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Herfried Münkler

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Beschreibung

Herfried Münkler schreibt über die Deutschen und ihre Geschichte im Spiegel ihrer Mythen. Dabei erweckt er alte Sagen – etwa um die Nibelungen – zu neuem Leben, besichtigt schicksalhafte Orte wie Weimar, Nürnberg oder den Rhein und lässt historische Persönlichkeiten wie Hermann den Cherusker, Friedrich den Großen oder den Papst auftreten – selbst die D-Mark fehlt nicht in diesem Reigen. In einer großen historischen Analyse zeigt Münkler, wie Mythen unsere nationale Identität geformt haben und welch motivierende und mobilisierende Kraft ihnen eignet – im Positiven wie im Negativen. Denn in der deutschen Geschichte gingen Mythos und Politik stets Hand in Hand. So dienten die Schlacht im Teutoburger Wald oder der Drachentöter Siegfried der inneren Militarisierung der Deutschen, und das «Unternehmen Barbarossa» führte sie direkt in den Untergang: Nach 1945 erblühte die Bundesrepublik im Mythos vom «Wirtschaftswunder», die DDR richtete sich am «antifaschistischen Widerstand» auf. Heute dagegen ist Deutschland ein mythenarmes Land – ist das ein Fluch oder ein Segen? Ein aufschlussreiches Werk nicht nur über die Geschichte und Mentalität der Deutschen, sondern auch über die Politik der Gegenwart – souverän dargestellt und spannend zu lesen. «Ein Bildungserlebnis.» Welt am Sonntag

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Herfried Münkler

Die Deutschen und ihre Mythen

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Über dieses Buch

Herfried Münkler schreibt über die Deutschen und ihre Geschichte im Spiegel ihrer Mythen. Dabei erweckt er alte Sagen – etwa um die Nibelungen – zu neuem Leben, besichtigt schicksalhafte Orte wie Weimar, Nürnberg oder den Rhein und lässt historische Persönlichkeiten wie Hermann den Cherusker, Friedrich den Großen oder den Papst auftreten – selbst die fehlt nicht in diesem Reigen.

In einer großen historischen Analyse zeigt Münkler, wie Mythen unsere nationale Identität geformt haben und welch motivierende und mobilisierende Kraft ihnen eignet – im Positiven wie im Negativen. Denn in der deutschen Geschichte gingen Mythos und Politik stets Hand in Hand. So dienten die Schlacht im Teutoburger Wald oder der Drachentöter Siegfried der inneren Militarisierung der Deutschen, und das «Unternehmen Barbarossa» führte sie direkt in den Untergang: Nach 1945 erblühte die Bundesrepublik im Mythos vom «Wirtschaftswunder», die DDR richtete sich am «antifaschistischen Widerstand» auf. Heute dagegen ist Deutschland ein mythenarmes Land – ist das ein Fluch oder ein Segen?

Über Herfried Münkler

Herfried Münkler, geboren 1951, ist Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität und Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Er ist mit vielen Studien zur politischen Ideengeschichte und zur Theorie des Krieges hervorgetreten. Nicht wenige davon sind mittlerweile Standardwerke, so etwa «Machiavelli» (1982), «Gewalt und Ordnung» (1993), «Die neuen Kriege» (2002) und «Imperien» (2005).

Einleitung

Verglichen mit ihren europäischen Nachbarn oder den USA, ist die Bundesrepublik Deutschland eine weithin mythenfreie Zone – zumindest, wenn es um politische Gründungs- und Orientierungsmythen geht: kein Sturm auf die Bastille mit anschließender glorreicher Revolution, die zum politischen Orientierungszeichen einer ganzen Epoche wurde, wie in Frankreich;[1] kein Unabhängigkeitskrieg, in dem politische Werte durchgesetzt wurden, und keine Erzählungen über die zähe Selbstbehauptung kleiner Gruppen in einer feindlichen Umgebung, an der man sich ein Beispiel für gegenwärtige Herausforderungen nehmen könne, wie in den USA;[2] keine ungebrochene Erinnerung an eine glanzvolle imperiale Epoche, in der man der Welt Ordnung und Zivilisation gegeben habe, aus der die Eliten Selbstbewusstsein ziehen, wie in England; und auch keine identitätsstiftende Erinnerung an Untergang und Wiedererstehung, an heroischen Widerstand, der am Schluss von Erfolg gekrönt gewesen ist, wie in Polen.[3] Die Beispiele reichen vom Siegeskult bis zur stolzen Opfererzählung, vom politischen bis zum technologischen Führungsanspruch und zeigen die Bandbreite, innerhalb deren politische Mythen ihre Wirkung entfalten können. In Deutschland findet sich nichts Vergleichbares, lediglich die Erinnerung an das zweimalige politisch-militärische Scheitern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und die furchtbaren Verbrechen des Nationalsozialismus, zunächst schamhaft beschwiegen, dann aber, zumindest von den Historikern, entschlossen aufgearbeitet.

Auch das sind Großerzählungen, aus denen nationale Identität gewonnen wird, nur dass sie durchgängig mit negativen Vorzeichen versehen sind.[4] Deutschland nimmt insofern eine Sonderstellung ein; kein anderes Land hat sich einer ähnlichen Erinnerungsarbeit unterworfen und die Zeichen moralischer Schande so sichtbar gemacht: nicht Japan, nicht Russland als Nachfolger der Sowjetunion und schon gar nicht Italien. Damit kann man als Deutscher einverstanden sein, aber Stolz will sich angesichts dessen, was da erinnert wird, nicht einstellen. Was aus der intensiven Beschäftigung mit der Vergangenheit erwächst, ist ein politisches Selbstverständnis, das sich weder lautstark noch demonstrativ kommunizieren lässt.

Man kann diesen Mangel freilich auch als Vorteil begreifen: Endlich ist es in Deutschland möglich, Politik jenseits mythischer Irrungen und Wirrungen, ohne narrative Verlockungen und frei vom Ballast eines geschichtlichen Wiederholungszwangs allein auf der Grundlage rationaler Interessenkalküle und diskursiven Erwägens zu betreiben. Aber so einfach sind die Dinge nicht. Das zu zeigen ist die Absicht dieses Buches. Es gibt keinen geraden Weg «vom Mythos zum Logos»,[5] schon gar nicht in der Politik, und auch Max Webers gerne bemühte Entzauberungsdiagnose ist, genauer betrachtet, viel zu melancholisch, als dass sie als Trompetensignal des Fortschritts in eine bessere, weil vernünftigere Welt verstanden werden könnte.[6]

Tatsächlich ist man nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik keineswegs gänzlich ohne Mythen ausgekommen, nur waren diese nicht mehr auf die Politik, sondern auf den individuellen Wohlstand und dessen Zurschaustellung bezogen. Während man in der DDR versuchte, eine alternative Narration deutscher Geschichte gründungsmythisch aufzubereiten, in der Volksaufstände und revolutionäre Projekte an die Stelle der Kriege und Schlachten traten, verzichtete man im Westen auf einen offiziellen Gründungsmythos und begnügte sich damit, ein ausgesprochen symbolarmer Staat zu sein. Das wurde anfänglich durch den Provisoriumscharakter der Bundesrepublik erheblich erleichtert.[7] So verlagerte sich das Bedürfnis nach mythischer Narration und symbolischer Repräsentation von Politik und Staat auf Markt und Konsum. Der Volkswagen wurde zum Zeichen des Dazugehörens, und der Mercedes war das Symbol des gelungenen Aufstiegs, die Bestätigung des Erfolgs. Überspitzt gesagt, löste der Mercedesstern das Eiserne Kreuz der Kriegsgeneration ab. Käfer und Golf dominierten die Märkte und prägten die Identität von Generationen, aber der Mercedes brachte zum Ausdruck, dass deutsche Leistung auch international wieder Respekt und Anerkennung fand. Janis Joplin sang: «Oh Lord, won’t you buy me a Mercedes Benz.» Nachdem es mit Schlachtflotten und Panzerarmeen vorbei war, hat kaum etwas den deutschen Anspruch auf Weltgeltung so deutlich verkörpert wie das Automobil aus Stuttgart. Das hat der spätere Unternehmensvorstand Jürgen Schrempp nicht begriffen, als er Namen und Symbol leichtfertig für die Bezeichnung Daimler-Chrysler drangab – eine Fehlentscheidung, die mit Milliardenaufwand revidiert werden musste. Ein Blick auf den Mythos hätte der Konzernzentrale diese Verluste ersparen können. Mythen sind Ansammlungen symbolischen Kapitals, von denen man gut leben kann, solange man sie hegt und pflegt. Dieses symbolische Kapital ist jedoch auch schnell verspielt.

Wie Schrempp die Bedeutung eines Namens und der angelagerten Symbolik unterschätzt hat, so neigen viele Politiker dazu, Narrationen im politischen Betrieb ein zu geringes Gewicht beizumessen.[8] Vor allem, wenn Politik sich nicht in routiniertem Administrieren erschöpft, sondern einschneidende Reformen erforderlich werden oder politisches Neuland zu betreten ist, erlangen solche Narrative große Bedeutung. Mythen versichern dann, dass die zu meisternden Aufgaben bewältigt werden können, weil das damals auch gelungen ist. Sie schaffen Orientierung und Zuversicht und sind damit kognitive wie emotionale Ressourcen der Politik. Das hat sich bei der sogenannten Agenda 2010 des zweiten Kabinetts Schröder gezeigt, die ohne narrativ-symbolische Rückendeckung auskommen musste und nicht zuletzt deshalb keine ausreichende Unterstützung innerhalb der SPD fand. Man hat aus der Not eine Tugend zu machen versucht, indem man die einzelnen Reformmaßnahmen mit einer explizit technischen Symbolik umgab, etwa die Hartz-Reformen durchnummerierte oder das Zieljahr der Reformen «Zwanzig-Zehn» aussprach. Aber das waren Symboliken, die eher negative Empfindungen hervorriefen als die politische Phantasie stimulierten. Die Entstehung der Linkspartei[9] und die Abwanderung größerer Wählerschichten von der Sozialdemokratie ist – jedenfalls zum Teil – eine Folge des narrativen wie symbolischen Mangels, mit der dieses Projekt in Gang gesetzt wurde. Das Defizit politischer Mythen in Deutschland hat also einen Preis, und der besteht im Fehlen von Großerzählungen, die Zutrauen und Mut erzeugen und politische Reformen begleiten und absichern können. Der Befund mag überraschen: Mangel an politischen Mythen und struktureller Konservatismus gehen offenbar Hand in Hand.

Nun hat aber, wie die deutsche Geschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zeigt, ein überbordender Reichtum an politischen Mythen ebenfalls seinen Preis, und der war mit Sicherheit größer als der, den die Bonner und die Berliner Republik für ihre Mythenfeindlichkeit bisher zu zahlen hatten. Unter dem Einfluss der Französischen Revolution und der sich in ihrem Gefolge entwickelnden politischen Dynamik hatte Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland eine Suche nach Nationalmythen und Nationalhelden eingesetzt, die an die Stelle der in der Jahrhundertmitte versiegten neostoischen Heroenmythik der höfischen Gesellschaft trat.[10] Vom wieder aufgefundenen Nibelungenlied bis zu Goethes Faust und Tacitus’ Germania, vom Cheruskerfürsten Hermann/Arminius über den Stauferkaiser Barbarossa bis zum Reformator Luther wurden literarische Texte und historische Personen auf ihre Tauglichkeit zu politischen Gründungs- und Orientierungsmythen getestet. In sagenumwobene Orte, literarische Texte und historische Ereignisse wurde eine Bedeutung investiert, durch die sie über sich hinauswiesen, Geheimnisse bargen oder heilsgeschichtliche Versprechen enthielten. Der Dichter Wilhelm Raabe hat von den drei großen sinnbehafteten Bergen beziehungsweise Burgen Deutschlands gesprochen, in denen sich Vergangenheit und Zukunft des Landes spiegelten: dem Brocken, dem Kyffhäuser und der Wartburg.[11] Mit der Reichsgründung setzte eine «Verdenkmalung» der Landschaft ein, durch die bestimmten mythisch besetzten Orten eine sakrale Aura verliehen wurde.[12] Das Arminiusdenkmal im Teutoburger Wald und das Barbarossadenkmal auf dem Kyffhäuser, das Niederwalddenkmal oberhalb von Rüdesheim und das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig, zuvor bereits die Walhalla nahe Regensburg und die Ehrenhalle bei Kelheim sind damals entstanden, die Wartburg wurde grundlegend restauriert, und der Kölner Dom, dessen Bau Mitte des 16. Jahrhunderts eingestellt worden war, wurde nunmehr vollendet.[13] Die Brüder Grimm sammelten nicht nur hessische Märchen, sondern auch deutsche Sagen, die Romantiker Brentano und Arnim edierten Lieder und Gedichte in der berühmten Sammlung Des Knaben Wunderhorn, und fast möchte man meinen, hier habe sich überhaupt erst zugetragen, was Max Weber ein Jahrhundert später dann für beendet erklärte: die Verzauberung der Welt.

Dabei waren beileibe nicht alle Verzauberungen genuin politisch, aber fast alle erwiesen sich als politisch anschlussfähig, zumindest derart, dass sie etwas zur Identität der Nation beisteuerten und das vorgeblich Besondere, Einmalige der Deutschen fassbar machten. In diesem Sinne befriedigen politische Mythen ein kollektives Distinktionsbedürfnis, wobei sie es selten bei bloßer Abgrenzung belassen, sondern Überlegenheitsvorstellungen und Dominanzansprüche wecken. Das ist vor allem dort der Fall, wo sich Gegenmythen entwickeln, wie im 19. Jahrhundert zwischen Deutschland und Frankreich[14] und seit den 1950er Jahren noch einmal zwischen der Bundesrepublik und der DDR. Sie beziehen ihre Kraft daraus, dass sie das Selbstbewusstsein der Gegenseite in Frage stellen. Das zeigt sich in der Kontrastierung von Versailles mit der Fluss- und Burgenlandschaft am Mittelrhein: auf der einen Seite die als künstlich betrachtete Einheit von Schloss und Park und auf der anderen Seite die als natürlich gefeierte Rheinlandschaft mit ihren tiefen Geheimnissen und den sich an die Natur anschmiegenden architektonischen Einsprengseln der Klöster, Kirchen und Burgen. Das war ein radikaler Gegenentwurf zu Versailles, der sich nicht nur gegen Frankreich, sondern auch gegen die Nachahmer des Französischen in Deutschland richtete. Oder «Rom» wurde zum Gegenbild des aufrechten, guten Deutschen stilisiert, beziehungsweise das, was als deutsch gelten sollte, wurde als Gegenentwurf zu all dem entfaltet, was sich mit «Rom» verbinden ließ. Der Franzosenkaiser Napoleon und der Cheruskerfürst Hermann sind ein weiteres Gegensatzpaar, das für die mythische Kontrastierung von imperialem Anspruch und antiimperialem Widerstand steht, oder auch Napoleon und Königin Luise, der französische Satan und die preußische Heilige. Derart scharf ausgeprägte Gegensätze sollten Feindbilder markieren und das Selbstbild verdeutlichen. Zum System der Gegenmythen gehören auch konkurrierende Inanspruchnahmen ein und derselben Tradition, wie dies bei der frühneuzeitlichen Debatte über Karl den Großen der Fall war, den sowohl Franzosen als auch Deutsche für sich reklamierten.[15] Andere Beispiele sind das Straßburger Münster und der Bamberger Reiter, mit denen gegen Frankreich ein deutscher Anspruch auf die wahre und echte Gotik geltend gemacht wurde.[16]

Der Mythisierungsschub des 19. Jahrhunderts erfasste nicht nur den Raum, sondern griff in Gestalt eines politischen Heiligenkalenders mit Gedenk- und Feiertagen auch auf die Zeit aus. Das Kirchenjahr verlor sein Sakralitätsmonopol. Nun wurden die Jahrestage großer Schlachten oder politischer Gründungsereignisse ebenfalls mit Weihen versehen, die Dankbarkeit und Verpflichtung erzeugen sollten. In der Regel wurden die politischen Festtage mit Aufzügen und Militärparaden gefeiert. In der DDR lebte diese Tradition fort, während die Bundesrepublik sich auf Festansprachen mit musikalischer Umrahmung in geschlossenen Räumen beschränkte. Die bundesrepublikanische Linie eines reduzierten politischen Festkalenders bei Verzicht auf Militärparaden und Vorbeimärsche ist in der Berliner Republik übernommen worden. Der Sakralitätsverzicht politischer Festtage korrespondiert dem Mangel an gründungsmythischen Erzählungen. So ist der «Tag der deutschen Einheit» für die regionalen Schausteller wichtiger als für die republikanische Verfassungskultur Deutschlands.[17]

Im Prinzip führt die sakrale Aufladung des politischen Alltags jedoch zu Immobilismus. Das ist nur scheinbar ein Widerspruch zur obengemachten Beobachtung, dass politische Mythen bei der Unterstützung tiefgreifender Reformmaßnahmen hilfreich sind, während ihr Fehlen einen strukturellen Konservatismus befördert. Politische Mythen wirken nämlich in ihrer dreifachen Gliederung von narrativer Variation, ikonischer Verdichtung und ritueller Inszenierung keineswegs einsinnig im Sinne eines die Veränderung unterstützenden Faktors, sondern können auch den Kräften der Beharrung zur Seite stehen. Mit narrativer Variation ist dabei gemeint, dass Mythen nicht bloß weitererzählt, sondern auch fort- und umerzählt werden und dass die dabei zu beobachtenden Variationen spezifisch politische Deutungsleistungen darstellen, in denen einer Neuorientierung des politischen Verbandes vorgearbeitet wird. Vor allem am Barbarossa-, aber auch am Nibelungenmythos ist das zu beobachten. Unter ikonischer Verdichtung ist nicht bloß Verbildlichung, sondern auch Statuarisierung zu verstehen, insofern die einmal durchgesetzte Ikonik ein sehr viel größeres Beharrungsvermögen gegenüber Varianten aufweist als die Erzählung. Als Hypothese lässt sich somit formulieren, dass Narrative eher die Veränderung befördern, während Bilder und Denkmäler, die den Mythos zur Darstellung bringen, sowie die ihm gewidmeten Feste einen überwiegend bewahrenden Charakter haben. Das ist nicht verwunderlich, da Narrationen am wandlungsfähigsten sind, umerzählt und modifiziert werden können, wohingegen die mit Ikonisierung und Ritualisierung verbundene Sakralität Personen, Ereignisse und Berichte unverfügbar macht und Variationen unter Häresieverdacht stellt. Demgegenüber eröffnet der Verzicht auf politische Sakralisierung erhöhte Flexibilität und schafft die Möglichkeit, Perspektiven auszuloten, die im Mythos nicht vorgesehen sind. Andernfalls sind schmerzliche Prozesse der Desakralisierung unvermeidlich, wie man sie in den Städten der ehemaligen DDR zu Beginn der 1990er Jahre erleben konnte, als Denkmäler abgebaut und Straßen umbenannt wurden.[18]

 

Halten wir fest: In politischen Mythen wird das Selbstbewusstsein eines politischen Verbandes zum Ausdruck gebracht, beziehungsweise dieses Selbstbewusstsein speist sich aus ihnen. Sie sind die narrative Grundlage der symbolischen Ordnung eines Gemeinwesens, die insbesondere dann in Anspruch genommen werden muss, wenn sich Symboliken nicht mehr von selbst erschließen oder wenn es gilt, sie zu verändern. In einer solchen Situation sind politische Mythen und Symbole Angriffen von innen wie von außen ausgesetzt, und dabei stellen mythische Narrationen die wichtigste Verteidigungslinie der symbolischen Ordnung dar. Selbstverständlich sind politische Mythen aber auch offensiv einsetzbar, indem mit ihnen die Ansprüche eines politischen Gegners in Zweifel gezogen oder bestritten werden können.

Die Angriffe auf die symbolische Ordnung können sehr unterschiedlicher Art sein: Gegen architektonische Zeichen sind sie meist gewaltsam. Der mit physischen Mitteln durchgeführte Denkmalsturz, die Politik des Sprengstoffs, wie sie etwa unter Walter Ulbricht betrieben wurde, um Erinnerungen auszulöschen und das kollektive Gedächtnis der politischen Gemeinschaft neu programmieren zu können, ist freilich mit narrativen Mitteln nicht abzuwehren.[19] Aber die Politik des Sprengstoffs ist selbst auf die Begleitung durch Narrationen angewiesen; sonst erschiene sie als bloßer Vandalismus. Sie muss begründende Erzählungen dafür anbieten, warum das Abräumen früherer Symbolsysteme kein Verlust, sondern eine Befreiung ist. Solche demonstrativen Desymbolisierungen sind jedoch eher selten. Dass sie in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts mehrfach vorgekommen sind, hat mit deren Brüchen und Verwerfungen zu tun. Vergleichbares ist bei den europäischen Nachbarn nicht zu beobachten. In der Regel verläuft die Entheiligung von Plätzen und Gebäuden schleichend: Sie leiden über längere Zeit an der Erosion ihrer Symbolik, dementsprechend erfolgen auch keine Investitionen in ihren physischen Erhalt mehr, und es beginnt ein zunächst unmerklicher Verfall, bis zuletzt nur noch bedeutungslos gewordene Trümmer zu beseitigen sind. Der entscheidende Punkt in diesem Prozess ist die mythische Narration: Wenn ihre Kraft versiegt, verliert der Ort, auf den sie sich bezieht, seine Bedeutung.

In der deutschen Geschichte ist ein unmerkliches Dahinscheiden jedoch die Ausnahme; die Regel waren heftige Kämpfe um politische Mythen, bei denen diese umerzählt wurden, um sie neuen politischen Zielen anzupassen, oder sie wurden zerstört, indem man sie ihrer narrativen Umkleidungen entledigte und den ideologischen Kern bloßstellte. Wird dieser Kern sichtbar, verliert der Mythos seine Kraft. Man sieht die in ihm nur noch verborgenen Interessen. Mythen- und Ideologiekritik sind insofern eng miteinander verwandt. Es kommt deswegen nicht von ungefähr, wenn im Folgenden immer wieder auf Heinrich Heine Bezug genommen wird, der ein genialer Fortspinner und Umdeuter mythischer Erzählungen war.

Solche Kämpfe können nur dann geführt werden, wenn die Mythen weit verbreitet und bekannt sind. Dazu bedarf es einer sozialen Schicht, die mit Mythen und Symbolen so gut vertraut ist, dass sie auch nur im Zungenschlag hörbare Pointen wahrzunehmen vermag, um sich an ihnen zu vergnügen oder über sie zu erregen. Diese Schicht war in Deutschland das Bildungsbürgertum. Mit seinem Niedergang haben jene mythischen Narrationen an Relevanz verloren, die auf die Kenntnis von Kunst und Literatur angewiesen waren. Wenn, wie sich am Schluss des Buches zeigen wird, für die politische Mythik heute Fernsehunterhalter und Prominente, Werbedesigner und Bildzeitungsredakteure von größerer Bedeutung sind als Historiographen und Literaten, Maler, Bildhauer und Schriftsteller, so hat das auch mit der Veränderung der medialen Systeme zu tun, vor allem aber mit der politischen Marginalisierung des deutschen Bildungsbürgertums.

Politische Mythen haben in allen europäischen Nationen eine wichtige Rolle gespielt,[20] Deutschland allerdings war ein regelrechtes Dorado der politischen Mythographie. Das hängt mit der politischen Deutungshoheit des Bildungsbürgertums[21] und mit der verspäteten Staatsbildung zusammen: Bis 1871 waren Mythen und Symbole die einzige Repräsentation der Nation. Das hatte zur Folge, dass die nationalen Erwartungen und Anstrengungen auf das Feld des Symbolischen verwiesen waren. Was im politischen Erfahrungsraum nicht der Fall war, wurde mit umso größerer Intensität in den Erwartungshorizont[22] hineingeschrieben, und der wurde über weite Strecken durch Mythen illustriert. Heinrich Heine hat das deutsche Streben ins «Luftrevier» verspottet, aber kaum einer hat besser gewusst als er, welche gewaltige Kraft von diesen «Hirngespinsten» ausgehen konnte. Man kann große Teile seines Werks als den Versuch begreifen, sie zu domestizieren. Auch das war Arbeit am Mythos,[23] wie sie im Folgenden beschrieben und analysiert wird.

Mit der Reichsgründung von 1871 kamen mythenfundierte Symbolik und politisch-administrative Struktur zusammen. Die erwähnte «Verdenkmalung» bedeutsamer Orte und Landschaften war die Folge.[24] Die kurzzeitige Verschmelzung von Erwartungshorizont und Erfahrungsraum löste einen Schub an Sakralisierung von Raum und Zeit aus, in dem sich der Anspruch des Bürgertums auf politisch-kulturelle Deutungshoheit ausdrückte. Mit der Bismarck’schen Reichsgründung war nur die eine Hälfte des politischen Projekts des Bürgertums realisiert worden, die Verbindung von Staat und Nation, nicht jedoch die andere, nämlich die Übernahme der politischen Führung. Daher wollte man wenigstens die Deutungshoheit über das neue Reich innehaben und auf diese Weise die adligen Eliten in Politik, Verwaltung und Militär lenken und leiten. Die Verfügung über die politischen Mythen wurde zum Ersatz für politische Partizipation. Daraus sind die Dynamik der politischen Mythenbildung in Deutschland und die Heftigkeit zu erklären, mit der um sie gestritten wurde. Pointiert formuliert: Mit Hilfe der politischen Mythen haben Teile des Bildungsbürgertums die adligen Eliten des Reichs vor sich hergetrieben und ihnen immer neue Ziele gesteckt. Seinen Höhepunkt fand das in der Kriegszieldebatte von 1914 bis 1917, als sich die konkurrierenden Gruppierungen in immer weitergehenden Erwartungen überboten und so die Chance für einen Verhandlungsfrieden blockierten.[25] Gerade in der Kriegszieldiskussion haben die politischen Mythen der Deutschen verhängnisvolle Wirkungen gehabt.

Warum hat dann aber erst 1945 und nicht bereits 1918/19 die große Wende im Umgang der Deutschen mit ihren politischen Mythen stattgefunden? Mit Ausrufung der Republik und der Bildung einer dem Parlament verantwortlichen Regierung standen alle Möglichkeiten politischer Partizipation offen. Doch erhebliche Teile des Bürgertums gingen zur Weimarer Republik auf Distanz oder bekämpften sie sogar.[26] Dies dürfte zum einen auf die Verbitterung über die Kriegsniederlage zurückzuführen sein, deren Folgen revidiert werden sollten, wobei den politischen Mythen die Aufgabe der mentalen Wiederaufrüstung zukam, zum anderen jedoch auf den politischen Aufstieg der Arbeiterschaft. Just in dem Augenblick, da das Bürgertum den Schritt von der politisch-kulturellen Deutungshoheit zu den Schalthebeln der Politik machen konnte, musste es die Verfügung darüber mit der Arbeiterschaft teilen. Das war im politisch-mythischen Erwartungshorizont nicht vorgesehen und trug mit dazu bei, dass sich die konservativen und nationalistischen Gruppen des Bürgertums in die befestigten Räume seiner Mythen zurückzogen, um die ungeliebte Republik von dort aus zu zermürben und sturmreif zu schießen. Politische Mythen, die vordem der Ziel- und Richtungsbestimmung des Kaiserreichs gedient hatten, wurden nun dazu eingesetzt, die Republik zu denunzieren: Sie sei schwach und verdanke ihr Bestehen einem Verrat. Gleichzeitig wurden Erwartungshorizonte aufgebaut, die mit der politischen Ordnung von Weimar unvereinbar waren und in nicht unerheblichem Maße die Hoffnung auf einen Führer weckten beziehungsweise diesem Akzeptanz verschafften. Dies war der hohe Preis, den die Deutschen für ihre zeitweilige Mythenversessenheit zu zahlen hatten.

Dafür erfolgte nach dem Zweiten Weltkrieg ein mythenpolitischer Schnitt, wie er radikaler nicht hätte sein können. Fast alle politischen Mythen waren desavouiert: An eine Wiederkehr Barbarossas nach langem Schlaf war nicht mehr zu denken, und die Nibelungen hatten auf ihrem Zug nach Osten allesamt den Tod gefunden. Von der germanischen Identität, auf die man zeitweilig so stolz gewesen war, wollte man nichts mehr wissen, und auch der Preußenmythos war anrüchig geworden.

Im Umgang mit den Trümmern der alten deutschen Mythen gingen DDR und Bundesrepublik unterschiedliche Wege: Während die DDR ein neues Mythensystem errichtete, in dessen Zentrum geschichtliche Ereignisse standen, die sich als Vorgeschichte des Arbeiter-und-Bauern-Staates aufbereiten ließen – vom Bauernkrieg über die antinapoleonischen Befreiungskriege bis zum antifaschistischen Widerstand –, blieben in der Bundesrepublik die mythenpolitischen Trümmerberge zunächst weitgehend unbearbeitet. So zügig die physische «Enttrümmerung» der westdeutschen Städte erfolgte, so lustlos wurde die Auseinandersetzung mit den politisch-mythischen Trümmern untergegangener Großmachtträume betrieben. Das lief darauf hinaus, dass sich Einzelne, wenn sie dies wollten, darin eingraben konnten, ohne dass sie daran gehindert wurden. Es zeigte sich jedoch bald: Wer sich aus diesen Trümmern geistige Behausungen zimmerte, betrieb politische Selbstmarginalisierung. Was übrig geblieben war, ließ sich allenfalls für einen Geschichtsunterricht ohne mythenpolitischen Anspruch nutzen. Die Denkmäler boten sich für eine kommerzielle Vermarktung ohne politische Sinnvermittlung an, das heißt für Tourismus. Der Verzicht auf den politischen Sinn war die Voraussetzung für ihre Vermarktung. So wurde eine Distanz hergestellt, die dafür sorgte, dass man an diesen Orten nicht durch heilige Schauder in die politische Pflicht genommen wurde, sondern in touristischer Unbefangenheit seiner Neugier frönen konnte.

Aber ganz hat auch die Bundesrepublik auf Sinnstiftung durch mythische Erzählungen nicht verzichten können. Die Konsummythen, von denen bereits die Rede war, dienten nicht nur als Kaufanreize und Marketinginstrumente einer sich in ihrem neuen Wohlstand einrichtenden Gesellschaft, sondern avancierten auch zu Gegenerzählungen zur Mythik der DDR: Sie bestritten deren Anspruch, der bessere deutsche Staat zu sein, und hielten ihr die notorischen Versorgungsdefizite der Bevölkerung und die Einschränkung der Reisefreiheit als Manko der politischen Ordnung vor. Damit konterkarierten die bundesrepublikanischen Konsummythen den antifaschistischen Gründungsmythos, in dem die DDR den Widerstand gegen Hitler und die Zerschlagung des Nazi-Regimes für sich monopolisiert hatte.

Auch hier zeigen sich die Funktionsimperative von Gegenmythen: Der Antifa-Mythos der DDR war nicht nur eine Selbstvergewisserung des zweiten deutschen Staates, in dem die politische Herkunft und die mit ihr verbundenen Werte festgelegt wurden, sondern stellte zugleich einen Angriff auf die Bundesrepublik dar, die nicht oder nicht gründlich genug mit dem «Hitler-Faschismus» gebrochen habe; in der BRD gäben die Ewiggestrigen den Ton an, und daran werde sie zugrunde gehen. Damit wird eine weitere Funktion politischer Mythen deutlich: Sie arbeiten an der Herausbildung eines «Wir», indem sie es scharf gegen ein «Sie» abgrenzen. Sie bebildern Alterität, um Identität zu festigen.

Die Arbeit des Mythos an der Wir/Sie-Unterscheidung erfolgt ebenfalls durch narrative Variation, ikonische Verdichtung und rituelle Inszenierung. Besonders gut kann die in Karikaturen geleistete ikonische Verdichtung diese Funktion erfüllen, da es in ihnen auf die Überzeichnung von Identifikationsmerkmalen ankommt, welche Assoziationen antippen und so das gesamte Programm der Wir/Sie-Unterscheidung abrufen. Verglichen damit sind die rituellen Inszenierungen politischer Mythen eher selbstreferentiell, das heißt, sie betten das «Wir» in eine feierliche Selbstgewissheit ein, ohne sich sonderlich um den Gegenentwurf des «Sie» zu bekümmern. Bei Festveranstaltungen würde die Präsenz des gegenmythischen «Sie» nur die Feierlichkeit stören.[27]

Ihre volle Kraft entfalten politische Mythen erst, wenn sie auf allen drei Ebenen präsent sind. Dabei stellt die Narration mit ihren Variationen die Grundstruktur des Mythensystems her, auf der Verbildlichung und Fest aufruhen[28] – dies gilt zumindest für die im 19. und 20. Jahrhundert wirkmächtig gewordenen politischen Mythen. Sie wendeten sich zunächst mit narrativen Mitteln an die Imaginationskraft der Menschen, und erst nachdem sie «die Massen ergriffen» hatten, ging man daran, Denkmäler zu errichten und politische Feste zu feiern. Unbeschadet dessen ist der in der jüngeren Forschung anzutreffende Hinweis ernst zu nehmen, wonach die Entstehung neuer suggestiver Bildtechniken im späten 20. Jahrhundert das Bild gegenüber dem Text habe dominant werden lassen. Obendrein eigne es sich sehr viel besser für die Zwecke der Beeinflussung, da es beim Betrachter eine direktere emotionale Wirkung hervorrufe. Demnach hat auch in der politischen Mythik ein iconic turn stattgefunden, in dessen Folge die narrative Variation – und damit die Möglichkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Mythos auf dessen ureigenstem Terrain: dem Erzählen – gegenüber dem Plakativen, der direkt stimulierten Imagination, an Bedeutung verloren hat.[29] Darum soll es am Schluss des Buches gehen.

Mit dem Dominantwerden des Ikonischen über das Narrative dürfte eines der wichtigsten Merkmale des Mythos verblassen: seine Differenz gegenüber dem Dogma. Der Mythos, auch der politische Mythos, hat keine festen Konturen, seine Bedeutung kann durch Umstellung seiner verschiedenen Bestandteile immer wieder neu verändert werden. Der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss hat dies als bricolage, als Basteln, bezeichnet und die Beobachtung gemacht, dass die bricolage nicht zielgerichtet verläuft, sondern improvisiert wird, schon weil unterschiedliche und konkurrierende «Bastler» an diesem Prozess beteiligt sind.[30] Die Arbeit am Mythos findet statt, ohne dass jemand festlegt, was richtig ist und geglaubt werden muss. Sobald ein Mythos jedoch zum Dogma wird, verliert er das spezifisch Mythische: das permanente Fort- und Umerzählen.

Von seiner Tendenz her ist der Mythos demokratisch-egalitär; an der Arbeit an ihm sind Großeltern, die ihren Enkeln Geschichten erzählen, ebenso beteiligt wie hochgelehrte Wissenschaftler, die mit den Mitteln komparativer Exegetik Varianten vergleichen und nach dem Ur- oder Ursprungsmythos suchen. Bei politischen Mythen versucht die Führung des Staates, auf das Forterzählen Einfluss zu nehmen. Sie tut das in der Demokratie freilich mit anderen Mitteln als in autoritären oder gar totalitären Systemen. In Demokratien bewegt sie sich bevorzugt auf den Ebenen der ikonischen Verdichtung und rituellen Inszenierung, während ihre Definitionsmacht im Bereich narrativer Variation begrenzt ist, denn um ihn zu kontrollieren, bedarf es der Zensur. Generell aber gilt: Sobald der Mythos zum Dogma erstarrt, ist er tot. Das ist das Problem autoritärer oder gar totalitärer Systeme: dass sie politischer Mythen bedürfen, diesen aber keine Entfaltungsräume gewähren können, weil sie dann jenen politischen Kräften Spielraum verschaffen würden, die sie doch klein halten wollen.

Nun sollte freilich die narrative Variabilität des Mythos nicht mit einer Beliebigkeit des Fort- und Weitererzählens verwechselt werden.[31] Lévi-Strauss hat von der inneren Struktur des Mythos gesprochen, die den Mythos zu einem Verweisungssystem macht, das die Dauerstrukturen unseres Bewusstseins prägt, indem es den Sprachuntergrund unserer Verständigung darstellt.[32] Politische und semiotische Ordnungen stehen in einem Verweisungszusammenhang. Roland Barthes hat diesen Ansatz weiterentwickelt, indem er Mythen als eine Metasprache begriffen hat, die von ganz bestimmten soziopolitischen Gruppen verwendet wird. Der Mythos ist eine starre Botschaft, die das, was geschichtlich geworden ist, in feststehende Natur verwandelt und es so der Verfügung politischer Opponenten entzieht. Mythen würden somit politische Handlungsspielräume verengen: Die Metasprache des Mythos lässt das Gewordene als etwas Ewiges und Unverfügbares erscheinen. In soziologischer Wendung seiner Mythenanalyse identifiziert Barthes politische Mythen als Sprache des Kleinbürgertums, das die Welt mystifiziert, weil es sie nicht verändern kann und nicht verändern will.[33]

Damit hat Barthes das Feld markiert, auf dem mit politischen Mythen um die Besetzung von Begriffen und Vorstellungen gekämpft wird. Aber er hat seiner Analyse eine politische Schlagseite verliehen, die den Mythos zum Instrument der politischen Rechten und die Entmythisierung zum Privileg der politischen Linken gemacht hat.[34] Das ist freilich kaum überzeugend, wenn man an den Kult um die großen Führer der linken Parteien denkt, die mit Mythen ummantelt und durch Mythen erhöht worden sind. Wenn Barthes als «links» nur gelten lassen will, was mythenkritisch-aufklärerisch ist, so verwechselt er den politischen Machtkampf mit der gepflegten Atmosphäre intellektueller Salons und muss sich die Frage stellen lassen, ob nicht das Projekt der Aufklärung selbst ein politischer Mythos im hier entwickelten Sinne ist. Gleichwohl hat Barthes die ideologiekritische Dimension sichtbar gemacht, die jeder Mythenanalyse eigen ist, wenn sie nicht in eine pure Weitererzählung des Mythos umschlagen will.[35] Wo Ideologiekritik jedoch nicht wie ein Seziermesser, sondern wie eine Axt gehandhabt wird, greift die Auffassung um sich, bei politischen Mythen handle es sich durchweg um Demagogie und Gegenaufklärung, und wer dagegen angehe, fördere schon deshalb den politischen Fortschritt.

Ganz anders hat Karl Marx in seiner Schrift «Der 18te Brumaire des Louis Bonaparte» die Konstellationen beschrieben: «Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorhandenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller todten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nie Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit in ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparolen, Kostüme, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen.»[36] So habe sich Luther als Apostel Paulus und die Französische Revolution abwechselnd als römische Republik oder römisches Kaisertum drapiert. Nachdem jedoch die Revolutionäre die neue Gesellschaftsordnung hergestellt hatten, «verschwanden die vorsintfluthlichen Kolosse und mit ihnen das wieder auferstandene Römertum – die Brutusse, Gracchusse, Publicolas, die Tribunen, die Senatoren und Cäsar selbst. […] Ganz absorbirt in die Produktion des Reichthums und in den friedlichen Kampf der Konkurrenz begriff sie [die bürgerliche Gesellschaft] nicht mehr, daß die Gespenster der Römerzeit ihre Wiege gehütet hatten. Aber unheroisch, wie die bürgerliche Gesellschaft ist, hatte es jedoch des Heroismus bedurft, der Aufopferung, des Schreckens, des Bürgerkriegs und der Völkerschlachten, um sie auf die Welt zu setzen.»[37]

Die ersten Seiten von Marx’ Analyse des Aufstiegs Napoleons III. enthalten mehr an analytischer Einsicht in die Wirkung politischer Mythen als manch opulent angelegte Theorie politischer Mythen. Für Marx lassen sich politische Mythen, zumindest bis zur sozialistischen Revolution, die er selbst propagiert, nicht eindeutig dem Reaktionären oder Revolutionären zuordnen, sondern sie stehen der politischen Nutzung durch unterschiedliche Kräfte offen. Man kann freilich nachvollziehen, dass die meisten Autoren, die sich überwiegend mit den Mythen des Nationalsozialismus beschäftigt haben, die von Marx beschriebene Ambivalenz politischer Mythen nicht beobachtet, sondern diese kurzerhand der Gegenaufklärung und der politischen Reaktion zugeschlagen haben. Das gilt selbst für Ernst Cassirer, der in seiner Philosophie der symbolischen Formen (1923 – 1929) noch den spezifischen Erkenntnisgehalt von Mythen thematisiert hatte,[38] dann aber unter dem Eindruck des Nationalsozialismus in seinem Spätwerk Der Mythus des Staates (1946) schrieb: «Die neuen politischen Mythen wachsen nicht frei auf; sie sind keine wilden Früchte einer üppigen Einbildungskraft. Sie sind künstliche Dinge, von sehr geschickten und schlauen Handwerkern erzeugt.»[39] Es ging um Manipulation: «Die politischen Mythen handelten auf dieselbe Weise wie eine Schlange, die versucht, ihre Opfer zu lähmen, bevor sie angreift. Die Menschen fielen ihnen zum Opfer ohne jeden ernsten Widerstand. Sie wurden besiegt und unterworfen, bevor sie sich klar gemacht hatten, was eigentlich geschah.»[40] Und so gelangt Cassirer schließlich zu einer Feststellung, die Marx’ Beobachtung, politische Mythen könnten einen revolutionären Heroismus hervorbringen, diametral entgegengesetzt ist: «Fatalismus scheint von mythischem Denken untrennbar zu sein.»[41]

Die genauere Betrachtung politischer Mythen fördert beides zutage: Mythen, die auf Veränderung drängen und die von ihnen Angesprochenen geradezu zum Handeln zwingen, und Mythen, die von der Unveränderlichkeit der Geschichte erzählen und die Unterwerfung unter ein unwandelbares Schicksal nahelegen.

Hans Blumenberg, neben Ernst Cassirer und den französischen Strukturalisten Claude Lévi-Strauss und Roland Barthes der vierte in der Gruppe der wichtigsten Mythostheoretiker des 20. Jahrhunderts, hat dem Mythos eine eher emanzipatorische, ja, überlebenssichernde Funktion zugeschrieben. In der mythischen Erzählung würden archaische Ängste durch mythische Erzählungen gebannt; der Mensch gewinne Distanz gegenüber dem Unheimlichen; gleichzeitig verleihe der Mythos der Welt Sinnhaftigkeit und mache sie zu einer Welt für den Menschen.[42] Nicht durch die revolutionäre Tat verschafft dieser sich Freiheit, sondern indem er eine ihm gleichgültig gegenüberstehende Welt narrativ überwältigt. Was Blumenberg allgemein am Mythos entwickelt hat, soll hier an den politischen Mythen der Deutschen nachvollzogen werden: Wie die politische Welt, einigen vertraut, anderen gänzlich unvertraut, mit narrativen Deutungen umstellt und mit interpretativen Narrationen überzogen wird, um Gewissheiten in einem Bereich zu erlangen, der sonst der Kontingenz des Kampfs um die Macht ausgeliefert gewesen wäre – so jedenfalls sahen es die meisten Mythopoeten der Zeit.

Unabhängig von der Frage, ob politische Mythen eine befreiende oder einengende Wirkung haben, tragen sie zur Ausgestaltung eines kollektiven Gedächtnisses bei, das für die Identität politischer Gemeinschaften von zentraler Bedeutung ist.[43] Auf diese Weise formen sie das Selbstbild von Kollektiven, werden politisch handlungsleitend und haben orientierende Funktion. Diese Mythomotorik hat der Kulturwissenschaftler Jan Assmann im Hinblick auf «kalte» und «heiße» Gesellschaften (Lévi-Strauss) differenziert: Kalte Gesellschaften sind bestrebt, den Einfluss der Geschichte auf ihr Gleichgewicht wegzuerzählen. Der Mythos hat hier die Funktion, Impulse zu neutralisieren, die Veränderung bewirken könnten; der Wandel wird eingefroren, und die mythische Annahme einer Wiederkehr des Gleichen dient der Bestätigung von Kontinuität, auf deren Wahrnehmung solche Gesellschaften angewiesen sind.

Im Gegensatz dazu sind heiße Gesellschaften regelrecht begierig auf Veränderung; der Mythos treibt in ihnen Entwicklung und Erneuerung voran, indem er die Erinnerung an Brüche und Umschwünge lebendig hält und weitere Umbrüche voraussagt. Auf dieser Grundlage kann Assmann erklären, warum einige Mythen eher konservative, andere wiederum revolutionäre Effekte haben. Fundierende Mythen stellen gegenwärtige Erfahrungen in das Licht der Geschichte, um sie als sinnvoll, gottgewollt, notwendig oder unabänderlich erscheinen zu lassen. Kontrapräsentische Mythen dagegen heben auf das Fehlende oder Verlorene ab; sie stellen Brüche heraus und betonen das Nochnicht, was zur Folge hat, dass sie jederzeit in einen revolutionären Messianismus umschlagen können.

All dies lässt sich auch an den politischen Mythen der Deutschen beobachten, die Veränderungen mal gebremst und mal vorangetrieben haben. Welche Mythen politisch zum Tragen kamen beziehungsweise wie sie weitererzählt wurden, hat freilich auch mit den Generationen zu tun, deren Erfahrungsraum und Erwartungshorizont sie prägen. Politische Mythen und die Erfahrung von Generationenzugehörigkeit hängen aufs engste miteinander zusammen. Vor allem in Umbruchsituationen dienen politische Mythen als gemeinsame Bezugspunkte, indem sie von dem berichten, was für diese Generation die verbindenden Erfahrungen sind oder doch sein sollten.

Auf der Suche nach dem sozialen Generationenbegriff hat Karl Mannheim die gemeinsamen Erlebnisse herausgestellt,[44] aber diese erwachsen kaum aus der Unmittelbarkeit gemeinsamer Erfahrungen, sondern das Gemeinsame an den je gemachten Erfahrungen wird wesentlich durch politische Mythen und deren Kanonisierungsfunktion für das kollektive Gedächtnis hergestellt. Mannheim spricht von den prägenden Erlebnissen, die in der Kindheit und vor allem der Jugend gemacht werden, hebt anschließend aber hervor, dass eine soziale Generation unterschiedlich viele physische Alterskohorten umfassen könne, wobei ein schneller sozialer Wandel und rasch aufeinanderfolgende politische Umbrüche dazu führen, dass eine Generation nur wenige Kohorten habe, während langsamer Wandel und fehlende Umbrüche zur Folge hätten, dass sich viele Alterskohorten in einer sozialen beziehungsweise politischen Generation sammelten. Entscheidend dafür dürfte die Erlebnisverarbeitung sein, und dabei spielen Meinungsführer und Deutungseliten die entscheidende Rolle. Sie nämlich versehen das Erlebte mit Sinn und Bedeutung beziehungsweise verbinden es narrativ und ikonisch mit den großen Erzählungen des politischen Verbandes und weisen dabei der jeweiligen Generation eine Rolle in der politischen und sozialen Geschichte des Großverbands zu.

Im 19. und frühen 20. Jahrhundert sind die Generationen in Deutschland durch Kriege und deren mythisch-narrative Aufbereitung geprägt worden, mit der Revolution von 1848 als Zwischenetappe – im 19. Jahrhundert waren es vor allem die Befreiungskriege von 1813 – 15, die Einigungskriege von 1866 und 1870/71,[45] und im 20. Jahrhundert wurde explizit von den beiden Kriegsgenerationen, der Zwischenkriegs- und der Nachkriegsgeneration gesprochen. Erst nach 1945 kamen kriegsunabhängige Bezeichnungen für soziale Generationen auf: die «skeptische Generation», die «68er-Generation», die «Generation Golf» und schließlich die «Generation Berlin»,[46] der laut Heinz Bude diejenigen angehören, die nach dem Regierungsumzug von Bonn nach Berlin die Nachkriegszeit mitsamt ihren Kontroversen und Erinnerungen hinter sich gelassen haben und sich vor allem durch Nüchternheit und Risikokompetenz auszeichnen. Man kann bezweifeln, ob dieser Befund so zutrifft, aber er legt das Dominantwerden einer Generation nahe, die sich für die deutsche Geschichte und ihre Erzählungen nicht mehr sonderlich interessiert und stattdessen starke Gegenwartsbezüge aufweist. Auch diese Generation kommt nicht ohne politische Mythen aus, nur sind diese präsentisch und weisen wenig narrative Varianz auf. Ikonische Verdichtung ist für sie zentral, während rituellen Inszenierungen wenig Bedeutung beigemessen wird.

 

Die nachfolgende Beschäftigung mit den politischen Mythen der Deutschen ist in fünf große Kapitel gegliedert. Die Nationalmythen, mit denen sich das erste Kapitel beschäftigt, erzählen von der Herkunft der Deutschen und vermitteln Zukunftsversprechen. Das ist das Charakteristikum von Nationalmythen – dass sie Vergangenheit und Zukunft miteinander verbinden und dabei Hinweise für das Handeln in der Gegenwart geben. Nicht selten sind sie Versprechen und Fluch in einem: Was als Erzählung daherkommt, wird, sobald sie zum Paradigma der eigenen Geschichte erhoben ist, zum Bann des Wahrnehmens und Handelns. Gilt das Berichtete erst als Nationalepos, Nationalmythos oder Nationalfigur, wird das, was eben noch literarisches Spiel oder durch eine Lokalsage vermittelte Erinnerung war, zur verbindlichen Vergangenheitsdeutung und zur Vorhersage des Zukünftigen. Aus profanem Spiel wird heiliger Ernst. Die Sakralisierung literarischer Figuren und historischer Gestalten, etwa durch die Erhebung des Nibelungenliedes zum deutschen Nationalmythos, hat viel zur Erzeugung der Opferwilligkeit beigetragen, ohne welche die deutsche Geschichte anders verlaufen wäre.

Daneben stehen im zweiten Kapitel die durch politische Mythen geprägten Vorstellungen des Eigenen und Fremden, die Wir-Sie-Stereotype, die unter der Überschrift «Ein Kampf gegen Rom» behandelt werden. Identität versuchte man in diesen Ausformungen politischer Mythen, von der Narration der Schlacht im Teutoburger Wald bis zu den gegen den Papst gerichteten Invektiven der Reformation, in erster Linie durch Abgrenzung zu erreichen.

Die Beschäftigung mit dem Preußenmythos im dritten Kapitel ist – auch – eine Suche nach den narrativ-ikonischen Wurzeln des deutschen Sonderwegsbewusstseins. Ausgangspunkt für die Vorstellung, es gebe einen deutschen Weg in eine eigene Moderne, war der Aufstieg Preußens im 18. Jahrhundert und der Mythos von der «deutschen Sendung» Preußens. Der Preußenmythos und die preußischen Mythen erzählten, wie dieser Sonderweg zu beschreiten sei, und dabei standen Dienst und Pflicht, Disziplin und – zunächst zumindest – Bescheidenheit im Zentrum der Erzählungen.

Die dem vierten Kapitel zugrunde liegende Suchbewegung folgt nicht der Spur literarischer Erzählungen oder historischer Erinnerung, sondern orientiert sich an Orten und Räumen. Manches, was in den vorangegangenen Kapiteln angerissen wurde, taucht hier noch einmal auf: die Burg als Symbol für Schutz und Trutz, Sicherheit und Freiheit, Verheißung und Erlösung; die Stadt in ihrer jeweiligen Ausformung als Verkörperung nationaler Identität wie regionalen Stolzes, dazu die sagenumwobene Landschaft als Inbegriff des Nationalen, und schließlich eine Vorstellung von Kultur, die als Kompensation verfassungspolitischer Defizite und machtpolitischen Scheiterns nutzbar war.

Das fünfte und letzte Kapitel ist durch das Modell der Gegenmythen geprägt. Da politische Mythen umso mehr Macht über die Vorstellungswelt der Menschen gewinnen, je stärker sie in einen Zusammenhang von Herausforderung und Reaktion eingebettet sind, wird der mythenpolitisch untermauerte Überlegenheitsanspruch der Gegenseite mit eigenen politischen Mythen beantwortet. Der Gegenseite wird darin der Grund ihres Selbstbewusstseins «wegerzählt». Diese gegenmythische Konfrontation, die bereits die Beziehung zwischen Deutschland und Frankreich lange Zeit prägte, wird hier im Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und der DDR verfolgt.

Ohne dass dies zunächst beabsichtigt gewesen wäre, ist aus dem Buch über die politischen Mythen der Deutschen eine Geschichte deutscher Selbstdeutungen geworden. Das hat einen genauen Blick auf die Ausformung der jeweiligen Mythen erforderlich gemacht. Gleichwohl wurde keine enzyklopädische Behandlung aller auffindbaren Mythen angestrebt, sondern eine Auswahl im Hinblick auf die genannten Konstellationen vorgenommen. Luther und Bismarck etwa haben deshalb kein eigenes Kapitel erhalten. Stattdessen wird der politisch mythisierte Luther sowohl im Kapitel «Ein Kampf gegen Rom» als auch in dem Abschnitt über die Wartburg behandelt, und Bismarck, die überragende Gestalt aus der Gründergeneration des Hohenzollern’schen Kaiserreichs, ist an vielen Stellen präsent: Als der Schmied des Reichs wird er zum neuen Siegfried; nach seiner Entlassung aus dem Amt des Reichskanzlers wird er zu einem neuen Barbarossa, auf dessen Wiederkehr viele sehnsüchtig warten; er ist eine zentrale Gestalt des Preußenmythos, Höhepunkt der preußischen Geschichte und deren Ende in einem.[47]

Solche Formen mythischer Selbstdeutungen gehören weitgehend der Vergangenheit an. Inwieweit diese Selbstdeutungen nach wie vor eine wohl eher untergründige als manifeste Wirkung haben, wäre eine eigene Untersuchung wert, deren Grundzüge hier allenfalls angedeutet werden können. Der Rückblick auf die politischen Mythen der Deutschen legt jedoch nahe, dass einige von ihnen durchaus wiederbelebt, andere neu geformt werden könnten und dass eine gesteigerte Aufmerksamkeit für mythopoetisch geprägte Inszenierungen von Politik jedenfalls ebenso angezeigt bleibt wie die Frage, ob Politik auf mythische Gründungserzählungen und Zukunftsverheißungen verzichten kann.

I. Nationalmythen

Nationalmythen beschwören Gestalten der Vergangenheit, um Zukunft zu garantieren. Sie erheben den Anspruch, die Geschichte der Nation nicht nur zu deuten, sondern ihren Fortgang auch zu strukturieren. Dazu müssen sie freilich zwei große Herausforderungen bewältigen: Sie müssen die Komplexität des Geschehens reduzieren und dieses ethischen und ästhetischen Vorstellungen anpassen, und sie müssen den Schrecken der Kontingenz wegerzählen, also die Furcht besänftigen, die nationale Geschichte sei womöglich nur eine bedeutungslose Episode der Weltgeschichte. Indem sie diesen beiden Anforderungen genügen, stiften Nationalmythen Vertrauen und Zuversicht, dass die Nation die groß und bedrohlich vor ihr stehende Zukunft meistern werde. Barbarossa, der schlafende Kaiser, wird wiederkehren und das Reich in all seiner Macht und Herrlichkeit neu errichten; Siegfried, der stolze Held, wird alle anderen überstrahlen; und der forschende Gelehrte Faust wird die Welt verändern und beherrschen. So werden Nationalmythen zu Interpunktionen und Ligaturen im Fluss der Zeit.

Damit literarische Texte und historische Ereignisse das leisten können, muss ihr mythisierbarer Kern freigelegt werden: Was zum Nationalmythos avancierte, war nicht das Nibelungenlied als literarischer Text, sondern eine von den Herausgebern der Textsammlungen und Sagenbücher kompilierte Sage, in der die psychische Komplexität der Figuren vereinfacht und ihr Charakter vereindeutigt wurden.[1] Das gilt in ähnlicher Weise für Faust, bei dem sich der Typus des Welterforschers schon bald von seiner Charakterzeichnung durch Goethe entfernte. Jedenfalls kam, je stärker das Nibelungenlied zur Nibelungensage umgestaltet und zum Nationalmythos erhoben beziehungsweise Faust zum Inbegriff des ruhelos tätigen Deutschen stilisiert wurde, eine «volkspädagogische Komponente» ins Spiel, die Ambivalenzen und Uneindeutigkeiten tilgte, indem sie die Helden heldisch, den Verrat abgründig und die Einzelfigur kollektiv anschlussfähig machte.[2] So wurde aus dem Nibelungenlied ein politischer Mythos, der Identität anbot und Identifikation abverlangte, wobei die jeweiligen politischen Konstellationen darüber entschieden, ob man eher Siegfried oder Hagen zum Vorbild wählte. Aus dem Teufelsbündner Faust, der entweder schmählich scheiterte oder auf die Hilfe himmlischer Mächte angewiesen war, wurde im Verlauf dieser Umwandlungen eine umstürzend zupackende Figur, die zum Symbol des deutschen Aufbruchs im 19. und 20. Jahrhundert avancierte. Am einfachsten hatte man es da noch mit Kaiser Friedrich Barbarossa, den man nur aus einer notorischen Schlafmütze, als die ihn die Lokalsagen kannten, in eine schlummernde Urgewalt verwandeln musste, die kurz vor einem Aufbruch stand, der die politische Welt grundlegend verwandeln würde.

Der Herausbildung der Nationalmythen im 19. Jahrhundert kam ein «Streit der Institute» zugute, der mit der Ausdifferenzierung der philosophischen Fakultät nach der Humboldt’schen Universitätsreform zu tun hatte: Germanisten und Historiker wetteiferten darum, wer den größeren und besseren Beitrag zur sinnhaften Ausstaffierung der nationalkulturellen Identität leisten könne. Goethes Faust als größtes Werk der nationalen Literatur und die Proklamation des Nibelungenliedes zum Nationalmythos sollten den Anspruch der neuen akademischen Disziplin Germanistik auf universitäre Verankerung untermauern,[3] während Barbarossa und der Reichsmythos eher von den Historikern gepflegt wurden. Wer für sich in Anspruch nehmen konnte, der geistige Hüter nationaler Identität zu sein, durfte damit rechnen, bei der Neuaufteilung der universitären Positionen entsprechend berücksichtigt zu werden.

Und noch eine weitere Entwicklung beförderte die Herausbildung der deutschen Nationalmythen im 19. Jahrhundert: Mit der Revolution von 1789 hatten die Franzosen nicht nur einen politischen Modernitätsvorsprung gegenüber ihren europäischen Nachbarn erlangt, sondern verfügten auch über einen politischen Mythos, der seinesgleichen suchte.[4] Aber während sich der politische Modernitätsvorsprung durch entsprechende Reformanstrengungen einholen ließ, musste gegen die Suggestionen eines politischen Mythos, wie ihn die Erstürmung der Bastille, die Hinrichtung des Königs und die revolutionäre Selbstreinigung der Nation darstellten,[5] seinerseits ein starker Mythos aufgeboten werden. Diesen suchten die deutschen Schriftsteller und Intellektuellen im Mittelalter, das nicht nur romantisiert, sondern auch germanisiert wurde. So hatte es den Vorzug, dass die Deutschen es für sich allein reklamieren konnten und nicht mit den Franzosen teilen mussten.[6]

Unübersehbar ist jedoch, dass die zu den deutschen Nationalmythen erhobenen Erzählungen ihre dunklen und abgründigen Seiten haben: Kaiser Barbarossa ertrank im Fluss Saleph, womit auch das Projekt seines Kreuzzugs scheiterte; Siegfried fiel einer schmählichen Intrige zum Opfer; und Faust, der sich mit dem Teufel eingelassen hatte, wusste nicht, wie er dieser Verbindung wieder entkommen konnte. Keiner dieser Mythen war eine Erfolgserzählung. Was Erfolg in der Zukunft garantieren sollte, beruhte auf der Erzählung von Scheitern in der Vergangenheit. Die Nationalmythen der Deutschen haben den Schrecken solchen Scheiterns nicht durch Beschweigen, sondern durch Einschließung ins nationale Geschick zu bändigen versucht. Doch die Mehrdeutigkeit blieb den Mythen eingeschrieben und ließ sich jederzeit reaktivieren.

Statue des erwachenden Kaisers Friedrich I. im «Barbarossahof» des Kyffhäuserdenkmals (1896).

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Die Wiederkehr des Kaisers

Barbarossa und die Erneuerung des Reichs

Die Vorstellung von dem Herrscher, der nach seinem Tod in einem Berg oder einer Höhle schläft und auf seine Rückkehr wartet, ist vielgestaltig und hat politisch unterschiedliche Ausdeutungen erfahren: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde sie in Deutschland zum Versprechen einer Wiederherstellung des untergegangenen Reichs, während sie um das Jahr 1600 herum vor allem eine Verheißung auf tiefgreifende soziale Veränderungen und langanhaltenden Frieden war. In der politischen Mythologie der Deutschen hat Kaiser Friedrich an unterschiedlichen Fronten gedient: an der sozialrevolutionären des ausgehenden Mittelalters, wo sich Erlösungsphantasien an ihn knüpften, die bei Bauern und städtischen Unterschichten die Bereitschaft zu Aufruhr und Umsturz beförderten, und in den Reihen der Nationalkonservativen am Ende des 19. Jahrhunderts, als sich die Veteranenverbände in Deutschland zusammenschlossen, um ein Bollwerk gegen die «gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie» zu errichten.

Freilich ist Kaiser Friedrich immer sehr viel stärker ein Symbol des Abwartens als ein Signal zum Angriff gewesen.[1] Das Vertrauen auf die bevorstehende Wiederkehr des Kaisers und die damit einhergehende grundlegende Wandlung der Verhältnisse ist zumeist mit einem politischen Quietismus Hand in Hand gegangen, der von «unüberlegten Einzelaktionen» abriet, weil der richtige Zeitpunkt noch nicht gekommen oder es besser sei, den «dazu Berufenen» die Lenkung des Staatsschiffs und der politischen Angelegenheiten zu überlassen. Insofern stand Barbarossa für die Hoffnung, dass der Gang der Ereignisse auch ohne entschlossenes Handeln der Betroffenen eine Wende zum Guten nehmen werde.[2]

Die Vielfältigkeit des Barbarossamythos hat ihren Grund nicht zuletzt darin, dass hier ein Wandermotiv und eine historische Gestalt miteinander verbunden worden sind. Die Vorstellung vom Herrscher, der gestorben und doch nicht tot ist, findet sich in vielen Kulturen und hat demgemäß unterschiedliche Ausprägungen und Auslegungen erfahren.[3] Berichte, denen zufolge der Kaiser hier und dort gesehen worden sei und seine baldige Rückkehr angekündigt habe, beschäftigten die Phantasie des Volkes und wurden in Zeiten der Unruhe immer wieder aufgegriffen.

Dabei hat zunächst gar nicht Friedrich I. Barbarossa, sondern sein Enkel Friedrich II. die Rolle des wiederkehrenden Kaisers innegehabt. Die Ambivalenzen des späteren Mythos waren im zeitgenössischen Bild des sein Reich von Süditalien aus regierenden Kaisers vorgeprägt. Für die einen war er der erste moderne Herrscher, der in Sizilien und Süditalien die Lehensordnung durch eine Frühform des Beamtenstaates ersetzt und die Entwicklung einer experimentell ausgelegten Wissenschaft befördert hatte und dem es auf dem Verhandlungsweg gelungen war, Jerusalem für die Christenheit zurückzugewinnen. Dieser Sicht Friedrichs II. als stupor mundi, als «Staunen der Welt», stand die Auffassung gegenüber, dass der Kaiser insgeheim ein Ketzer sei, sich mit einer sarazenischen Leibgarde umgeben habe, die christliche Kirche zerstören und das Papsttum vernichten wolle – kurz, dass in ihm der Antichrist erschienen sei.[4] Als der Kaiser 1250 überraschend starb, wollten viele nicht glauben, dass die politisch beherrschende Figur der letzten drei Jahrzehnte ohne designierten Nachfolger einfach verschwunden war. Der Kaiser sei mit großem Gefolge in den Ätna geritten, hieß es, wobei offen blieb, ob er damit in die Hölle gestürzt oder bloß im Berg verschwunden sei, von wo er zu gegebener Zeit zurückkehren werde. Dabei dominierten zunächst die antikaiserlichen Kräfte, die vor allem vonseiten der Franziskaner tatkräftige Unterstützung fanden. Aber auch sie konnten nicht verhindern, dass sich im Volk die Erwartung einer Umwälzung der sozialen Verhältnisse und des Beginns einer langen Friedenszeit mit der Hoffnung auf Rückkehr des Kaisers verband.[5]

In einer im Jahre 1348, also unter dem Eindruck der großen Pest, seiner Chronik angefügten Nachricht schreibt Johann von Winterthur: «In diesen Zeiten verbreitete sich bei vielen Menschen verschiedenen, ja jeglichen Standes die sehr bestimmte Nachricht, Kaiser Friedrich, der Zweite dieses Namens, […] werde in größter Macht und Herrlichkeit kommen, um den ganz verderbten Zustand der Christenheit zu reformieren. Die Leute, die das meinen, fügen hinzu, daß er notwendig kommen müsse, auch wenn er in Tausend Stücke zerschnitten, ja zu Asche verbrannt worden wäre; denn es sei Gottes Ratschluß, daß es geschehen müsse, und könne nicht abgeändert werden.» Johann hält eine solche Vorstellung zwar für abstrus, schildert jedoch recht anschaulich, wie sich in ihr sozialrevolutionäre Ideen mit antiklerikalen Affekten verbanden: «Dieser Meinung nach wird Friedrich wiedererweckt werden und an die Spitze seines Reiches zurückkehren; dann wird er arme Mädchen und Frauen reichen Männern zur Ehe geben und umgekehrt. Er wird die Nonnen und Laienschwestern verheiraten und die Mönche verehelichen. Den Unmündigen, Weisen und Witwen, denen alles und jedes geraubt wurde, wird er das Weggenommene wiederverschaffen und jedermann Gerechtigkeit widerfahren lassen. Die Geistlichen wird er so schrecklich verfolgen, daß sie ihre Tonsuren, wenn sie keine andere Kopfbedeckung haben, mit Kuhmist verdecken, um sie nicht zu zeigen. Die Mönche, besonders die Franziskaner, deren Anzeigen die päpstlichen Prozesse gegen ihn in Gang brachten und die ihn aus dem Kaisertum trieben, wird er aus dem Land verjagen. Nachdem er das Reich wieder aufgerichtet und gerechter und ruhmreicher als früher regiert hat, wird er mit einem großen Heer über das Meer fahren und auf dem Ölberg oder bei dem dürren Baum das Kaisertum niederlegen.»[6]

Knapp zweihundert Jahre danach ist im Tegernseer Ludus de Antichristo ebenfalls von der Rückkehr des Kaisers und der Neuordnung der sozialen Strukturen die Rede. Nachdem der Kaiser die Reform vollendet hat, tritt er ab, damit Christus allein herrsche. Symbol dessen ist wiederum ein dürrer Baum, an den der Kaiser die Insignien seiner Herrschaft hängt, woraufhin der Baum von neuem frisches Grün treibt. Doch dieser Machtverzicht, so die Warnung im geistlichen Spiel, gibt den Weg frei für den Antichrist, der die Menschen mit trügerischen Versprechungen auf seine Seite zieht, bis Gott schließlich selbst eingreift und ihn zerschmettert.[7] Hier übernehmen Kaiser und Reich die Funktion des Katechons: Sie halten das Weltende auf, weswegen die vorschnelle Abdankung gefährliche Folgen hat. Der Kaiser muss weiterherrschen, um die Beschleunigung der Zeit zum Ende der Welt hin zu blockieren. Er ist kein Herrscher wie andere, sondern hat heilsgeschichtliche Bedeutung.[8] Das ist das Gegenteil dessen, was Johann von Winterthur als die vorherrschende chiliastische Auffassung seiner Zeit überliefert hat, die Vorstellung eines Tausendjährigen Reichs, in dem die politische und soziale Welt besser und gerechter sein wird. Dennoch spielt in beiden Auffassungen, der konservativen wie der revolutionären, der Kaiser die Hauptrolle: Das eine Mal beschleunigt er das Weltende, das andere Mal hält er es auf.[9] Ohne ihn war auch für den «Oberrheinischen Revolutionär», eine im Vorfeld der Bauernkriege zirkulierende Kampfschrift, keine Reformation der Welt möglich, und so erweist sich hier einmal mehr der messianische Endkaiser als Vollender des göttlichen Heilsplans. Bis in den deutschen Bauernkrieg hinein haben diese revolutionär-chiliastischen Vorstellungen gewirkt, und immer wieder sind Personen aufgetreten, die sich als der sehnsüchtig erwartete Kaiser ausgegeben und Anhänger um sich geschart haben.[10]

Unabhängig von diesen generellen Ausdeutungen des Mythos hat sich das Wandermotiv vom wiederkehrenden Herrscher an einigen Stellen mit Lokalsagen verbunden, in denen erzählt wurde, dass ein Kaiser entweder in aufgelassenen Burgen des Nachts umherirre oder gelegentlich sein Versteck in einem Berg verlasse, um sich Wanderern und Hirten zu zeigen und sie reich zu beschenken. Solche Sagen rankten sich um den Untersberg bei Salzburg, Sennheim im Elsass, eine Grotte nahe Kaiserslautern und schließlich auch den Kyffhäuser beziehungsweise die dortige Burg Kyffhausen.[11] Zunächst blieb offen, um welchen Kaiser es sich handle, aber seit dem 15. Jahrhundert verdrängte Friedrich I. immer stärker seinen hochgebildeten Enkel, auf den sich die Wiederkehrerwartung ursprünglich bezogen hatte. Ohne diesen Wechsel hätte die Legende wohl kaum zum Nationalmythos der Deutschen werden können: Friedrich II. war kein Herrscher, der in Deutschland stärkere Empfindungen wecken konnte; er hatte sich selten nördlich der Alpen aufgehalten und war des Deutschen nur unzureichend mächtig. Ganz anders Friedrich I., den man gegen Ende des 13. Jahrhunderts in Italien als Barbarossa zu bezeichnen begann, um ihn von seinem bartlosen Enkel zu unterscheiden:[12] Von den Italienzügen abgesehen, bei denen die reichen Handelsstädte in die Botmäßigkeit des Reichs gezwungen werden sollten, hatte sein Hauptaugenmerk immer den deutschen Angelegenheiten gegolten, wobei der Auseinandersetzung mit Heinrich dem Löwen eine herausgehobene Bedeutung zukam.[13] Auch Barbarossa war überraschend gestorben, und sein Tod hatte ebenfalls politisch weitreichende Folgen: Als er am 10. Juni 1190 auf dem Weg nach Jerusalem im Fluss Saleph badete, dabei einen Kollaps erlitt und ertrank, verlor der Dritte Kreuzzug seinen Kopf und seine Seele; niemand konnte Friedrich als Anführer ersetzen. Das Heer zerfiel, der Kreuzzug scheiterte. Der Tod des Kaisers auf dem Höhepunkt staufischer Machtentfaltung ließ sich gut mit der Vorstellung verbinden, er sei gar nicht gestorben, sondern verschwunden und werde dereinst wiederkehren, um das Reich zu erneuern.[14]

Eine wichtige Rolle bei der Indienstnahme Barbarossas für nationale Zwecke kam der Reformation sowie einer national ausgerichteten humanistischen Historiographie zu, deren Vorkämpfer die Auseinandersetzungen des Kaisers mit dem Papst nutzten, um antirömische und antikuriale Ressentiments zu schüren.[15] Am Anfang steht Luthers Erklärung von 1523, in seinem Landesherrn habe sich die Prophezeiung von der Wiederkehr des Kaisers erfüllt: Zwar sei Kurfürst Friedrich der Weise formell nicht Kaiser, doch hätte er es werden können, da ihm die Kurfürsten das Amt angetragen hatten. Und was Barbarossa als Befreiung des Heiligen Grabes angestrebt habe, sei Friedrich dem Weisen gelungen, indem er die Heilige Schrift aus der Gefangenschaft des Papstes befreit habe.

Eine noch schärfere Wirkung kam der von Luther, Melanchthon und Flaccius Illyricus aus dem Volksbüchlein von Kaiser Friedrich (1519) aufgegriffenen Behauptung zu, Papst Alexander III. sei dem Kaiser im Jahre 1177 bei der Versöhnungszeremonie in Venedig, die einen der immer wieder auftretenden Konflikte zwischen Kaiser und Papst beenden sollte, mit dem Fuß auf den Hals getreten, was für die Reformatoren ein weiterer Beleg für den tyrannischen Charakter der päpstlichen Herrschaft war und von den humanistischen Historiographen als eine Demütigung der Deutschen durch die Italiener ausgelegt wurde. Hier wurde Barbarossa zum Symbol des jahrhundertealten Kampfes gegen Rom.[16] Diese Polemik lebte eine Zeitlang fort, um sich im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts dann zu verlieren. Barbarossa spielte nur noch in Lokalsagen und bei gelehrten Historikern eine Rolle.

Das änderte sich schlagartig im Jahre 1806 mit dem offiziellen Ende des «Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation»: Nachdem der Habsburger Franz II. abgedankt hatte, war die Kette der auf Barbarossa folgenden Kaiser gerissen, das Reich war dahin und das Kaisertum als Anspruch auf die europäische Hegemonie auf die Franzosen, auf Napoleon, übergegangen. Zwar hatte Franz II. sich gleich darauf als Franz I. zum österreichischen Kaiser krönen lassen, aber das war die Gründung eines neuen mitteleuropäischen Kaisertums und nicht die Fortsetzung des alten deutschen. Damit hatte die Vorstellung von der Wiederkehr des Kaisers eine andere Richtung bekommen: Jetzt ging es nicht mehr um eine Reform der Sitten und sozialen Verhältnisse, es ging um die Wiedererrichtung des Reichs.[17] Angesichts der politisch deprimierenden Lage war die Rückbesinnung auf das Mittelalter, ja dessen Verklärung zu einer von den Deutschen dominierten Epoche ein Trost und zugleich die Versicherung, dass die Zukunft keine Fortsetzung der Gegenwart sein werde, sondern die Erneuerung der Vergangenheit.

 

«Jedes Volk», notiert Hegel in den Zusätzen zu seiner Schrift Die Positivität der christlichen Religion (1795/96), «hatte ihm eigene Gegenstände der Phantasie, seine Götter, Engel, Teufel oder Heilige, die in den Traditionen des Volkes fortleben, deren Geschichte und Taten die Amme den Kindern erzählt und [diese] durch den Eindruck auf ihre Einbildungskraft an sich zieht und jene Geschichten bleibend macht.»[18] Derartigen «Geschöpfen der Einbildungskraft» seien «die alten Helden der Geschichte ihres Vaterlandes» beigesellt. Doch die christliche Missionierung habe das germanische Walhalla entvölkert, und mit der gelehrten Bildung sei den Deutschen eine fremde Kultur aufgepfropft worden. «In der Einbildungskraft unseres Volkes lebt ein David, ein Salomon, aber die Helden unseres Vaterlandes schlummern in den Geschichtsbüchern der Gelehrten, und für diese hat ein Alexander, ein Cäsar usw. ebensoviel Interesse als die Geschichte eines Karls des Großen oder Friedrich Barbarossa.»[19] Derselbe Hegel, der später mit ästhetischen Argumenten die Ilias dem Nibelungenlied vorzog,[20] ist hier – wohl unter dem Eindruck der Französischen Revolution – um die mythenpolitische Grundausstattung der Deutschen besorgt. «Außer etwa Luther bei den Protestanten, welches könnten auch unsere Helden sein, die wir nie eine Nation waren? welches wäre unser Theseus, der einen Staat gegründet und ihm Gesetze gegeben hätte; wo unsere Harmodiosse und Aristogitone, denen wir als Befreiern unseres Landes Skolien sängen?»[21] Die Antwort auf diese Frage, die Hegel schon bald danach nicht mehr beschäftigen sollte, gaben die Romantiker und die Autoren der Befreiungskriege; der aufklärerische Antikebezug, wie ihn die Klassik gepflegt hatte, wurde ergänzt durch immer häufigere Verweise auf das Mittelalter, und Siegfried, Hermann/Arminius und Barbarossa wurden zu den Helden der Deutschen.[22]

Was Hegel beschreibt, ist ein Zustand kultureller Kolonisierung, in dem das Fremde das Eigene überwiegt und am Eigenen nichts Rechtes zu finden ist, womit sich Staat machen ließe. Offensichtlich hatte Hegel keine Vorstellung davon, in welchem Maße Barbarossa im 19. Jahrhundert die Phantasie der deutschen Dichter und Schriftsteller beschäftigen und welche Dynamik davon ausgehen würde.[23]

Am Anfang dieser Barbarossa-Renaissance, in der sich konservative, liberale und sogar demokratische Stränge ausmachen lassen, stehen politisch die Befreiungskriege, in denen die französische Dominanz über die Staaten in Deutschland beendet wurde, und die anschließende Restauration sowie literarisch Friedrich Rückerts Barbarossa-Ballade und die Sagensammlung der Brüder Grimm. Die politischen Verhältnisse, zunächst das unaufhaltsam erscheinende französische Vordringen und dann die Bildung des unter napoleonischem Einfluss stehenden Rheinbunds, riefen förmlich nach einer Retter- und Erlöserfigur, und die Lyrik beziehungsweise die in romantischem Geist erfolgende Sammlung von Volkssagen gab darauf die Antwort.

«Von diesem Kaiser», so heißt es in den Deutschen Sagen (1816) der Brüder Grimm unter der Überschrift «Friedrich Rotbart auf dem Kyffhäuser», «gehen viele Sagen im Schwange. Er soll doch nicht tot sein, sondern bis zum jüngsten Tage leben, auch kein rechter Kaiser nach ihm mehr aufgekommen. Bis dahin sitzt er verhohlen in dem Berg Kyffhausen, und wann er hervorkommt, wird er seinen Schild hängen an einen dürren Baum, davon wird der Baum grünen und eine beßre Zeit werden. Zuweilen redet er mit den Leuten, die in den Berg kommen, zuweilen läßt er sich auswärts sehen. Gewöhnlich sitzt er auf der Bank an dem runden steinernen Tisch, hält den Kopf in der Hand und schläft, mit dem Haupt nickt er stetig und zwinkert. Der Bart ist ihm groß gewachsen, nach einigen durch den steinernen Tisch, nach anderen um den Tisch herum, dergestalt daß er dreimal um die Rundung reichen muß, bis zu seinem Aufwachen, jetzt aber geht er erst zweimal darum. Ein Bauer, der 1699 aus dem Dorf Reblingen Korn nach Nordhausen fahren wollte, wurde von einem kleinen Männchen in den Berg geführt, mußte sein Korn ausschütten und sich dafür die Säcke mit Gold füllen. Dieser sah nun den Kaiser sitzen, aber ganz unbeweglich. Auch einen Schäfer führte ein Zwerg hinein, da stand der Kaiser auf und fragte: fliegen die Raben noch um den Berg? Und auf die Bejahung des Schäfers rief er: nun muß ich noch hundert Jahre länger schlafen.»[24]

Eine bessere Vorlage für die Ausarbeitung unterschiedlicher Varianten des Mythos, für deren Präzisierung oder Revision, kurzum für die «Arbeit am Mythos», ist kaum vorstellbar. In der knappen Zusammenfassung der in Umlauf befindlichen Sagen ist tendenziell alles enthalten, was sich in den nachmaligen Deutungskämpfen findet: selbstverständlich die in Aussicht gestellte Wiederkehr des Kaisers, wobei außer dem Versprechen auf bessere Zeiten offen bleibt, was sie bewirken wird; das Changieren des Kaiserbilds zwischen einem auf seine Rückkehr wartenden Kriegshelden und einem alten Tattergreis, der schon nicht mehr ganz Herr seiner Sinne ist; schließlich die unterschiedlichen Anzeichen für die Wiederkehr des Kaisers, das eine Mal das Wachstum des Bartes, ein anderes Mal der Flug der Raben, die als Symbole der Zwietracht zu verstehen sind. Damit stand bereit, was für die nächsten Jahrzehnte die Phantasie unzähliger Lyriker und Dramatiker beschäftigen sollte, von der Versicherung, man solle die Geduld nicht verlieren, der Kaiser werde schon kommen, bis zur ungeduldig drängenden Nachfrage, wie lange er noch auf sich warten lasse, von der Identifizierung der Hohenzollern als Nachfolger der Hohenstaufen bis zur entschiedenen Absage an dieses verstaubte Gespenst aus der Vergangenheit, mit dem nichts mehr anzufangen sei.

Vermutlich hätte der kurze Text aus dem Sagenbuch der Brüder Grimm nicht diese Wirkung entfaltet, wenn nicht etwa zur selben Zeit, im Jahre 1817, Friedrich Rückerts Ballade «Barbarossa» erschienen wäre, die dem offenen Sagentext literarische Form und politische Konturen verlieh:[25]

«Der alte Barbarossa

Der Kaiser Friederich,

Im unterird’schen Schlosse

Hält er verzaubert sich.

Er ist niemals gestorben,

Er lebt darin noch jetzt;

Er hat im Schloß verborgen

Zum Schlaf sich hingesetzt.

Er hat hinabgenommen

Des Reiches Herrlichkeit,

Und wird einst wiederkommen