Die Bruderschaft der Black Dagger - J. R. Ward - E-Book

Die Bruderschaft der Black Dagger E-Book

J. R. Ward

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Beschreibung

Ein Muss für alle »Black Dagger«-Fans

Von den Fans sehnsüchtig erwartet und von den Vampir-Liebhabern sofort verschlungen – J. R. Wards »Black-Dagger«-Romane landen jedes Mal auf der Bestsellerliste! Mit ihren düster-erotischen Geschichten um den erbitterten Kampf und die dunklen Leidenschaften der letzten Vampire auf Erden hat J. R. Ward in der Mystery neue Maßstäbe gesetzt.

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Seitenzahl: 784

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Titel der amerikanischen Originalausgabe THE BLACK DAGGER BROTHERHOOD: AN INSIDER’S GUIDE Deutsche Übersetzung von Carolin Müller und Astrid FinkePenguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München. Umschlaggestaltung: animagic
ISBN : 978-3-641-04434-3V004
www.heyne-magische-bestseller.de
www.penguinrandomhouse.de
Inhaltsverzeichnis
 
Das Buch
Die Autorin
Widmung
 
I. – Vater, mein Vater
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
EPILOG
 
II. – Die Dossiers der Bruderschaft
Seine Königliche Hoheit Wrath, Sohn des Wrath
Rhage, Sohn des Tohrture
Zladilt, Sohn des Ahgony
Dheltroyer, Nachkomme von Wrath, Sohn des Wrath
Vilhoul, Sohn des Bloodletter
Phury, Sohn des Ahgony
 
III. – Von Autor zu Autor
Rat und FAQs
 
IV. – Das Black-Dagger-Propolal
ÜBERBLICK/THEMEN
HAUPTFIGUREN
Beth Randall
Wrath
Marissa
Brian »Butch« O’Neal
Havers
Die Bruderschaft
Die Gesellschaft der Lesser
Joe Xavier, alias Mr X
DIE BEDINGUNGEN DER WELT DER BRUDERSCHAFT
HANDLUNGSVERLAUF
 
V. – Entfallene Szenen
 
VI. – Lachen mit der Bruderschaft
Nachtjagd
Blutopfer
Ewige Liebe
Bruderkrieg
Mondlpur
Dunkles Erwachen
Menlchenkind
Vampirherz
Seelenjäger
Todelfluch
Blutlinien
Vampirträume
 
VII. – Die Bruderschaft auf dem Forum
 
VIII. – Aus dem Leben gegriffen
Kinoabend – gepostet am 17. Mai 2006
Wrath und der Brieföffner – Gepostet am 23. Juli 2006
Phurys wahres Welen – gepostet am 15. August 2006
Das Interview, das nie ltattfand – gepostet am 6. Oktober 2007
 
IX. – Fragen und Antworten mit J. R. Ward
 
X. – Die Zeittafel der Bruderschaft
 
XI. – Die Alte Sprache
 
XII. – Das Interview der Brüder mit J. R.
Das Interview der Bruderschaft
 
XIII. – In Memoriam
 
Danksagung
Die magische Welt von J. R. Wards Black Dagger
Copyright
Das Buch
Der Krieger Zsadist, das geheimnisvollste Mitglied der Bruderschaft der BLACK DAGGER, hat in der schönen Bella die Frau seines Lebens gefunden. Nur sie allein kann dem ruhelosen und Furcht einflößenden Vampir endlich Frieden geben. Doch Zsadists Vergangenheit als Blutsklave und die Schuld, die er auf sich geladen hat, lasten schwer auf ihm. Als seine kleine Tochter Nalla geboren wird, stürzt er in einen Abgrund aus Verwirrung und Verzweiflung. Bella sieht schließlich keinen anderen Ausweg mehr, als ihren Hellren zu verlassen. Erst als Zsadist in tödliche Gefahr gerät, erkennt sie, was er ihr wirklich bedeutet. Doch wird sie ihren Geliebten noch retten können …
 
Mit DIE BRUDERSCHAFT DER BLACK DAGGER legt J. R. Ward einen einzigartigen Materialienband zu ihrer Mystery-Bestsellerserie vor. In zahllosen Interviews, Diskussionsbeiträgen, Hintergrundinformationen und der exklusiven BLACK-DAGGER-Novelle »Vater, mein Vater« lüftet sie die dunklen Geheimnisse der Vampir-Bruderschaft.
 
Die BLACK DAGGER-Serie
Erster Roman: Nachtjagd Zweiter Roman: Blutopfer Dritter Roman: Ewige Liebe Vierter Roman: Bruderkrieg Fünfter Roman: Mondspur Sechster Roman: Dunkles Erwachen Siebter Roman: Menschenkind Achter Roman: Vampirherz Neunter Roman: Seelenjäger Zehnter Roman: Todesfluch Elfter Roman: Blutlinien Zwölfter Roman: Vampirträume Sonderband: Die Bruderschaft der BLACK DAGGER
Die Autorin
J. R. Ward begann bereits während ihres Studiums mit dem Schreiben. Nach ihrem Hochschulabschluss veröffentlichte sie die BLACK-DAGGER-Serie, die in kürzester Zeit die amerikanischen Bestseller-Listen eroberte. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihrem Golden Retriever in Kentucky und gilt seit dem überragenden Erfolg der Serie als neuer Star der romantischen Mystery.
Besuchen Sie J. R. Ward unter: www.jrward.com
Für die Brüder
I.
Vater, mein Vater
1
Also ich finde, Bella sieht richtig gut aus.«
In der Küche im großen Haus der Bruderschaft stand Zsadist und schnitt einen Kopf Romagna-Salat in zwei Zentimeter dicke Streifen. »Ja, stimmt.«
Er mochte Doc Jane. Und nicht nur das – er schuldete ihr was. Trotzdem musste er sich ermahnen, um seine guten Manieren nicht zu vergessen: Es wäre ziemlich schlechter Stil gewesen, einer Frau den Kopf abzureißen, die nicht nur die Shellan seines Bruders war, sondern auch noch die Liebe seines Lebens davor bewahrt hatte, im Kreißsaal zu verbluten.
»In den letzten zwei Monaten hat sie sich fantastisch erholt.« Doc Jane beobachtete ihn vom Tisch aus. Ihre altertümliche Arzttasche stand neben ihrer Geisterhand. »Und Nalla macht sich prächtig. Einfach Wahnsinn, Vampirkinder entwickeln sich so viel schneller als menschliche Säuglinge. Sie hat die kognitiven Fähigkeiten eines neun Monate alten Babys.«
»Es geht den beiden super.« Zsadist schnitt immer weiter, bewegte die Hand nach unten und vorne, unten und vorne. Die abgetrennten Blätter lösten sich in gewellten grünen Bändern, als applaudierten sie ihrem Befreier.
»Und wie geht es dir jetzt mit dieser ganzen Vater-Nummer …«
»Scheißdreck!«
Fluchend ließ er das Messer fallen und hob die Hand, die den Salatkopf festgehalten hatte. Der Schnitt war tief, ging bis auf den Knochen, und Blut quoll daraus hervor und tropfte herunter.
Jane trat zu ihm. »Ganz ruhig. Komm mit zum Waschbecken.«
Immerhin fasste sie ihn nicht am Arm an oder versuchte, ihn mit einem Schubs zwischen die Schulterblätter nach vorn zu treiben; sie stand nur dicht neben ihm und deutete auf die Spüle.
Nach wie vor durfte niemand außer Bella ihn berühren, wobei er schon Fortschritte gemacht hatte. Seine Hand tastete nicht mehr bei jedem unerwarteten Körperkontakt nach einer verborgenen Knarre, und er verpasste dem Übeltäter, der seine Finger nicht bei sich behalten konnte, immerhin keine Kugel.
Als sie gemeinsam vor der Spüle standen, riss Jane den Hebel rasch herum, so dass ein warmer Wasserstrahl in das tiefe Porzellanbecken strömte.
»Halt die Hand da drunter«, ordnete sie an.
Er streckte den Arm aus und hielt den Daumen in das heiße Wasser. Der Schnitt brannte heftig, aber er verzog keine Miene. »Lass mich raten. Bella hat dich gebeten, mal mit mir zu reden.«
»Nein.« Als er ihr einen Seitenblick zuwarf, schüttelte die Ärztin den Kopf. »Ich habe sie und die Kleine nur untersucht. Sonst nichts.«
»Dann ist ja gut. Denn mir geht’s wunderbar.«
»Ich habe schon geahnt, dass du so was in der Art sagen würdest.« Jane verschränkte die Arme vor der Brust und bedachte ihn mit einem Blick, unter dem er am liebsten eine Ziegelwand zwischen ihnen beiden hochgezogen hätte. Ob in festem Zustand oder – wie jetzt gerade – durchsichtig, war völlig egal: Wenn Doc Jane einen auf diese Art und Weise fixierte, fühlte man sich wie mit dem Sandstrahler bearbeitet. Kein Wunder, dass sie und V so gut miteinander klarkamen.
»Sie hat erwähnt, dass du dich nicht von ihr nähren willst.«
Z zuckte die Achseln. »Nalla braucht das, was ihr Körper bieten kann, mehr als ich.«
»Aber es geht nicht um ein Entweder-oder. Bella ist jung und gesund, und sie hat einen gesegneten Appetit. Und du hast sie von dir trinken lassen.«
»Natürlich. Sie soll alles bekommen. Sie und ihr Baby.«
Ein langes Schweigen folgte. Dann sagte Jane: »Vielleicht möchtest du dich mal mit Mary unterhalten?«
»Worüber?« Er stellte das Wasser ab und schüttelte seine Hand über dem Becken aus. »Muss man jetzt schon zum Seelenklempner, nur weil man die Bedürfnisse seiner Shellan achtet? Was soll der Scheiß?«
Er riss ein Küchentuch von der Rolle an der Wand unter den Hängeschränken ab und trocknete sich die Hand damit ab.
»Für wen ist der Salat, Z?«, fragte die Ärztin.
»Was?«
»Der Salat. Für wen ist der?«
Er zog den Mülleimer heraus und warf das Küchentuch hinein. »Bella. Er ist für Bella. Hör mal, nichts für ungut, aber …«
»Und wann hast du zuletzt was gegessen?«
Er hielt die Hände abwehrend hoch. »Es reicht. Ich weiß, dass du es gut meinst, aber meine Geduld kennt Grenzen, und das Letzte, was wir brauchen können, ist dass Vishous hinter mir her ist, weil ich dich angeschnauzt habe. Ich verstehe, worauf du hinauswillst …«
»Sieh dir deine Hand an.«
Er senkte den Blick. Blut floss über seinen Daumenballen auf das Handgelenk und den Unterarm. Hätte er kein kurzärmeliges T-Shirt angehabt, hätte sich das Zeug in seiner Armbeuge angesammelt. So aber tröpfelte es allmählich auf die Terrakotta-Fliesen.
Janes Stimme war aufreizend ruhig, ihre Logik ärgerlich schlüssig. »Du arbeitest in einer gefährlichen Branche, du musst dich auf deinen Körper verlassen können, wenn dir dein Leben lieb ist. Du willst nicht mit Mary sprechen? Na schön. Aber du musst physisch ein paar Zugeständnisse machen. Dieser Schnitt hätte sich längst schließen müssen. Hat er aber nicht, und ich möchte wetten, dass er noch eine Stunde lang blutet.« Sie schüttelte den Kopf. »Meine Bedingungen lauten also folgendermaßen: Wrath hat mich zur Leibärztin der Bruderschaft ernannt. Wenn du Essen, Nähren und Schlafen so sehr vernachlässigst, dass es deine Leistung beeinträchtigt, dann ziehe ich dich aus dem Verkehr, und du kannst das nächste Spiel von der Bank aus verfolgen.«
Z starrte auf die glänzend roten Tropfen, die aus der Wunde sickerten. Das Rinnsal floss über die gut zwei Zentimeter breite Sklavenfessel, die vor fast zweihundert Jahren um sein Handgelenk tätowiert worden war. Auch am anderen Arm und um den Hals trug er diese Kennzeichnung.
Er riss ein weiteres Stück Küchenrolle ab. Das Blut ließ sich leicht abwischen, doch das, womit ihn seine perverse Herrin gekennzeichnet hatte, war nicht abzustreifen. Die Tinte war tief in sein Gewebe eingebettet, um zu zeigen, dass er jemandes Eigentum zum freien Gebrauch war, kein Individuum mit einem eigenen freien Willen.
Unvermittelt musste er an Nallas Babyhaut denken, so unfassbar glatt und völlig unversehrt. Jeder bestaunte, wie zart sie war. Bella. Alle seine Brüder. Jede der Shellans im Haus. Es war immer einer der ersten Kommentare, die fielen, wenn jemand Nalla auf den Arm nahm. Ihre Haut, und dass sie so knuddelig war wie ein Daunenkissen.
»Hast du jemals versucht, die entfernen zu lassen?«, fragte Jane sanft.
»Das geht nicht«, antwortete er sofort. »Die Tinte enthält Salz. Das kriegt man nicht weg.«
»Aber hast du es jemals probiert? Heutzutage gibt es Laser, die …«
»Ich sollte mich besser mal um diese Wunde kümmern, damit ich hier weitermachen kann.« Er schnappte sich noch ein Papiertuch. »Ich brauche Verbandsmull und Klebeband …«
»Das habe ich alles in meiner Tasche.« Sie wandte sich dem Tisch zu. »Alles hier …«
»Danke, nein. Ich mach das lieber selbst.«
Jane sah ihn mit klarem Blick an. »Du darfst von mir aus gerne unabhängig sein. Aber Dummheit lasse ich nicht durchgehen. Verstanden? Die Reservebank wartet schon auf dich.«
Wäre sie einer seiner Brüder gewesen, hätte er jetzt die Fänge gefletscht und sie angezischt. Doch das konnte er mit Jane nicht machen, und zwar nicht nur, weil sie eine Frau war. Sie bot einfach keine Angriffsfläche. So, wie sie dastand, verkörperte sie durch und durch eine objektive, medizinische Meinung.
»Haben wir uns verstanden?«, hakte sie nach, vollkommen unbeeindruckt von seinem grimmigen Blick.
»Ja, ich habe dich gehört.«
»Dann ist ja gut.«
 
»Er hat Alpträume … Gott, diese Alpträume.«
Bella beugte sich hinunter und stopfte die schmutzige Windel in den Eimer. Dann zog sie eine frische Pampers unter der Wickelkommode hervor und stellte Puder und feuchte Tücher bereit. Sie umschloss Nallas Fußgelenke, hob den kleinen Popo ihrer Tochter hoch, wischte ihn schnell und schwungvoll sauber, bestäubte ihn mit Puder und legte ihr dann die neue Windel unter.
Phurys Stimme aus der anderen Ecke des Kinderzimmers war leise. »Alpträume über seine Zeit als Blutsklave?«
»Davon gehe ich aus.« Sie ließ Nallas gesäuberten Popo wieder herunter und klebte die Windel an den Seiten zu. »Weil er sich weigert, mit mir darüber zu sprechen.«
»Hat er in letzter Zeit gegessen? Sich genährt?«
Bella schüttelte den Kopf, während sie Nallas Strampler zuknöpfte. Er war blassrosa, und auf der Vorderseite war ein weißer Totenschädel mit gekreuzten Knochen zu sehen. »Kaum Essen, kein Nähren. Es ist, als ob … Ich weiß auch nicht, an dem Tag, als sie auf die Welt kam, wirkte er so ergriffen und begeistert und glücklich. Aber dann wurde irgendein Schalter in ihm umgelegt, und er hat dichtgemacht. Es ist wieder beinahe so schlimm wie am Anfang.« Sie betrachtete Nalla, die mit ihren Händchen auf dem Bild auf ihrer kleinen Brust herumpatschte. »Entschuldige, dass ich dich gebeten habe, herzukommen … ich weiß einfach nicht, was ich sonst tun soll.«
»Ich bin froh darüber. Du weißt, dass ich immer für euch beide da bin.«
Während Nalla sich an ihre Schulter schmiegte, drehte Bella sich um. Phury lehnte an der cremefarbenen Wand, sein riesiger Körper unterbrach das Muster von Hand gezeichneter Häschen und Eichhörnchen und Rehkitze.
»Ich möchte dich nicht in eine unangenehme Position bringen. Oder dich unnötigerweise von Cormia fernhalten.«
»Das tust du nicht.« Er schüttelte den Kopf, sein buntes Haar schimmerte. »Ich bin nur so still, weil ich krampfhaft überlege, was zu tun ist. Mit ihm zu sprechen, ist nicht immer die beste Lösung.«
»Wohl wahr. Aber mir gehen langsam sowohl die Ideen als auch die Geduld aus.« Bella setzte sich in den Schaukelstuhl und legte sich die Kleine in den Schoß.
Nallas leuchtend gelbe Augen blickten aus ihrem Engelsgesicht, und es lag Erkenntnis darin. Sie wusste ganz genau, wer bei ihr war … und wer nicht. Das Bewusstsein war in der vergangenen Woche gekommen. Und hatte alles verändert.
»Er will sie nicht im Arm halten. Er nimmt sie nicht einmal hoch.«
»Ist das dein Ernst?«
Bellas Tränen ließen das Gesicht ihrer Tochter vor ihren Augen verschwimmen. »Verdammt nochmal, wann hört denn diese postnatale Depression endlich auf? Ich fange bei jeder Kleinigkeit an zu heulen.«
»Meinst du das ernst – nicht ein einziges Mal? Er hat sie noch nie aus der Wiege gehoben oder …«
»Er fasst sie nicht an. Verdammt, kannst du mir mal ein Taschentuch geben?« Als er ihr die Schachtel hinhielt, zupfte sie ein Kleenex heraus und drückte es sich vor die Augen. »Ich bin total neben der Spur. Immerzu muss ich daran denken, dass Nalla sich ihr ganzes Leben lang fragen wird, warum ihr Vater sie nicht liebt.« Sie fluchte leise, als noch mehr Tränen flossen. »Ach, das ist doch lächerlich.«
»Das ist nicht lächerlich«, sagte er. »Überhaupt nicht.«
Phury kniete sich vor sie hin und hielt ihr die Kleenexpackung entgegen. Ohne Sinn und Verstand bemerkte Bella, dass auf der Schachtel zwei Reihen Laubbäume abgebildet waren, zwischen denen sich eine schmale Straße in die Ferne wand. Magentafarben blühende Büsche ließen die Ahornbäume aussehen, als trügen sie Tüllröckchen.
Sie malte sich aus, über diese Allee zu spazieren … zu einem Ort, der weit besser war als dieser Ort hier.
Sie nahm sich noch ein Taschentuch. »Weißt du, ich bin ohne Vater aufgewachsen, aber wenigstens hatte ich Rehvenge. Wie es wäre, einen Vater zu haben, der zwar am Leben, aber für mich tot ist, kann ich mir nicht vorstellen.« Mit einem leisen Gurren gähnte Nalla herzhaft, schniefte und rieb sich das Gesicht mit dem Rücken ihrer Faust. »Sieh sie dir an. Sie ist so unschuldig. Und sie reagiert so stark auf Liebe … ich meine … ach, verdammt nochmal, vielleicht sollte ich mir Kleenex-Aktien kaufen.«
Mit einem unwilligen Schnauben zupfte sie noch ein Tuch aus der Schachtel. Um Phury nicht ansehen zu müssen, während sie sich die Nase putzte, ließ sie den Blick durch den fröhlichen Raum wandern, der vor der Geburt ein riesiger begehbarer Wandschrank gewesen war. Jetzt war alles auf ihre Tochter ausgerichtet, mit dem Schaukelstuhl aus Kiefernholz, den Fritz selbst gebaut hatte, und der dazu passenden Wickelkommode und der Wiege, die immer noch mit bunten Schleifen verziert war.
Als ihr Blick an dem niedrigen Bücherregal mit all den großformatigen, flachen Bänden hängenblieb, fühlte sie sich noch elender. Sie und die anderen Brüder waren diejenigen, die Nalla vorlasen, die die Kleine auf den Schoß nahmen und bunte Buchdeckel aufklappten und gereimte Worte vortrugen.
Niemals war es Nallas Vater, obwohl Z schon vor einem knappen Jahr lesen gelernt hatte.
»Er nennt sie auch nicht seine Tochter. Sie ist meine Tochter. Für ihn gehört sie mir, nicht uns.«
Phury stieß ein empörtes Geräusch aus. »Nur zu deiner Information, ich muss mir alle Mühe geben, ihm nicht auf der Stelle die Seele aus dem Leib zu prügeln.«
»Es ist nicht seine Schuld. Ich meine, nach allem, was er durchgemacht hat … vermutlich hätte ich damit rechnen müssen.« Sie räusperte sich. »Diese ganze Schwangerschaft war ja überhaupt nicht geplant, und ich frage mich … vielleicht nimmt er es mir übel und bedauert, dass es Nalla gibt?«
»Du bist sein Wunder. Das weißt du doch.«
Mit einem neuen Taschentuch in der Hand schüttelte sie den Kopf. »Aber ich bin jetzt nicht mehr allein. Und ich werde sie nicht hier aufziehen, wenn er nicht mit uns beiden leben kann … dann werde ich ihn verlassen.«
»Hey, hey, das finde ich jetzt etwas überstürzt …«
»Sie beginnt, Leute zu erkennen, Phury. Sie fängt an, zu begreifen, dass sie abgewiesen wird. Und er hatte drei Monate Zeit, sich an die Vorstellung zu gewöhnen. Es wird immer schlimmer statt besser.«
Als Phury hörbar fluchte, hob Bella den Kopf und sah in die hellgelben Augen des Zwillingsbruders ihres Hellren. Mein Gott, diese Zitrinfarbe leuchtete auch aus dem Gesicht ihrer Tochter, niemals könnte sie Nalla ansehen, ohne an ihren Vater zu denken. Und doch …
»Im Ernst«, sagte sie, »was wird in einem Jahr sein? Es gibt nichts Einsameres, als neben jemandem zu schlafen, den man so vermisst, als wäre er meilenweit weg. Oder so einen Vater zu haben.«
Nalla streckte ihr molliges Händchen aus und griff nach einem der Taschentücher.
»Ich wusste nicht, dass du hier bist.«
Bellas Blick schnellte zur Tür. Dort stand Zsadist, ein Tablett mit Salat und einem Krug Limonade in den Händen. Um seine linke Hand war ein Verband gewickelt, und seine Miene verbot eindeutig, ihm dazu Fragen zu stellen.
Wie er dort auf der Schwelle des Kinderzimmers stand, war er genau der, in den sie sich damals verliebt hatte: ein riesiger Mann mit kurzgeschorenen Haaren und einer Narbe quer über das Gesicht, der Sklavenfesseln um Hals und Handgelenke trug, und Brustwarzenpiercings, die sich durch sein enges schwarzes T-Shirt abzeichneten.
Sie dachte an ihre allererste Begegnung; damals trommelte er unten im Trainingszentrum auf einen Boxsack ein. Er war unheimlich wendig gewesen, seine Fäuste flogen zu schnell, um ihnen mit den Augen zu folgen. Dann hatte er einen schwarzen Dolch aus dem Brusthalfter gezogen und damit auf den Sack eingestochen, hatte die Klinge durch das Leder gezogen, bis die Füllung herausquoll wie die Eingeweide eines Lessers.
Später hatte sie erfahren, dass er mehr war als ein verbissener Kämpfer; in seinen Händen lag auch große Güte. Und dieses zerstörte Gesicht mit der verzerrten Oberlippe hatte gelächelt, und er hatte sie voller Liebe angesehen.
»Ich bin hier, um Wrath zu treffen.« Phury erhob sich.
Zs Augen wanderten rasch zu der Kleenexschachtel, die sein Zwillingsbruder in der Hand hielt, und von dort aus zu dem zerknüllten Taschentuch in Bellas Hand. »So, so.«
Als er in den Raum trat und das Tablett auf der Kommode abstellte, in der Nallas Kleider aufbewahrt wurden, sah er seine Tochter nicht an. Sie allerdings bemerkte sehr wohl, dass er im Zimmer war. Die Kleine wandte ihr Gesicht in seine Richtung, der noch unfokussierte Blick flehend, die runden kleinen Arme in seine Richtung gereckt.
Z zog sich wieder in den Flur zurück. »Dann wünsche ich dir viel Vergnügen bei dem Treffen. Ich gehe auf die Jagd.«
»Ich bring dich zur Tür«, sagte Phury.
»Keine Zeit. Bis dann.« Einen Moment lang sah Z Bella in die Augen. »Ich liebe dich.«
2
Als Zsadist in Panik zu sich kam, versuchte er, seine Atmung unter Kontrolle zu bekommen und sich zu orientieren, aber seine Augen waren keine große Hilfe. Alles war dunkel … er war eingehüllt in eine dichte, kalte Schwärze, die er – ganz gleich, wie sehr er sich anstrengte – nicht durchdringen konnte. Er hätte in einem Schlafzimmer sein können, draußen auf den Straßen … oder in einer Zelle.
So war er schon viele, viele Male aus dem Schlaf geschreckt. Hundert Jahre lang, als Blutsklave, war er in panischer Blindheit erwacht und hatte sich gefragt, was ihm angetan werden würde, und von wem. Und nach seiner Befreiung – waren die Alpträume und ihre Folgen geblieben.
In beiden Fällen war es solcher Quatsch. Als er noch Eigentum der Herrin gewesen war, hatte ihm das Grübeln über das Wer, Was, Wann kein bisschen weitergeholfen. Die Misshandlungen waren unausweichlich gewesen, ob er nun mit dem Gesicht nach unten oder nach oben auf dem Podest lag: Er wurde benutzt, bis sie und ihre Hengste gesättigt waren; dann ließ man ihn erniedrigt und tropfend liegen, allein in seinem Kerker.
Und jetzt, in seinen bösen Träumen? Mit derselben Todesangst aufzuwachen, die er als Sklave empfunden hatte, verlieh den vergangenen Schrecken, die sein Unterbewusstsein fortwährend hervorwürgte, nur noch mehr Nachdruck.
Wenigstens … glaubte er, dass er träumte.
Echte Panik regte sich, als er überlegte, welche Finsternis ihn umschlang: War es die Finsternis der Zelle? Oder die Finsternis des gemeinsamen Schlafzimmers mit Bella? Er wusste es nicht. Beide sahen gleich aus, wenn keine Anhaltspunkte zu erkennen waren, und er nur dem Klang seines eigenen pochenden Herzens lauschen konnte.
Die Lösung? Er würde versuchen, seine Arme und Beine zu bewegen. Wenn sie nicht angekettet, wenn sie ohne Fesseln waren, dann hieß das, er befand sich lediglich wieder einmal im Würgegriff seines eigenen Kopfes, und die Vergangenheit reckte sich aus der Friedhofserde seiner Erinnerungen und umklammerte ihn mit knochigen Händen.
Genau. Arme und Beine bewegen.
Seine Arme. Seine Beine. Mussten sich bewegen.
Bewegt euch.
O mein Gott … verflucht nochmal, bewegt euch.
Seine Gliedmaßen rührten sich nicht vom Fleck, und die Klaue der Wahrheit zerriss ihn innerlich. Er befand sich in der klammen Dunkelheit der Zelle seiner Herrin, auf dem Rücken angekettet, mit dicken Eisenschellen auf dem Bettpodest festgehalten. Sie und ihre Liebhaber würden wieder zu ihm kommen, und sie würden mit ihm machen, was immer sie wollten, würden seine Haut beflecken, sein Inneres besudeln.
Er stöhnte, der Klagelaut bebte durch seine Brust empor und stieß aus seinem Mund, als wäre er erleichtert, sich aus ihm befreien zu können. Bella war der Traum. Den Alptraum lebte er.
Bella war der Traum …
Die Schritte näherten sich von der verborgenen Treppe her, die aus dem Schlafzimmer der Herrin hinabführte; das Geräusch hallte, wurde lauter. Und es war mehr als ein Paar Absätze, das sich ihm näherte.
Mit der Angst eines Tieres rissen seine Muskeln an seinem Skelett, kämpften verzweifelt darum, sich aus der schmutzigen Umklammerung des Fleisches zu lösen, das im Begriff stand, angefasst, heimgesucht, benutzt zu werden. Schweiß brach auf seinem Gesicht aus, sein Magen verkrampfte sich, bittere Galle kochte seine Speiseröhre hinauf …
Jemand weinte.
Nein … heulte.
Das Schreien eines Kindes erklang aus der hinteren Ecke der Zelle.
Er hörte vorübergehend auf, sich zu wehren, und überlegte, was denn ein Kind an diesem Ort zu suchen hatte. Die Herrin hatte keine Nachkommen, auch war sie während der Jahre, die er in ihrem Besitz verbracht hatte, nicht schwanger gewesen …
Nein … Moment mal … er hatte das Kleine hergebracht. Es war sein Kind, das da weinte – und die Herrin würde es finden. Sie würde es finden und … o Gott.
Es war seine Schuld. Er hatte das Kleine hergebracht.
Schaff das Kind hier weg. Schaff das Kind …
Z ballte die Fäuste und bohrte seine Ellbogen in das Podest, stemmte sich mit all seiner Kraft dagegen. Die Stärke kam nicht nur aus seinem Körper; sie entsprang seinem Willen. Mit einem heftigen Aufbäumen …
… erreichte er absolut gar nichts. Die Fesseln schnitten ihm tief in Handgelenke und Knöchel, durchdrangen die Haut, so dass sich Blut in den kalten Schweiß mischte.
Die Tür öffnete sich, das Kind weinte, und er konnte es nicht retten. Die Herrin würde …
Licht ergoss sich über ihn, katapultierte ihn ins echte Bewusstsein zurück.
Er fiel aus dem Doppelbett wie von einem Bagger gerammt und landete in Kampfstellung, die Fäuste vor der Brust, die Schultern angezogen, die Oberschenkel bereit zum Absprung.
Ganz langsam schob sich Bella von der Lampe, die sie angeknipst hatte, zurück, als wollte sie ihn nicht erschrecken.
Er sah sich um. Wie üblich war niemand da, gegen den er kämpfen konnte, aber er hatte alle aufgeweckt. In der Ecke weinte Nalla in ihrer Wiege, und er hatte seine Shellan zu Tode erschreckt. Wieder einmal.
Da war keine Herrin. Und keiner ihrer Gespielen. Keine Zelle, keine Ketten, die ihn auf ein Podest fesselten.
Und sein Kind war nicht in der Zelle.
Bella schlüpfte aus dem Bett und lief zur Wiege, nahm eine rotgesichtige, brüllende Nalla auf den Arm. Die Tochter allerdings wollte sich nicht trösten lassen. Sie reckte ihre Ärmchen Zsadist entgegen, verlangte tränenüberströmt nach ihrem Vater.
Bella wartete einen Augenblick, als hoffte sie, dieses Mal wäre es anders, und er würde das Kind, das sich so unübersehbar nach ihm sehnte, in den Arm nehmen und trösten.
Z wich zurück, bis seine Schulterblätter gegen die Wand stießen, die Arme fest um die Brust geschlungen.
Da drehte Bella sich um und flüsterte ihrem Liebling etwas ins Ohr, während sie ins angrenzende Kinderzimmer ging. Die Tür dämpfte das Wimmern ihrer Tochter, als sie leise zufiel.
Z ließ sich an der Wand hinabgleiten, bis sein Hintern auf dem Fußboden auftraf. »Verdammter Mist.«
Er rieb sich über den geschorenen Schädel, dann ließ er die Hände von den Knien herabbaumeln. Nach kurzer Zeit bemerkte er, dass er genau so dasaß wie früher in seiner Zelle – den Rücken in die Ecke gedrückt, das Gesicht der Tür zugewandt, die Knie angezogen, der nackte Körper zitternd.
Er betrachtete die Sklavenfesseln um seine Handgelenke. Das Schwarz war so tief in seine Haut eingegraben, so unnachgiebig, dass es wie die eisernen Schellen war, die er einst getragen hatte.
Nach einer kleinen Ewigkeit wurde die Tür zum Kinderzimmer wieder aufgeschoben, und Bella kam mit der Kleinen zurück. Nalla war eingeschlafen, doch als Bella sie in ihre Wiege legte, tat sie es mit äußerster Vorsicht, als könnte jeden Moment eine Bombe hochgehen.
»Tut mir leid«, sagte er leise und rieb sich die Handgelenke.
Bella zog sich einen Morgenmantel über und ging zur Zimmertür. Mit der Hand auf der Klinke wandte sie sich zu ihm um, die Miene unnahbar. »Ich kann nicht mehr sagen, dass es okay ist.«
»Das mit den Träumen tut mir wirklich leid …«
»Ich rede von Nalla. Ich kann einfach deine Ablehnung ihr gegenüber nicht mehr rechtfertigen … kann nicht sagen, dass ich dich verstehe, und dass es besser werden wird, und dass ich geduldig sein werde. Tatsache ist: Sie ist ebenso dein Kind wie meines, und ich kann nicht mehr zusehen, wie du dich von ihr entfernst. Ich weiß, was du durchgemacht hast, und ich möchte nicht herzlos sein, aber … für mich ist jetzt alles anders. Ich muss berücksichtigen, was gut für sie ist, und einen Vater zu haben, der sie nicht einmal anfassen will, ist es definitiv nicht.«
Z öffnete beide Hände und starrte auf die Innenflächen, versuchte sich vorzustellen, wie er die Kleine aufhob.
Die Sklavenfesseln kamen ihm übergroß vor. Übergroß und … ansteckend.
Nicht anfassen wollen traf es nicht, dachte er. Es ging um nicht können.
Die Sache war die: Wenn er Nalla trösten würde und mit ihr spielen, und wenn er ihr vorläse, dann würde das bedeuten, dass er unumstößlich ein richtiger Vater war; und ein Erbe wie seines wollte er keinem Kind aufbürden. Bellas Tochter verdiente Besseres.
»Du musst dich entscheiden, was du tun willst«, sagte Bella. »Wenn du nicht ihr Vater sein kannst, verlasse ich dich. Ich weiß, das klingt hart, aber … ich muss das Beste für sie tun. Ich liebe dich und werde dich immer lieben, aber es geht jetzt nicht mehr nur um mich.«
Einen Augenblick glaubte er, sich verhört zu haben. Ihn verlassen?
Bella trat in den Flur mit den Statuen hinaus. »Ich hole mir etwas zu essen. Mach dir keine Sorgen um sie – ich bin gleich zurück.«
Geräuschlos schloss sie die Tür hinter sich.
 
Als etwa zwei Stunden später die Nacht hereinbrach, hämmerte die Tür, die sich so leise geschlossen hatte, immer noch in Zs Kopf herum.
Vor dem offenen Kleiderschrank voller schwarzer T-Shirts und Lederhosen und Stiefel stehend, forschte er in seinem Innersten, jagte durch das verschlungene Labyrinth seiner Gefühle hindurch.
Natürlich wollte er sein krankes Verhältnis zu seiner Tochter überwinden. Selbstverständlich.
Aber es war einfach aussichtslos: Was man ihm angetan hatte, mochte zwar in der Vergangenheit liegen, doch er musste nur seine Handgelenke betrachten, um zu erkennen, dass er immer noch beschmutzt war – und er wollte diesen Schmutz nicht einmal in die Nähe seiner Tochter kommen lassen. Dasselbe Problem hatte er zu Beginn seiner Beziehung auch mit Bella gehabt, und bei seiner Shellan war es ihm gelungen, es zu bewältigen. Doch die Auswirkungen auf seine Tochter waren viel schwerwiegender. Z war die Verkörperung aller Grausamkeit der Welt. Seine Tochter sollte nicht erfahren, dass es solche Untiefen der Verderbtheit gab, geschweige denn sollte sie ihren Nachwirkungen ausgesetzt werden.
Verdammter Mist.
Was zum Henker würde er machen, wenn sie alt genug wurde, um ihm ins Gesicht zu sehen und ihn zu fragen, woher er die Narben hatte und wie er so geworden war, wie er nun einmal war? Was würde er tun, wenn sie wissen wollte, warum er schwarze Bänder auf die Haut tätowiert hatte? Was würde ihr Onkel Phury antworten, wenn sie ihn fragte, warum er nur ein Bein hatte?
Z zerrte eine Lederhose aus dem Schrank, dann zog er sein Brusthalfter über und öffnete den Waffentresor. Er wählte zwei SIG Sauer Vierziger und überprüfte sie rasch. Früher hatte er Neuner bei sich getragen – aber am liebsten kämpfte er mit bloßen Händen. Aber seit Bella in sein Leben getreten war, war er vorsichtiger geworden.
Und genau das war selbstverständlich die andere Seite seiner verdrehten Situation. Er war ein Berufskiller. Das war sein Job. Nalla würde aufwachsen und sich jede Nacht Sorgen um ihn machen. Wie sollte es anders sein? Bella sorgte sich ja ebenfalls.
Er schloss und versperrte die Tresortür, dann steckte er die Pistolen in den Hüftholster, tastete noch einmal nach den Dolchen und zog die Lederjacke über.
Schnell warf er einen Blick auf Nalla, die immer noch in der Wiege schlief.
Waffen. Messer. Wurfsterne. Scheiße, ein Kleinkind sollte von Rasseln und Stofftieren umgeben sein.
Letztlich war er eben einfach nicht zum Vater geschaffen. War er noch nie gewesen. Die Biologie aber hatte ihm diese Rolle aufgezwungen, und nun waren sie alle an seine Vergangenheit gekettet: So wenig er sich vorstellen konnte, ohne Bella zu leben – er hatte keinen blassen Schimmer, wie er Nalla der Papa sein sollte, den sie verdiente.
Stirnrunzelnd malte er sich Nallas gesellschaftliches Debüt aus, eine Feierlichkeit, die für alle Vampirinnen der Glymera ein Jahr nach ihrer Transition veranstaltet wurde. Der erste Tanz der Tochter gehörte immer dem Vater, und er sah Nalla in ein fließendes rotes Gewand gehüllt vor sich, die mehrfarbigen Haare hochgesteckt, Rubine um den Hals … und sich selbst mit seinem kaputten Gesicht und den unter den Smokingärmeln hervorblitzenden Sklavenfesseln.
Super. Ganz großes Kino.
Fluchend ging Z ins Badezimmer, wo Bella sich für den Abend fertig machte. Er würde ihr mitteilen, dass er von vergangener Nacht noch etwas zu erledigen hatte, und dass er im Anschluss daran sofort nach Hause käme und sie beide miteinander reden würden. Doch als er den Kopf um die Ecke steckte, erstarrte er zu Stein.
Im Dunst, der nach ihrer Dusche noch in der Luft hing, trocknete Bella sich ab. Ihr Haar war in ein Handtuch gewickelt, der lange Hals entblößt, die cremeweißen Schultern bewegten sich geschmeidig, während sie den Frotteestoff über den Rücken zog. Ihre Brüste schaukelten, und er wurde steif.
Es war so mies, aber während er sie beobachtete, konnte er an nichts anderes denken als an Sex. Sie war so wunderschön. Er hatte sie mit den Rundungen der Schwangerschaft gemocht, und er mochte sie auch, wie sie jetzt war. Nach Nallas Geburt hatte sie rasch abgenommen, ihr Bauch war wieder so fest wie vorher, die Hüften nahmen bereits wieder ihre schlanken Konturen an. Ihre Brüste waren allerdings größer geblieben, die Nippel von einem tieferen Rosa, die Wölbung schwerer.
Sein Schwanz drückte von innen gegen das Leder, wie ein Krimineller, der aus dem Gefängnis ausbrechen wollte.
Während er sein Glied in der Hose zurechtschob, fiel ihm auf, dass er und Bella seit langer Zeit vor der Geburt nicht mehr miteinander geschlafen hatten. Es war eine schwierige Schwangerschaft gewesen, und danach hatte Bella Zeit zur Heilung gebraucht und war zu Recht voll und ganz damit beschäftigt gewesen, sich um ihren Säugling zu kümmern.
Er vermisste sie. Begehrte sie. Fand immer noch, dass sie die mit Abstand erotischste Frau auf dem gesamten Planeten war.
Bella legte das Handtuch auf die Ablage, wandte sich dem Spiegel zu und betrachtete sich darin. Mit einer Grimasse beugte sie sich vor und piekte in ihre Wangenknochen, ihren Kiefer, unter das Kinn. Dann richtete sie sich wieder auf und drehte sich zur Seite, zog den Bauch ein.
Er räusperte sich, um sie auf sich aufmerksam zu machen. »Ich gehe dann mal.«
Beim Klang seiner Stimme tastete Bella hastig nach ihrem Bademantel. Sie schlüpfte rasch hinein, knotete den Gürtel zu und zog den Kragen dicht am Hals zusammen. »Ich wusste nicht, dass du hier bist.«
»Tja …« Seine Erektion erschlaffte. »Bin ich.«
»Gehst du?«, fragte sie und wickelte ihre Haare aus.
Sie hatte nicht einmal gehört, was er gesagt hatte, dachte er. »Ja, ich wollte jetzt los. Aber ich bin erreichbar, wie immer …«
»Wir kommen schon klar.« Sie beugte sich vornüber und begann, ihre Haare trocken zu rubbeln, das Geräusch kam ihm sehr laut vor.
Obwohl sie nur drei Meter von ihm entfernt stand, konnte er sie nicht erreichen. Konnte sie nicht fragen, warum sie sich vor ihm versteckte. Hatte zu viel Angst vor der Antwort.
»Schönen Abend«, sagte er schroff. Er wartete einen Augenblick, betete, sie würde zu ihm aufblicken, ihn vorsichtig anlächeln, ihn mit einem Kuss hinaus in den Krieg ziehen lassen.
»Dir auch.« Sie warf die Haare über den Kopf zurück und griff nach dem Föhn. »Pass auf dich auf.«
»Mach ich.«
 
Bella knipste den Föhn an und nahm die Bürste in die Hand, um beschäftigt auszusehen, als Z sich umdrehte und hinausging. Sobald sie sicher war, dass er weg war, gab sie die Verstellung auf, stellte den Haartrockner ab und ließ ihn auf die Marmorablage fallen.
Ihr Herz schmerzte so sehr, dass ihr übel wurde. Am liebsten hätte sie etwas in den Spiegel geschleudert.
Sie beide waren nicht zusammen gewesen – im Sinne von zusammen -, seit … Gott, es mussten vier oder fünf Monate vergangen sein, seit sie die Blutungen gehabt hatte.
Er begehrte sie nicht mehr. Nicht, seit Nalla da war. Es war, als hätte die Geburt den sexuellen Aspekt ihrer Beziehung für ihn abgeschaltet. Wenn er sie jetzt berührte, dann wie ein Bruder – sanft und teilnahmsvoll.
Nie leidenschaftlich.
Zuerst hatte sie geglaubt, es läge vielleicht daran, dass sie nicht mehr so schlank war wie früher, aber in den letzten vier Wochen hatte ihr Körper sich wieder normalisiert.
Wenigstens dachte sie das. Vielleicht machte sie sich auch etwas vor?
Sie löste den Gürtelknoten, zog den Bademantel auseinander, drehte sich seitlich und nahm ihren Bauch in Augenschein. Damals, zu Lebzeiten ihres Vaters, als sie noch ein Kind war, hatte man ihr geradezu eingebläut, dass Frauen der Glymera dünn zu sein hatten. Und selbst nach seinem Tod vor all den Jahren hatte sie die strengen Warnungen vor dem Dicksein nicht abschütteln können.
Bella wickelte sich wieder in den Mantel und zog den Gürtel fest.
Ja, sie wollte, dass Nalla einen wirklichen Vater hatte, und das war ihre Hauptsorge. Aber sie vermisste auch ihren Hellren. Die Schwangerschaft war so schnell gekommen, dass sie beide kaum Gelegenheit gehabt hatten, ihre erste Verliebtheit auszuleben, in der sie einfach nur die Gesellschaft des anderen genossen.
Sie nahm den Föhn wieder in die Hand, stellte ihn an und bemühte sich, nicht die Tage zu zählen, seit er sie zuletzt angefasst hatte, wie ein Mann es tat. Es war so lange her, dass er mit seinen großen, warmen Händen durch das Bettzeug nach ihr getastet hatte, dass er sie mit den Lippen auf ihrem Hals und einer drängenden Erektion an der Hüfte geweckt hatte.
Schon wahr, sie war ebenfalls nicht auf ihn zugegangen. Aber sie war sich einfach nicht sicher, welche Reaktion sie zu erwarten hätte. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war eine Abfuhr, weil er sich nicht mehr von ihr angezogen fühlte. Sie war als Mutter sowieso schon ein emotionales Wrack, vielen Dank. Ein Versagen an der weiblichen Front würde ihr den Rest geben.
Als ihre Haare trocken waren, bürstete sie sie schnell und sah dann nach Nalla. Über die Wiege gebeugt, ihre Tochter betrachtend, konnte sie nicht fassen, dass sich die Lage so weit zugespitzt hatte. Sie hatte immer gewusst, dass Z nach allem, was ihm widerfahren war, noch lange nicht gesundet war, aber niemals hätte sie damit gerechnet, dass sie die Kluft seiner Vergangenheit nicht überbrücken könnten.
Ihre Liebe hatte so stark gewirkt, als reichte sie aus, um alles zu überstehen.
Aber vielleicht war sie es nicht.
3
Das Haus stand ein Stück von der Landstraße zurückgesetzt und war von wuchernden Büschen und struppigen Bäumen mit braunem Laub eingezwängt. Erbaut war es in einer wilden Mischung aus diversen Architekturstilen, deren einziges verbindendes Element war, dass sie allesamt schlecht nachgeahmt waren: Es hatte ein Dach im Cape-Cod-Stil, aber nur ein Stockwerk wie ein Bungalow; auf der vorderen Veranda besaß es Säulen im Kolonialstil, war aber seitlich mit Plastik verkleidet wie ein Bauwagen; es thronte auf seinem Grundstück wie ein Schloss und hatte doch bloß die Anmut einer zerbeulten Mülltonne.
Ach ja, und es war grün gestrichen. Im Sinne von giftgrün.
Vor zwanzig Jahren war das Haus vermutlich von einem Städter mit Geschmacksverirrung gebaut worden, der ein neues Leben als Gutsbesitzer anfangen wollte. Inzwischen war alles total heruntergekommen, außer einem kleinen Detail: Die Tür war aus glänzendem, funkelnagelneuem Edelstahl und gesichert wie das Tor einer geschlossenen Einrichtung oder eines Gefängnisses.
Und die Fenster waren mit dicken Balken vernagelt.
Z kauerte sich hinter das rostige Skelett eines ehemaligen 92er Trans Am und wartete darauf, dass die Wolken über ihm sich zusammenballten und den Mond verdeckten, damit er los konnte. Auf der anderen Seite des unordentlichen Rasens und der Kiesauffahrt versteckte sich Rhage hinter einer Eiche.
Was so ungefähr der einzige Baum war, der breit genug für den Kerl war.
Die Bruderschaft hatte das Haus in der vergangenen Nacht rein zufällig gefunden. Z war unter den Brücken Caldwells im Junkierevier Patrouille gelaufen, als er zwei böse Buben dabei erwischte, wie sie eine Leiche im Hudson River versenkten. Die Entsorgung war schnell und professionell vor sich gegangen: Eine unauffällige Limousine fuhr vor, zwei Typen in schwarzen Kapuzenpullis stiegen aus und gingen zum Kofferraum, die Leiche wurde an Kopf und Füßen herausgehoben und in die Strömung geworfen.
Plitsch, platsch, auf Nimmerwiedersehen.
Z hatte ungefähr zehn Meter flussabwärts gestanden, deshalb konnte er im Vorbeifließen am verzerrten Mund des Opfers erkennen, dass es sich um einen Menschen handelte. Normalerweise hätte ihn das absolut null gekratzt; wenn ein Wildfremder ein Paar Betonschuhe verpasst bekam, ging ihn das nichts an.
Aber der Wind hatte gedreht und dabei den widerlich süßen Hauch von Talkum mit sich gebracht.
Z kannte nur zweierlei, was so roch und aufrecht ging: alte Damen und die Feinde seines Volkes. Da es eher unwahrscheinlich war, dass zwei der Golden Girls unter diesen Kapuzen ihren inneren Tony Soprano auslebten, bedeutete das, dass er zwei Lesser vor sich hatte. Wodurch sich die Situation auf Zs Prioritätenliste wiederum schlagartig nach oben schob.
Mit geradezu perfektem Timing gerieten die beiden Untoten in Streit. Während sie sich Nase an Nase anschnauzten und probehalber ein bisschen schubsten, dematerialisierte Z sich hinter den Brückenpfeiler, der dem Chevrolet Impala der Lesser am nächsten stand. Das Nummernschild der Schrottkiste lautete 818 NPA, und er konnte keine weiteren Passagiere entdecken, weder von der starren noch von der zappeligen Sorte.
Im Bruchteil einer Sekunde dematerialisierte er sich erneut, dieses Mal auf das Dach des Lagerhauses, welches die Brücke flankierte. Von dort aus, mit Vogelperspektive, wählte er Qhuinns Nummer und wartete mit dem Handy am Ohr. Der Wind toste heftig um das Gebäude.
Normalerweise töteten Lesser keine Menschen. Zum einen war das Zeitverschwendung, da es einem bei Omega keine Punkte einbrachte; zum anderen konnte man ziemlichen Ärger bekommen, wenn man erwischt wurde. Was natürlich nicht hieß, dass die Jäger jemanden, der etwas gesehen hatte, was er nicht hatte sehen sollen, nicht ohne zu zögern bei seinem Schöpfer abliefern würden.
Als der Chevrolet schließlich wieder unter der Brücke auftauchte, bog er rechts ab und fuhr stadtauswärts. Z murmelte etwas ins Telefon, und einen Augenblick später tauchte ein schwarzer Hummer genau dort auf, wo das Auto der Lesser eben abgebogen war.
Qhuinn und John Matthew hatten ihre freie Nacht mit Blay im ZeroSum verbracht, aber diese Jungs waren immer kampfbereit. Sobald Z anrief, rasten die drei zu Qhuinns neuestem Spielzeug.
Auf Zs Anweisung hin trat Qhuinn aufs Gas, um die Limousine einzuholen. Z behielt die Lesser unterdessen im Auge, dematerialisierte sich von Hausdach zu Hausdach, während die Kerle am Flussufer entlangfuhren. Gott sei Dank nahmen sie nicht den Highway, sonst wären sie ihm vielleicht entkommen.
Qhuinn war ein geschickter Fahrer, und sobald sein Hummer verlässlich die Verfolgung aufgenommen hatte, hörte Z mit dem Spiderman-Quatsch auf und überließ den Jungs das Feld. Ungefähr fünfzehn Kilometer weiter übernahm Rhage in seinem GTO, nur um abzulenken und zu verhindern, dass die Lesser merkten, dass ihnen jemand an der Stoßstange klebte.
Unmittelbar vor Morgengrauen waren sie dann vor diesem Haus gelandet, doch da war keine Zeit mehr für irgendwelche Aktionen geblieben.
Aber heute Nacht wartete die Fortsetzung. Volles Rohr.
Und wer hätte das gedacht – der spießige Chevrolet parkte brav in der Auffahrt.
Als die Wolken sich endlich ordnungsgemäß verdichteten, nickte Z Hollywood knapp zu, und die beiden materialisierten sich rechts und links der Haustür. Sie lauschten einen Moment und hörten die gleichen Stimmen streiten, die Z in der Nacht zuvor am Fluss gehört hatte. Ganz offensichtlich lagen sich die zwei immer noch in den Haaren.
Drei … zwei … eins …
Rhage trat die Tür so heftig auf, dass sein Stiefel eine Delle in der Metallplatte hinterließ.
Die beiden Lesser im Flur schnellten herum, aber Z gab ihnen keine Gelegenheit zu einer Reaktion. Er zielte mit dem Lauf der SIG und ballerte beiden nacheinander mitten in die Brust, so dass sie rückwärts taumelten.
Rhage übernahm den Dolch-Part, machte einen Satz nach vorn und schickte die beiden Lesser zurück zu Omega. Während die weißen Lichtblitze und das durchdringende Geräusch verebbten, sprang der Bruder wieder auf die Füße – und erstarrte zu einer Steinstatue.
Vollkommen regungslos durchforsteten sie die Stille mit all ihren Sinnen, suchten nach Anzeichen für weiteres Leben im Haus.
Das Stöhnen, das inmitten der Lautlosigkeit plötzlich aufstieg, kam von hinten. Rasch schlich Z auf das Geräusch zu, die Pistole im Anschlag. In der Küche stand die Kellertür offen, und er dematerialisierte sich auf die linke Seite hinüber. Dann steckte er rasch den Kopf um die Ecke und warf einen Blick die Treppe hinunter. Eine nackte Glühbirne hing an einem rotschwarzen Kabel von der Decke, doch der Lichtkegel enthüllte nichts als fleckige Dielenbretter.
Z ließ durch seinen Willen das Licht im Keller ausgehen, und Rhage gab ihm Deckung von oben, während Z sich unter Umgehung der wackeligen Stufen in die Finsternis dematerialisierte.
Unten angekommen, roch er frisches Blut und hörte das Stakkato klappernder Zähne von links.
Er ließ das Deckenlicht wieder angehen … und bekam keine Luft mehr.
Ein männlicher Vampir war an Armen und Beinen auf einen Tisch gefesselt. Er war nackt und über und über mit Prellungen übersät. Statt Z anzusehen, presste er krampfhaft die Augen zu, als könnte er den Anblick dessen, was ihm bevorstand, nicht ertragen.
Einen Moment lang konnte Z sich nicht bewegen. Es war sein eigener Alptraum, live und in Farbe, und die Wirklichkeit verschwamm für ihn, bis er nicht mehr sicher war, ob nicht vielleicht er dort unten gefesselt lag und der andere zu seiner Rettung kam.
»Z?«, rief Rhage von oben. »Ist da was?«
Z kam wieder zu sich und räusperte sich. »Ich bin dran.«
Während er sich dem Vampir näherte, sagte er sanft in der Alten Sprache: »Fürchte dich nicht.«
Die Augenlider des Gefangenen klappten auf, und sein Kopf schnellte hoch. Sein Blick drückte Unglauben aus, dann Erstaunen.
»Fürchte dich nicht.« Z überprüfte alle Ecken des Kellers genauestens, seine Augen durchdrangen die Schatten, forschten nach Hinweisen auf eine Alarmanlage. Alles, was er erkennen konnte, waren Betonwände und der Holzfußboden, alte Rohre und Kabel, die sich an der Decke herumschlängelten. Keine Kameralinse oder eine blitzende neue Stromversorgung.
Sie waren allein und unüberwacht, aber die Jungfrau allein mochte wissen, wie lange noch. »Rhage, da oben noch alles klar?«, rief er.
»Alles klar!«
»Ein männlicher Vampir.« Z nahm den Körper des Gefangenen in Augenschein. Er war geschlagen worden, und wenn auch keine offenen Wunden zu entdecken waren, konnte man nicht sagen, ob er sich noch dematerialisieren konnte. »Ruf die Jungs an, falls wir ein Transportfahrzeug brauchen.«
»Schon passiert.«
Z machte einen Schritt vorwärts …
Der Boden unter seinen Füßen brach ein, zersplitterte einfach.
Als die Schwerkraft ihn mit gierigen Händen packte, und er fiel, konnte er nur an Bella denken. Je nachdem, was ihn dort unten erwartete, konnte das …
Er landete auf etwas, das durch den Aufprall zerbarst, Scherben schlitzten seine Lederhose und seine Hände auf, bevor sie nach oben absprangen und auch Gesicht und Hände zerschnitten. Seine Pistole hielt er fest, weil er darauf trainiert war und weil der Schmerz einen Ganzkörperkrampf auslöste.
Er musste ein paarmal tief durchatmen, bevor er sein Gehirn neu booten und eventuelle Schäden analysieren konnte.
Als er sich langsam aufsetzte, hallte um ihn herum das Klirren von Glassplittern, die auf Stein fallen. Im runden Lichtkegel aus dem Keller über sich sah er, dass er mitten im hellen Schillern von Kristallsplittern saß …
Er war auf einen Kronleuchter in der Größe eines Doppelbetts gefallen.
Und sein linker Fuß zeigte nach hinten.
»Verfluchter Mist.«
Jetzt begann sein gebrochener Unterschenkel vor Schmerz zu pochen, weswegen er übellaunig dachte, wenn er das blöde Ding nicht angeschaut hätte, dann hätte er vielleicht auch weiterhin nichts gespürt.
Rhages Gesicht tauchte am Rand des schartigen Lochs über seinem Kopf auf. »Alles okay?«
»Befrei den Gefangenen.«
»Geht’s dir gut?«
»Mein Bein ist kaputt.«
»Wie, kaputt?«
»Tja, ich kann die Ferse meines Stiefels und meine Kniescheibe gleichzeitig sehen. Und es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass ich kotzen muss.« Er schluckte heftig, versuchte, den Würgreflex davon zu überzeugen, den Ball flachzuhalten. »Mach erst mal den Burschen los, und danach sehen wir, wie wir mich hier rauskriegen. Ach ja, und bleib auf den Nagelreihen im Fußboden. Die Bretter sind eindeutig ein bisschen morsch.«
Rhage nickte und verschwand. Schwere Schritte von oben ließen Staub von der Decke rieseln, und Z zog seine Taschenlampe aus der Jacke. Das Ding war nur fingergroß, warf aber einen Lichtstrahl, der so stark war wie ein Autoscheinwerfer.
Er schwenkte die Lampe hin und her, was ihn etwas von seinem Bein ablenkte. »Was … ach du Scheiße.«
Der Raum sah vage so aus wie das Innere eines ägyptischen Grabes: Der zwölf mal zwölf Meter große Raum war vollgestopft mit funkelnden Gegenständen, von Ölgemälden in vergoldeten Rahmen über silberne Kerzenleuchter bis hin zu mit Edelsteinen besetzten Plastiken und ganzen Bergen von echtem Silberbesteck. Und gegenüber stapelten sich Kisten, die vermutlich Schmuck enthielten, neben mindestens fünfzehn Aktenkoffern, in denen sich mit Sicherheit Bargeld befand.
Das hier war ein Aufbewahrungslager für Diebesgut aus Plünderungen, gefüllt mit der Beute, die über den Sommer bei Überfällen gemacht worden war. Der ganze Kram gehörte der Glymera – er erkannte sogar manche der Gesichter auf den Porträts wieder.
Ein Riesenvermögen lagerte hier unten. Und sieh mal einer an – rechts von ihm, dicht über dem Lehmboden, begann ein rotes Licht zu blinken. Sein Sturz hatte die Alarmanlage ausgelöst.
Rhages Kopf erschien wieder über ihm. »Der Gefangene ist frei, kann sich aber nicht dematerialisieren. Qhuinn ist nur einen knappen Kilometer weg. Worauf zum Teufel sitzt du da?«
»Auf einem Kronleuchter, und das ist noch längst nicht alles. Hör mal, wir werden bald Gesellschaft kriegen. Der Kasten hier ist verkabelt, und ich habe den Alarm ausgelöst.«
»Gibt’s eine Treppe zu dir runter?«
Z wischte sich den Schweiß von der Stirn, er fühlte sich kalt und ölig auf seinem blutigen Handrücken an. Nachdem er mit der Taschenlampe alles abgeleuchtet hatte, schüttelte er den Kopf. »Ich kann keine entdecken, aber irgendwie müssen die ja die Beute hier heruntergeschafft haben.«
Rhages Kopf schnellte herum, und er runzelte die Stirn. Das Geräusch seines gezogenen Dolchs klang wie ein atemloses metallisches Keuchen. »Das ist entweder Qhuinn oder ein Lesser. Kriech aus dem Licht, während ich das kläre.«
Hollywood verschwand, seine Schritte waren jetzt so leise wie ein Flüstern.
Z steckte seine Pistole weg, weil es nicht anders ging, dann fegte er einige der Kristallsplitter aus dem Weg. Mit den Handflächen stemmte er sich hoch, setzte den gesunden Fuß auf und krabbelte im Spinnengang in die Dunkelheit auf den Alarmanlagenkasten mit dem Blinklicht zu. Da das die einzige Lücke zwischen den Bergen von Kunstwerken und Silber war, die er finden konnte, setzte er sich dicht davor und lehnte sich an die Wand.
Oben blieb es viel zu still, woraus er schloss, dass es nicht Qhuinn und die anderen Jungs waren, die gerade angekommen waren. Trotzdem hörte man keinen Kampf.
Und dann ging der Zirkus erst richtig los.
Die »Wand«, an der er lehnte, rutschte weg, und er fiel flach auf den Rücken … vor die Füße zweier weißhaariger, stinkwütender Lesser.
4
Mutter zu sein, war in vielerlei Hinsicht großartig.
Man konnte zum Beispiel die Kleine in den Armen halten und in den Schlaf wiegen. Oder ihre winzigen Klamotten falten. Und sie füttern. Und diese glückselig strahlenden Augen betrachten.
Bella verlagerte in dem Schaukelstuhl im Kinderzimmer ihr Gewicht, zog die Decke bis ans Kinn ihrer Tochter hoch und streichelte Nallas Wange.
Eine nicht so tolle Begleiterscheinung des Daseins als Mami war allerdings, dass die weibliche Intuition immens gesteigert wurde.
Hier, in der Sicherheit des Bruderschaftsanwesens sitzend, wusste Bella, dass etwas nicht stimmte. Obwohl ihr selbst nichts passieren konnte, und sie in einem Bilderbuchkinderzimmer saß, kam es ihr vor, als wehte ein kalter Hauch durch den Raum, der nach totem Stinktier roch. Und auch Nalla hatte die Stimmung aufgeschnappt. Die Kleine war unheimlich ruhig und angespannt, ihre gelben Augen in die Mitte des Raumes gerichtet, als wartete sie auf ein lautes Geräusch.
Natürlich war das Problem an der Intuition – ob nun ans Muttersein gekoppelt oder nicht -, dass sie ohne Text und ohne Zeitachse war. Zwar bereitete sie einen auf schlechte Nachrichten vor, doch mit der Angst gingen keine erklärenden Worte einher, und auch kein Zeit- und Datumsstempel. Während einem also die unbestimmte Furcht im Nacken saß wie ein kaltes, nasses Tuch, durfte der Kopf nach rationalen Erklärungen suchen, weil das das Beste war, was man machen konnte. Vielleicht war ihr das Erste Mahl nicht bekommen. Vielleicht war es einfach nur undefinierbare Angst.
Vielleicht …
Ach Quatsch, vielleicht war das Grummeln in ihrem Magen überhaupt keine Intuition. Sondern zeigte ihr an, dass sie eine Entscheidung getroffen hatte, die ihr nicht zusagte.
Ja, das kam Bella schon eher glaubhaft vor. Nach all dem Grübeln und Hoffen und sich Sorgen machen und einen Ausweg aus den Problemen mit Z Suchen, musste sie realistisch sein. Sie hatte ihn zur Rede gestellt … und von ihm war keine echte Reaktion gekommen.
Kein Bitte bleib. Nicht mal ein Ich werde mir Mühe geben.
Alles, was sie von ihm gehört hatte, war, dass er loszog, um zu kämpfen.
Was natürlich auch eine Art Antwort war.
Sie sah sich um und überlegte, was sie alles packen müsste … nicht viel, nur das Nötigste für Nalla und eine kleine Reisetasche für sich selbst. Einen neuen Windeleimer, eine Wiege und eine Wickelkommode konnte sie sich leicht …
Wohin sollte sie gehen?
Die einfachste Lösung wäre: eins der Häuser ihres Bruders. Rehvenge besaß mehrere Unterkünfte, sie müsste ihn nur fragen. Das war doch ein Witz: Nachdem sie sich solche Mühe gegeben hatte, von ihm wegzukommen, spielte sie jetzt mit dem Gedanken, zu ihm zurückzugehen.
Nein, sie spielte nicht mit dem Gedanken. Ihre Entscheidung war bereits gefallen.
Bella beugte sich zur Seite, zog das Handy aus der Hosentasche und suchte Rehvs Nummer heraus.
Nach zweimaligem Klingeln ertönte eine tiefe, vertraute Stimme. »Bella?«
Im Hintergrund hörte man einen hallenden Wettstreit von dröhnender Musik und lauten Stimmen.
»Hallo.«
»Hallo? Bella? Moment mal, ich gehe in mein Büro.« Nach einer langen, geräuschvollen Pause hörte der Lärm abrupt auf. »Hey, wie geht’s dir und deinem kleinen Wunder?«
»Ich brauche einen Platz zum Wohnen.«
Absolute Stille. Dann sagte ihr Bruder: »Geht es um drei oder um zwei Personen?«
»Zwei.«
Wieder eine lange Pause. »Muss ich den dämlichen Dreckskerl umbringen?«
Sein kalter, böser Tonfall erschreckte sie ein wenig und erinnerte sie daran, dass ihr heiß geliebter Bruder kein Mann war, mit dem man sich anlegen wollte. »Um Gottes willen, nein.«
»Sprich, Schwesterherz. Erzähl mir, was los ist.«
 
Der Tod war ein schwarzes Päckchen, das in unterschiedlichen Formen und Größen eintraf. Dennoch wusste man, wenn man es an der Haustür ausgehändigt bekam, ohne einen Blick auf den Absender werfen zu müssen, von wem es kam.
Man wusste es einfach.
Als Z den beiden Lessern vor die Füße fiel, wusste er, dass seine letzte FedEx-Zustellung soeben angekommen war, und das Einzige, was ihm durch den Kopf ging, war, dass er nicht bereit war, die Sendung anzunehmen.
Wobei das natürlich nicht die Art von Paket war, deren Annahme man verweigern konnte.
Über ihm, in das trübe Leuchten irgendeiner Lichtquelle getaucht, erstarrten die Lesser, als wäre er das Letzte, womit sie gerechnet hatten. Dann zogen sie ihre Pistolen.
Z durfte keine letzten Worte sprechen; aber er hatte ein letztes Bild vor Augen, eins, das die Szene unmittelbar vor ihm völlig überlagerte. Vor seinem geistigen Auge sah er Bella und Nalla gemeinsam in dem Schaukelstuhl sitzen. Das Bild stammte nicht von letzter Nacht, als Taschentücher und rotgeweinte Augen und sein Zwillingsbruder mit ernster Miene im Spiel gewesen waren. Es war einige Wochen alt. Damals hatte Bella das Baby in ihren Armen mit solcher Zärtlichkeit und Liebe betrachtet. Als hätte sie ihn gespürt, hatte sie den Blick gehoben, und einen Moment lang hatte die Liebe in ihrem Gesicht auch ihn umschlungen.
Die beiden Schüsse gingen los, und das Seltsamste daran war, dass der einzige Schmerz, den er empfand, der laute Knall in seinen Ohren war.
Es folgten zwei dumpfe, klatschende Geräusche, die zwischen den gestohlenen Reichtümern widerhallten.
Z hob den Kopf. Genau dort, wo gerade noch die Lesser gewesen waren, standen Qhuinn und Rhage und senkten ihre Waffen. Hinter ihnen tauchten Blay und John Matthew auf, ebenfalls mit gezogenen Pistolen.
»Alles klar?«, fragte Rhage.
Nein. Das konnte man nur mit einem dicken, fetten Nein beantworten. »Ja. Alles im Lot.«
»Blay, zurück in den Tunnel, du kommst mit mir«, befahl Rhage. »John und Qhuinn, ihr bleibt bei ihm.«
Z ließ den Kopf in den Nacken fallen und lauschte zwei Paar schweren Stiefeln, die sich entfernten. In der unheimlichen Stille, die darauf folgte, schwappte eine Woge der Übelkeit über ihn hinweg, und jede Faser seines Körpers begann zu zittern, seine Hände flatterten wie Fahnen im Wind, als er sie ans Gesicht führte, um es abzutasten.
Johns Hand berührte seinen Arm, und Zsadist zuckte zusammen. »Alles klar … alles klar …«
John zeigte: Wir holen dich hier raus.
»Woher …« Er räusperte sich. »Woher weiß ich, dass das passiert?«
Wie bitte? Woher weißt du was …?
Zsadists Finger wanderten über seine Stirn, er suchte nach den Stellen, auf die die Untoten ihre Pistolen gerichtet hatten. »Woher weiß ich, ob das real ist? Und … woher weiß ich, dass ich nicht gerade gestorben bin?«
John blickte hilfesuchend über die Schulter zu Qhuinn, als hätte er keinen Schimmer, was er darauf antworten sollte. Dann klopfte er sich selbst donnernd auf die Brust. Ich weiß, dass ich hier bin.
Qhuinn beugte sich herunter und tat das Gleiche, ein schwerer Basston erklang aus seiner Brust. »Ich auch.«
Erneut ließ Zsadist den Kopf zurückfallen, unter seiner Haut kribbelte es so heftig, dass seine Füße einen Stepptanz auf dem gestampften Erdboden vollführten. »Ich weiß nicht … ob das hier real ist … oh, Scheiße …«
John starrte ihn an, als grübelte er hektisch, wie er Zs wachsenden inneren Aufruhr besänftigen konnte.
Da streckte er unvermittelt den Arm zu Zs gebrochenem Bein aus und zupfte an seinem verdrehten Stiefel.
»Verflucht nochmal!«, bellte Z und setzte sich mit einem Ruck auf.
Aber das war gut. Der Schmerz wirkte wie ein großer Besen, der sein Gehirn ausfegte, der die Spinnweben der Wahnvorstellungen entfernte und sie durch eine konzentrierte, pochende Klarheit ersetzte. Er war sehr lebendig. Und das war real.
Dicht auf diese Erkenntnis folgte der Gedanke an Bella. Und Nalla.
Er musste sie erreichen.
Z verlagerte sein Gewicht zur Seite, um an sein Handy zu gelangen, aber ihm wurde sofort schwindlig, als er sein verletztes Bein bewegte. »Mist. Kannst du mir mal mein Handy geben? In der Gesäßtasche.«
Sorgfältig drehte John ihn so weit herum, dass er das Telefon herausholen und ihm geben konnte.
 
»Du glaubst also nicht, dass ihr das wieder regeln könnt?«, meinte Rehv.
Als Antwort auf die Frage ihres Bruders schüttelte Bella den Kopf, dann fiel ihr ein, dass er sie ja nicht sehen konnte. »Nein, glaube ich nicht. Wenigstens nicht so bald.«
»Shit. Jedenfalls bin ich immer für dich da, das weißt du. Möchtest du bei Mahmen wohnen?«
»Nein. Ich meine, sie kann uns gerne nachts besuchen, aber ich brauche meinen Freiraum.«
»Weil du hoffst, dass er zu dir kommt, um dich zurückzuholen.«
»Das wird er nicht. Dieses Mal ist es anders. Nalla … hat alles verändert.«
Die Kleine schniefte und kuschelte sich tiefer in ihre Lieblingsstelle zwischen Oberarm und Brust. Bella klemmte sich das Handy zwischen Ohr und Schulter und streichelte das seidig weiche Haar. Später einmal würde es mehrfarbig sein, blonde und rote und braune Strähnen gemischt, genau wie bei ihrem Vater, wenn der es nicht so kurz scheren würde.
Als Rehv verlegen lachte, fragte sie: »Was?«
»Nach all den Jahren, in denen ich mit aller Kraft versucht habe, dich in meinem Haus zu behalten, möchte ich jetzt nicht, dass du das Anwesen der Bruderschaft verlässt. Das ist der sicherste Ort von allen … aber ich habe auch ein Haus am Hudson River, das gut bewacht ist. Es liegt direkt neben dem einer Freundin, und es ist nicht besonders luxuriös, aber es gibt einen Tunnel, der die beiden Häuser miteinander verbindet. Sie wird auf dich aufpassen.«
Nachdem er ihr die Adresse genannt hatte, murmelte Bella: »Danke. Ich packe ein paar Sachen zusammen und lasse mich von Fritz in einer Stunde hinfahren.«
»Und ich lasse schon mal den Kühlschrank für dich auffüllen.«
Bellas Handy piepte kurz, als eine SMS hereinkam. »Danke.«
»Hast du es ihm schon gesagt?«
»Er weiß, was kommt. Und nein, ich werde ihn nicht daran hindern, Nalla zu sehen, wenn er es will, aber er wird aus eigenem Antrieb kommen müssen.«
»Was ist mit dir?«
»Ich liebe ihn … aber diese ganze Sache war wirklich schwer für mich.«
Kurz darauf beendeten sie ihr Telefonat, und als Bella das Handy vom Ohr nahm, entdeckte sie, dass sie eine SMS von Zsadist bekommen hatte:
ES TUT MIR SO LEID. ICH LIEBE DICH. BITTE VERZEIH MIR – OHNE DICH KANN ICH NICHT LEBEN.
Sie biss sich auf die Lippe und blinzelte heftig. Und schrieb zurück.
5
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