Kuss der Dämmerung - Black Dagger Legacy - J. R. Ward - E-Book
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Kuss der Dämmerung - Black Dagger Legacy E-Book

J. R. Ward

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Beschreibung

Die junge Paradise stammt aus bestem Hause – immerhin ist ihr Vater der erste Ratgeber des Vampirkönigs Wrath. Von ihr wird vor allem eines erwartet: eine gute Partie zu machen. Paradise allerdings will kein Leben im goldenen Käfig führen und wagt einen für eine junge Aristokratin skandalösen Schritt: Sie lässt sich von der Bruderschaft der BLACK DAGGER zur Kämpferin ausbilden. Aber das Training und die Vampirbrüder sind knallhart, und ihre neuen Mitschüler feinden sie an. Erst als Paradise dem gefährlich gut aussehenden Craeg begegnet, scheint sich das Blatt zu wenden. Doch Craeg verbirgt mehr als ein Geheimnis ..

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Das Buch

Die junge Paradise stammt aus bestem Hause – immerhin ist ihr Vater Abalone der erste Ratgeber des Vampirkönigs Wrath. Von ihr wird vor allem eines erwartet: hübsch auszusehen und einen Vampir von Wert zu heiraten. Paradise allerdings will kein Leben im goldenen Käfig führen und wagt einen für eine junge Aristokratin skandalösen Schritt: Sie will sich von der Bruderschaft der BLACK DAGGER zur Kämpferin ausbilden lassen, denn zum ersten Mal in der Geschichte der Bruderschaft sind auch Frauen zur Aufnahmeprüfung zugelassen. Entgegen aller Erwartungen besteht Paradise das Ritual, doch die größten Herausforderungen stehen Paradise erst noch bevor: das Training und die Vampirbrüder sind knallhart und ihre neuen Mitschüler feinden sie an. Erst als Paradise dem gefährlich gut aussehenden Craeg begegnet, scheint sich das Blatt zu wenden. Doch Craeg verbirgt mehr als ein Geheimnis …

Die Autorin

J. R. Ward begann bereits während des Studiums mit dem Schreiben. Nach dem Hochschulabschluss veröffentlichte sie die BLACK DAGGER-Serie, die in kürzester Zeit die amerikanischen Bestsellerlisten eroberte. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in Kentucky und gilt seit dem überragenden Erfolg der Serie als Star der romantischen Mystery.

Mehr über Autorin und Werk erfahren Sie auf:

www.jrward.com

Ein ausführliches Werkverzeichnis aller von J. R. Ward im Wilhelm Heyne Verlag erschienenen Bücher finden Sie am Ende des Bandes.

www.twitter.com/HeyneFantasySF

@HeyneFantasySF

www.heyne-fantastisch.de

J. R. Ward

KUSS DER DÄMMERUNG

Roman

Wilhelm Heyne Verlag

München

Titel der amerikanischen Originalausgabe

BLOODKISS – BLACKDAGGERLEGACY

Deutsche Übersetzung von Julia Walther

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag ­keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 06/2016

Redaktion: Bettina Spangler

Copyright © 2015 by Love Conquers All, Inc.

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Animagic GmbH, Bielefeld,

unter Verwendung eines Motivs von Fotolia / VALUA VITALITY

ISBN 978-3-641-18987-7V001

www.heyne.de

Für den Kleinen, in Liebe.

Danksagung

Ein riesengroßes Dankeschön an meine Leser und alle, die die Bruderschaft der Black Dagger so sehr lieben wie ich. Mein Dank gilt außerdem Steven Axelrod, Kara Welsh, Leslie Gelbman und allen Mitarbeitern bei NAL!

Vor allem aber danke ich Team Waud und meiner Familie, sowohl der blutsverwandten als auch der frei gewählten.

Und wie immer meinem wunderbaren WriterAssistant Naamah.

Glossar der Begriffe und Eigennamen

Ahstrux nohtrum– Persönlicher Leibwächter mit Lizenz zum Töten, der vom König ernannt wird.

Die Auserwählten– Vampirinnen, deren Aufgabe es ist, der Jungfrau der Schrift zu dienen. Sie werden als Angehörige der Aristokratie betrachtet, obwohl sie eher spirituell als weltlich orientiert sind. Normalerweise pflegen sie wenig oder keinen Kontakt zu männlichen Vampiren; auf Weisung der Jungfrau der Schrift können sie sich aber mit einem Krieger vereinigen, um den Fortbestand ihres Standes zu sichern. Einige von ihnen besitzen die Fähigkeit zur Prophezeiung. In der Vergangenheit dienten sie alleinstehenden Brüdern zum Stillen ihres Blutbedürfnisses. Diese Praxis wurde von den Brüdern wieder aufgenommen.

Bannung– Status, der einer Vampirin der Aristokratie auf Gesuch ihrer Familie durch den König auferlegt werden kann. Unterstellt die Vampirin der alleinigen Aufsicht ihres Hüters, üblicherweise der älteste Mann des Haushalts. Ihr Hüter besitzt damit das gesetzlich verbriefte Recht, sämtliche Aspekte ihres Lebens zu bestimmen und nach eigenem Gutdünken jeglichen Umgang zwischen ihr und der Außenwelt zu regulieren.

Die Bruderschaft der Black Dagger– Die Brüder des Schwarzen Dolches. Speziell ausgebildete Vampirkrieger, die ihre Spezies vor der Gesellschaft der Lesser beschützen. Infolge selektiver Züchtung innerhalb der Rasse besitzen die Brüder ungeheure physische und mentale Stärke sowie die Fähigkeit zur extrem raschen Heilung. Die meisten von ihnen sind keine leiblichen Geschwister; neue Anwärter werden von den anderen Brüdern vorgeschlagen und daraufhin in die Bruderschaft aufgenommen. Die Mitglieder der Bruderschaft sind Einzelgänger, aggressiv und verschlossen. Sie pflegen wenig Kontakt zu Menschen und anderen Vampiren, außer um Blut zu trinken. Viele Legenden ranken sich um diese Krieger, und sie werden von ihresgleichen mit höchster Ehrfurcht behandelt. Sie können getötet werden, aber nur durch sehr schwere Wunden wie zum Beispiel eine Kugel oder einen Messerstich ins Herz.

Blutsklave– Männlicher oder weiblicher Vampir, der unterworfen wurde, um das Blutbedürfnis eines anderen zu stillen. Die Haltung von Blutsklaven wurde vor Kurzem gesetzlich verboten.

Chrih– Symbol des ehrenhaften Todes in der alten Sprache.

Doggen– Angehörige(r) der Dienerklasse innerhalb der Vampirwelt. Doggen pflegen im Dienst an ihrer Herrschaft altertümliche, konservative Sitten und folgen einem formellen Bekleidungs- und Verhaltenskodex. Sie können tagsüber aus dem Haus gehen, altern aber relativ rasch. Die Lebenserwartung liegt bei etwa fünfhundert Jahren.

Dhunhd– Hölle.

Ehros– Eine Auserwählte, die speziell in der Liebeskunst ausgebildet wurde.

Exhile Dhoble– Der böse oder verfluchte Zwilling, derjenige, der als Zweiter geboren wird.

Gesellschaft der Lesser– Orden von Vampirjägern, der von Omega zum Zwecke der Auslöschung der Vampirspezies gegründet wurde.

Glymera– Das soziale Herzstück der Aristokratie, sozusagen die »oberen Zehntausend« unter den Vampiren.

Gruft– Heiliges Gewölbe der Bruderschaft der Black Dagger. Sowohl Ort für zeremonielle Handlungen als auch Aufbewahrungsort für die erbeuteten Kanopen der Lesser. Hier werden unter anderem Aufnahmerituale, Begräbnisse und Disziplinarmaßnahmen gegen Brüder durchgeführt. Niemand außer Angehörigen der Bruderschaft, der Jungfrau der Schrift und Aspiranten hat Zutritt zur Gruft.

Hellren– Männlicher Vampir, der eine Partnerschaft mit einer Vampirin eingegangen ist. Männliche Vampire können mehr als eine Vampirin als Partnerin nehmen.

Hohe Familie– König und Königin der Vampire sowie all ihre Kinder.

Hüter– Vormund eines Vampirs oder einer Vampirin. Hüter können unterschiedlich viel Autorität besitzen, die größte Macht übt der Hüter einer gebannten Vampirin aus.

Jungfrau der Schrift– Mystische Macht, die dem König als Beraterin dient sowie die Vampirarchive hütet und Privilegien erteilt. Existiert in einer jenseitigen Sphäre und besitzt umfangreiche Kräfte. Hatte die Befähigung zu einem einzigen Schöpfungsakt, den sie zur Erschaffung der Vampire nutzte.

Leahdyre– Eine mächtige und einflussreiche Person.

Lesser– Ein seiner Seele beraubter Mensch, der als Mitglied der Gesellschaft der Lesser Jagd auf Vampire macht, um sie auszurotten. Die Lesser müssen durch einen Stich in die Brust getötet werden. Sie altern nicht, essen und trinken nicht und sind impotent. Im Laufe der Jahre verlieren sie ihre Haare, Haut und Iris ihre Pigmentierung, bis sie blond, bleich und weißäugig sind. Sie riechen nach Talkum. Aufgenommen in die Gesellschaft werden sie durch Omega. Daraufhin erhalten sie ihre Kanope, ein Keramikgefäß, in dem sie ihr aus der Brust entferntes Herz aufbewahren.

Lewlhen– Geschenk.

Lheage– Respektsbezeichnung einer sexuell devoten Person gegenüber einem dominanten Partner.

Lhenihan– Mystisches Biest, bekannt für seine sexuelle Leistungsfähigkeit. In modernem Slang bezieht es sich auf einen Vampir von übermäßiger Größe und Ausdauer.

Lielan– Ein Kosewort, frei übersetzt in etwa »mein Liebstes«.

Lys– Folterwerkzeug zur Entnahme von Augen.

Mahmen– Mutter. Dient sowohl als Bezeichnung als auch als Anrede und Kosewort.

Mhis– Die Verhüllung eines Ortes oder einer Gegend; die Schaffung einer Illusion.

Nalla oder Nallum– Kosewort. In etwa »Geliebte(r)«.

Novizin– Eine Jungfrau.

Omega– Unheilvolle mystische Gestalt, die sich aus Groll gegen die Jungfrau der Schrift die Ausrottung der Vampire zum Ziel gesetzt hat. Existiert in einer jenseitigen Sphäre und hat weitreichende Kräfte, wenn auch nicht die Kraft zur Schöpfung.

Phearsom– Begriff, der sich auf die Funktionstüchtigkeit der männlichen Geschlechtsorgane bezieht. Die wörtliche Übersetzung lautet in etwa »würdig, in eine Frau einzudringen«.

Princeps– Höchste Stufe der Vampiraristokratie, untergeben nur den Mitgliedern der Hohen Familie und den Auserwählten der Jungfrau der Schrift. Dieser Titel wird vererbt; er kann nicht verliehen werden.

Pyrokant– Bezeichnet die entscheidende Schwachstelle eines Individuums, sozusagen seine Achillesferse. Diese Schwachstelle kann innerlich sein, wie zum Beispiel eine Sucht, oder äußerlich, wie ein geliebter Mensch.

Rahlman– Retter.

Rythos– Rituelle Prozedur, um verlorene Ehre wiederherzustellen. Der Rythos wird von dem Vampir gewährt, der einen anderen beleidigt hat. Wird er angenommen, wählt der Gekränkte eine Waffe und tritt damit dem unbewaffneten Beleidiger entgegen.

Schleier– Jenseitige Sphäre, in der die Toten wieder mit ihrer Familie und ihren Freunden zusammentreffen und die Ewigkeit verbringen.

Shellan– Vampirin, die eine Partnerschaft mit einem Vampir eingegangen ist. Vampirinnen nehmen sich in der Regel nicht mehr als einen Partner, da gebundene männliche Vampire ein ausgeprägtes Revierverhalten zeigen.

Symphath– Eigene Spezies innerhalb der Vampirrasse, deren Merkmale die Fähigkeit und das Verlangen sind, Gefühle in anderen zu manipulieren (zum Zwecke eines Energieaustauschs). Historisch wurden die Symphathen oft mit Misstrauen betrachtet und in bestimmten Epochen auch von den anderen Vampiren gejagt. Sind heute nahezu ausgestorben.

Trahyner– Respekts- und Zuneigungsbezeichnung unter männlichen Vampiren. Bedeutet ungefähr »geliebter Freund«.

Transition– Entscheidender Moment im Leben eines Vampirs, wenn er oder sie ins Erwachsenenleben eintritt. Ab diesem Punkt müssen sie das Blut des jeweils anderen Geschlechts trinken, um zu überleben, und vertragen kein Sonnenlicht mehr. Findet normalerweise mit etwa Mitte zwanzig statt. Manche Vampire überleben ihre Transition nicht, vor allem männliche Vampire. Vor ihrer Transition sind Vampire von schwächlicher Konstitution und sexuell unreif und desinteressiert. Außerdem können sie sich noch nicht dematerialisieren.

Triebigkeit– Fruchtbare Phase einer Vampirin. Üblicherweise dauert sie zwei Tage und wird von heftigem sexuellem Verlangen begleitet. Zum ersten Mal tritt sie etwa fünf Jahre nach der Transition eines weiblichen Vampirs auf, danach im Abstand von etwa zehn Jahren. Alle männlichen Vampire reagieren bis zu einem gewissen Grad auf eine triebige Vampirin, deshalb ist dies eine gefährliche Zeit. Zwischen konkurrierenden männlichen Vampiren können Konflikte und Kämpfe ausbrechen, besonders wenn die Vampirin keinen Partner hat.

Vampir– Angehöriger einer gesonderten Spezies neben dem Homo sapiens. Vampire sind darauf angewiesen, das Blut des jeweils anderen Geschlechts zu trinken. Menschliches Blut kann ihnen zwar auch das Überleben sichern, aber die daraus gewonnene Kraft hält nicht lange vor. Nach ihrer Transition, die üblicherweise etwa mit Mitte zwanzig stattfindet, dürfen sie sich nicht mehr dem Sonnenlicht aussetzen und müssen sich in regelmäßigen Abständen aus der Vene ernähren. Entgegen einer weit verbreiteten Annahme können Vampire Menschen nicht durch einen Biss oder eine Blutübertragung »verwandeln«, in seltenen Fällen aber können sich die beiden Spezies zusammen fortpflanzen. Vampire können sich nach Belieben dematerialisieren, dazu müssen sie aber ganz ruhig werden und sich konzentrieren; außerdem dürfen sie nichts Schweres bei sich tragen. Sie können Menschen ihre Erinnerung nehmen, allerdings nur, solange diese Erinnerungen im Kurzzeitgedächtnis abgespeichert sind. Manche Vampire können auch Gedanken lesen. Die Lebenserwartung liegt bei über eintausend Jahren, in manchen Fällen auch höher.

Vergeltung– Akt tödlicher Rache, typischerweise ausgeführt von einem Mann im Dienste seiner Liebe.

Wanderer– Ein Verstorbener, der aus dem Schleier zu den Lebenden zurückgekehrt ist. Wanderern wird großer Respekt entgegengebracht, und sie werden für das, was sie durchmachen mussten, verehrt.

Whard– Entspricht einem Patenonkel oder einer Patentante.

Zwiestreit– Konflikt zwischen zwei männlichen Vampiren, die Rivalen um die Gunst einer Vampirin sind.

1

Audienzhaus des Königs

Caldwell, NY

Manche Abschlussfeiern fanden in ganz privatem Rahmen statt.

Manche dieser wichtigen Meilensteine zu Beginn eines neuen Lebenskapitels brauchten weder Hut noch Talar und erst recht kein Orchester, das den typischen »Pomp and Circumstance«-Marsch der Menschen spielte. Es gab keine Bühne zu betreten, kein Diplom, das man sich an die Wand hängen konnte. Und auch keine Zeugen.

Manche dieser einschneidenden Momente zeichneten sich dadurch aus, dass sie ganz unspektakulär und überhaupt nicht besonders waren. Wie zum Beispiel, wenn jemand den Finger nach einem Dell-Computermonitor ausstreckte, um den kleinen blauen Knopf in der rechten unteren Ecke des Bildschirms zu drücken. Eine völlig alltägliche Handlung, die viele Male pro Woche, pro Monat, pro Jahr ausgeführt wird – und doch symbolisierte sie in diesem speziellen Fall eine einschneidende Trennung zwischen Vorher und Nachher.

Paradise, Tochter des Abalone, oberster Berater von Wrath, Sohn des Wrath, Vater des Wrath, König aller Vampire, lehnte sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück und starrte auf den nun schwarzen Bildschirm vor sich. Wow. Die Nacht, auf die sie so lange gewartet hatte, stand fast vor der Tür.

Während der vergangenen acht Wochen war die Zeit größtenteils im Schneckentempo vorangekrochen, um in den letzten Nächten dann plötzlich einen Zahn zuzulegen und auf Turbomodus zu schalten. Nachdem Paradise endlose Stunden des Wartens bis zum Aufgehen des Mondes ertragen hatte, verspürte sie auf einmal das Bedürfnis, das Tempo wieder zu drosseln.

Ihr erster Job gehörte nun der Vergangenheit an.

Nach einem letzten Kontrollblick über den Schreibtisch stellte sie das Bürotelefon ein paar Zentimeter weiter nach rechts, um es dann auf seine ursprüngliche Position zurückzuschieben. Sie rückte den Buntglasschirm der Tiffany-Lampe gerade. Vergewisserte sich, dass die blauen Stifte im einen und die roten ordentlich im anderen Behälter steckten. Strich mit der Hand über die staubfreie Schreibunterlage und die Oberkante des Monitors.

Das Wartezimmer war leer, die seidenbezogenen Stühle nicht besetzt. Alle Zeitschriften lagen ordentlich gestapelt auf den Beistelltischen, und die von den Doggen vorhin für die Wartenden servierten Getränke waren wieder weggeräumt.

Der letzte Zivilist war vor ungefähr einer halben Stunde gegangen. Bis zur Morgendämmerung blieben noch etwa zwei Stunden. Alles in allem ein normales Ende einer Nacht harter Arbeit, der Zeitpunkt, an dem ihr Vater und sie üblicherweise nach Hause zurückkehren würden, um eine Mahlzeit einzunehmen, sich respektvoll zu unterhalten und Pläne zu schmieden.

Paradise beugte sich vor und spähte durch den Torbogen des Empfangszimmers hindurch. Auf der anderen Seite der Eingangshalle war die große Flügeltür geschlossen, die in den ehemaligen offiziellen Speisesaal des Anwesens führte.

Ja, eine ganz gewöhnliche Nacht, abgesehen von dem höchst ungewöhnlichen Treffen, das in diesem Raum gerade stattfand. Direkt nachdem der letzte Termin gegangen war, hatte man ihren Vater ins Audienzzimmer gerufen und diese Tür fest verschlossen.

Abalone war nun mit dem König sowie zwei Mitgliedern der Bruderschaft der Black Dagger dort drin.

»Tut mir das nicht an«, murmelte sie. »Nehmt mir das nicht weg.«

Paradise stand auf und ging im Zimmer umher, wobei sie die Zeitschriften erneut gerade rückte, die Dekokissen aufschüttelte und schließlich vor dem Ölgemälde eines französischen Königs stehen blieb.

Auf dem Weg zurück zum Torbogen konnte sie den Blick nicht von der geschlossenen Holztür des Speisesaals abwenden, während sie dem lauten Pochen ihres Herzens lauschte.

Sie hob die Hände und studierte die Schwielen in ihren Handflächen. Sie stammten nicht von ihrer Arbeit hier für ihren Vater und die Bruderschaft während der vergangenen paar Monate, wo sie die Termine organisiert und über die verschiedenen Angelegenheiten, Entscheidungen und Konsequenzen Buch geführt hatte. Nein, zum ersten Mal in ihrem Leben war sie im Fitnessstudio gewesen. Hatte Gewichte gestemmt. War auf Laufbändern gejoggt. Hatte sich auf dem Stairmaster gequält. Klimmzüge, Liegestützen, Crunches, Rudermaschine.

Bis dato hatte sie nicht einmal gewusst, was eine Rudermaschine war.

Und alles als Vorbereitung auf morgen Nacht.

Vorausgesetzt, diese Gruppe von Männern im Audienzzimmer des Königs nahm ihr das nicht weg.

Morgen, um Mitternacht, sollte sie eine ihr unbekannte Anzahl anderer Vampire und Vampirinnen an einem geheimen Ort treffen, wo sie versuchen würden, sich für das Trainingsprogramm der Bruderschaft der Black Dagger zu qualifizieren.

Es war ein guter Plan. Etwas, das sie sich in den Kopf gesetzt hatte, eine Chance, unabhängig zu werden, es mal ordentlich krachen zu lassen und sich selbst zu beweisen, dass sie mehr war als ihr Stammbaum. Das Problem dabei war, dass sich Adelstöchter der Glymera, wenn sie noch dazu aus einer der Gründerfamilien stammten, nicht zu Kriegerinnen ausbilden ließen. Sie hantierten nicht mit Schusswaffen oder Messern. Sie lernten nicht, zu kämpfen oder sich zu verteidigen. Sie wussten nicht einmal, was ein Lesser war.

Sie hatten mit Soldaten absolut nichts zu tun.

Töchter wie Paradise wurden in der Kunst des Stickens, in klassischer Musik und Gesang ausgebildet. Man brachte ihnen gute Manieren bei und wie man einen riesigen Haushalt voller Doggen führt. Man erwartete von ihnen, dass sie mit dem komplizierten Kalender gesellschaftlicher Ereignisse und den Festivitätenzyklen vertraut waren, sich mit der damit verbundenen Kleiderordnung und Ähnlichem auseinandersetzten und den Unterschied zwischen Van Cleef & Arpels, Boucheron und Cartier kannten. Sie wurden sicher verwahrt, gehegt und behütet, wie man das mit kostbaren Dingen eben so tat.

Das einzig Gefährliche, das man ihnen gestattete, war sich fortzupflanzen. Und zwar mit einem Hellren, der von der Familie auserwählt wurde, um die Reinheit der Blutlinie zu sichern.

Es war ein Wunder, dass ihr Vater ihr das mit dem Trainingsprogramm nicht strikt verboten hatte.

Als sie ihm die Ausschreibung das erste Mal gezeigt hatte, war er natürlich dagegen gewesen – aber dann hatte er es sich anders überlegt und ihr erlaubt, sich zumindest dafür zu bewerben. Die Überfälle vor ein paar Jahren, bei denen so viele Vampire durch die Gesellschaft der Lesser getötet worden waren, hatten schließlich gezeigt, was für ein gefährlicher Ort Caldwell, New York, sein konnte. Außerdem hatte Paradise ihm versichert, dass sie nicht in den Krieg ziehen und kämpfen wollte. Sie wollte bloß lernen, sich selbst zu verteidigen.

Sobald sie es ihm als Investition in ihre persönliche Sicherheit verkauft hatte, hatte ihr Vater seine Meinung geändert.

In Wahrheit wollte sie einfach nur etwas haben, das ihr gehörte. Eine Identität, die einer anderen Quelle entstammte als das, was ihr Geburtsrecht ihr auferzwungen hatte.

Außerdem hatte Peyton behauptet, dass sie es nicht schaffen würde.

Weil sie eine Frau war.

Bullshit.

Paradise warf wieder einen Blick auf die geschlossenen Flügeltüren. »Kommt schon …«

Auf ihrer unruhigen Wanderung gelangte sie schließlich hinaus in die Empfangshalle, aber sie wollte den Männern bei ihrem Treffen nicht zu nahe kommen, als könne das Unglück bringen.

Himmel noch mal, was redeten denn die da drin so lange?

Normalerweise brach der König direkt nach der letzten Audienz der Nacht auf. Wenn er und die Bruderschaft irgendwelche privaten Angelegenheiten oder Dinge bezüglich des Krieges zu klären hatten, dann taten sie das in der Residenz der Hohen Familie, einem Ort, der so geheim war, dass nicht einmal ihr Vater je dorthin eingeladen gewesen war.

Also musste es hier tatsächlich um sie gehen.

Paradise kehrte an ihren Schreibtisch zurück und rechnete nach, wie viele Stunden sie wohl dort gesessen hatte. Sie hatte den Job zwar nur ein paar Monate gemacht, aber die Arbeit gefiel ihr – bis zu einem gewissen Punkt. In ihrer Abwesenheit, vorausgesetzt sie wurde tatsächlich in das Trainingsprogramm aufgenommen, würde eine Cousine sie vertreten. Die vergangenen sieben Nächte hatte Paradise damit verbracht, das Mädchen einzulernen und ihm die Abläufe zu erklären, um sicherzugehen, dass der Wechsel reibungslos verlief.

Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, zog die mittlere Schublade auf und nahm ihre Bewerbung heraus, als könnte ihr diese irgendwie Sicherheit geben, dass es noch klappen würde.

Mit den Unterlagen in der Hand überlegte sie, wer morgen wohl sonst noch zur Einführungsveranstaltung kommen würde … und musste prompt an den Kerl denken, der hier im Audienzhaus aufgetaucht war und um eine ausgedruckte Version der Bewerbungsunterlagen gebeten hatte.

Groß, breite Schultern, tiefe Stimme. Eine Syracuse- Baseballkappe auf dem Kopf und mit Jeans, die von echter Arbeit abgewetzt zu sein schienen.

Die Gemeinde der Vampire war nicht gerade groß, aber ihn hatte sie zuvor noch nie gesehen. Vielleicht war er Zivilist? Auch das war eine weitere Änderung in den Statuten des Trainingsprogramms. Bisher durften sich nämlich lediglich männliche Vampire aus der Glymera der Bruderschaft anschließen.

Er hatte ihr zwar seinen Namen genannt, sich aber geweigert, ihr die Hand zu geben.

Craeg. Das war alles, was sie wusste.

Unhöflich war er aber nicht gewesen. Um genau zu sein, hatte er sie in ihrer Bewerbung bestärkt.

Er war außerdem auf eine Art … faszinierend gewesen, die Paradise geschockt hatte. Und zwar so faszinierend, dass sie wochenlang darauf gewartet hatte, ob er seine Unterlagen persönlich abgeben würde. Hatte er aber nicht. Vielleicht hatte er das Ding eingescannt und per Mail geschickt.

Oder er hatte beschlossen, sich gar nicht erst für das Programm zu bewerben.

Es schien verrückt, enttäuscht darüber zu sein, dass sie ihn vielleicht nie wiedersehen würde.

Als sich ihr Handy meldete, zuckte sie zusammen und zog es aus der Tasche. Peyton. Schon wieder.

Sie würde ihn bei der Einführungsveranstaltung morgen Nacht sehen – und das wäre noch früh genug. Nach diesem Streit wegen ihrer Bewerbung hatte sie sich von ihm zurückgezogen.

Andererseits, falls die Bruderschaft da drin mit ihrem Vater ein Machtwort sprach? Dann konnte sie sich ihren Ärger über den Kerl sparen. Aber es hieß doch ausdrücklich, dass Frauen sich ebenfalls bewerben durften!

Paradise war nur leider keine »normale« Frau.

Verdammt, sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte, falls ihr Vater seine Erlaubnis zurückzog. Die Bruderschaft konnte ihr doch aber nicht im allerletzten Moment einen Platz verweigern.

Oder etwa doch?

Am anderen Ende der Stadt lehnte sich Marissa, Shellan von Butch O’Neal alias Dhestroyer, Mitglied der Bruderschaft der Black Dagger, in ihrem Bürostuhl im Refugium zurück. Als das Ding dabei ein Knarzen von sich gab, tippte sie ungeduldig mit dem Kugelschreiber auf die OfficeMax-Schreibtischunterlage und schob den Telefonhörer ans andere Ohr.

Den geschwätzigen Redestrom unterbrechend, sagte sie: »Ich weiß die Einladung durchaus zu schätzen, aber ich kann leider …«

Die Frau am anderen Ende ließ sich jedoch nicht aus dem Konzept bringen, sondern plapperte einfach unbeirrt weiter, wobei ihr vornehm näselnder Tonfall die gesamte Bandbreite der Datenübertragung einzunehmen schien – sodass es an ein Wunder grenzte, dass nicht der gesamte Stadtteil einem Stromausfall zum Opfer fiel. »… und da könnt Ihr sicher verstehen, weshalb wir Eure Hilfe benötigen. Es handelt sich um den ersten festlichen Ball, der seit den Überfällen veranstaltet wird. Als Shellan eines Mitglieds der Bruderschaft und Angehörige einer Gründerfamilie wärt Ihr die perfekte Vorsitzende für dieses Ereignis …«

Marissa versuchte ein zweites Mal, mit ihrem Nein dem Redefluss Einhalt zu gebieten: »Ich weiß nicht, ob Ihr Euch dessen bewusst seid, aber als Leiterin des Refugiums arbeite ich Vollzeit und …«

»… und Euer Bruder meinte, Ihr wärt eine gute Wahl.«

Marissa verstummte.

Ihr erster Gedanke war, dass es höchst unwahrscheinlich war, dass Havers, der Arzt der Vampirspezies und Marissas nächster Angehöriger, sie für irgendetwas anderes als einen frühen Tod vorschlug, zumal sie völlig mit ihm zerstritten war. Ihr zweiter Gedanke war eher eine Rechnung: Wie lange war es her, seit sie das letzte Mal mit ihm gesprochen hatte? Zwei Jahre? Drei? Seit er sie damals aus dem Haus geworfen hatte, ungefähr fünf Minuten vor Tagesanbruch, weil er herausgefunden hatte, dass sie sich für einen Menschen interessierte.

Der sich dann als Wraths Cousin und die Verkörperung der Zerstörer-Legende entpuppt hatte.

Na, was sagst du jetzt, ging es ihr durch den Kopf.

»Deshalb müsst Ihr einfach den Vorsitz für das Event übernehmen«, schloss die Dame. Als wäre damit alles geklärt.

»Ich bitte vielmals um Verzeihung.« Marissa räusperte sich. »Aber mein Bruder hat keinerlei Befugnis, meinen Namen für irgendein Amt vorzuschlagen, da wir schon seit geraumer Zeit keinen Kontakt mehr haben.«

Als daraufhin eine geballte Ladung Schweigen aus dem Hörer drang, kam Marissa zu dem Schluss, dass sie die schmutzige Wäsche ihrer Familie bereits vor zehn Minuten hätte waschen sollen: Angehörige der Glymera hatten einen strengen Verhaltenskodex zu befolgen, und offen über das ungeheure Zerwürfnis in ihrer Familie zu sprechen, gehörte – obwohl ohnehin jeder davon wusste – zu den Dingen, die man einfach nicht tat.

Da war es schon wesentlich angebrachter, dass andere sich hinter vorgehaltener Hand das Maul darüber zerrissen.

Leider erholte sich die Dame am anderen Ende schnell und änderte ihre Taktik. »Wie dem auch sei, es ist von großer Wichtigkeit für alle Mitglieder unseres Volkes, die Feste wieder aufleben zu lassen …«

Ein Klopfen an der Bürotür zog Marissas Aufmerksamkeit auf sich. »Ja, bitte?«

Woraufhin die Anruferin erfreut zwitscherte: »Wunderbar! Ihr könnt zu mir nach Hause in mein Anwesen …«

»Nein, nein. Hier ist jemand, der zu mir will.« Dann sagte sie lauter: »Herein.«

Beim Anblick von Marys Gesichtsausdruck fluchte sie innerlich. Keine guten Nachrichten. Rhages Shellan war der Inbegriff von Professionalität, und wenn sie so eine Miene machte, dann gab es wirklich ein Problem.

War das etwa Blut auf ihrer Bluse?

Marissa wandte sich wieder dem Telefon zu und ließ nun sämtliche Zugeständnisse an die Höflichkeit fallen. »Meine Antwort lautet Nein. Mein Beruf nimmt meine gesamte Zeit in Anspruch. Außerdem solltet Ihr die Aufgabe am besten selbst übernehmen, wenn Ihr so begeistert davon seid. Auf Wiederhören.«

Sie legte auf und erhob sich. »Was ist passiert?«

»Wir haben einen Neuzugang, der sofort medizinische Hilfe braucht, aber ich erreiche weder Doc Jane noch Ehlena. Ich weiß nicht, was ich machen soll.«

Marissa lief um den Schreibtisch herum. »Wo ist sie?«

»Unten.«

Die beiden eilten im Laufschritt die Treppe hinunter, Marissa vorneweg. »Wie ist sie zu uns gekommen?«

»Keine Ahnung. Eine der Überwachungskameras hat sie draußen auf dem Rasen entdeckt, auf allen vieren.«

»Wie bitte?«

»Daraufhin hat mein Handy Alarm geschlagen, und ich bin sofort mit Rhym rausgerannt. Wir haben sie in den Salon getragen.«

Als Marissa unten um die Ecke bog, rutschte sie beinahe auf einem der Läufer aus.

Dann blieb sie wie angewurzelt stehen.

Beim Anblick der Frau auf dem Sofa schlug sie die Hand vor den Mund. »Um der Jungfrau willen …«, flüsterte sie.

Blut. Überall war Blut, in Rinnsalen auf dem Fußboden, es durchweichte weiße Handtücher auf Wunden und sammelte sich in einer Lache unter einem der Füße der jungen Frau.

Das Mädchen war dermaßen schlimm zugerichtet, dass man es unmöglich identifizieren konnte. Anhand des zugeschwollenen Gesichts hätte man nicht einmal sagen können, ob sie Mann oder Frau war, wären da nicht die langen Haare und ein zerrissener Rock gewesen. Ein Arm war eindeutig ausgekugelt und baumelte vom Schultergelenk herab. Am linken Fuß trug sie einen hochhackigen Schuh, ihre Strümpfe waren zerrissen.

Ihre Atmung war schlecht, sehr schlecht. Nur noch ein Rasseln in ihrer Brust, als würde sie an ihrem eigenen Blut ertrinken.

Rhym, die verantwortlich war für die Aufnahme der Patientinnen, blickte von ihrer hockenden Haltung vor der Couch auf. Mit Tränen in den Augen flüsterte sie: »Ich glaube nicht, dass sie es schafft. Wie soll sie überleben …?«

Marissa musste sich zusammenreißen. Sie hatte keine andere Wahl. »Doc Jane und Ehlena sind beide nicht erreichbar?«, krächzte sie.

»Ich habe es im Wohnhaus versucht«, antwortete Mary. »In der Klinik. Auf dem Handy. Alles zweimal.«

Für den Bruchteil einer Sekunde wurde Marissa von Angst gepackt, was das für ihr eigenes Leben bedeuten könnte. Steckte die Bruderschaft in medizinischen Schwierigkeiten? War mit Butch alles in Ordnung?

Doch das dauerte nur einen Augenblick. »Gib mir dein Telefon – und bring die anderen Patientinnen in den Wellsie-Trakt. Ich will, dass alle sich dort sammeln, falls ich ein männliches Wesen ins Haus lassen muss.«

Mary warf ihr das Telefon zu und nickte. »Bin schon unterwegs.«

Das Refugium war genau das, was sein Name versprach – ein sicherer Rückzugsort für weibliche Opfer häuslicher Gewalt, die dort Schutz suchen und sich zusammen mit ihrem Nachwuchs erholen konnten. Und nachdem Marissa unzählige sinnlose Jahrhunderte in der Glymera verbracht hatte, wo sie nichts war als die verschmähte Verlobte des Königs, hatte sie hier ihre Berufung gefunden, im Dienste jener, die im besten Fall verbal gedemütigt und im schlimmsten auf entsetzliche Art misshandelt worden waren.

Männer hatten hier keinen Zutritt.

Aber um das Leben dieser Frau zu retten, würde sie die Regel brechen.

Geh an dein Handy, Manny, dachte sie, als das erste Klingelzeichen zu hören war. Geh an dein verdammtes Handy…

2

Es hatte sich nicht die gesamte Bruderschaft der Black Dagger versammelt.

Um genau zu sein, waren es nur zwei Brüder und der König.

Als Abalone, oberster Berater von Wrath, Sohn des Wrath, Vater des Wrath, das Audienzzimmer betrat, weil ihn sein Herrscher gerufen hatte, war er sich der Anwesenheit der anderen beiden Vampire jedoch nur allzu bewusst. Zwar hatte er keinen dieser Krieger jemals anders als hilfsbereit und zivilisiert erlebt, doch in Anbetracht der Tatsache, dass er drauf und dran war, ihnen sein einziges Kind anzuvertrauen, schrien ihre eher auffälligen Merkmale förmlich nach Beachtung.

Der Bruder Vishous starrte ihn mit seinen Diamantaugen an, ohne zu blinzeln, und diese Tattoos an seiner linken Schläfe wirkten heute besonders finster. Sein muskulöser Körper war in Leder gekleidet und mit Waffen ausgestattet. Neben ihm stand Butch, alias der Zerstörer – ein früherer Mensch mit Bostoner Akzent, der von Omega infiziert und, wie man zunächst dachte, getötet worden war – nur um dann als einer von wenigen eine Turbo-Transition zu überleben.

Die beiden tauchten selten unabhängig voneinander auf, und es war verlockend, ihnen die Rollen des Guten Bullen/Bösen Bullen zuzuweisen. Jetzt gerade hatte sich das übliche Muster aber verschoben. Butch, der normalerweise eher lächelte und sich mit den Leuten unterhielt, wirkte heute wie jemand, dem man in einer dunklen Gasse lieber aus dem Weg ging. Der Blick seiner haselnussbraunen Augen war prüfend und stechend.

»Ja?«, wandte sich Abalone an seinen König. »Wie kann ich zu Diensten sein?«

Wrath streichelte den blonden Kopf seines Blindenhundes George. »Meine Jungs hier wollen mit dir reden.«

Aha, dachte Abalone. Er hatte auch schon einen Verdacht, worum es dabei ging.

Butchs Lächeln blitzte einmal kurz auf, als wollte er dem, was gleich aus seinem Mund kommen würde, vorab die Schärfe nehmen. »Wir wollen nur sicher sein, dass du dir darüber im Klaren bist, was dieses Trainingsprogramm beinhaltet.«

Abalone räusperte sich. »Ich weiß, dass es Paradise sehr wichtig ist. Und ich hoffe, dass einige Selbstverteidigungskurse angeboten werden. Es wäre mir lieb, wenn sie … besser geschützt wäre.«

Dieses Argument war das einzig Positive gewesen, was ihm über den Schock hinweggeholfen hatte, dass sie anscheinend etwas ganz anderes tun wollte als das, was er sich für sie und ihr Leben gewünscht hatte.

Als keine Reaktion kam, sah Abalone zwischen den Brüdern hin und her. »Was verschweigt ihr mir?«

Vishous öffnete den Mund, doch Butch bedeutete ihm zu schweigen. »Deine Aufgaben hier bei Wrath haben absoluten Vorrang.«

Abalone zuckte zurück. »Soll das heißen, dass Paradise wegen meiner Position nicht zugelassen wird? Gütige Jungfrau der Schrift, warum habt ihr uns das nicht …«

»Du musst dir im Klaren darüber sein, dass es bei dieser Ausbildung nicht nur um Bücherwissen geht, sondern um die Vorbereitung auf den Krieg.«

»Aber die Schüler müssen dabei nicht zwangsläufig kämpfend durch die Straßen ziehen, oder etwa doch?«

»Wir machen uns Sorgen um das hier.« Der Bruder zeigte auf das Zimmer. »Wir können nicht zulassen, dass irgendetwas deine Beziehung zu Wrath und deine Dienste für den König beeinflusst. Paradise ist in diesem Programm ebenso willkommen wie jeder andere Bewerber, vorausgesetzt, es sorgt nicht für Spannungen zwischen uns, falls sie durchfällt oder das Training abbricht.«

Abalone atmete erleichtert aus. »Macht euch deswegen keine Sorgen. Paradise soll ausschließlich aufgrund ihrer Leistungen beurteilt werden. Ich erwarte keine Ausnahmebehandlung für sie. Und wenn sie nicht mithalten kann, dann sollte sie ausscheiden müssen.«

Um ehrlich zu sein, war genau das seine heimliche Hoffnung, und er rechnete sogar damit, auch wenn er das nie laut aussprechen würde. Er war nicht eben erpicht darauf, dass Paradise von sich selbst oder ihren Leistungen enttäuscht wurde … aber das Letzte, was er für seine Tochter wollte, war, irgendwelchen Abscheulichkeiten ausgesetzt zu sein, oder, noch schlimmer, sich tatsächlich dem Kampf auszusetzen.

Letzteres mochte er sich nicht einmal ausmalen.

»Keine Sorge«, bekräftigte er den Brüdern und dem König. »Alles wird gut.«

Butch sah Vishous an. Dann wieder Abalone. »Du hast die Bewerbungsunterlagen gelesen, nehme ich an?«

»Sie hat sie selbst ausgefüllt.«

»Dann hast du sie nicht gelesen?«

»Sie hat das ganz eigenständig in die Hand genommen. Hätte ich die Bewerbung als ihr Vater und Hüter unterschreiben müssen?«

Vishous zündete sich eine Selbstgedrehte an. »Du willst aber vielleicht doch vorbereitet sein, oder?«

Abalone nickte. »Das bin ich. Ich verspreche euch, das bin ich.«

Paradise war eine Vampirin, die in der Tradition des Adels angemessen erzogen worden war. Während der vergangenen zwei Monate hatte sie an ihrer körperlichen Fitness gearbeitet – ziemlich hartnäckig sogar –, und er spürte ihre vorfreudige Aufregung, während sie ihre Pflichten hier zu Ende brachte und sich darauf vorbereitete, die Anstellung zu verlassen. Die Chancen standen allerdings nicht schlecht, dass sie nach der Einführungsveranstaltung morgen Abend, wenn die echte Arbeit begann, entweder selbst ihren Hut nahm … oder gebeten wurde zu gehen.

Es würde ihn umbringen, mit ansehen zu müssen, wie sie scheiterte.

Aber immer noch besser als ihr Tod draußen auf den Straßen, bloß um zu beweisen, dass sie mehr war, als es ihre aristokratische Abstammung vorsah.

Da die beiden Brüder ihn weiterhin anstarrten, ließ Abalone den Kopf sinken. »Ich weiß, es wird nicht gut für sie laufen. Darauf bin ich mehr als vorbereitet. Ich bin nicht naiv.«

Nach kurzem Schweigen sagte Butch: »Okay. Na gut.«

»Gibt es noch etwas anderes, mein Gebieter?«, fragte Abalone, an den König gewandt.

Als Wrath den Kopf schüttelte, verbeugte Abalone sich vor allen dreien. »Vielen Dank, dass ihr euch so sorgt. Paradise ist das Kostbarste – das Einzige, was mir von meiner geliebten Shellan geblieben ist. Ich weiß, dass sie ab morgen in guten Händen sein und man sie fair behandeln wird.«

Die Brüder blickten weiterhin grimmig drein, als er sich zum Gehen wandte, aber andererseits war er ja auch nicht eingeweiht, was aktuell im Krieg passierte – da gab es immer irgendetwas. Mit dem Kampf und der Strategie hatte er nie etwas zu tun gehabt, und dafür war er dankbar.

Genau wie er es sein würde, wenn Paradise aus diesem Programm ausschied.

Fürwahr, er wünschte, ihre Mahmen wäre noch am Leben. Vielleicht wäre all das hier hinfällig, wenn seine Shellan da wäre, um das Mädchen zur Vernunft zu bringen.

Als er die Doppeltür öffnete, hörte er es im Wartebereich klappern. »Paradise?«

Er durchquerte das Foyer, und als er um die Ecke in den Salon bog, richtete sich seine Tochter gerade mit einer Handvoll roter Stifte wieder auf, die vom Tisch gefallen waren.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte er sich.

Sie begegnete seinem Blick. »Sag du es mir. Erlaubst du mir, morgen Abend zur Einführungsveranstaltung zu gehen?«

Abalone lächelte und bemühte sich, seine Traurigkeit weder in seinen Augen noch in seiner Stimme zu zeigen. »Natürlich. Du bist in das Programm aufgenommen, das wurde doch schon vor Monaten entschieden.«

Sie rannte auf ihn zu und umarmte ihn. Dabei drückte sie ihn so fest, als wäre sie überzeugt gewesen, dass er ihr ihren großen Wunsch verweigern würde.

Während Abalone die Umarmung seiner Tochter erwiderte, nahm er entfernt wahr, wie die Brüder und der König das Haus verließen, schenkte ihnen aber keine Beachtung.

Er war viel zu sehr mit seinem eigenen Wunsch beschäftigt, seine Tochter vor jeglicher Enttäuschung bewahren zu können. Das gehörte jedoch leider nicht zu den elterlichen Fähigkeiten, die ihm bei ihrer Geburt gewährt worden waren.

Oh, wie sehr er sich wünschte, seine Shellan wäre hier bei ihnen statt im Schleier.

Sie hätte das alles so viel besser hinbekommen.

Marissa stand über die schwer verletzte Frau gebeugt und schloss die Augen, weil sie zum dritten Mal nur Mannys Mailbox erreichte. Was um alles in der Welt war in der Klinik nur los?

Als sie gerade auf Wahlwiederholung drücken wollte, fing ihr Handy an zu klingeln. »Der Jungfrau sei Dank! Manny? Manny?«

Etwas in ihrer Stimme brachte die verwundete Vampirin mit dem blutigen Gesicht dazu, sich auf dem Sofa zu regen. Beim Schleier, das Geräusch dieses rasselnden Keuchens reichte aus, um einem das Herz stillstehen zu lassen.

»Nein, Ehlena hier«, sagte die Stimme an Marissas Ohr. »Manny und Jane führen eine Notoperation an Tohr durch. Er hat einen komplizierten Oberschenkelhalsbruch erlitten, und ich muss gleich zurück in den OP. Oder ist etwas passiert?«

»Wie lange brauchen sie noch?«

»Sie haben gerade erst angefangen.«

Marissa schloss die Augen. »Okay, bitte sag ihnen, dass sie mich zurückrufen sollen, sobald sie können, ja? Ich habe hier eine …« Sie drehte sich weg und senkte die Stimme. »Ich habe hier eben erst eine Traumapatientin reinbekommen. Ich weiß nicht, ob uns viel Zeit bleibt.«

Ehlena fluchte. »Wir können gerade niemanden erübrigen. Kannst du Vishous anrufen? Vielleicht kann er sie mit seiner medizinischen Ausbildung stabilisieren.«

Marissa versuchte sich vorzustellen, wie dieser Bruder hier durchs Haus ging. Nicht ihre erste Wahl, und zwar nicht, weil sie ihm nicht getraut hätte. Der beste Freund ihres Hellren war in jeder Hinsicht ein brillanter Vampir.

Seine äußere Erscheinung aber war schlicht furchterregend.

Andererseits, wenn sich alle im Nebengebäude befanden …

»Gute Idee. Danke.«

»Ich sorge dafür, dass sie sich bei dir melden, sobald wir fertig sind.«

»Ja, bitte.«

Marissa beendete das Gespräch, drückte auf die Kurzwahltaste für V und bekam nur die verdammte Mailbox dran. »Scheiße!«

Rhym, die ein Handtuch auf die tiefe Wunde in der Schulter der Frau presste, erkundigte sich: »Wann kommen sie?«

Die Nacht würde bald zu Ende sein. V befand sich möglicherweise bloß im Transit zwischen den Straßen von Downtown Caldwell und dem Wohnhaus. Oder … er war damit beschäftigt gegen denjenigen zu kämpfen, der Tohr verletzt hatte.

Als die Vampirin auf dem Sofa anfing, zu husten und nach Luft zu schnappen, war Marissas Entschluss innerhalb einer Sekunde gefällt. Das Letzte, was sie wollte, war, ihren Bruder um Hilfe zu bitten, aber sie würde es sich nie verzeihen, wenn ihre privaten Probleme jemanden das Leben kosteten.

Marissa kannte Havers’ Handynummer auswendig und hoffte, dass sie sich nicht geändert hatte. Einmal Klingeln, zweimal …

»Hallo?«, ertönte seine Stimme.

»Ich bin’s.« Bevor es irgendeine Art peinlicher Stille oder Begrüßung geben konnte, sagte sie: »Wir haben hier im Refugium einen medizinischen Notfall. Du musst sofort herkommen – oder jemanden schicken. Die Ärzte der Bruderschaft sind mitten in einer Operation, und uns bleibt nicht viel Zeit.«

Es folgte eine kurze Pause, als würde der oberste Heiler des Vampirvolkes vom Privatmodus in den geschäftlichen schalten. »Bin gleich da. Wurde sie Opfer von Gewalt?«

»Ja.« Marissa senkte wieder die Stimme. »Sie ist zusammengeschlagen worden und … brutal verletzt. Außerdem blutet sie stark. Ich weiß nicht …«

»Ich bringe eine Krankenschwester mit. Hast du die anderen Patientinnen außer Reichweite gebracht?«

»Schon passiert.«

»Schließ die Eingangstür auf.«

»Ich warte dort auf dich.«

Und das war’s.

Offenbar war das Universum entschlossen, ihren Bruder heute Nacht zum Thema zu machen. Zuerst der idiotische Anruf von dieser feinen Dame, und jetzt das.

Marissa nickte Rhym zu. »Hilfe ist unterwegs.«

Mit dem Auge, das nicht zugeschwollen war, versuchte die verletzte Vampirin zu blinzeln.

Marissa beugte sich vor und ergriff vorsichtig ihre blutige Hand. »Mein Bruder wird sich bestens um dich kümmern.«

Für den Bruchteil einer Sekunde sorgte sie sich, ob sie besser hätte verschweigen sollen, dass ein männlicher Vampir sie behandeln würde. Doch die Vampirin schien diese Tatsache gar nicht zu registrieren.

Gütige Jungfrau der Schrift, was, wenn sie starb, bevor er hier ankam?

Marissa ging in die Hocke und strich sich ihre blonden Haare hinter die Ohren. »Du bist in Sicherheit, alles wird gut.« Der Blick des einen Auges wanderte über ihr Gesicht. »Hast du Angehörige? Jemanden, den wir anrufen sollen? Können wir jemanden für dich herholen?«

Die Vampirin schüttelte mühsam den Kopf.

»Nein? Bist du sicher?« Das Auge schloss sich. »Kannst du mir sagen, wer dir das angetan hat?«

Sie drehte das Gesicht weg.

Mist.

Marissa zog sich zurück und ging nach vorne in den Eingangsbereich des Hauses. Die Tür wurde von langen, schmalen Fenstern flankiert, durch die sie hinaus auf den Rasen blickte. Erst vor wenigen Wochen waren die Bäume noch so atemberaubend bunt gewesen, bevor die leuchtend roten, goldenen und gelben Blätter abgefallen waren und die spindeldürren Gliedmaßen darunter wie das Skelett eines abgemagerten Hundes zum Vorschein kamen.

Sie konnte es sich nicht verkneifen, einen Blick in den Spiegel neben der Tür zu werfen und zu überprüfen, ob ihre Frisur saß und ihr Make-up nach einem Zehn-Stunden-Tag noch hielt.

Damals, als sie noch mit ihrem Bruder zusammenwohnte, war sie mit seidenen Gewändern und Juwelen ausstaffiert gewesen, das Haar kompliziert hochgesteckt. Und jetzt? Jetzt trug sie eine Hose von Ann Taylor, eine schlichte Bluse mit Stehkragen und Mokassins der Marke Cole Haan, weil sie so bequem waren. Kein Schmuck außer einem winzigen Goldkreuz, weil Butchs Gott ihm wichtig war und ihr Hellren ihr das Kettchen letztes Jahr zur Weihnachtszeit geschenkt hatte. Ach ja, und ihre Ohren zierten Perlenstecker.

Trotz Butchs Hauruck-Wandlung und seines Status als Bruderschaftsmitglied und Verwandter des Königs war der Kern seines Wesens menschlich geblieben, angefangen bei seinem katholischen Glauben, über seinen Buch- und Filmgeschmack bis hin zu seinen Wünschen an eine »Ehefrau« – alles ein Ergebnis seiner Erziehung als Homo sapiens.

Als Marissa nun das Goldkettchen an ihrem Hals berührte, registrierte sie zu ihrem Verdruss den Impuls, es abzunehmen, weil ihr Bruder es nicht gutheißen würde.

Also bitte! Ob das Symbol ihrer Beziehung nun ihren Hals zierte oder nicht, änderte überhaupt nichts. In den Augen ihres Bruders hatte sie eine schwanzlose Ratte zum Hellren genommen, und einmal in Ungnade gefallen, würde er ihr nie vergeben.

Eine Sekunde später materialisierten sich auf dem Gehsteig draußen zwei Gestalten: eine größer und männlicher, mit einem weißen Kittel bekleidet, die andere kleiner und weiblich, in traditioneller Schwesterntracht.

Beim Näherkommen wurden sie vom Licht der Bewegungsmelder erfasst. Marissa wischte sich die verschwitzten Handflächen an ihrer Hose ab. Havers sah genauso aus wie immer, angefangen bei seiner Fliege über die Hornbrille bis hin zum dunklen Haar mit Seitenscheitel im Mad Men-Look.

In letzter Sekunde schob Marissa doch noch das Kreuz nach hinten in den Nacken und öffnete die Tür. Sie bemühte sich, nicht nervös zu klingen. »Sie ist im Salon.«

Kein »Hallo, wie geht’s?« oder »Bist du immer noch so ein beschissenes Arschloch voller Vorurteile?«. Andererseits war das hier auch ein medizinischer Notfall und kein Höflichkeitsbesuch.

»Marissa.« Ihr Bruder nickte ihr zu und trat an ihr vorbei ins Haus. »Das ist Cannest, meine Oberschwester.«

»Ist mir ein Vergnügen«, murmelte die Schwester.

Marissa begrüßte sie mit einem Nicken. »Hier entlang.«

Ihre Beine fühlten sich steif und ungefähr so staksig an wie die eines Flamingos, als sie die beiden in das unauffällige Gebäude mit der bescheidenen Einrichtung führte. Direkt unter der Oberfläche ihres Bewusstseins brodelte ein ganzer Eintopf aus Erinnerungen. Nur die schreckliche Tragödie, die sich im Nebenzimmer abspielte, hinderte ihre Gefühle am Überkochen.

Ihr Bruder blieb im Durchgang zum Salon stehen und reichte seiner Assistentin die Arzttasche. »Cannest wird die Erstuntersuchung vornehmen und mich über den Zustand der Patientin informieren. Das wird besser sein, als wenn ein männlicher Vampir das macht.«

Marissa sah Havers zum ersten Mal in die Augen und stellte fest, dass sie immer noch dasselbe Blau hatten wie ihre. Aber wieso hätte sich das auch ändern sollen.

»Das ist sehr rücksichtsvoll von dir«, sagte sie. Dann wandte sie sich an seine Mitarbeiterin. »Kommen Sie.«

Im Salon ging die Krankenschwester direkt zum Sofa und nahm Rhyms Platz ein. Das Opfer bewegte sich, als würde sie die Anwesenheit einer neuen Person spüren. Während ihr Puls und der Blutdruck gemessen wurden, stöhnte sie.

Marissa stand etwas abseits, die Arme vor der Brust verschränkt, die Hand vor den Mund geschlagen. Dass sie sich rührte, war ein gutes Zeichen, sagte sie sich. Denn es bedeutete, dass das arme Mädchen noch am Leben war.

»Vorsicht!«, platzte sie heraus, als die Schwester den Arm abtastete und sich Tränen in die Blutschmierer auf dem Gesicht mischten.

Gütige Jungfrau, wer hatte das getan? Es musste ein Mitglied der Spezies gewesen sein, denn sie roch keinen menschlichen Duft an ihr.

Marissa musste den Blick abwenden, als die Untersuchung intimer wurde, und bedeutete Rhym, ihr wenigstens in den Durchgang zu folgen, um so die Privatsphäre der Patientin zu schützen, die ihr Bruder bereits respektierte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit sprach die Krankenschwester leise mit der Vampirin und kam dann zu ihnen herüber. Mit einem Nicken forderte sie Marissa auf, ihr nach draußen zu folgen, wo Havers mit hinter dem Rücken verschränkten Händen wartete. Er beugte den Kopf und lauschte seiner Mitarbeiterin, die mit leiser Stimme berichtete.

»Sie hat schwere innere Verletzungen und muss umgehend operiert werden, wenn sie überleben soll. Der Arm ist das geringste Problem.«

Havers nickte und sah dann Marissa an. »Ich habe mir erlaubt, einen Transport zu organisieren. Der Wagen sollte in etwa einer Viertelstunde hier sein.«

»Ich fahre mit.« Marissa bereitete sich auf Widerspruch vor. »Bis ihre Angehörigen kommen, bin ich ihre Hüterin.«

»Selbstverständlich.«

»Und ich werde die Kosten für die Behandlung übernehmen.«

»Das wird nicht nötig sein.«

»Es ist durchaus nötig. Erlaubt, dass ich kurz meine Sachen hole.«

Sie verließ die beiden, und nachdem sie kurz mit Rhym gesprochen hatte, lief sie in ihr Büro hinauf, um sich Handy, Handtasche und Mantel zu schnappen.

Sie dachte kurz daran, Butch Bescheid zu sagen, da es gut möglich war, dass sie den Tag über weg sein würde, aber das würde sie erst später sicher wissen. Und wenn sie jedes Mal ihren Hellren anrief, wenn es bei der Arbeit eine Krise gab, dann würde die Batterie seines Handys schnell schwächeln.

Auf halber Treppe wurde ihr klar, dass es noch einen anderen Grund gab, weshalb sie sich nicht bei ihm meldete.

Die Sache hatte einfach zu große Ähnlichkeit mit dem, was seiner Schwester passiert war.

Und es bestand die Gefahr, dass es genau gleich laufen könnte, falls diese Vampirin ihren Verletzungen erlag.

Nein, dachte sie, als sie das Erdgeschoss erreichte. Er hatte auch ohne zusätzliche Erinnerung an die Vergangenheit schon genug am Hals.

»Ich bin dann so weit«, erklärte sie ihrem Bruder nachdrücklich, falls er es wagen sollte, seine Meinung zu ändern.

»Der Krankentransport ist in zwei Minuten da. Ich werde auch mitfahren müssen, denn wenn sie eine Überlebenschance haben soll, muss sie genährt werden.«

Mit einer leichten Verbeugung zog sich Havers zur Haustür zurück. Als er um die Ecke verschwunden war, schüttelte Marissa den Kopf.

Die Vorstellung, dass er mit seinem eigenen Blut irgendeiner fremden Vampirin half, die wahrscheinlich bloß eine Zivilistin war, war sowohl beeindruckend … als auch frustrierend.

Dass er zu seinen Patienten so fürsorglich sein konnte und so grausam zu ihr, erschien Marissa wie ein unvereinbarer Widerspruch.

Aber so war die Glymera eben. Beherrscht von der Doppelmoral.

Vor allem wenn es um Töchter, Schwestern und Mütter ging.

3

Butch stand im herrschaftlichen, farbenfrohen Foyer des Anwesens der Bruderschaft der Black Dagger und sah auf sein Handy. Wie spät es war, hatte er vor etwa drei Minuten auf seiner Audemars-Piguet-Armbanduhr nachgesehen, aber vielleicht würde ihm sein Samsung Was-auch-immer ja eine Antwort geben, mit der er besser leben konnte.

Negativ.

Und sein siebter Anruf bei Marissa war unbeantwortet geblieben. Genau wie die sechs davor.

Aus der Ferne drangen das Geschnatter und leise Klappern des Letzten Mahls aus dem Speisesaal herüber.

Ohne speziellen Grund musste er an den ersten Abend denken, als er solchen Geräuschen gelauscht hatte. Es war in dem Gebäude gewesen, das jetzt als Audienzhaus diente. Damals war er noch bei der Mordkommission gewesen, völlig neben der Spur und auf der Suche nach totaler Zerstörung, damit er das Leben hinter sich lassen konnte.

Und dann kam das Kaninchenloch.

Beth war als Erste hineingefallen. Ihre Abstammung – halb Mensch, halb Vampir – hatte sie hineingezogen. Seine Wandlung hingegen war ganz anders verlaufen.

Falls noch Blut fließen sollte, könntet Ihr die Sache dann netterweise in den Garten verlegen?

»Hast du sie inzwischen erreicht?«

Beim Klang der vertrauten Männerstimme schloss Butch die Augen. Auch wenn es nicht mal ansatzweise stimmte, kam es ihm manchmal so vor, als hätte er Vishous’ Gemurmel schon sein ganzes Leben im Kopf gehabt.

»Nein.«

Der Geruch nach türkischem Tabak ging dem Bruder voraus, als er näherkam, und Butch atmete tief ein. Vielleicht lag es am Nikotin durchs Passivrauchen oder auch nur an der Anwesenheit des Mistkerls, aber die kreischende Panik in seinen Ohren ließ ein wenig nach.

»Hast du bei ihr im Büro angerufen?«, fragte V und stieß eine Rauchwolke aus.

»Anrufbeantworter. Bei Mary hab ich es auch versucht. Nichts.«

»Verdammte Sch…«

Beim leisen Geräusch der Überwachungsanlage fuhr Butchs Kopf ruckartig herum. Als er die Gestalt auf dem Bildschirm sah, stürzte er auf die Tür der Vorhalle zu und riss das schwere Teil beinahe aus den Angeln.

»Mein Gott, wo bist du gewesen?«

Der Rest seines Gestammels ging unter, weil er seine Marissa so fest an sich drückte.

»Es tut mir so leid«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Ich hatte mit einem Fall zu tun. Und weil die Zeit so knapp war, hab ich dich gar nicht erst angerufen.«

Er ließ sie los, nahm ihr Gesicht in beide Hände und sah sie aufmerksam an. »Ist alles in Ordnung?«

»Absolut. Und es tut mir wirklich furchtbar leid.«

Er küsste sie und erschauderte, als ihre Hände seinen Rücken hinaufwanderten. »Nein, nein. Dir muss nichts leidtun. Mir ist nur wichtig, dass es dir gut geht.«

Verdammt, diese Sonne war wirklich furchterregend. Ein Vampir im Morgengrauen draußen war nicht mehr als ein Lagerfeuer in Klamotten – und auch wenn Marissa im Refugium gut geschützt war, konnte eine Menge Scheiß passieren: Die Menschen waren unberechenbare Idioten und die Killer absolut tödlich.

Sie löste sich von ihm und lächelte. »Es geht mir gut, wirklich.«

Ja, klar, dachte er, als sie seinem Blick auswich.

Er fasste sie am Arm. »Komm mal mit.«

»Aber das Letzte Mahl steht schon auf dem Tisch.«

»Wen juckt’s.«

Er zog sie mit ins Billardzimmer und hätte die Tür hinter sich geschlossen, wenn es eine gegeben hätte.

»Was ist passiert?«, wollte er wissen.

Sie ging ein wenig umher, wobei die schlichte Kleidung, die sie trug, durch ihren unglaublichen Körper in Haute Couture verwandelt wurde. »Nichts, was du nicht schon mal gesehen hättest, leider.«

Butch schloss die Augen. Manchmal hasste er ihren Job wirklich. Doch je härter es wurde, je mehr kämpfte sie, er hatte einen Heidenrespekt vor dem, was sie für das Vampirvolk tat, obwohl es ihn schmerzte, sie so erschöpft, so ausgelaugt und mitunter entmutigt zu sehen. Aber es war auch nicht alles schlecht. Wenn Patientinnen, denen sie geholfen hatte, wieder ein unabhängiges Leben führen konnten, dann strahlte seine Shellan mit der Sonne um die Wette.

Er nahm ihre Hand, ging rückwärts zu einem der Pool-Tische und zog sie zwischen seine Schenkel. »Erzähl es mir trotzdem.«

Ihr Blick wanderte unruhig durchs Zimmer, doch er ließ sie nicht aus den Augen. Und, bei Gott, selbst nach einer langen, harten Nacht raubte sie ihm immer noch den Atem. Ihre Schönheit war legendär, etwas, über das seit Generationen voller Ehrfurcht gesprochen wurde, und es war offensichtlich, warum. Ihr Gesicht bestand aus perfekten Schwüngen, ihre Haut war so zart und schimmernd wie eine Perle, ihre Lippen rosa und weich, und ihre Augen hatten die Farbe von Kornblumen. Dann waren da noch die blonden Haare, die ihr bis über die Schultern reichten, und, ja, diese Figur, die aus Männersicht einfach nur umwerfend war – und die einen nicht wieder aufstehen ließ.

Immer wieder staunte er darüber, dass sie mit ihm zusammen war. Ausgerechnet mit ihm. Einem Kerl aus Southie, mit angeknackstem Schneidezahn, mieser Vergangenheit und einer ganzen Latte an Süchten, die er erst in den Griff bekommen hatte, als er sie kennenlernte.

Von dem ganzen Omega-Scheiß mal ganz abgesehen.

Und trotzdem liebte ihn seine Shellan aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen.

»Du redest nicht mit mir«, flüsterte er und strich ihre Haare zurück, damit er ihren Nacken massieren konnte, ihre verkrampften Schultern, ihre angespannten Arme. »Du weißt doch, dass ich es hasse, wenn ich nicht weiß, was los ist.«

Aus dem Speisesaal drang Lachen herüber. Marissa schmiegte sich an ihn, wodurch ihre Hüften mit gewissen Spaßregionen in Berührung kamen.

Prompt ließ seine Erektion nicht lange auf sich warten. Hinter dem Reißverschluss seiner Lederhose wurde sein Schwanz dick und lang.

Sie schlang ihm die Arme um den Hals, beugte sich vor und drückte ihre Brüste an seinen Oberkörper. »Hast du keinen Hunger?«

Mit einem kehligen Knurren griff er nach ihrem Hinterteil. Eine Handvoll auf jeder Seite, mehr nicht, so fest wie bei einer Turnerin – oh Gott, jetzt fing er an zu schwitzen.

Trotzdem schüttelte er den Kopf. »Keine Chance. Du wirst mich nicht ablenken.«

Ehe er sich’s versah, öffnete Marissa den Mund und entblößte ihre Fänge. Dicht an ihn gedrängt fuhr sie mit einem der Eckzähne über seine Unterlippe. Das Gefühl, wie die scharfe Spitze über seine Haut strich, ließ ihn aufstöhnen.

»Du klingst, als würdest du etwas brauchen«, flüsterte sie dicht an seinem Mund. »Möchtest du mir sagen, was es ist?« Mit ihrer Zunge bahnte sie sich einen Weg zwischen seinen Lippen hindurch. »Was ist es, Butch? Sag mir, was du brauchst …«

»Dich«, stöhnte er. »Ich brauche dich.«

Nach seiner Transition, als sein Körper dermaßen viel Muskelmasse aufgebaut hatte und er zu diesem stämmigen Kraftpaket geworden war, hatte er sich nach und nach an die physische Stärke gewöhnt – genau wie an diese enorme Schwäche, wenn es um seine Frau und Sex ging. Damals, als er noch ganz Mensch war, hatte er auch dann und wann Frauen gebraucht, doch das war nichts im Vergleich zur tosenden Lust, die Marissa im null Komma nichts in ihm wecken konnte. Ein Blick, eine Berührung … ein Satz, oder zwei … manchmal genügte schon ihr frischer Duft, der an das Meer erinnerte.

ENDE DER LESEPROBE