Die Brüder Karamasow. Vierter Teil - Fjodor M. Dostojewski - E-Book

Die Brüder Karamasow. Vierter Teil E-Book

Fjodor M. Dostojewski

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Beschreibung

Die Brüder Karamasow sind so unterschiedlich wie Körper, Geist und Seele. Iwan, ein Atheist und grüblerischer Intellektueller; Dmitri, ein sprunghafter Sensualist und Rivale seines Vaters um die schöne Gruschenka; und Alexej, getrieben von unerschütterlicher Frömmigkeit. In ihrem Schatten steht ihr verstoßener Halbbruder, der in die Knechtschaft gedrängt wurde. Gemeinsam handeln sie, um sich von dem ausschweifenden Patriarchen zu befreien. Dann, in einer einzigen schockierenden Tat, ändert sich das Schicksal der Brüder unaufhaltsam. Die Ermordung des brutalen Großgrundbesitzers Fjodor Karamasow verändert das Leben seiner Söhne unwiderruflich: Dmitri, der Sensualist, der aufgrund der erbitterten Rivalität mit seinem Vater sofort unter Mordverdacht gerät; Iwan, der Intellektuelle, der an den Rand des Zusammenbruchs getrieben wird; der spirituelle Alexej, der versucht, die Risse in der Familie zu kitten; und die schattenhafte Gestalt ihres unehelichen Halbbruders Smerdjakow. “Die Brüder Karamasow” sind Fjodor Dostojewskis tiefgründiges, bahnbrechendes Meisterwerk des psychologischen Realismus, das sich mit den Themen Gott, freier Wille, Glaube, Zweifel und moralische Verantwortung auseinandersetzt. Dostojewskis düsteres Meisterwerk beschwört eine Welt herauf, in der die Grenzen zwischen Unschuld und Korruption, Gut und Böse verschwimmen und der Glaube an die Menschheit auf die Probe gestellt wird. Dies ist der vierte von insgesamt vier Teilen. Die Ausgabe ist ausgestattet mit erläuternden Anmerkungen und einem verlinkten Namensregister.

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FJODOR M. DOSTOJEWSKI

DIE BRÜDER KARAMASOW

 

ROMAN IN VIER TEILEN UND EINEM EPILOG

 

 

VIERTER TEIL

 

 

ÜBERSETZT

VON

HERMANN RÖHL

 

 

 

 

DIE BRÜDER KARAMASOW wurden im russischen Original zuerst veröffentlicht von Ру́сский ве́стник (Russkiy Vestnik), Sankt Petersburg 1880.

 

Diese Ausgabe wurde aufbereitet und herausgegeben von

© apebook Verlag, Essen (Germany)

www.apebook.de

1. Auflage 2023

 

V 1.0

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

Vierter Teil

ISBN 978-3-96130-561-2

 

Buchgestaltung: SKRIPTART, www.skriptart.de

 

 

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FJODOR M. DOSTOJEWSKI

DIE BRÜDER KARAMASOW

 

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GESAMTAUSGABE

 

 

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Inhaltsverzeichnis

DIE BRÜDER KARAMASOW. Vierter Teil

Impressum

VIERTER TEIL

Zehntes Buch

Die Jungen

1. Kolja Krassotkin

2. Kinder

3. Schüler

4. Shutschka

5. An Iljuschas Bett

6. Frühreife

7. Iljuscha

Elftes Buch

Der Bruder Iwan Fjodorowitsch

1. Bei Gruschenka

2. Das kranke Füßchen

3. Ein Teufelchen

4. Eine Hymne und ein Geheimnis

5. Nicht du, nicht du!

6. Erster Besuch bei Smerdjakow

7. Zweiter Besuch bei Smerdjakow

8. Dritter und letzter Besuch bei Smerdjakow

9. Der Teufel – Iwan Fjodorowitschs Alptraum

10. »Das hat er gesagt!«

Zwölftes Buch

Ein Justizirrtum

1. Der verhängnisvolle Tag

2. Gefährliche Zeugen

3. Die medizinischen Gutachten und ein Pfund Nüsse

4. Das Glück lächelt Mitja

5. Die plötzliche Katastrophe

6. Die Rede des Staatsanwalts: Personencharakteristik

7. Historischer Überblick

8. Der Traktat über Smerdjakow

9. Psychologie auf Hochtouren. Die dahinjagende Troika. Schluß der Rede des Staatsanwalts

10. Die Rede des Verteidigers. Der Stab mit zwei Enden

11. Kein Geld – also auch kein Raub

12. Und auch kein Mord

13. Und selbst wenn ...

14. Die Bauern haben ihren Kopf für sich

Epilog

1. Pläne zu Mitjas Rettung

2. Für einen Augenblick wird die Lüge zur Wahrheit

3. Iljuschetschkas Begräbnis und die Rede am Stein

Anhang: Namensregister

Eine kleine Bitte

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Zu guter Letzt

VIERTER TEIL

Zehntes Buch

Die Jungen

1. Kolja Krassotkin

Es war Anfang November. Wir hatten elf Grad Kälte und damit auch Glatteis. Auf die gefrorene Erde war in der Nacht etwas trockener Schnee gefallen, und der trockene, scharfe Wind hob ihn auf und fegte ihn durch die langweiligen Straßen unseres Städtchens und besonders über den Marktplatz. Der Morgen war trüb, aber der Schneefall hatte aufgehört. Nicht weit vom Marktplatz, nahe bei Plotnikows Laden, stand das kleine, außen wie innen sehr saubere Häuschen der Beamtenwitwe Krassotkina. Der Gouvernementssekretär Krassotkin selbst war schon vor langer Zeit gestorben, vor fast vierzehn Jahren; seine Witwe, eine zweiunddreißigjährige, immer noch recht hübsche Frau, lebte in dem sauberen Häuschen von ihren Renten. Sie lebte ehrbar und zurückgezogen und besaß einen sanften, ziemlich heiteren Charakter. Im Alter von achtzehn Jahren hatte sie ihren Mann verloren, nachdem sie mit ihm nur ein Jahr lang zusammengelebt und ihm eben erst einen Sohn geboren hatte. Seitdem widmete sie sich ganz der Erziehung ihres Sohnes Kolja, ihres größten Schatzes, und die ganzen vierzehn Jahre hatte sie in ihrer maßlosen Liebe zu ihm unvergleichlich mehr Leid als Freude erlebt, da sie fast täglich vor Angst zitterte, er könnte sich erkälten, krank werden, Dummheiten machen, auf einen Stuhl steigen und herunterfallen, und so weiter und so fort. Als Kolja die Vorschule und dann unser Progymnasium besuchte, begann die Mutter mit ihm zusammen eifrig zu lernen, um ihm bei seinen Aufgaben helfen und sie ihm abfragen zu können. Sie bemühte sich, mit den Lehrern und ihren Frauen bekannt zu werden, und suchte sogar durch Freundlichkeit und Schmeicheleien die Gunst von Koljas Schulkameraden zu gewinnen, damit ihr Kolja nicht verspottet und nicht geschlagen wurde. Sie brachte es dahin, daß sich die Jungen ihretwegen wirklich über ihn lustig machten und ihn neckten, er sei ein Muttersöhnchen. Doch Kolja verstand sich zu wehren. Er war ein mutiger Junge, »furchtbar stark«, wie es von ihm in der Klasse hieß und bald bestätigt wurde; er war gewandt, frech, dreist und unternehmungslustig und besaß einen energischen Charakter. Er lernte gut, und es hieß sogar, daß er im Rechnen und in Weltgeschichte mehr leistete als der Lehrer Dardanelow selbst. Obgleich er auf alle herabsah und das Näschen hoch trug, war er doch ein guter Kamerad und nicht überheblich. Den Respekt seiner Mitschüler nahm er als etwas Gebührendes hin, verkehrte mit ihnen jedoch freundschaftlich. Die Hauptsache war, er wußte maßzuhalten, verstand sich zur rechten Zeit zu beherrschen und überschritt in seinen Beziehungen zu den Lehrern niemals jene äußerste, gerade noch erkennbare Grenze, hinter der das Benehmen ungehörig und ungesetzlich wird und nicht geduldet werden kann.

Dennoch war er ganz und gar nicht abgeneigt, bei jeder geeigneten Gelegenheit Streiche zu verüben, und zwar nicht bloß dabei mitzutun, sondern selbst etwas zu erfinden und auszuklügeln, etwas besonders »Feines«, Großartiges einzufädeln, womit er paradieren konnte. Vor allem war er sehr ehrgeizig. Er hatte es sogar verstanden, sich seine Mama untertan zu machen, er behandelte sie beinahe despotisch. Sie ordnete sich ihm auch wirklich unter, schon seit langer Zeit, und konnte nur einen Gedanken absolut nicht ertragen: daß der Knabe sie »zuwenig lieben« könnte. Es schien ihr immer, Kolja sei ihr gegenüber »gefühllos«, und manchmal machte sie ihm, krampfhaft schluchzend, Vorwürfe wegen seiner Kälte. Der Junge konnte das nicht leiden, und je mehr Herzensergüsse die Mutter von ihm verlangte, desto zurückhaltender wurde er, anscheinend absichtlich. Und doch geschah das von seiner Seite nicht absichtlich, sondern unwillkürlich; das lag nun einmal in seinem Charakter. Die Mutter irrte sich: er liebte sie sehr; was er nur nicht liebte, waren diese »kalbrigen Zärtlichkeiten«, wie er sich in seinem Schülerjargon ausdrückte. Der Vater hatte einen Schrank mit einer Anzahl von Büchern hinterlassen; Kolja liebte diese Bücher und hatte schon mehrere von ihnen still für sich gelesen. Die Mutter beunruhigte sich darüber nicht, wunderte sich nur manchmal, daß er, statt spielen zu gehen, stundenlang mit einem Buch am Schrank stand. Auf diese Weise las Kolja manches, was man ihm in seinem Alter noch nicht hätte zum Lesen geben dürfen. Obgleich er es vermied, mit seinen Streichen eine gewisse Grenze zu überschreiten, hatte er in letzter Zeit doch einzelne Streiche verübt, die die Mutter nicht wenig erschreckten, freilich keine unmoralischen, wohl aber tollkühne, halsbrecherische. Es hatte sich in diesem Sommer in den Ferien, im Juli, ergeben, daß die Mama mit ihrem Sohn für eine Woche siebzig Werst weit in einen anderen Kreis gefahren war auf Besuch zu einer entfernten Verwandten, deren Mann auf einer Eisenbahnstation angestellt war; es war dies von unserer Stadt aus die nächste Station, dieselbe, von der Iwan Fjodorowitsch Karamasow einen Monat später nach Moskau reiste. Dort besah sich Kolja gleich von vornherein die Eisenbahn aufs genaueste und studierte alle ihre Einrichtungen; denn er sagte sich, daß er zu Hause vor seinen Kameraden auf dem Progymnasium mit seinen neuen Kenntnissen würde glänzen können. Es traf sich, daß er dort einige andere Jungen kennenlernte, manche von ihnen wohnten auf der Station, andere in der Nachbarschaft: lauter junges Volk von zwölf bis fünfzehn Jahren, sechs oder sieben an der Zahl, darunter zufällig auch zwei aus unserem Städtchen. Die Jungen spielten zusammen und trieben allerhand Unfug, bis es dann nach vier oder fünf Tagen unter ihnen zu einer unerhörten Wette um zwei Rubel kam, nämlich: Kolja, der beinahe der jüngste von allen war und darum von den älteren ein bißchen verachtet wurde, vermaß sich aus Ehrgeiz oder unverzeihlicher Tollkühnheit, er wolle sich nachts, wenn der Elfuhrzug komme, mit dem Gesicht nach unten zwischen die Schienen legen und regungslos liegenbleiben, bis der Zug mit Volldampf über ihn hinweggefahren war. Allerdings waren vorher Versuche angestellt worden, aus denen sich ergeben hatte, daß es tatsächlich möglich war, sich zwischen den Schienen so platt hinzulegen, daß der Zug über den Liegenden hinwegfuhr, ohne ihn zu streifen – trotzdem, welche Leistung, so dazuliegen! Kolja behauptete mit aller Bestimmtheit, er werde liegenbleiben. Zuerst lachten die anderen über ihn und nannten ihn einen Aufschneider und Prahlhans, doch dadurch wurde er nur noch mehr angereizt; diese Fünfzehnjährigen waren ihm gegenüber gar zu hochmütig und wollten ihn, den »Kleinen«, zuerst nicht einmal als ihren Kameraden gelten lassen, was denn doch in unerträglichem Grad beleidigend war. So wurde also beschlossen, sich am Abend eine Werst weit von der Station wegzubegeben, damit der Zug nach dem Verlassen der Station schon seine volle Geschwindigkeit erreicht hatte. Die Jungen versammelten sich. Es war eine mondlose, dunkle, fast schwarze Nacht. Zur richtigen Zeit legte sich Kolja zwischen die Schienen. Die fünf übrigen Jungen, die mit ihm gewettet hatten, warteten mit Herzklopfen und zuletzt mit Angst und Reue unten am Bahndamm im Gebüsch. Endlich war von fern der Zug zu hören, der die Station verlassen hatte. In der Dunkelheit blitzten zwei rote Laternen auf; das Ungeheuer nahte lärmend. »Schnell weg von den Schienen!« schrien die Jungen aus dem Gebüsch, halbtot vor Furcht, aber es war schon zu spät. Der Zug jagte heran und sauste vorüber. Die Knaben stürzten zu Kolja: Er lag da und rührte sich nicht. Sie schüttelten ihn und bemühten sich, ihn aufzuheben. Da stand er plötzlich auf und ging schweigend den Bahndamm hinunter. Unten erklärte er, er habe absichtlich wie besinnungslos dagelegen, um ihnen einen Schrecken einzujagen. Die Wahrheit war jedoch, daß er wirklich das Bewußtsein verloren hatte, wie er später, erst lange danach, seiner Mutter auch gestand. Auf diese Weise hatte er den Ruhm der Tollkühnheit als festen Besitz für immer erworben. Leichenblaß kehrte er zur Station zurück. Am anderen Tag erkrankte er an einem leichten Nervenfieber, war aber seelisch sehr heiter, froh und zufrieden. Die Kunde von dem Vorfall verbreitete sich nicht sogleich, sondern erst nach der Rückkehr in unsere Stadt, wo sie auch dem Direktor zu Ohren kam. Koljas Mama eilte schleunigst zu ihm, um für ihren Sohn zu bitten, und erreichte schließlich, daß der allgemein geachtete, einflußreiche Lehrer Dardanelow für ihn eintrat und Fürbitte einlegte; so ließ man denn die Sache auf sich beruhen, als ob nichts geschehen wäre. Dieser Dardanelow übrigens, ein noch nicht alter Junggeselle, war schon seit vielen Jahren leidenschaftlich in Frau Krassotkina verliebt und hatte schon einmal, vor einem Jahr, in der respektvollsten Weise und fast vergehend vor Angst und Zartgefühl gewagt, ihr seine Hand anzubieten; doch sie hatte seinen Antrag rundweg abgelehnt, obwohl Dardanelow, nach einigen geheimen Anzeichen zu schließen, vielleicht sogar ein gewisses Recht hatte zu glauben, daß er der reizenden, aber infolge ihrer Mutterzärtlichkeit allzu ehescheuen Witwe durchaus nicht zuwider sei. Koljas Streich schien nun das Eis gebrochen zu haben, und Dardanelow wurde zum Dank für sein Eintreten mit einem Hoffnungsschimmer belohnt, allerdings nur mit einem sehr entfernten; doch auch Dardanelow war ein Muster an Reinheit und Zartgefühl, und daher genügte dieser Schimmer vorläufig, um ihn vollkommen glücklich zu machen. Den Jungen mochte er sehr gern, jedoch hätte er es für unwürdig gehalten, sich um seine Gunst zu bemühen. Er behandelte ihn in der Klasse streng und stellte an ihn hohe Anforderungen. Kolja selbst hielt sich auch in respektvoller Entfernung, lernte seine Aufgaben vorzüglich, war in der Klasse der zweitbeste Schüler und verkehrte mit Dardanelow in einem trockenen Ton. Und die ganze Klasse glaubte fest, in Weltgeschichte könne Kolja sogar Dardanelow »schlagen«. Und in der Tat hatte Kolja ihm einmal die Frage vorgelegt, wer Troja gegründet habe. In seiner Antwort hatte Dardanelow nur allgemein von den Bewegungen und Wanderungen der Völker gesprochen; das liege im Dunkel der Vorzeit und gehöre ins Reich der Sage. Wer aber nun eigentlich Troja gegründet hatte, das heißt, welche Personen, das hatte er nicht sagen können; daher hatte er die Frage als müßig und gegenstandslos bezeichnet. Und die Jungen blieben bei der Überzeugung, Dardanelow wüßte nicht, wer Troja gegründet hatte. Kolja aber hatte von den Gründern Trojas in Smaragdows Weltgeschichte gelesen, die sich im Schrank unter den von seinem Vater hinterlassenen Büchern befand. Die Sache endete damit, daß sich schließlich alle Schüler dafür zu interessieren begannen, wer eigentlich Troja gegründet habe; Krassotkin enthüllte sein Geheimnis jedoch nicht, und der Ruhm seines Wissens blieb unerschüttert.

Nach dem Vorfall mit der Eisenbahn trat in Koljas Verhältnis zu seiner Mutter eine gewisse Veränderung ein. Als Frau Anna Fjodorowna von der Tat ihres Sohnes hörte, verlor sie vor Schreck beinahe den Verstand. Sie bekam so furchtbare hysterische Anfälle, die mit Unterbrechungen mehrere Tage dauerten, daß der ernstlich erschrockene Kolja ihr sein Ehrenwort gab, solche Streiche nie wieder zu begehen. Er schwor es auf den Knien vor dem Heiligenbild und beim Andenken an seinen Vater, so wie es Frau Krassotkina selbst verlangt hatte, wobei der »mannhafte« Kolja selbst wie ein sechsjähriger Knabe vor Rührung in Tränen zerfloß; diesen ganzen Tag über umarmten sich Mutter und Sohn immer wieder und weinten erschüttert. Als Kolja am anderen Tag erwachte, war er wieder wie früher »gefühllos«, nur wurde er von nun an schweigsamer, bescheidener, ernster, nachdenklicher. Allerdings wurde er anderthalb Monate später wieder bei einem Streich erwischt, und sein Name wurde sogar unserem Friedensrichter bekannt. Aber dieser Streich war doch schon von ganz anderer Art, sogar lächerlich und ein bißchen dumm; auch hatte er ihn, wie sich herausstellte, nicht selbst ausgeführt, sondern war nur beteiligt gewesen. Aber davon später einmal. Die Mutter ängstigte und quälte sich weiter, und Dardanelow schöpfte immer mehr Hoffnung, je mehr sie sich beunruhigte. Es muß vermerkt werden, daß Kolja Dardanelows diesbezügliche Absichten erriet und ihn selbstverständlich wegen seiner »Gefühle« tief verachtete. Früher war er sogar so unzart gewesen, diese Verachtung seiner Mutter gegenüber zum Ausdruck zu bringen, indem er andeutete, er wisse sehr wohl, was Dardanelow im Schilde führe. Aber nach dem Vorfall mit der Eisenbahn änderte er auch in dieser Hinsicht sein Benehmen; solche Andeutungen erlaubte er sich nicht mehr, auch nicht die entferntesten. Von Dardanelow sprach er in Gegenwart der Mutter jetzt respektvoller, was die feinfühlige Anna Fjodorowna sofort mit grenzenloser Dankbarkeit in ihrem Herzen empfand. Dafür wurde sie bei der unbedeutendsten, zufälligsten Bemerkung über Dardanelow, sogar von seiten irgendeines fernen Besuchers, vor Scham plötzlich rot wie eine Rose, wenn Kolja dabei war. Und Kolja sah in solchen Augenblicken entweder mit finsterer Miene aus dem Fenster oder betrachtete angelegentlich seine Stiefelspitzen oder rief zornig Pereswon, einen struppigen, ziemlich großen, räudigen Hund, den er vor einem Monat irgendwie erworben und mit nach Hause gebracht hatte und nun aus irgendeinem Grund in der Wohnung verborgen hielt und keinem seiner Kameraden zeigte. Er tyrannisierte den Hund furchtbar, indem er ihm alle möglichen Späße und Kunststücke beibrachte; doch der arme Köter liebte seinen Herrn unsäglich: Er heulte, wenn Kolja nicht zu Hause, sondern in der Schule war, er winselte vor Freude, wenn Kolja wiederkam, sprang wie toll umher, machte Männchen, wälzte sich auf der Erde, stellte sich tot und so weiter – kurz, er produzierte alle Kunststücke, die ihm beigebracht worden waren, und zwar nicht auf Verlangen, sondern einzig und allein aus Freude und aus dankbarem Herzen.

Apropos, ich habe vergessen, daran zu erinnern, daß Kolja Krassotkin jener Junge war, den der dem Leser bereits bekannte Iljuscha, der Sohn des Stabskapitäns a. D. Snegirjow, mit dem Messer in die Hüfte gestochen hatte, weil die Schüler seinen Vater mit dem Spitznamen »Bastwisch« verspottet hatten.

2. Kinder

Also an jenem kalten, windigen Novembermorgen saß Kolja Krassotkin zu Hause. Es war Sonntag und somit keine Schule. Aber es hatte schon elf geschlagen, und er mußte »in einer sehr wichtigen Angelegenheit« dringend von zu Hause weggehen. Nun war er jedoch ganz allein zu Hause, und zwar ausdrücklich, um es zu hüten, da alle älteren Hausgenossen das Haus infolge eines ungewöhnlichen Vorfalls verlassen hatten. Im Haus der Witwe Krassotkina befand sich außer der Wohnung der Hausbesitzerin nur noch eine aus zwei kleinen Zimmern bestehende Wohnung, die an eine Arztfrau mit zwei kleinen Kindern vermietet war. Diese Arztfrau war gleichaltrig mit Anna Fjodorowna und ihre beste Freundin. Der Doktor selbst war seit etwa einem Jahr abwesend; zuerst war er nach Orenburg gefahren und dann nach Taschkent, und schon ein halbes Jahr war von ihm keinerlei Nachricht gekommen. Und wäre nicht durch die Freundschaft mit Frau Krassotkina der Kummer der verlassenen Frau einigermaßen gelindert worden, wäre diese wohl in Tränen zerflossen. Um die Schicksalsschläge vollzählig zu machen, mußte Katerina, die einzige Dienerin der Arztfrau, ausgerechnet in dieser Nacht vom Sonnabend zum Sonntag plötzlich und ganz unerwartet ihrer Herrin erklären, sie werde am Morgen ein Kind gebären. Wie es zugegangen war, daß davon vorher niemand etwas gemerkt hatte, war für alle beinahe ein Wunder. Die überraschte Frau beschloß, Katerina, solange es noch Zeit war, in eine Anstalt zu bringen, die eine Hebamme in unserer Stadt für solche Fälle unterhielt. Da sie der Dienerin sehr zugetan war, führte sie ihre Absicht unverzüglich aus, brachte sie dorthin und blieb außerdem bei ihr. Dann wurde am Morgen noch die freundschaftliche Beihilfe von Frau Krassotkina erforderlich, die in diesem Fall irgend jemand um irgend etwas bitten und so die Magd irgendwie unterstützen konnte. Auf diese Weise waren die beiden Damen abwesend; Frau Krassotkinas eigene Dienerin, die alte Agafja, war währenddessen auf den Markt gegangen, und Kolja war somit für eine gewisse Zeit der Hüter und Wächter der »Knirpse«, des Knaben und des Töchterchens der Arztfrau, die sonst mutterseelenallein geblieben wären. Das Haus zu bewachen, davor fürchtete sich Kolja nicht; außerdem war ja noch Pereswon bei ihm, dem er befohlen hatte, im Vorzimmer unter einer Bank »ohne Bewegung« auf dem Bauch zu liegen und der gerade deswegen jedesmal, wenn Kolja bei seinen Rundgängen ins Vorzimmer kam, mit dem Kopf zuckte und zwei kräftige, bittende Schläge mit dem Schwanz vollführte – doch leider ertönte der rufende Pfiff nicht. Kolja warf dem unglücklichen Hund einen drohenden Blick zu, und dieser erstarrte wieder zu gehorsamem Scheintod. Wenn etwas Kolja in Verlegenheit brachte, so waren es einzig und allein die »Knirpse«. Für das unerwartete Ereignis mit Katerina hatte er selbstverständlich nur tiefste Verachtung, aber die verwaisten »Knirps« mochte er sehr gern, er hatte ihnen bereits ein Kinderbuch gebracht. Nastja, die ältere, die schon acht Jahre alt war, konnte lesen; und der jüngere »Knirps«, der siebenjährige Kostja, hörte gern zu, wenn Nastja ihm etwas vorlas. Selbstverständlich hätte Kolja sie auf interessantere Weise beschäftigen können, er hätte sie zum Beispiel beide nebeneinanderstellen und mit ihnen Soldaten spielen oder mit ihnen im ganzen Haus Versteck spielen können. Das hatte er früher schon wiederholt getan, und das war durchaus nicht unter seiner Würde, so daß sich in seiner Klasse sogar einmal das Gerücht verbreitet hatte, Krassotkin spiele bei sich zu Hause mit seinen kleinen Hausgenossen Pferdchen. Kolja hatte diese Beschuldigung jedoch stolz widerlegt, indem er darlegte, mit Gleichaltrigen, Dreizehnjährigen Pferdchen zu spielen, das wäre »in unserem Jahrhundert« allerdings wirklich eine Schande; er aber tue das für die »Knirpse«, weil er sie gern habe, und im übrigen habe niemand das Recht, ihn über seine Gefühle zur Rechenschaft zu ziehen! Dafür vergötterten ihn denn auch die beiden »Knirpse«. Diesmal stand sein Sinn nicht nach solchen Spielen. Er hatte eine sehr wichtige eigene Angelegenheit vor sich, an der sogar etwas Geheimnisvolles zu sein schien; inzwischen aber verstrich die Zeit, und Agafja, der er die Kinder hätte übergeben können, wollte noch immer nicht vom Markt zurückkehren. Er war schon mehrere Male über den Flur gegangen, hatte die Tür zur Wohnung der Arztfrau geöffnet und sorgenvoll nach den »Knirpsen« gesehen, die nach seiner Weisung über einem Buch saßen und ihn jedesmal, wenn er die Tür aufmachte, schweigend anlächelten, in der Erwartung, daß er nun hereinkäme und etwas Hübsches und Amüsantes mit ihnen unternähme. Doch Kolja war innerlich unruhig und ging nicht hinein. Da schlug es elf, und er beschloß fest und endgültig, das Haus zu verlassen, wenn die »verfluchte« Agafja nicht in zehn Minuten zurück sein würde, und nicht länger auf sie zu warten; selbstverständlich wollte er sich vorher von den »Knirpsen« versprechen lassen, daß sie in seiner Abwesenheit keine Dummheiten machen und nicht aus Angst weinen würden. Mit diesem Gedanken zog er seinen wattierten Winterüberzieher mit dem Kragen aus Seehundsfell an und hängte sich seine Büchertasche über die Schulter. Seine Mutter hatte ihn zwar früher oft gebeten, er möchte immer die Überschuhe anziehen, wenn er »bei solcher Kälte« von Hause wegging; doch als er durchs Vorzimmer kam, warf er nur einen verächtlichen Blick auf sie und ging in bloßen Stiefeln hinaus. Als Pereswon ihn ausgehbereit sah, begann er angestrengt mit dem Schwanz auf den Fußboden zu schlagen, zuckte nervös mit dem ganzen Körper und schickte sich sogar an, ein klägliches Geheul auszustoßen; aber Kolja war der Ansicht, daß ein sofortiges Nachgeben der Disziplin schaden würde, und ließ ihn wenigstens noch ein Weilchen unter der Bank liegen. Erst als er die Tür zum Flur öffnete, pfiff er ihm plötzlich. Der Hund sprang wie verrückt auf und sprang wild vor Freude umher. Kolja durchschritt den Flur und öffnete die Tür zu den »Knirpsen«. Beide saßen wie vorher an ihrem Tischchen; sie lasen jedoch nicht mehr, sondern stritten hitzig über irgend etwas. Sie stritten sich oft über verschiedene sich aufdrängende Lebensfragen, wobei Nastja als die ältere immer die Oberhand behielt; Kostja hingegen wandte sich, wenn er ihr nicht zustimmen mochte, fast immer hilfesuchend an Kolja, und wie dieser entschied, dabei blieb es dann auch: Das war für beide Teile ein unanfechtbarer Urteilsspruch. Diesmal erweckte der Streit der »Knirpse« bei Kolja ein gewisses Interesse, und er blieb in der Tür stehen, um zuzuhören.

Als die Kinder sahen, daß er zuhörte, fuhren sie um so eifriger in ihrem Streitgespräch fort.

»Niemals werde ich glauben«, sagte Nastja hitzig, »daß die Hebammen die kleinen Kinder in den Gemüsegärten auf den Kohlbeeten finden. Jetzt ist es Winter, und es gibt gar keine Kohlbeete, und die Hebamme konnte unserer Katerina das Töchterchen nicht von da bringen!«

Kolja stieß einen Pfiff aus.

»Oder es ist so. Sie holen die Kinder irgendwo, bringen sie aber nur zu solchen Frauen, die verheiratet sind.«

Kostja blickte seine Schwester unverwandt an, hörte tiefsinnig zu und dachte nach.

»Nastja, wie dumm du doch bist«, sagte er endlich ruhig und entschieden. »Dann könnte doch Katerina gar kein Kindchen haben. Sie ist ja nicht verheiratet.«

Nastja geriet furchtbar in Eifer.

»Du verstehst aber auch gar nichts«, fiel sie gereizt ein. »Vielleicht hat sie einen Mann gehabt, und er sitzt bloß im Gefängnis, und sie hat nun ein Kindchen bekommen.«

»Hat sie wirklich einen Mann, der im Gefängnis sitzt?« erkundigte sich der gründliche Kostja mit wichtiger Miene.

»Oder es ist so«, unterbrach ihn Nastja eifrig, wobei sie ihre erste Hypothese völlig fallenließ und vergaß. »Sie hat keinen Mann, darin hast du recht. Aber sie will heiraten, und da hat sie nun nachgedacht, wie sie das machen soll, und hat immer nachgedacht und nachgedacht, und so lange nachgedacht, daß sie nun keinen Mann, sondern ein Kindchen bekommen hat.«

»Ja, das könnte sein«, stimmte Kostja völlig überzeugt zu. »Aber das hast du vorhin nicht gesagt, daher konnte ich es auch nicht wissen.«

»Na, Kinder«, sagte Kolja und trat zu ihnen ins Zimmer. »Ich sehe, ihr seid ein gefährliches Völkchen!«

»Dafür haben Sie ja auch Pereswon«, sagte Kostja lächelnd und begann mit den Fingern zu schnipsen und Pereswon zu rufen.

»Ihr Knirpse, ich bin in Verlegenheit«, begann Kolja würdevoll. »Und ihr müßt mir helfen. Agafja hat sich wohl ein Bein gebrochen, weil sie noch immer nicht zurück ist, das steht bombenfest. Ich muß aber dringend weg. Werdet ihr mich weglassen?«

Die Kinder sahen sich ängstlich an, ihre Gesichter drückten nun Unruhe aus. Sie begriffen allerdings noch nicht recht, was Kolja von ihnen verlangte.

»Werdet ihr auch keine Dummheiten machen, wenn ich weg hin? Nicht auf die Kommode steigen, euch nicht die Beine brechen? Werdet ihr auch nicht aus Angst weinen, wenn ihr allein seid?«

Auf den Gesichtern der Kinder malte sich eine schreckliche Angst.

»Ich könnte euch zum Lohn dafür ein hübsches Spielzeug zeigen, eine kleine Bronzekanone, aus der man mit richtigem Pulver schießen kann.«

Die Gesichter der Kinder wurden im Nu wieder hell.

»Zeigen Sie doch mal die kleine Kanone!« sagte Kostja, der übers ganze Gesicht strahlte.

Krassotkin holte aus seiner Büchertasche eine kleine Bronzekanone heraus und stellte sie auf den Tisch.

»Na schön, zeigen wir doch mal! Sieh nur, sie hat Räder ... «Er rollte das Spielzeug über den Tisch. »Und schießen kann man damit. Man kann sie mit Schrot laden und damit schießen.«

»Kann man damit auch einen totschießen?«

»Alle kann man damit totschießen, man braucht bloß ordentlich zu zielen.«

Und er erklärte ihnen, wohin man das Pulver tun und wie man das Schrotkorn hineinstecken muß, zeigte ihnen ein kleines Loch in Gestalt eines Zündloches und erzählte ihnen, daß die Kanone nach dem Schuß zurückläuft. Die Kinder hörten mit gewaltigem Interesse zu. Besonders beeindruckte sie, daß die Kanone zurückläuft.

»Haben Sie auch Pulver?« erkundigte sich Nastja.

»Ja.«

»Zeigen Sie uns doch auch das Pulver!« sagte sie mit einem bittenden Lächeln.

Kolja griff noch einmal in die Büchertasche und holte ein kleines Fläschchen heraus, in dem tatsächlich noch etwas Pulver war, in einem zusammengewickelten Stück Papier fanden sich außerdem mehrere Schrotkörner. Er öffnete sogar das Fläschchen und schüttete sich ein bißchen Pulver auf die flache Hand.

»Da! Es darf nur kein Feuer daran kommen, sonst explodiert das Pulver, und wir sind alle tot«, sagte er warnend; er übertrieb um des Effektes willen.

Die Kinder betrachteten das Pulver mit einer andächtigen Furcht, durch die der Genuß noch gesteigert wurde. Dem kleinen Kostja gefiel am meisten das Schrot.

»Und das Schrot brennt nicht?« fragte er.

»Nein, das Schrot brennt nicht.«

»Schenken Sie mir ein paar Schrotkörner!« bettelte er.

»Ein bißchen Schrot werde ich dir schenken. Da, nimm. Aber zeig es deiner Mama nicht, bevor ich wieder hier bin. Sonst denkt sie, es ist Pulver, und stirbt vor Angst und haut euch mit der Rute.«

»Mama haut uns nie mit der Rute!« bemerkte Nastja sofort.

»Das weiß ich. Ich habe es auch nur gesagt, weil es gut klingt. Und eurer Mama dürft ihr nie etwas verheimlichen – bloß diesmal, bis ich wieder da bin ... Also, ihr Knirpse, darf ich weggehen? Werdet ihr auch nicht vor Angst weinen, wenn ich weg bin?«

»Doch, wir wer-den wei-nen«, sagte Kostja gedehnt und wollte schon in Tränen ausbrechen.

»Wir werden weinen, wir werden bestimmt weinen!« fiel Nastja ängstlich ein.

»Ach, Kinder, Kinder, ihr seid ja in einem gefährlichen Alter. Na, dann ist nichts zu machen, ihr Würmer, dann muß ich eben

Gott weiß wie lange bei euch sitzen. Aber wie sollen wir uns bloß die Zeit vertreiben?«

»Lassen Sie doch Pereswon sich tot stellen«, bat Kostja.

»Ja, da ist nichts zu machen, da müssen wir wohl unsere Zuflucht zu Pereswon nehmen. IciA50, Pereswon!«

Kolja kommandierte, und der Hund machte alles vor, was er konnte. Er war ein struppiger Hund, von der Größe eines gewöhnlichen Hofhundes, mit grau-lila Fell. Das rechte Auge war ihm ausgelaufen, und das linke Ohr wies einen tiefen Riß auf. Er winselte und sprang, machte Männchen, ging auf den Hinterbeinen, warf sich auf den Rücken mit allen vier Pfoten nach oben und lag wie tot da. Während des letzten Kunststückes öffnete sich die Tür, und Agafja, die dicke Dienerin von Frau Krassotkina, eine pockennarbige Frau von ungefähr vierzig Jahren, erschien auf der Schwelle; sie kehrte mit einem Beutel voll Lebensmittel vom Markt zurück. Sie blieb stehen und sah dem Hund zu, ohne den Beutel aus der Hand zu legen. So sehnsüchtig Kolja auch auf Agafja gewartet hatte – er brach die Vorstellung dennoch nicht ab; er ließ Pereswon sich noch eine bestimmte Zeitlang tot stellen und pfiff ihm dann endlich. Der Hund sprang auf und tollte vor Freude, daß er seine Pflicht erfüllt hatte, ausgelassen umher.

»Nun sieh mal einer den Hund an!« sagte Agafja anerkennend.

»Warum bist du denn so spät zurückgekommen, du Weibsbild?« fragte Krassotkin ärgerlich.

»Weibsbild! Nun hör sich das einer an! Dieser Stift!«

»Stift?«

»Jawohl, Stift. Was geht es dich an, daß ich so spät zurückgekommen bin? Wenn ich erst so spät gekommen bin, wird es wohl nötig gewesen sein«, brummte Agafja und machte sich daran, den Ofen zu besorgen. Sie sagte das alles keineswegs unzufrieden oder ärgerlich, sondern vielmehr in sehr zufriedenem Ton, als ob sie sich über die Gelegenheit freute, sich mit dem lustigen jungen Herrn ein bißchen herumzubeißen.

»Hör mal, du leichtfertiges altes Weib«, sagte Kolja und stand vom Sofa auf. »Kannst du mir bei allem, was dir auf dieser Welt heilig ist, und bei sonst noch etwas schwören, daß du in meiner Abwesenheit ständig auf die Knirpse aufpassen wirst? Ich will nämlich weggehen.«

»Wozu soll ich dir das erst noch schwören?« erwiderte Agafja lachend. »Ich werde auch so auf sie aufpassen.«

»Nein, du mußt mir bei deiner ewigen Seligkeit schwören. Sonst gehe ich nicht.«

»Na, dann geh nicht! Was stört es mich? Draußen ist es kalt, bleib zu Hause!«

»Ihr Knirpse«, wandte sich Kolja an die Kinder. »Diese Frau wird bei euch bleiben, bis ich wiederkomme oder bis eure Mama wiederkommt, denn auch die müßte eigentlich längst zurück sein. Sie wird euch ein Frühstück geben. Oder gibst du ihnen etwas, Agafja?«

»Das kann ich schon machen.«

»Auf Wiedersehen, ihr Kleinen! Nun kann ich beruhigt gehen ... Und du, Großmutter«, sagte er halblaut und würdevoll, als er an Agafja vorbeiging, »wirst ihnen hoffentlich nicht eure üblichen Weiberdummheiten über Katerina auftischen? Hab Respekt vor ihrem Alter! Ici, Pereswon!«

»Mach, daß du 'rauskommst«, knurrte Agafja, die sich jetzt wirklich ärgerte. »Lächerlicher Patron! Müßtest selber die Rute bekommen für solche Reden!«

 

 

Ici: Hierher

3. Schüler

Doch Kolja hörte schon nicht mehr. Endlich konnte er gehen. Als er aus dem Tor trat, blickte er sich um, schüttelte die Schultern und sagte: »Kalt!« Dann ging er die Straße hinunter und danach rechts durch eine Seitengasse auf den Marktplatz zu. Am Torweg des letzten Hauses blieb er vor dem Platz stehen, zog eine kleine Pfeife aus der Tasche und pfiff darauf aus Leibeskräften, als gäbe er ein verabredetes Signal. Er brauchte nicht länger als eine Minute zu warten; dann kam plötzlich ein rotbackiger Junge herausgerannt. Er mochte etwa elf Jahre alt sein und trug ebenfalls einen warmen, sauberen und sogar eleganten kleinen Überzieher. Es war der kleine Smurow, der die Vorbereitungsklasse besuchte (während Kolja Krassotkin schon zwei Klassen höher saß), der Sohn eines wohlhabenden Beamten. Seine Eltern hatten ihm offenbar den Umgang mit Krassotkin verboten, da der allgemein als verwegener Unfugtreiber bekannt war; Smurow hatte daher das Haus offenbar heimlich verlassen. Dieser Smurow war, vielleicht erinnert sich der Leser, einer von den Jungen, die vor zwei Monaten mit Steinen nach Iljuscha geworfen hatten; er war es gewesen, der Aljoscha Karamasow damals etwas über Iljuscha erzählt hatte.

»Ich warte schon eine ganze Stunde auf dich, Krassotkin«, sagte Smurow streng, dann gingen sie zum Marktplatz.

»Ja, ich habe mich verspätet«, antwortete Krassotkin. »Aber das hat seine Gründe. Kriegst du nicht Prügel, wenn du mit mir gehst?«

»Was redest du da? Als ob ich überhaupt Prügel bekomme! Du hast Pereswon bei dir?«

»Ja.«

»Willst du ihn auch mitnehmen?«

»Ja.«

»Ach, wenn es doch Shutschka wäre!«

»Das ist unmöglich. Shutschka existiert nicht mehr, Shutschka ist verschwunden. Wo er geblieben ist, das ist ein dunkles Rätsel.«

»Könnten wir es nicht so machen«, sagte Smurow und blieb plötzlich stehen. »Iljuscha sagt ja, Shutschka ist auch so struppig gewesen und so dunkelgrau wie Pereswon. Könnten wir da nicht sagen, daß es jener Shutschka ist? Vielleicht wird er es glauben.«

»Schüler, verabscheue die Lüge! Numero eins. Sogar zu einem guten Zweck; Numero zwei. Aber was die Hauptsache ist: ich hoffe, du hast dort nichts von meinem Besuch erwähnt?«

»Gott behüte, ich weiß doch, worum es sich handelt. Mit Pereswon wirst du ihn aber nicht trösten«, sagte Smurow seufzend. »Weißt du was? Sein Vater, der Bastwisch, hat gesagt, er will ihm heute einen jungen Hund bringen, einen echten Bullenbeißer mit schwarzer Nase. Er meint, daß er Iljuscha damit trösten wird, aber das wird ihm wohl kaum gelingen.«

»Wie geht es denn ihm selbst, ich meine Iljuscha?«

»Ach, schlecht! Ich glaube, er hat die Schwindsucht. Er ist bei vollem Bewußtsein, aber wie er atmet, wie er atmet! Neulich bat er, sie möchten ihn ein bißchen im Zimmer herumführen. Sie zogen ihm seine Stiefel an, und er versuchte zu gehen, aber er fiel hin. ›Ach, Papa‹, sagte er, ›ich habe dir ja gesagt, daß die Stiefel, die ich früher hatte, nichts taugen! In denen war es auch früher unbequem zu gehen.‹ Er dachte, die Stiefel seien daran schuld, daß er umgefallen war. Dabei ist es einfach aus Schwäche geschehen. Er wird keine Woche mehr leben. Doktor Herzenstube besucht ihn. Sie sind jetzt wieder reich, sie haben viel Geld.«

»Schwindler sind sie.«

»Wen meinst du?«

»Die Ärzte und das ganze medizinische Gesindel. Ich bin gegen die Medizin. Sie ist eine nutzlose Einrichtung. Ich werde das übrigens alles noch näher untersuchen. Was ist denn jetzt für ein gefühlvolles Treiben bei euch? Ich glaube, eure ganze Klasse geht da immer hin?«

»Die ganze Klasse nicht, sondern etwa zehn von uns gehen hin. Immer, jeden Tag. Weiter nichts.«

»Ich wundere mich nur über die Rolle, die Alexej Karamasow dabei spielt. Morgen oder übermorgen findet die Gerichtsverhandlung gegen seinen Bruder wegen dieses großen Verbrechens statt, und er hat noch Zeit zu rührenden Szenen mit Jungen?«

»Rührende Szenen gibt es da überhaupt nicht. Du gehst ja jetzt selber hin, um dich mit Iljuscha zu versöhnen.«

»Um mich mit ihm zu versöhnen? Lächerlich! Ich erlaube übrigens niemandem, meine Handlungen zu kritisieren.«

»Aber wie sich Iljuscha freuen wird! Er hat keine Ahnung, daß du kommst. Warum hast du denn so lange nicht kommen wollen? Warum nicht?« rief Smurow.

»Lieber Junge, das ist meine Sache und nicht deine. Ich gehe aus eigenem Antrieb hin, weil das so mein Wille ist. Aber euch hat alle Alexej Karamasow hingeschleppt, das ist der Unterschied. Und woher weißt du das? Vielleicht gehe ich überhaupt nicht hin, um mich mit ihm zu versöhnen? Ein dummer Ausdruck!«

»Karamasow hat uns überhaupt nicht hingeschleppt, ganz und gar nicht. Die von uns gingen einfach von selbst hin, allerdings zuerst mit Karamasow. Erst ging einer hin, dann ein anderer. Der Vater freute sich schrecklich darüber. Weißt du, er wird glattweg den Verstand verlieren, wenn Iljuscha stirbt. Aber wie er sich freut, daß wir uns mit Iljuscha versöhnt haben! Iljuscha hat nach dir gefragt, aber dann kein Wort weiter gesagt. Er fragte nur und schwieg dann. Aber sein Vater wird den Verstand verlieren oder sich aufhängen. Er hat sich ja auch früher schon wie ein Geistesgestörter benommen. Weißt du, er ist ein anständiger Mensch, und das damals war ein Fehler. An allem ist dieser Vatermörder schuld, der ihn damals geschlagen hat.«

»Trotzdem ist Karamasow für mich ein Rätsel. Ich hätte schon längst mit ihm bekannt sein können, aber ich bin in manchen Fällen gern stolz. Außerdem habe ich mir über ihn eine gewisse Meinung gebildet, die ich erst noch überprüfen und klären muß.«

Kolja schwieg würdevoll, Smurow ebenfalls. Smurow empfand Kolja Krassotkin gegenüber die größte Ehrfurcht und wagte nicht im entferntesten sich mit ihm zu vergleichen. Jetzt aber war sein Interesse lebhaft geworden, weil Kolja erklärt hatte, er gehe aus eigenem Antrieb hin, es steckte gewissermaßen ein Rätsel darin, daß Kolja gerade heute auf den Gedanken gekommen war hinzugeben. Sie gingen über den Marktplatz, wo diesmal viele Fuhren von auswärts standen und viel Geflügel angeboten wurde. Die Marktweiber handelten unter ihren Zeltdächern mit Kringeln, Zwirn und so weiter. Solche Sonntagsmärkte wurden bei uns naiverweise Jahrmärkte genannt, und solche »Jahrmärkte« gab es viele im Jahr. Pereswon lief in der vergnügtesten Stimmung mit, bog jedoch unaufhörlich nach rechts und links ab, um irgendwo an etwas zu riechen. Begegnete er anderen Hunden, beschnüffelte er sich mit ihnen nach allen Regeln der Hunde-Etikette.

»Ich beobachte gern das wirkliche Leben, Smurow«, begann Kolja plötzlich. »Hast du bemerkt, wie die Hunde sich beriechen, wenn sie einander begegnen? Dem liegt ein allgemeines Naturgesetz zugrunde.«

»Ja, ein lächerliches.«

»Lächerlich ist es eigentlich nicht, da hast du unrecht. In der Natur gibt es nichts Lächerliches, wenn es dem Menschen mit seinen Vorurteilen auch so scheinen mag. Könnten die Hunde philosophieren und kritisieren, dann würden sie in den gegenseitigen sozialen Beziehungen ihrer Gebieter, der Menschen, sicher ebensoviel finden, was ihnen lächerlich erscheint, wenn nicht weit mehr. Wenn nicht weit mehr, ich wiederhole das, weil ich fest überzeugt bin, daß die Dummheiten bei uns weit zahlreicher sind. Das ist ein Gedanke von Rakitin, ein beachtenswerter Gedanke. Ich bin Sozialist, Smurow.«

»Was ist das, Sozialist;« fragte Smurow.

»Das ist, wenn alle gleich sind und alle dieselbe Meinung haben, wenn es keine Ehre gibt und die Religion und alle Gesetze so sind, wie es jedem beliebt – na und anderes mehr. Du bist noch nicht alt genug, für dich ist das noch zu früh ... Oh, es ist aber kalt!«

»Ja, zwölf Grad. Mein Vater hat vorhin nach dem Thermometer gesehen.«

»Hast du schon bemerkt, Smurow, daß es einem mitten im Winter, bei fünfzehn oder gar achtzehn Grad, nicht so kalt vorkommt wie zum Beispiel jetzt zu Anfang des Winters, wenn plötzlich die Kälte einsetzt wie jetzt mit zwölf Grad und wenn noch wenig Schnee gefallen ist? Das kommt daher, daß sich die Menschen noch nicht daran gewöhnt haben. Bei den Menschen ist alles Gewohnheitssache, in jeder Hinsicht, sogar in ihren staatlichen und politischen Beziehungen. Die Gewohnheit ist die wichtigste Triebkraft ... Was ist denn das für ein komischer Bauer?«

Kolja zeigte auf einen hochgewachsenen Bauern mit gutmütigem Gesicht, der in einem Schafpelz neben seiner Fuhre stand und seine in Fausthandschuhen steckenden Hände aneinanderschlug, um sich zu erwärmen. Sein langer blonder Bart war von der Kälte ganz bereift.

»Dem Bauern ist der Bart gefroren!« sagte Kolja tiefsinnig mit lauter Stimme, als sie an ihm vorbeigingen.

»Das ist heute vielen passiert«, antwortete der Bauer ruhig und bedächtig.

»Zieh ihn bloß nicht auf!« bemerkte Smurow.

»Das tut nichts, er wird es nicht übelnehmen, er ist ein guter Mensch. Lebe wohl, Matwej!«

»Lebe wohl!«

»Heißt du denn Matwej?«

»Ja. Hast du das nicht gewußt?«

»Nein, ich hab es aufs Geratewohl gesagt.«

»Na, sieh mal an! Du bist wohl Schüler?«

»Ja.«

»Kriegst du auch Prügel?«

»Nicht allzuviel, nur manchmal.«

»Tut das weh?«

»Ohne das geht es nicht!«

»Ja, ja, so ist es im Leben!« seufzte der Bauer aus tiefstem Herzen.

»Lebe wohl, Matwej!«

»Lebe wohl! Du bist ein liebes Kerlchen, jawohl.« Die Jungen gingen weiter.

»Der war freundlich«, sagte Kolja zu Smurow. »Ich rede gern mit einfachen Leuten, und es macht mir immer Freude, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.«

»Warum hast du ihm vorgelogen, daß bei uns geschlagen wird?« fragte Smurow.

»Ich mußte ihm doch ein Vergnügen machen.«

»Inwiefern denn?«

»Siehst du, Smurow, ich kann es nicht leiden, wenn mich jemand nicht gleich versteht und Fragen stellt. Manches kann man einfach nicht klarmachen. Nach Meinung des Bauern bekommt ein Schüler Schläge und muß Schläge bekommen. Was wäre das für ein Schüler, der keine Schläge bekommt, denkt er. Und wenn ich ihm nun auf einmal sage, daß bei uns nicht geschlagen wird, würde ihn das betrüben. Aber du hast dafür kein Verständnis. Man muß es verstehen, mit den einfachen Leuten zu reden.«

»Fang bloß keinen Streit an, sonst kommt am Ende wieder so eine Geschichte heraus wie damals mit der Gans.«

»Hast du Angst?«

»Lach mich nicht aus, Kolja, aber ich habe wirklich Angst. Mein Vater wäre furchtbar böse. Er hat mir streng verboten, mit dir zu gehen.«

»Keine Sorge, diesmal wird nichts passieren ... Guten Tag, Natascha«, rief er einer Händlerin zu, die unter ihrer Markise saß.

»Wie kannst du mich denn Natascha nennen? Ich heiße Marja! schrie die Händlerin, eine ziemlich junge Frau, ärgerlich zurück.

»Das ist schön, daß du Marja heißt. Lebe wohl!«

»Ach, du Taugenichts! So ein Dreikäsehoch, und schon so unverschämt!«

»Ich habe keine Zeit für dich. Nächsten Sonntag kannst du es mir erzählen«, sagte Kolja und winkte ab, als ob sie mit ihm angebunden hätte und nicht er mit ihr.

»Was soll ich dir denn Sonntag erzählen? Du hast selber angefangen, nicht ich, du Rotznase!« kreischte Marja. »Durchprügeln müßte man dich, daß du es weißt! Ein stadtbekannter Frechdachs bist du, daß du es weißt!«

Die anderen Händlerinnen, die mit ihren Waren neben Marja saßen, fingen an zu lachen. Doch plötzlich stürzte aus dem Bogengang, an dem die Läden lagen, ein aufgeregter Mensch mit einem langschößigen, blauen Kaftan und Schirmmütze, jung, mit blondem, lockigem Haar und einem langen, blassen, pockennarbigen Gesicht, wohl eine Art Ladendiener, aber kein einheimischer, sondern einer von auswärts. Er schien ebenso dumm wie aufgeregt zu sein und drohte Kolja sofort mit der Faust.

»Ich kenne dich!« schrie er wütend. »Ich kenne dich!«

Kolja musterte ihn. Er konnte sich nicht erinnern, wann er mit diesem Menschen Streit gehabt haben sollte. Er hatte freilich unzählige Streitereien auf der Straße gehabt; die alle im Gedächtnis zu behalten war unmöglich.

»Du kennst mich?« fragte er ihn ironisch.

»Ja, ich kenne dich! Ich kenne dich!« wiederholte der Ladendiener wie ein Verrückter.

»Na, dann kannst du dich freuen. Aber ich habe keine Zeit, lebe wohl!«

»Was treibst du für Unfug?« rief der Ladendiener. »Willst du wieder Unfug treiben? Ich kenne dich! Willst du wieder Unfug treiben?«

»Das geht dich gar nichts an, lieber Freund, ob ich Unfug treibe«, erwiderte Kolja, blieb stehen und musterte ihn wieder.

»Wieso soll mich das nichts angehen?«

»Ganz einfach, es geht dich nichts an.«

»Aber wen geht es denn an? Wen geht es an? Na, wen geht es an?«

»Das geht Trifon Nikititsch etwas an, aber nicht dich.«

»Was für einen Trifon Nikititsch?« fragte der Bursche und glotzte Kolja mit dummer Verwunderung und immer noch wütend an. Kolja maß ihn mit seinem würdevollen Blick.

»Bist du zur Himmelfahrt gegangen?« fragte er ihn auf einmal in strengem, nachdrücklichem Ton.

»Zu was für einer Himmelfahrt? Warum? Nein, dahin bin ich nicht gegangen«, erwiderte der Bursche etwas verdutzt.

»Kennst du Trifon Nikititsch Sabanejew?« fuhr Kolja noch nachdrücklicher und strenger fort.

»Was für einen Sabanejew? Nein, den kenne ich nicht.«

»Na, dann hol' dich der Teufel!« schnitt Kolja das Gespräch ab, drehte sich kurz um und ging davon, als wäre es unter seiner Würde, mit so einem Tölpel, der nicht einmal Sabanejew kannte, auch nur zu reden.

»Halt mal, he! Was für einen Sabanejew?« rief der Bursche, als ob er zu sich käme; er war wieder ganz aufgeregt. »Wen hat er eigentlich gemeint?« wandte er sich an die Händlerinnen und sah sie dumm an.

Die Weiber lachten.

»Ein pfiffiger Patron!« sagte eine.

»Von was für einem Sabanejew hat er denn bloß gesprochen?« wiederholte der Bursche; er war immer noch wütend und fuchtelte mit dem rechten Arm.

»Das ist sicher der Sabanejew, der bei Kusmitschews im Dienst stand, der muß wohl gemeint sein«, vermutete eine Frau.

Der Bursche sah sie verblüfft an.

»Bei Kus-mi-tschews?« mischte sich eine andere Frau ein. »Was soll da für ein Trifon gewesen sein? Der da im Dienst stand, hieß Kusma und nicht Trifon, und der Bengel redete von einem Trifon Nikititsch. Also ist der nicht gemeint.«

»Nun seht mal an, der hieß nicht Trifon und nicht Sabanejew; der hieß Tschishow«, fiel auf einmal eine dritte Frau ein, die bisher geschwiegen und mit ernster Miene zugehört hatte. »Der hieß Alexej Iwanowitsch, mit seinem vollen Namen Alexej Iwanowitsch Tschishow.«

»Das ist richtig, er hieß Tschishow«, bestätigte eine vierte energisch.

Der verdutzte Bursche blickte von einer zur anderen.

»Aber warum hat er denn gefragt, liebe Leute: ›Kennst du Sabanejew?‹?« rief er beinahe schon verzweifelt. »Weiß der Teufel, was das für ein Sabanejew ist!«

»Du bist ein Dummkopf! Du hörst, daß es nicht Sabanejew ist, sondern Tschishow. Alexej Iwanowitsch Tschishow, nun weißt du es!« schrie ihm eine Händlerin belehrend zu.

»Was denn für ein Tschishow? Na, was für einer? Sprich, wenn du es weißt!«

»So ein langer, rotznasiger Bursche. Er hat im Sommer hier auf dem Markt gesessen.«

»Was geht mich euer Tschishow an, ihr lieben Leute?«

»Woher soll ich wissen, was dich Tschishow angeht?«

»Wer kann denn wissen, was er dich angeht!«, fiel eine andere ein. »Das mußt du selber wissen, was er dich angeht, wenn du hier so ein Geschrei machst. Er hat es doch zu dir gesagt und nicht zu uns, du dummer Mensch! Oder kennst du ihn wirklich nicht?«

»Wen?«

»Den Tschishow.«

»Der Teufel hole deinen Tschishow und dich dazu! Verprügeln werde ich ihn, nun weißt du es! Er hat sich über mich lustig gemacht!«

»Du willst Tschishow verprügeln? Oder er dich! Ein Dummkopf bist du, nun weißt du es!«

»Nicht Tschishow will ich verprügeln, du boshaftes Weib, sondern den Bengel, nun weißt du es! Gebt ihn nur her! Er hat sich über mich lustig gemacht!«

Die Frauen lachten. Kolja aber lief schon in weiter Entfernung mit der Miene des Siegers. Smurow ging neben ihm und sah sich mehrmals nach der schreienden Gruppe um. Auch er war sehr fröhlich, obwohl er noch immer fürchtete, mit Kolja in irgendeinen Skandal hineinzugeraten.

»Was ist denn das für ein Sabanejew, nach dem du ihn gefragt hast?« fragte er Kolja, dessen Antwort er im voraus ahnte.

»Woher soll ich wissen, was das für einer ist? Jetzt werden sie sich bis zum Abend anschreien. Ich bringe die Dummköpfe in allen Schichten der Gesellschaft in Bewegung. Da steht noch so ein Tölpel, dieser Bauer da. Ach übrigens, man sagt: ›Es gibt nichts Dümmeres als einen dummen Franzosen.‹ Aber auch die russische Physiognomie ist ein Spiegel der Seele. Na, steht es diesem Kerl nicht im Gesicht geschrieben, daß er ein Dummkopf ist?«

»Laß ihn in Ruhe, Kolja! Wir wollen weitergehen.«

»Auf keinen Fall werde ich ihn in Ruhe lassen, ich bin jetzt in Fahrt gekommen. Heda! Guten Tag, Bauer!«

Der kräftige Bauer, der langsam an ihnen vorbeiging und wohl schon etwas getrunken hatte, mit rundem, schlichtem Gesicht und graumeliertem Bart, hob den Kopf und blickte das Bürschchen an.

»Na, guten Tag, wenn du nicht bloß Spaß, machst«, antwortete er langsam.

»Und wenn ich nun bloß Spaß mache?« erwiderte Kolja lachend.

»Na, wenn du bloß Spaß machst, auch gut, in Gottes Namen. Da ist nichts dabei, das darf man. Ein Späßchen darf man schon mal machen.«

»Entschuldige, lieber Freund, ich habe wirklich bloß Spaß gemacht.«

»Nun, Gott wird es dir verzeihen.«

»Und du selber, verzeihst du mir?«

»Von Herzen! Geh nur weiter!«

»Sieh mal an, du bist ja am Ende ein ganz verständiger Bauer.«

»Verständiger als du«, lautete die überraschende Antwort, die wie alle bisherigen mit ruhigem Ernst gegeben wurde.

»Das doch wohl kaum«, versetzte Kolja etwas betroffen.

»Es ist bestimmt so, wie ich sage.«

»Na, am Ende ist es wirklich so.«

»Gewiß, mein Lieber!«

»Lebe wohl, Bauer!«

»Lebe wohl!«

»Die Bauern sind doch recht verschieden«, bemerkte Kolja nach einigem Schweigen. »Woher sollte ich aber auch wissen, daß ich da auf einen klugen Menschen stoße? Ich bin immer gern bereit, Klugheit beim einfachen Volk anzuerkennen.«

In der Ferne schlug die Domuhr halb zwölf. Die Jungen beeilten sich und legten den noch ziemlich langen Rest des Weges zur Wohnung des Stabskapitäns Snegirjow schnell und fast schweigend zurück. Zwanzig Schritte vor dem Haus blieb Kolja stehen und forderte Smurow auf, vorauszugehen und Karamasow herauszuschicken.

»Wir müssen uns erst einmal beriechen«, bemerkte er.

»Wozu willst du ihn erst herausrufen lassen?« wandte Smurow ein. »Komm doch einfach mit hinein, sie werden sich sehr freuen. Warum willst du seine Bekanntschaft hier in der Kälte machen?«

»Ich weiß, warum ich ihn hier in der Kälte sprechen will«, schnitt Kolja despotisch jede Widerrede ab (diesem »Kleinen« gegenüber tat er das außerordentlich gern), und Smurow ging hinein, den Auftrag zu erfüllen.

4. Shutschka

Kolja lehnte sich mit würdevoller Miene an einen Zaun und wartete auf Aljoscha. Er hatte schon seit längerer Zeit gewünscht, mit ihm zusammenzukommen. Von den anderen hatte er viel über ihn gehört, sich jedoch bisher immer geringschätzig und gleichgültig gegeben, wenn die Rede auf Aljoscha kam; ja, er hatte ihn sogar oft »kritisiert«, sobald von ihm berichtet wurde. Aber im stillen trug er ein großes Verlangen, seine Bekanntschaft zu machen: In allen Erzählungen über Aljoscha war etwas gewesen, was ihn sympathisch berührt und angezogen hatte. So war denn der jetzige Augenblick für ihn von großer Bedeutung. Vor allem durfte er sich nicht blamieren, sondern mußte seine geistige Selbständigkeit an den Tag legen. ›Sonst sagt er sich, daß ich erst dreizehn Jahre alt bin, und behandelt mich als kleinen Jungen wie die anderen. Was hat er an diesen kleinen Jungen? Danach will ich ihn fragen, wenn ich mit ihm in Kontakt treten sollte. Unangenehm ist nur, daß ich so klein gewachsen bin. Tusikow ist jünger als ich, aber einen halben Kopf größer. Dafür habe ich ein kluges Gesicht. Ich bin nicht hübsch, ich weiß, daß ich ein häßliches Gesicht habe, aber das Gesicht ist klug. Ich darf mich bloß nicht zu sehr aufknöpfen, sonst kommen gleich Umarmungen, und er könnte denken ... Pfui Teufel, das wäre ja schrecklich, wenn er so etwas denkt ...‹

So regte sich Kolja auf, während er sich nach Kräften bemühte, eine recht selbstbewußte Miene zu machen. Am meisten ärgerte ihn seine kleine Statur, weniger sein »häßliches« Gesicht als vielmehr seine Größe. Zu Hause hatte er schon im vorigen Jahr in einer Ecke an der Wand einen Bleistiftstrich gemacht, der seine Größe angab, und seitdem war er alle zwei Monate in großer Erregung herangetreten, um wieder zu messen, wieviel er gewachsen war. Doch leider wuchs er nur sehr wenig, und das brachte ihn manchmal geradezu zur Verzweiflung. Und sein Gesicht war überhaupt nicht »häßlich«, sondern ziemlich hübsch, weiß, etwas blaß, sommersprossig. Die kleinen, aber lebhaften grauen Augen blickten keck in die Welt und spiegelten oft klar und leuchtend seine innersten Gefühle. Seine Backenknochen waren etwas breit, die Lippen klein, nicht dick, aber sehr rot, die Nase klein und erheblich nach oben gebogen. »Die reinste Stupsnase, die reinste Stupsnase!« murmelte Kolja vor sich hin, wenn er in den Spiegel sah, und ging immer mit einem Gefühl der Entrüstung vom Spiegel weg. ›Ist denn mein Gesicht auch wirklich klug?‹ dachte er manchmal sogar zweifelnd. Man braucht jedoch nicht zu glauben, daß die Sorge um sein Gesicht und um seine Größe ihn ganz ausgefüllt hätte. Nein, so peinlich auch die Augenblicke vor dem Spiegel waren, er vergaß sie schnell wieder, und dann sogar für lange Zeit, da er sich ganz »den Ideen und dem wirklichen Leben« hingab, wie er selbst seine Tätigkeit charakterisierte.

Aljoscha erschien bald und ging rasch auf Kolja zu, der schon aus einiger Entfernung sah, daß Aljoscha ein freudiges Gesicht machte. ›Freut er sich wirklich so über mein Kommen?‹ dachte Kolja froh. Wir bemerken bei dieser Gelegenheit, daß sich Aljoscha seit der Zeit, da wir ihn verließen, sehr verändert hatte. Er hatte die Kutte abgelegt und trug jetzt einen gutgearbeiteten Rock, einen weichen, runden Hut und kurzgeschnittenes Haar. Alles dies stand ihm sehr gut, und er sah jetzt geradezu hübsch aus. Sein freundliches Gesicht hatte immer einen heiteren Ausdruck; es war eine stille, ruhige Heiterkeit. Zu Koljas Erstaunen kam Aljoscha zu ihm heraus, wie er im Zimmer gesessen hatte, ohne Überzieher; er hatte sich offensichtlich beeilt. Er reichte Kolja ohne Umstände die Hand.

»Da sind Sie ja endlich, wir haben Sie alle schon sehnsüchtig erwartet.«

»Mein Ausbleiben hatte seine Gründe, die Sie gleich erfahren werden. Jedenfalls freue ich mich, ihre Bekanntschaft zu machen. Ich habe schon längst auf eine Gelegenheit gewartet und viel von ihnen gehört«, murmelte Kolja etwas mühsam.

»Wir hätten uns ja ohnedies kennengelernt. Ich habe auch viel von ihnen gehört. Aber hierher hätten Sie viel früher kommen sollen.«

»Sagen Sie, wie steht es hier?«

»Iljuscha geht es sehr schlecht, er wird bestimmt sterben.«

»Was sagen Sie! Da müssen Sie doch zugeben, Karamasow, daß dir ärztliche Wissenschaft ein Humbug ist!« rief Kolja erregt.

»Iljuscha hat Sie oft, sehr oft erwähnt, wissen Sie, sogar im Schlaf, beim Phantasieren. Offenbar hat er Sie früher sehr, sehr gemocht ... Vor dieser Geschichte mit dem Messer. Aber da ist auch noch ein anderer Grund ... Sagen Sie, ist das ihr Hund?«

»Ja, er heißt Pereswon.«

»Nicht Shutschka?« Aljoscha sah Kolja bedauernd an. »Der ist wohl ganz und gar verschwunden?«

»Ich weiß, daß Sie alle gern Shutschka wiederhaben möchten, ich habe alles gehört«, erwiderte Kolja mit rätselhaftem Lächeln.