vater jedes Mal sein Leben riskiert, wenn er eine Kartoffel borgt?«
»Ich meinte doch nur«, sagte Arrietty, »dass im Vorratsraum noch so viele andere liegen.«
»Nun geh mir aus dem Weg«, sagte Homily und fing wieder an, in der Küche herumzuhantieren, »was auch immer du meintest, lass mich das Essen kochen.«
Arrietty war durch die offene Tür ins Wohnzimmer geschlendert. Das Feuer brannte, und das Zimmer sah hell und gemütlich aus. Homily war stolz auf ihr Wohnzimmer. Die Wände waren mit Papierstreifen tapeziert, die aus alten Briefen gerissen worden waren. Pod hatte sie aus einem Papierkorb oben im Haus geborgt. Homily hatte sie so angeklebt, dass die Schrift von unten nach oben verlief. An den Wänden hingen Bilder von Königin Viktoria in verschiedenen Farben. Es waren Briefmarken, die Pod vor ein paar Jahren aus dem Briefmarkenkästchen im Morgenzimmer geborgt hatte. Ein lackiertes Schmuckkästchen diente ihnen als Sofa. Es war ausgepolstert, und der aufgeklappte Deckel bildete die Rückenlehne. Daneben stand ein besonders nützliches Möbelstück: eine Kommode mit Schubladen aus Streichholzschachteln.
Es gab einen runden Tisch mit einer roten Samttischdecke, den Pod hergestellt hatte, indem er den hölzernen Boden einer Pillendose auf dem Sockel eines Springers aus einem Schachspiel befestigt hatte. (Der Verlust dieser Figur hatte oben eine Menge Aufregung verursacht, als Großtante Sophys ältester Sohn während eines kurzen Besuchs mitten in der Woche den Vikar zu einer Partie Schach nach dem Essen eingeladen hatte. Rosa Pickhatchet, das damalige Hausmädchen, hatte gekündigt. Nicht lange danach wurden noch andere Dinge vermisst, und seit dieser Zeit führte Mrs Driver die Oberaufsicht.) Der Springer selbst, seine Büste sozusagen, stand auf einer Säule in der Ecke, wo er sich sehr gut machte und dem Zimmer ein gewisses Flair verlieh, wie es eben nur Statuen können.
Neben dem Kamin, in einem schiefen hölzernen Bücherschrank, befand sich Arriettys Bibliothek. Sie bestand aus einer Sammlung bekannter Bücher in Miniaturausgaben, welche in der viktorianischen Zeit ausgesprochen beliebt waren. Für Arrietty hatten sie die Größe riesiger Kirchenbibeln. Da gab es Bryces Miniatur-Weltlexikon mit den Zahlen der letzten Volkszählung; Bryces Miniatur-Wörterbuch mit kurzen Erklärungen wissenschaftlicher, philosophischer, literarischer und technischer Ausdrücke; Bryces Miniatur-Ausgabe sämtlicher Komödien von William Shakespeare mit einem Vorwort über den Autor. Ein anderes Buch, das nur leere Seiten enthielt, trug den Titel Memoranda. Am liebsten aber mochte Arrietty ein Buch mit einem Spruch für jeden Tag des Jahres und der Lebensgeschichte eines kleinen Mannes namens General Tom Thumb, der ein Mädchen heiratete, das Mercy Lavinia Bump hieß. Ein Holzschnitt zeigte die beiden mit ihrem Zweispänner, der von kleinen Pferden gezogen wurde, die nicht größer als Mäuse waren. Arrietty war nicht dumm. Sie wusste, dass Pferde nicht so klein wie Mäuse sein konnten, aber sie begriff nicht, dass Tom Thumb, der etwa einen halben Meter groß war, einem Borger wie ein Riese vorkommen musste.
Arrietty hatte mit Hilfe dieser Bücher lesen gelernt. Schreiben hatte sie geübt, indem sie ihren Kopf so geneigt hatte, dass sie die Schrift auf der Tapete abschreiben konnte. Fast jeden Tag las sie in dem kleinen Buch und fand dort so manches tröstliche Wort. Heute hieß es da: ›Du kannst vom Regen in die Traufe kommen‹ und darunter: ›Der Hosenbandorden, gegründet 1348‹. Sie trug das Buch zum Kamin, setzte sich hin und stellte ihre Füße auf den Sims.
»Was machst du, Arrietty?«, rief Homily aus der Küche.
»Tagebuch schreiben.«
»Oh!«, rief Homily kurz aus.
»Was wolltest du denn?«, fragte Arrietty. Sie fühlte sich sicher. Homily mochte es, wenn sie schrieb; Homily förderte bei ihr jede Art von Bildung. Sie selbst, das arme, unwissende Geschöpf, kannte noch nicht einmal das Alphabet. »Nichts, nichts«, sagte Homily verstimmt und klapperte weiter mit den Topfdeckeln. »Es hat Zeit bis nachher.«
Arrietty holte ihren Bleistift hervor, einen kleinen weißen Stift mit einem Stückchen Seidenschnur daran. Er hatte einmal zu einer Tanzkarte gehört, aber in Arriettys Hand wirkte er wie ein Nudelholz.
»Arrietty!«, rief Homily wieder aus der Küche.
»Ja?«
»Leg doch ein bisschen Holz nach, ja?«