Die Brut der schönen Seele - Horst Bastian - E-Book

Die Brut der schönen Seele E-Book

Horst Bastian

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Beschreibung

Ein heikler Fall für Carla Wall: Wegen Verdachts auf sexuellen Missbrauch wird die Kommissarin zu der 13-jährigen Antje ins Krankenhaus gerufen. Doch das Vertrauen des Mädchens zu gewinnen ist schwer und es will die Identität des vermeintlichen Täters nicht preisgeben. Als trotz aller Sicherheitsmaßnahmen ein grauenvolles Verbrechen geschieht, fragt sich Carla Wall verzweifelt, was sie falsch gemacht hat. Neue Anhaltspunkte führen die Ermittlerin schließlich immer dichter an den Täter heran ...

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Impressum

eISBN 978-3-360-50118-9

© 2015 (1977) Das Neue Berlin, Berlin

Cover: Verlag

Die Bücher des Verlags Das Neue Berlin erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

www.eulenspiegel-verlagsgruppe.de

Horst Bastian

Die Brut der schönen Seele

Das Neue Berlin

1

Er hatte fleischige Hände, und seine nikotingelben Finger, Hautläppchen blätternd, hatten mit kurzen und umso dickeren Spargeln viel Ähnlichkeit. Sonnenflecke – der Wind in den Buchen streuselte gleichsam das Licht – tanzten auf seinen massigen Armen, rutschten weg nach den Seiten: als wäre die schweißnasse Haut zu glitschig für sie. Überhaupt schwitzte der Mann und war massig. Er wirkte hineingepfropft in den Rollstuhl, schmerzhaft eingeklemmt, und manchmal leckte er nach den salzigen Rinnsalen um seinen Mund. Aber gleichmäßig wie die Pleuelstangen einer langsam fahrenden Lokomotive drückten seine Arme das rostige Gefährt über die sandigen, wurzeldurchäderten Wege des Parks. Wie kleine Radarschirme stellten sich seine Augen bald auf diese, bald auf jene Richtung ein, verweilten dann auf festen Punkten, schienen nicht eigentlich zu sehen, eher zu lauschen, Vorposten seiner Ohren zu sein. Alles an seinem Gesicht war den Ohren untergeordnet, ihnen zu Diensten: die sich blähenden Nasenflügel, das merkwürdig vibrierende Kinn, der leicht geöffnete Mund.

Ein Kuckuck rief. Auch andere Vögel hatten wahrscheinlich nur Liebe im Kopf oder sonst wo: Sie riefen und lockten sich. Es war eben Mai. Nicht schlecht bei den Vögeln, dachte der Mann, da sehen die Männchen nach etwas aus, Gefieder, Farben …! Da kommen ihre Bräute nicht mit, bei den meisten Arten jedenfalls nicht. Logisch, dass die Weibchen auf so etwas fliegen, die Weiber … naja. Auf einmal störte ihn das Gezwitscher ringsum, er fühlte sich verhöhnt. Gern hätte er jetzt ein solches gefiedertes Herrchen langsam in seiner Faust zerdrückt. Ganz langsam, wunderbar langsam, oh, das tut gut, ganz geil wird einem, man könnte sabbern vor Lust. Na, Freundchen, na, jetzt knirscht das Gerippe …, pfui Deiwel, Mistvieh, du suppst!

Unwillkürlich machte er eine wegwerfende Bewegung mit der rechten Hand. Hinterher starrte er sie erschrocken an. Über sich selbst war er erschrocken. Kindlich-ratlos benagte er nun die Fingernägel. Aber viel zu benagen gab es nicht mehr; was nächtens wuchs, wurde am Tage ein Opfer der Zähne, seit über drei Jahrzehnten nun schon. Was sie ihn verspottet hatten deswegen, in der Schule bereits, und später die Mädchen …! Und Pappi hatte ihm über die Finger gedroschen, mit dem Lineal oder was gerade griffbereit lag. Hatte derartig zugehauen, dass einmal zwei Finger gebrochen waren. Nur geholfen hatte es nicht. In Angst und Not musste er nagen, unbewusst längst. Und ohne Angst war er eigentlich nie. Nicht, wenn er sich unter Menschen bewegte. Und war er allein, so blieb doch die Angst, dass ihn unverhofft jemand erwischen könnte: schwitzend oder bei einem dummen Gesicht. Unter Gelächter duckte sich in ihm alles, nicht nur äußerlich duckte er sich. Dann war er in Not vor der Welt, weil sie kein Versteck für ihn hatte, Zeigefinger stattdessen: Ein Schwein glotzt intelligenter ins Uhrwerk. Ekelhaft, dieser Körpergeruch, möchte wissen, von wem er das hat … Wenn dich eine Frau sieht – ein Märchen für sie: Von einem, der sich auszog, das Gruseln zu lehren … In solchen Momenten begann er zu nagen, hielt sich mit den Zähnen irgendwie an sich selber fest. Hätte um sich schlagen können, gegen seine Eltern zuerst, dann gegen die kichernden Mädchen und Frauen, sie schinden, bis sie nach Hilfe verlangten, Hilfe brauchten: Seine Hilfe. Sein Streicheln. Seine zärtlichen Worte. Er war ja bereit dazu. Doch sie würden von ihm nichts wollen, er wusste es. Sein Streicheln erzeugte bei ihnen bestenfalls Gänsehaut, sie würden kreischen vor Entsetzen, gellend, gellend kreischen, immer nur kreischen … So schlug er erst gar nicht um sich, so saß er lieber geduckt und benagte die Fingernägel, in den Augen ein Brennen: nicht geheuer die Menschen.

Sich selbst war er auch nicht geheuer – jetzt. Dieser scheußliche Gedanke mit dem zerquetschten Vogel … Gern wäre er von sich abgerückt. Nein, es behagte ihm nicht, wenn ihn die Phantasie überrannte. Und immer in ähnlicher Weise. Minuten danach plagte ihn stets das Gewissen. Und doch ließ er sich bald erneut darauf ein, nein, er wehrte sich nicht dagegen: Weil’s wie ein Rausch war, für Augenblicke Befriedigung brachte, ein Baden in Wollust. Angenehmer als Zigaretten und Wodka auf einmal. Viele Zigaretten und viel Wodka. Ähnlich zugleich. Er musste nicht rauchen und trinken, niemand musste. Es tat nur gut, es schmeckte. Ging die Gesundheit eben kaputt; danke, danke, spart euch das Mitleid, ich stör’ euch doch sowieso …!

Nervös klopfte er seine Taschen ab, suchte nach Zigaretten, brannte sich eine an. Wenn er sie absetzte von den Lippen – immer erst nach mehreren Zügen –, hielt er die Glut nach unten, und der aufsteigende Qualm wärmte die Innenseite seiner Finger, vertiefte ihr giftiges Gelb. Viel Gelb, dachte der Mann, viel Gift in meinem Körper, sehr viel Gift schon bis heut … Wie das ein Körper aushalten soll! Er tat sich leid und rauchte hastiger. Vielleicht stieg ihm Rauch in die Augen, vielleicht war die Trauer auch pur, jedenfalls kamen ihm Tränen. Die Bäume und das Gestrüpp um ihn her verloren an Schärfe, keine Tiefe mehr, ein wehender, grüner Vorhang stattdessen, besetzt mit kupferfarbenen Schuppen aus Licht. Ja, wie Fischkraut im fließenden Wasser der Vorhang, daher der Schuppenbelag.

Er hörte ein Knirpsen und strengte sich an, wieder klarer zu sehen. Auf dem Pfad dicht vor ihm bewegte sich etwas Braunes. Ein Eichhörnchen war es. Den Kopf geschrägt, hoch aufgerichtet, in den Pfötchen etwas Längliches, eine Brotkruste wohl, nagte es daran und blickte erwartungsvoll zu ihm her: gerade so, als sei es zum Plausch gekommen, zum geselligen Frühstücksschmaus. Das rührte den Mann, und er lächelte. Erst wenn das Eichhörnchen freiwillig Platz machen würde, wollte er weiterfahren. Gut wäre es, Eicheln bei sich zu haben, dachte er, wenigstens drei oder vier, es frisst ja nicht viel, es ist ja noch klein. Überhaupt muss ich aufmerksamer werden, immer was bei mir haben, zu jeder Gelegenheit. Ein paar Glaskugeln, ein paar Eicheln oder auch Nüsse, mein Gott, das kostet nicht viel. Vor allem Nüsse, dass ich erst jetzt daraufkomme, da freuen sie sich drüber, kleine Mädchen bestimmt so sehr wie die Eichhörnchen, Nüsse sind für beide sehr gut. Beim Knacken splittern die Schalen. Und manche Splitter fallen ins Kleidchen, piken sich in den Bauch. Die muss man dann suchen, das tut doch weh, wenn sie piken, nein, nein, keine Angst, die bösen Splitter sammeln wir weg. Aber Nüsse wird er für Antje besorgen! Wenn sie gekommen ist, wird er sie ihr versprechen, in dieser Stunde noch. Ehrensache, dass er seine Versprechen auch einlöst; ein Schuft, wer kleine Mädchen betrügt!

Der Gedanke an Antje – und ob er sie finden würde – beunruhigte ihn. Überstürzt brachte er den Rollstuhl wieder in Fahrt. Aufgeschreckt huschte das Eichhörnchen zur Seite und erklomm einen Baum. Der Mann registrierte das kaum. Der Vorsatz, auf freie Bahn zu warten, war vergessen. Sein Schatten, noch relativ lang, eilte ihm voraus. Ohne die Bewegungen der Arme zu stoppen, schielte er nach der Uhr über dem linken Handgelenk: neun Uhr vormittags. Gut möglich, dass Antje schon hier war; sie liebte den Park und die frische Luft. Besonders am Morgen, wenn noch Tau auf den Gräsern lag und keine alten Leute mit Krückstöcken drohten und höchstens mal ein Radfahrer kam. Selbst der fehlte jetzt. Ein freundlicher, guter Tagesbeginn.

Seitenweg um Seitenweg passierte der Mann. Die Orientierung verlor er nicht. Manchmal war sein Schatten links von ihm, dann wieder rechts, mitunter rutschte er hinter ihm her. Und unversehens spannte er sich erneut vor den Rollstuhl, nahm ihn in seinen Sog. Die Räder, mussten sie über Wurzeln hinweg, quietschten und ächzten. Unsinn, er hatte nicht vergessen, Fett in die Naben zu drücken. Eher wog er zu viel für die Karre, die Speichen machten gerade noch mit.

Von hier aus war es nicht weit bis zum Teich, einer der Lieblingsplätze der Kleinen. Ja, am besten, er suchte erst dort. Auch ohne Ortskenntnis und sogar als Blinder hätte er nun die Nähe des Wassers erraten: Die Luft roch und schmeckte moorig und ganz entfernt nach Fisch. Einmal hatte Antje Steine in den Teich geworfen und irgendwelche Nixen beschworen, an Land zu kommen und für sie und den Onkel im Rollstuhl zwei, drei »betrübliche Schlager« zu singen: »Good-bye, my love, good-bye …« und »Tränen lügen nicht …« Doch das Wasser hatte sich nicht bewegt, kein bisschen, und alles war still geblieben. Da war sie böse geworden, zornig auf ihn, die Tränen waren ihr über die Lider gehopst, richtig gehopst, und sie hatte ihn fortgejagt: »Weil du heimlich gegen sie bist, die Nixen merken das nämlich! Wenn ich allein bin, singen sie schließlich, jeden Tag singen sie und meistens gleich jahrtausendelang! Und neulich haben sie sogar gesungen: ›Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad …!‹ Ha, da staunste! Und wie die Motorrad fährt! Los, hau endlich ab …!«

Er hatte gehorcht, obwohl ihn das heute noch kränkte. Andererseits, wer sich Antje in solchen Fragen widersetzte, der hatte ihre Freundschaft verscherzt. In diesem Punkt kannte sie keine Verwandten. Ihm war dieser Preis zu hoch gewesen, die Flucht kam ihn billiger. Quälend, seine Sehnsucht nach ihr.

Unbewusst hatte er das Tempo des Rollstuhls erhöht, raste nun beinah! Das Horchen hatte er aufgegeben, die Augen hatten nun Augen zu sein, hatten zu spähen; das nasse, erhitzte Gesicht suchte mit, so aufgesperrt, zeichneten sich die grob gerasterten Poren ab. Rechts von ihm teilte sich das Gebüsch, sekundenlang nur. Rotes leuchtete auf. Er bremste, rollte langsam zurück und ließ sich viel Zeit zum Erkennen. Ein rotes Kleid, vielleicht eine Bluse …, nein, bisher hatte er das bei ihr nicht gesehen. Wennschon, das besagte nichts. Immerhin war es ein Kind. Oder die Entfernung täuschte? Kaum. Sonst dürften die blonden Haare nicht sein, diese weichen und langen Haare, niemals geflochten, niemals zum Pferdeschwanz hochgesteckt …, ein Fräulein Antje, ganz und gar Dame, nur nicht so naserümpfend und kichernd, so arrogant gegen ihn, eine piekfeine Dame und keine sechs Jahre alt! Mit so einer auszugehen, wenn es bloß möglich wäre …, die andern vernutteten Weiber, sie kriegten vor Neid ihre Fressen nicht zu!

Bald war er sich sicher: Wer sich dort drehte und hüpfte, konnte nur seine Antje sein. Das schönste Mädchen mit der schönsten Figur dieser Welt, höchstens einige Nummern zu klein. Aber wirklich schön würde sie morgen werden, übermorgen, in zehn, fünfzehn Jahren. Leider würde sie dann genauso verhurt wie die anderen sein, ihn nicht mehr sehen, so ’n Rühr-mich-nicht-an auf der Straße, so ’n Ach-wie-bin-ich-was-Besseres …! Nee, lass man, darauf warte ich nicht. Wozu denn, dir macht’s ja den gleichen Spaß. Und grunzen kann ich wie ’n Eber und Trillerpfeifen aus Weidenholz schnitzen, und lange zuhören kann ich dir. Siehst du, so leicht bringt das keiner. Ja, ja, der Onkel im Rollstuhl, immerhin ist er wer!

Er nickte, bestätigte sich sein Denken. Gelöst war er nun und überhaupt freundlich: Antje gab es an diesem Tag! Er machte sich los von dem fernen Bild, fuhr abermals hinter Büschen verborgen, dehnte absichtlich die Zeit bis zum endlichen Wiedersehen, genoss dieses Warten – Vorfreude, hatte die Gewissheit, war schließlich die schönste Freude – und gönnte sich Muße für Auge und Ohr. Weit und breit niemand. Bis auf den Kuckuck, der rief noch. Wie die anderen Vögel. Sollten sie balzen und lieben; der Mann hatte sehr viel Verständnis für sie.

Eine Wiese umrandete den Teich. Trauerweiden, alte Eichen und wucherndes Gebüsch grenzten sie ein, schienen die Absicht zu haben, sie zu verstecken und von Menschen nicht berühren zu lassen, standen gleichsam als Posten davor. Nur an einer einzigen Stelle war sie über den Pfad zu erreichen. Doch Antje könnte ihn dann schon von weitem bemerken und würde sich, verdreht wie sie war, fürs Erste gewiss verstecken, einfach aus Schabernack. Das hätte ihm die Laune verdorben und ihn gleich in Verzug gebracht. Also ’runter vom Weg! Er zwängte den Rollstuhl zwischen Sträuchern hindurch. Zweige scharrten ihm übers Gesicht. Hier fuhr es sich schwer, die Reifen pflügten sich förmlich durch den Teppich aus vermodertem Laub. Trotzdem bemühte er sich, leise zu sein. Trockenen, am Boden liegenden Ästen, die unter den Rädern brechen und knacken könnten, wich er nach Möglichkeit aus.

Endlich entdeckte er das Mädchen, keine zehn Meter von ihm entfernt. Es gestikulierte zum Wasser hin und erzählte etwas offensichtlich sehr Geheimnisvolles. Wem aber, das war nicht zu erkennen. Wahrscheinlich den Kräuselwellen. Oder einem Dutzend Fröschen.

Sich selbst wusste der Mann noch vor den Blicken des Kindes verborgen: Die tief herabhängenden Zweige einer Trauerweide tarnten ihn rundum ab. So hatte er Zeit, Antjes Bild in sich aufzunehmen, sich in Ruhe sattzusehen an ihr. Zur roten Bluse trug sie einen knöchellangen schwarzen Rock. Verrückte Eltern! dachte er. Fehlt bloß noch, dass sie ihr Schuhe mit hohem Absatz besorgen. Nein, nein, nichts gegen die Eltern …, herrlich, wie sie das Mädchen kleiden, herrlicher geht es kaum … Höchstens noch Schuhe mit hohem Absatz, schön wär’s ja … Schuhe mit hohem Absatz … Dazu dieser kleine Schmollmund, dieses süße Gesicht … bei so langen Haaren, bis über die Schultern, bei so langen Fräulein-Röcken … Kann ich was dafür …? Ich kann nichts dafür …! Ich will … ich muss … noch nicht, nein, schönmachen muss ich mich erst für sie!

Erregt zerrte er ein Tuch und einen kleinen Spiegel aus der Hosentasche, wischte sich den Schweiß von Stirn, Hals und Wangen, befeuchtete gleich darauf den linken Mittelfinger mit Speichel und zeichnete seine Brauen nach. Obwohl sich dort kaum etwas veränderte, benötigte er für diesen kosmetischen Akt Minuten. Die dunklen Brauen unter dem schütteren Kopfhaar waren ohne Zweifel sein Stolz, gewissermaßen sein Pfauenschwanz. Ein letzter Blick in den Spiegel, ein Zwinkern zu sich selbst: Gut so, das wäre geschafft. Behaglich lehnte er sich zurück und konzentrierte sich wieder auf Antje. Sie verbeugte sich vor ihrem unsichtbaren Publikum, raffte den Rock mit den Fingerspitzen, legte den Kopf nach hinten und schritt erhaben davon. Nach wenigen Schritten prustete sie los, krümmte sich, lachte. In ihrer Phantasie hatte sie fraglos irgendwem einen mächtigen Bären aufgebunden, und man war so dumm gewesen und hatte ihr alles geglaubt.

Der Mann atmete in kurzen Stößen. Er hatte die Arme über der Brust gekreuzt, die Hände in Schulterhöhe, und seine kurzen, dickem Spargel sehr ähnlichen Finger krochen dort zitternd über den Stoff. Allmählich zog sich sein Mund zusammen, und die Lippen schoben sich vor, ganz allmählich. Plötzlich begann er eine Melodie zu pfeifen, ein Kinderlied: »Kommt ein Vogel geflogen, setzt sich nieder auf mein’ Fuß …« Das konnte er gut, und das klang auch sehr gut hier im Park. Das musste einfach gepfiffen werden, und es musste vor einer Wiese geschehen, vor einem Teich und unter alten Bäumen hervor.

Antje hatte sich durchaus nicht erschrocken. Freudig-überrascht war sie ein Stück zur Seite gelaufen, hatte bemerkt, dass dies die falsche Richtung war, die Melodie von woanders kam, war stehen geblieben und drehte nun suchend den Kopf.

»Onkel!«, rief sie. »Onkel, wo bist du …?«

Jetzt hielt ihn nichts mehr. Er stieß mit dem Rollstuhl hinein in die Wand aus Weidengeäst, brach daraus hervor. Mit ausgebreiteten Armen lief ihm die Kleine entgegen, froh lachend: vom Kinn bis zur Stirn und von Ohr zu Ohr. Über die Seitenwand gebeugt, wollte er sie auffangen. Auf einmal, dicht vor ihm, stoppte sie ab.

»Eigentlich bin ich böse auf dich«, sagte sie, »und zwar enorm grauenhaft!«

»Warum?«, fragte er und hatte gleich Angst.

»Weil … weil … im Saziolismus kann man nämlich nicht Königin werden! Weil sie nicht genug Mägde haben und Knechte und Köche und Schmarutzer auch noch, die brauchen sie nämlich in der Fabrik!

Der Saziolismus braucht enorm viel davon in der Fabrik. Hat mir ein Jungpionier erzählt, einer mit Halstuch, und so einem glaub’ ich das jedenfalls!«

»Ja, und?«, sagte er und begriff nichts. »Darum brauchst du auf mich doch nicht böse zu sein?«

»Genau! Weil es nicht geht, dass ich Frau Königin heiße und ihre Kleider bekomme, wenn du erst mal entzaubert bist!« Sie grollte ihm sehr, ihre Augen funkelten.

»Ach so …« Für eine Weile war er verwirrt und wusste ihr nichts zu antworten. In der Tat hatte er ihr erzählt, er wäre ein stattlicher junger König, von einem bösen Drachen verzaubert, hässlich gemacht und in diesen Rollstuhl verbannt. Allerdings habe es das Schicksal gefügt, dass er auf sie, auf Antje, getroffen sei. Ihr allein gelte nun seine Hoffnung. Wenn sie zu niemandem über ihn spräche und immer gut zu ihm wäre und lieb, dann würde die Macht des Drachens über ihn zerbrechen. Dann könnte er wieder König sein, jung und strahlend schön, und zum Lohn für ihr Schweigen würde er Antje zu seiner Gemahlin machen. Was warf sie ihm vor – sie selbst hatte ihn schließlich darauf gebracht! Ihr waren die Märchen doch wichtig, sie fing doch jedes Mal davon an!

»Na, was ist?«, fragte sie fordernd.

»Gar nichts!«, sagte er hastig und wurde nervös: Am Ende hatte sie geredet, hatte von ihm erzählt …? Mit kurzen Blicken stocherte er zwischen Bäumen und Sträuchern herum. »Mein Königreich liegt hinter einer Menge Bergen, ganz woanders. In meinem Königreich ist der Saziolismus noch nicht!« Er machte eine Pause, schüttelte sich, als friere er plötzlich, und spielte den Traurigen: »Aber jetzt … es ist wohl zu spät, ich werde mein Königreich niemals mehr sehen und ewig im Rollstuhl bleiben.«

»Warum?«, sagte sie, und ihre Stimme kündigte Tränen an.

»Weil du alles verraten hast, wie ich aussehe und dass du mich kennst …«

»Gar nicht, Onkel«, sagte sie und lächelte wieder. »Nicht ein bisschen hab’ ich verraten. Eigentlich hab’ ich es mir gedacht, dass es dort liegt hinter den sieben Bergen, dein Königreich. Bestimmt das Land von Schneewittchen, ja?«

»Genau!«, sagte er und nickte entschieden.

»Und wenn du sie triffst im gläsernen Sarg, ganz enorm scheintot und du als König, küsst du sie dann?« Verträumt kam sie näher und langte nach seiner Hand.

»Vielleicht«, sagte er. »Wenn Schneewittchen aussieht wie du …?«

Sie hielt ihm den Mund hin: »Küss mal!« Gleich riss sie sich los: »Ih, deine Zunge …!«

Er schwieg und schluckte und schwieg.

»Oder muss das so sein für Schneewittchen?«

»Ich weiß nicht … Kann sein, es ist anders, wenn ich wieder ein König bin.«

»Na gut«, sagte sie und sah das Problem als gelöst an. »Fährst du mich jetzt ein Stück?«

»Natürlich. Außerdem hab’ ich ’ne Cola.«

»’ne Pepsi? Gib!«

Zärtlich umschloss er ihre ausgestreckte Hand. »Nachher, nachher. Zuerst muss ich dich bewundern, nicht wahr?« Behutsam hob er sie sich auf den Schoß. Vor Heiserkeit konnte er kaum sprechen. »Kleine, liebe Mädchen muss man immer zuerst bewundern.« Das Zittern seiner Hände nahm zu. So strich er ihr über den Kopf, die Schultern, über die Hüften und an den Schenkeln entlang.

»Findste mich chic?«, fragte sie und gefiel sich in ihrer Rolle.

»Und wie!«, sagte er. »Und wie!« Sein Mund war trocken.

»Mutti sagt auch, ich bin enorm chic.« Antje erzählte im Plauderton. »Die andern Mädchen, die Kinder, sind alle Schnoddernasen gegen mich.«

»Und dieser Rock, so ein herrlicher langer Rock … Oder schwitzt du darunter? Zeig mal, ich glaube, du schwitzt …«

Nun stiegen seine fleischigen Hände an ihren nackten Beinen empor, verharrten unweit über den Knien. Auf einmal stöhnte er und hechelte. Die Hände drückten jetzt fester zu. Er keuchte.

»Onkel!«, rief Antje voll Mitleid. »Onkel, was ist dir? Onkel, bitte, warum ist dir schlecht?«

2

Die Wohnung befand sich zu ebener Erde. Auf dem Türschild stand: Berger. Kein Vorname. Ein Hoffnungsschimmer, immerhin: Was den Ehemann betraf. Geöffnet hatten der Kriminalistin Mutter und Tochter, beide blond, das gepflegte Haar lose über die Schultern fallend, beide in roter Bluse und knöchellangem schwarzem Rock. Beide sehr weiblich, auch schon das Kind. Ihre Gesichter sich ähnelnd wie die von Zwillingsschwestern. Und beide in vollendeter Körperhaltung, gerade so, als wären sie hier nicht im eigenen Flur, sondern in einem von Kronleuchtern erhellten Saal, Stehcocktail auf Parkett, Diplomatenempfang.

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