Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Alles ist Schein. Die Wahrheit unvorstellbar. Besonders nachts in Venedig. Der junge Taschendieb Drago weiß, wie man in Venedig überlebt. Er ist der Junge, der mit den Schatten verschmilzt. Der weg ist, bevor man sich umdreht – zusammen mit der Uhr und dem Geldbeutel. Doch einem entkommt Drago nicht: dem geheimnisvollen Gelehrten Hannibal Rabe. Er gibt Drago einen Auftrag, den er nicht ablehnen kann. Denn Rabe ist nicht der, für den ihn Drago anfangs hält … Tauche ein in die geheimnisvolle Welt der Betrüger und Diebe und decke mit Drago eine Verschwörung dunkler Magier auf. Denn ein Geheimnis schlummert in der Stadt, in der die Zeit einst stehen blieb … Eine märchenhafte Trilogie für alle Leser ab 10 bis 99 Fans von Percy Jackson, Gregors Reise und Herr der Diebe werden Dragos Geschichte lieben!
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 267
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Die Diebe
von Venedig
Die Spur der Drachen
Von Morgen Verlag
Zuerst 2009 erschienen unter dem Titel:Dragos dunkle Reise – Die Spur des Drachen
© 2009 Magnus Faust
Titel: Die Diebe von Venedig – Die Spur der Drachen
Autor: Magnus Faust
Covergestaltung: Hannah Sternjakob
Innenillustrationen: © Magnus Faust
ISBN: 978-3-910990-56-2
© 2024 Von Morgen Verlag
Eulerstraße 2, 13357 Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Die Verwendung dieses Werks im Ganzen oder in Teilenfür das Text- und Data-Mining ist nicht gestattet.
Pazzo
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Freiheit
Nachwort des Verlags
Über den Autor
Unter der alten Brücke von Santa Maria Zobenigo, nicht weit vom Teatro La Fenice entfernt und doch düster und schmutzig wie aus einer anderen Welt, lag eine niedrige, vergitterte Tür im Schatten verborgen. Man hätte sie gut für einen Zugang zu den Lagerräumen eines der Palazzi halten können, die sich zu beiden Seiten der Brücke erhoben. Allerdings waren es nicht die prachtvollen, reich geschmückten Fassaden, die zu dem kleinen Kanal hinblickten, sondern die kahlen, verwitterten Rückseiten dieser ehrwürdigen Gebäude, die sich steil über dem dunkel schimmernden Wasser des in ewiger Dämmerung gelegenen Bootsweges erhoben.
Eine schmale Gasse führte an den Rückseiten dieser Palazzi entlang, gerade breit genug, um einem Lastenträger, wenn er sich vorsichtig bewegte, den Gang auf die Brücke zu ermöglichen – oder eben unter die Brücke, wohin eine kurze, aber steile Treppe führte, die knapp über dem Wasser endete. Das war der Weg, den die meisten der wenigen Gestalten suchten, die durch die Schatten dieser Gegend schlichen. Auf einZeichen hin, ein dreimaliges Hämmern gegen die eisernen Stangen, gefolgt von einem eilig gemurmelten Spruch, wurde diesen Unseligen geöffnet, und ein kleiner, buckliger Mann leuchtete ihnen mit einer Laterne in die gehetzten Gesichter, während ein wissendes Lächeln über seine Fratze glitt. Denn eine Fratze war es, dieses krötenartige Antlitz mit den roten Augen, die hinter dicken, runden Brillengläsern hervorglotzten. »Heute schon so früh? War dir das Glück nicht hold? Oder haben dich die Palastwachen verfolgt?«
Einen schnellen, letzten Blick über die Schulter werfend, drückte sich der Junge durch die nur einen Spalt weit geöffnete Tür. »Lass mich ein, Pazzo, ich habe gute Stücke für dich.«
»Gute Stücke?« Der knorrige Mann zog seine Laterne zurück und machte eine verächtliche Kopfbewegung, die den Jungen hieß, einzutreten in die Finsternis, die sich hinter ihm auftat. Hastig versperrte er die Tür wieder und leuchtete dem Besucher den Weg. »Wann hast du schon einmal gute Stücke.« Es war keine Frage, es war eine Feststellung. Und sie verletzte den Jungen. In Gedanken malte er sich aus, wie der Krüppel eines Tages von all seinen Schätzen erdrückt würde, bis ihm die Glupschaugen aus dem beinahe kahlen Kopf traten. Doch sagte er nichts. Pazzo war der Einzige, dem er seine Waren anbieten konnte und der ihm etwas dafür gab. Wenn auch zu wenig, viel zu wenig! Angeekelt von dem modrigen Ort, von dessen Bewohner und von dem unwürdigen Spiel, das dieser wieder mit ihm treiben würde, trat der Junge an einen schweren Tisch, der in einem der muffigen feuchtkalten Räume stand, die den langen Gang säumten. Denn Pazzos Reich erstreckte sich tief unter dem ältesten Teil der Stadt, inmitten der Fundamente stolzer Palazzi. »Bitte«, sagte der Krüppel. »Leg ab.« Damit meinte er nicht Hut oder Mantel, die der Junge ohnehin nicht besaß, sondern das, was ihm das Leben lebenswert machte: Reichtümer nämlich, die sich für wenig Geld erringen ließen!
Drago musterte den Krüppel voll Verachtung, während er ausbreitete, was der Tag ihm beschert hatte: eine goldene Brosche in Form einer Gondel, den silbernen Knauf eines Gehstocks, der den Kopf eines Tigers darstellte, feinste grünlederne Handschuhe mit eingesticktem Monogramm, eine mit Rubinen besetzte Haarspange, eine Taschenuhr, an deren Kette ein Raubtierzahn hing – auf dieses Stück war der Junge besonders stolz. Und tatsächlich glimmte im Blick des Krüppels ein seltsames Feuer auf, als Drago die Uhr vor ihn hinlegte.
»Ich kenne diese Uhr«, schnarrte der Krüppel und griff sie mit seinen gichtigen Fingern. »Sie gehört einem der bedeutendsten …« Er sah Drago scharf an. »Woher hast du sie?«
Der Junge zuckte die Schultern und schwieg. Es war das Gesetz der Gesetzlosen, bestimmte Fragen nicht zu stellen. Das war eine solche Frage – und Pazzo wusste es genau. Seine Augen musterten den Jungen, seine Hände wogen das wertvolle Stück, ein verächtliches Schnauben blähte seine Nasenflügel. Die übrigen Kostbarkeiten beachtete er kaum. Er griff in eine Schatulle, die er unter dem Tisch verborgen hatte, und holte einige Kupfermünzen hervor, die er Drago hinschob. Die Hand des Jungen hielt in der Bewegung inne. Das sollte alles sein? Wollte ihn der Krüppel mit ein paar Dinaren abfertigen? Dragos Finger glitten zur Seite. Er würde die Uhr wieder mitnehmen! Er würde sie seinem Vater schenken. Oder sie irgendwo verstecken, bis er eine andere Gelegenheit fände … Doch der Krüppel war schneller. Drago hatte es nicht bemerkt,er spürte nur mehr das glatte Holz des Tisches unter seiner Hand. Die Uhr aber war weg. »Wenn du es nicht willst …«, sagte der Krüppel und legte nun seinerseits die Hand auf die Münzen, »dann werde ich es gerne behalten.« Er zog das Geld zu sich. Drago schrie auf: »Halt! Gib mir meine Uhr wieder!« Er packte die Hand des Krüppels. Ein Schauder lief ihm über den Rücken, so kalt und knochig fühlte sie sich an.
»Deine Uhr?« Der Krüppel lachte. »Deine Uhr? Du kannst gerne zur Stadtwache gehen und mich anzeigen. Melde nur, dass ich dir deine Uhr gestohlen habe!« Und da war sie plötzlich wieder, direkt vor seinen Augen, hell glänzend hielt er sie im Licht der Laterne vor sein Gesicht. Sie pendelte nicht, aber sie drehte sich langsam an der Kette um sich selbst, so langsam, dass Drago jedes Mal, wenn der metallene Rücken zu ihm zeigte, seine eigenen Augen sich darin spiegeln sah. Er atmete schwer, als wäre er um die ganze Insel gelaufen, Schweiß lief ihm über den Rücken. Er hatte ein Messer. Und er war stärker als der Krüppel.
»Du wirst die ganze Unterwelt von Venedig auf den Fersen haben, Junge, wenn du auch nur eine Bewegung in meine Richtung machst.« Der Blick der roten Augen brannte sich förmlich in Dragos Stirn. Konnte er in seinen Kopf sehen? Wusste er, was er gerade gedacht hatte? Drago schluckte seinen Zorn hinunter. »Pazzo …«, stammelte er. »Ich brauche das Geld.«
»Dann nimm es. Es gehört dir.« Der Krüppel steckte die Uhr in seine Tasche.
»Aber das reicht nicht.« Drago spürte, wie ihm schwindlig wurde. Er hielt sich am Tisch fest. Der Krüppel wich einen Schritt zurück. »Es ist, was du bekommst. Und jetzt geh.«
»Meine Mutter …«
»Deine Mutter? Was geht mich deine Mutter an! Hast du Angst, ihr unter die Augen zu treten mit so wenig Geld?«, spottete der Krüppel. »Hat die gnädige Frau etwa mehr erwartet? Du kannst sie gerne mitbringen, wenn du das nächste Mal dein Diebesgut bei mir loswerden willst.« Er lachte höhnisch, nahm die Laterne, drehte sich um und ging.
Das war der Moment, in dem Drago sein Messer zog und über den Tisch sprang.
Die verborgene Stadt
»Ich weiß, dass du hier bist. Auch wenn ich dich nicht sehe.« Die Stimme des Alten war brüchig und doch durchdringend. Vielleicht lag es daran, dass heute ohnehin alles deutlicher klang als sonst: das Knarren der Taue und Planken, das Ächzen der Gondeln, die sich im dunklen Wasser der Kanäle aneinander rieben, das monotone Plätschern der gegen die Kaimauern schlagenden Wellen, das Flüstern unsichtbarer Passanten. Wie hatte der Alte ihn entdeckt? Er war so lautlos geschlichen, dass er nicht einmal seine eigenen Schritte gehört hatte. Ein leises Lachen drang durch den dichten Schleier vor ihm, krank und krächzend: »Solche Tage sind für mich gemacht, Junge. Wirf einen Blick in meine Welt!«
Drago hielt den Atem an. Nein, er würde nicht auf die Worte des Alten eingehen. Das war nur eine Falle, die ihm der blinde Sänger stellen wollte. Doch Fallen wusste Drago auszuweichen. Er lauschte den Geräuschen der jetzt fast unsichtbaren Stadt, an deren Mauern er entlanggeschlichen war,bis hierher. Obwohl die Dämmerung sich erst langsam über die Palazzi senkte, war es wie in finsterster Nacht. Einmal, ein einziges Mal nur hatte Drago eine solche Unsichtbarkeit erlebt: damals, als er während eines Sturms mit seinem Vater auf San Michele hatte bleiben müssen. Sie hatten einen einsamen Gondoliere hinüberbringen müssen, den Letzten seiner Familie. Nur wenige Lichter hatten auf den Gräbern geflackert und waren schließlich erloschen in der vom Wind durchpeitschten Dunkelheit. Aber das war mitten in der Nacht gewesen. Jetzt war es Tag – und doch hatte die Stadt sich vollkommen verborgen in einer licht gewordenen Undurchdringlichkeit. Seit Menschengedenken hatte der Sfumato, jener unvermittelt aus den Kanälen bis zu den höchsten Kirchturmspitzen aufsteigende Nebel, Venedig nicht mehr so verhüllt.
»Ja«, krächzte der Alte, »das ist meine Welt, so sieht sie aus. Und doch habe ich dich bemerkt, noch ehe du wusstest, wie nah du mir schon bist.«
Vielleicht hatte der Alte recht, vielleicht war er im Dunst des Nebels wirklich im Vorteil. Gut, dann würde Drago eben warten. Er konnte warten. Der Sfumato würde irgendwann wieder verschwinden, so plötzlich und sinnlos, wie er gekommen war. Und dann würde der Alte Dragos Schritte nicht mehr von den Schritten jener Tausend unterscheiden können, die an ihm vorbeiliefen oder stehen blieben, um seiner Mandoline zu lauschen, und manchmal, wenn auch viel zu selten, eine Münze oder gar zwei in seine Mütze warfen und ihn bedauerten oder bewunderten. Drago hörte ihm gern zu. Immerhin spielte der Alte auch eines der Lieblingslieder seiner Mutter. Ja, manchmal war ihm, als würde der Sänger dieses Lied extra anstimmen, wenn er vorbeikam. Doch das konntenicht sein. Denn wie gut der Alte auch immer zu hören vermochte, sehen konnte er nichts.
Also saß Drago auf der Mauer der Accademia oder am Fuß einer der Säulen, die zwischen dem Dogenpalast und dem Campanile von San Marco standen, und wartete. Lauschte auf die traurigen oder sehnsüchtigen Lieder, lockte leichtfertige Tauben, beobachtete reiche Kaufleute, die den Weg in die prächtigen Hallen des Palastes nahmen, oder die Damen mit den weiten Röcken, die mit zarter Hand ihre Sonnenschirmchen spazieren trugen, während kläffende Hündchen um sie her sprangen. Wartete, bis genügend klingendes Metall in der Mütze des Alten versammelt war, um dann mit wenigen flinken Schritten bei ihm zu sein und mit geübten Fingern einen möglichst großen Teil der Münzen in die eigene Tasche wandern zu lassen und so schnell und lautlos zu verschwinden, wie er gekommen war. Eine leichte Übung – wenn man sich nicht erwischen ließ.
Doch es kam vor, dass in genau jenem Augenblick, in dem Drago sich auf seine Beute stürzte, einige Gardisten des Dogen aus dem Palast kamen, ihn beim Diebstahl erblickten und sofort die Verfolgung aufnahmen. Denn Diebstahl war im Großen zwar der Lebenszweck dieser Stadt, im Kleinen aber wurde er hart bestraft.
Das silberne Uhrwerk
Fasziniert beobachtete der Mann im hellen Anzug, wie die Gondolieri mit wenigen, gelassenen Bewegungen ihre schwarzen Boote sicher durch die dunklen Kanäle bewegten, Reitern gleich, die auf den Rücken ihrer mächtigen Tiere standen, stolze Herrscher und Teil eines Spieles, das unbekannten Regeln folgte und das sie beherrschten, so wie sie von ihm beherrscht wurden. Auf seinen Knien lag eine Zeichenmappe, abgegriffen und fleckig, in der er Augenblicke festhielt, um sich später daran zu erinnern. Gewiss, es gab die Kunst der Fotografie, mit der das Leben abgebildet werden konnte, wie man es sah. Doch allein die Zeichnung und die Malerei konnten auch das Geheimnis abbilden, das einen Moment, eine Szenerie umgab: Ein Augenblick ließ sich so festhalten, wie man ihn tatsächlich empfand!
Hannibal Rabe saß auf den Stufen der Accademia, lauschte und wartete auf das Erwachen der Stadt, die eben noch starr im dichten Nebel gelegen und den Atem angehalten hatte und nun, da sich die Umrisse der Häuser und Brücken, der Kirchen und Palazzi aus dem trüben Grau herausschälten, mit einem Mal wieder in Bewegung kam: Fußgänger eilten über die Piazza, Boote wurden von der Leine genommen und glitten ins Wasser, Lichter blitzten auf, die der Dunst verborgen hatte. Jetzt verfiel die Stadt in ihre flinke Taschenspielerhast. Hannibal Rabe aber saß ruhig auf den Stufen und beobachtete, sah, wie sich das geheimnisvolle Uhrwerk Venedigs in Gang setzte und Bürger und Bettler, Dirnen und Diebe, Fürsten und Fälscher ihre Wege wieder aufnahmen, um ihrem Leben zu enteilen – oder ihrem Tod.
Ein Junge, zwölf oder dreizehn Jahre alt, schlich seit einiger Zeit um ihn herum. Unauffällig. Sehr geschickt. In weitem Abstand. Verborgen hinter Arkaden, Marmorbrüstungen und Mauervorsprüngen. Und doch hatte Rabe ihn mit dem untrüglichen Blick des wissenschaftlichen Beobachterslängst entdeckt. Er hatte sogar eine Skizze der leicht gebeugten, hinter einer Säule des Caffè Florian lauernden Figur gezeichnet, ehe der Nebel sich über den Platz gesenkt und alle Sicht genommen hatte.
Nun aber, da es aufklarte, war auch der Junge wieder da, näher als vorhin, mutiger vielleicht, weil er sich unbemerkt hatte anschleichen können. Doch Rabe hatte seine Tasche unter die Beine gezogen und saß wie ein Buddha auf ihr: fest, unverbrüchlich, sicher.
Er klappte seine Mappe zu und steckte sie weg, nahm eine silberne Taschenuhr aus seiner Weste, prüfte das Ziffernblatt und ließ den Zeitmesser wieder zurückgleiten in die schmale Tasche über seinem Bauch. Der Nebel war wie von Zauberhand verflogen. Schon drangen erste Sonnenstrahlen bis zum Boden der Piazza. Erfrischt von der Aussicht auf einen aufschlussreichen Spaziergang hinüber zu den Bleikammern, jenem legendären Gefängnis der Serenissima, wie Venedig auch genannt wurde, erhob sich der Mann, strich sich über seinen kurzen weißen Bart, streckte die Glieder und nahm dann schnell seine Tasche. So schnell, dass der Junge, der blitzartig hinter ihm aufgetaucht war, ins Leere griff. Der Bursche strauchelte und kam ungelenk neben Rabe zu stehen.
»Ich, äh«, stammelte er. »Signore, darf ich Ihre Tasche tragen?« Rabe hörte sofort, dass der Junge mit Akzent sprach. Ganz sicher stammte er nicht aus der Stadt. Er arbeitete nur hier
– wenn man es denn Arbeit nennen mochte, womit er offensichtlich seinen Lebensunterhalt verdiente.
Hannibal Rabe schmunzelte und schaute ihm fest in die Augen. Trotzig hielt der Junge seinem Blick stand, die Zähne hinter seinen dünnen, roten Lippen malmten, dass dieWangenknochen hervortraten. Er hatte ein schmales Gesicht, Schatten lagen unter seinen Augen und eine Strähne seines feuerroten Haars hing ihm in die Stirn.
»Aber natürlich«, entgegnete Rabe und hielt ihm die Tasche hin, ohne sie loszulassen. »Du kannst mir als Assistent dienen. Dafür gebe ich dir morgens einen silbernen Grosso. Und einen am Abend.«
Der Junge kniff die Augenlider zusammen. Ein Zucken umspielte seine Mundwinkel. »Ich möchte gleich zwei Grossi«, sagte er schließlich und hielt die andere Hand hin.
»Einen morgens, einen abends – wenn ich mit deinen Diensten zufrieden war. Und einen dritten, wenn du mich sicher durch die Stadt führst.«
Der Junge stand abwartend da, die eine Hand am Griff der Tasche, die andere vorgestreckt, um die erste Anzahlung auf seinen Tageslohn entgegenzunehmen oder seine Beute. Denn in diesem Augenblick wusste er nicht, ob seine Beine ihn im nächsten Moment davontragen würden oder ob sein Verstand ihn zwingen würde, den Tag an der Seite des Unbekannten zu verbringen, der heute Morgen seinen Fuß auf den Markusplatz gesetzt hatte, dann im Nebel versunken und schließlich wieder wie eine Statue daraus aufgetaucht war.
Hannibal Rabe griff in seine Weste, entnahm ihr eine silberne Münze und ließ sie schwer und verwirrend in die Hand des Jungen gleiten.
Pozzi e Piombi
»Sie sehen nicht viel, Herr, wenn Sie nur von einer Brücke auf eine andere starren.« Drago konnte einen spöttischen Gesichtsausdruck nicht unterdrücken. Vielleicht wollte er es auch nicht.
»Gibt es denn einen besseren Platz, um die berüchtigten Bleikammern zu betrachten?«
»Aber ja, Herr. Wir können in die Calle Albanesi gehen oder in die Scolastica. Man kann das Gefängnis vollständig umrunden.« Der Junge ging voraus, und Hannibal Rabe folgte ihm, die Hände hinter dem Rücken verschränkt wie ein reicher Kaufmann oder ein weltreisender Opernsänger, der für einige Wochen die Lagune besucht und die alten Palazzi und Kirchen betrachtet wie wilde Tiere auf dem Jahrmarkt. Tatsächlich ließ sich das berüchtigte Gefängnis von drei Seiten begehen, nur die vierte Seite, die zum Dogenpalast zeigte, fiel in einen schattigen Kanal hinab, auf den eine einsame Gondel von der Bucht hereinglitt. Über dem Kanal spannte sich würdevoll und reich verziert eine Brücke. »Wir nennen sie Ponte dei Sospiri, Herr.«
Hannibal Rabe nickte. »Seufzerbrücke.«
»Ja. Es sind viele Gefangene über diese Brücke in die Bleikammern gebracht worden.« Drago schauderte, da er dies aussprach. Die Piombi, die Bleikammern, unter deren Dächern es so heiß wurde, dass den Gefangenen bei glühender Sonne die Sinne schwanden, waren ihm bisher erspart geblieben. Doch die Pozzi, die Kerker auf der anderen Seite, waren auch nicht besser. Sie waren so kalt und feucht, dass man sich selbst dortden Tod holen konnte. Zweimal hatten ihn die Gardisten schon in ein solches Verlies geworfen. Zweimal war er entkommen, weil er sich todkrank gestellt hatte. Noch einmal würde ihm eine solche Täuschung nicht gelingen.
»Und wie nennt man dich?«, fragte unvermittelt der Reisende, während sein Blick wieder auf die Gondel gerichtet war. Gegen das späte Nachmittagslicht, das über die Insel San Giorgio Maggiore hereinfiel, wirkte der Gondoliere, der schwarz und schweigsam auf dem Heck des Bootes stand, wie eine Statue – und der Bug, der sich dem Betrachter entgegenreckte, sah aus wie ein majestätisches Tier.
»Ich werde … Giorgio genannt, Herr«, murmelte Drago und blickte zu Boden.
»Giorgio«, wiederholte der Herr. »Weshalb überrascht mich das nicht.« Sein Lächeln war hintergründig, aber nicht unfreundlich. »Nun, mein Name ist Rabe, Hannibal Rabe.« Wieder glitt sein Blick hinüber zur Gondel. Doch die war verschwunden.
Eine kleine Weile standen sie schweigend unter den mächtigen Mauern und lauschten den Geräuschen der Stadt. Über der Lagune begann sich ein leichter Dunst zu bilden, von ferne erklang eine einsame Glocke, einer Totenglocke nicht unähnlich. Der Canaletto zwischen den Gefängnissen lag nun leer unter ihnen. An der Stelle, an der eben noch die Gondel entlanggeglitten war, hatte sich ein dunkler Fleck gebildet, Ringe, die langsam auseinandertrieben. »Ich würde gerne noch einmal zurückgehen«, sagte Rabe, drehte sich um und schritt, ohne eine Antwort abzuwarten, die Calle Albanesi wieder hinab. Kurz darauf standen sie an derselben Stelle, von der aus sie vorher die Seufzerbrücke betrachtet hatten. DieRinge auf dem Wasser waren kaum mehr erahnbar. »Kannst du schwimmen?«, fragte Rabe und fasste in seine Weste.
»J–ja«, stotterte Drago und wich unwillkürlich einen Schritt zurück. »Du weißt, was passiert ist.« Das war nicht wirklich eine Frage, es klang wie eine Feststellung. Ja, Drago wusste, was passiert war. Es gab keinen Zweifel: Die Gondel war versunken, hier, wenige Schritte von ihnen entfernt. Das Problem war nur: Hier konnte man keine Schritte tun, man musste schwimmen. Drago zog sich das Hemd vom Leib und streifte Schuhe und Hosen ab. »Dort«, sagte Rabe und zeigte auf die Stelle, an der sich die sanften Wellen des Kanals wieder vereint hatten, als wäre nichts geschehen. Er legte einen silbernen Ring auf die Brüstung der Brücke und flüsterte:
»Es geht um das Leben eines Menschen.« Drago nickte und sprang. Das Wörtchen »Vielleicht« hörte er nicht mehr, das Rabe in seinem Rücken murmelte.
Die Wasser von Venedig waren trüb und voller böser Geheimnisse. Als Drago hinabtauchte, war ihm, als fassten hungrige Geister mit ihren kalten, glatten Fingern nach ihm. Seine Beine wollten sich kaum bewegen, die Arme rangen mit der dunklen Flut. Die Kanäle waren nicht tief, die kleineren reichten kaum bis zur Brust eines erwachsenen Mannes. Und doch hatte Drago das Gefühl, nicht bis zum Grund zu gelangen. Er rang nach Luft. Wie sollte er wieder nach oben kommen? Panik ergriff ihn: Seit wann konnte er schwimmen? Er hatte es nie gekonnt! Er hatte nur so getan, weil er den Ring haben wollte. Den Ring haben. Warum hatte er ihn nicht einfach genommen und war gerannt! Drago schlug um sich, er musste nach oben, nach oben! Doch die Wassergeister hattenihn im Griff, lähmten seine Arme und Beine, zogen ihn hinab. Seine Brust schien zu platzen. Verzweifelt rang er mit der Dunkelheit, die sich unter ihm erstreckte, riss den Kopf hoch und strampelte mit den Beinen. Da! Der silberne Ring erschien plötzlich vor seinen Augen. Drago streckte die Hand aus, wollte nach ihm greifen, doch er konnte ihn nicht fassen, der Ring wurde größer und größer. Drago versuchte, ihn mit beiden Händen zu packen, ihn zu sich zu ziehen – und tauchte unvermittelt wieder auf: Der Ring war nichts weiter gewesen als die Wellen, die sich an jener Stelle gebildet hatten, an der er ins Wasser gesprungen war.
Drago ruderte heftig mit den Armen, um nicht wieder unterzugehen. Rabe stand mit einem spöttischen Lächeln auf der Brücke und hielt seinen Stock hinab, an dem Drago sich nun festklammerte. »Und?«, fragte er, als sich der Junge wieder hinaufgekämpft hatte.
»Nichts«, keuchte Drago und senkte den Blick. »Da war nichts.«
»Hm. Weder eine Gondel noch ein Gondoliere?«
»Nichts.«
Wortlos reichte Rabe ihm den Ring. Und er passte, als wäre er für Dragos Hand gemacht.
Geheimnisse
Die Calle dei Crociferi lag nahe der Anlegestelle an den Fondamente Nuove. Es war ein altes Lagerhaus, auf dessen Speicher die Familie Flaba lebte: Svanko, der Bootsmann, seine Frau Mira, die Tochter Luzia, die kleine Livia, die alle nurLi nannten und die noch kein Jahr alt war – und Dragomir, der stets spät nach Hause kam, so spät, dass seine Schwestern meist schliefen und nur die Eltern noch wach waren. Oder wenigstens der Vater. Denn seine Mutter schlief viel, oft auch tagsüber. Sie war krank.
»Guten Abend, Papa.«
»Wo kommst du so spät her? Weißt du nicht, dass du zu Hause sein sollst, wenn es dunkel wird.« Svanko war zwischen dreißig und vierzig Jahre alt. Aber er wirkte wie ein alter Mann, vor allem wenn er sich unbeobachtet wähnte. Sein Haar war fast grau, tiefe Falten zerfurchten seine Stirn, und wenn er den Kopf gegen die Wand hinter dem Esstisch drückte, so wie jetzt, dann trat sein Adamsapfel so weit hervor, als wollte er die dünne Haut seines Halses durchstechen.
»Ich habe Geld verdient, Papa.«
Svanko schloss die Augen und nickte. »Guter Junge«, murmelte er. »Ich … Es tut mir leid.«
»Schon in Ordnung, Papa«, erwiderte Drago und schloss die Tür hinter sich. Er spürte sein Herz klopfen. Es gab nur selten gute Nachrichten in der Familie. Dass er heute eine gute Neuigkeit hatte, das stimmte ihn aufgeregt. Niemals zuvor hatte er so viel Geld dabeigehabt. Er trat auf seinen Vater zu und streckte ihm die feuchte Hand entgegen. Groß und silbern lagen die schweren Münzen darin, die der Fremde ihm gegeben hatte. »Hier«, sagte er. »Das wird uns helfen.«
Sein Vater starrte auf die Hand des Jungen. »Woher hast du das?« Doch er wartete keine Antwort ab, sondern fuhr auf, dass der Stuhl hinter ihm polternd zu Boden fiel, und versetzte Drago eine Ohrfeige, die schallend von den Wänden widerhallte. »Woher hast du dieses Geld? Wem hast du es gestohlen?« Li wachte auf und begann zu schreien. Die Mutter regte sich und mühte sich im Bett auf.
»Ich … ich habe es nicht gestohlen!«, stotterte Drago und wankte zurück, die Hand an die Wange gepresst. Tränen schossen ihm in die Augen, heiße, unkontrollierbare Tränen. Schnell fuhr er sich mit dem Ärmel übers Gesicht und holte Luft, während sein Vater wie versteinert dastand. »Ich habe nicht gestohlen!«, wiederholte er und schleuderte die Münzen auf den Boden, wo sie klirrend in den Spalten zwischen den groben Planken verschwanden. Ein dumpfes Klackern, irgendwo unter ihnen, war noch auszumachen, dann herrschte für einen Augenblick Stille, selbst Li gab keinen Laut von sich.
Ohne ein weiteres Wort wandte Drago sich ab und lief aus der Wohnung. Er hörte noch die matte Stimme seiner Mutter nach ihm rufen, hörte noch das Baby wieder losschreien, hörte noch die Schritte seines Vaters, der zur Tür stolperte. Doch das Feuer der Wut brannte zu heftig in ihm. Er hatte das Geld nicht gestohlen. Nein! Diesmal nicht! Er hätte es für sich behalten können, hätte … Doch er hatte es nach Hause gebracht, um zu helfen. Drago keuchte. Schnell wie ein Rabe in der Nacht schoss er die Treppen hinunter und huschte zwei Absätze tiefer hinaus auf den Mauervorsprung, auf dem früher die Seilzüge gewechselt worden waren. Der untere war lange verschwunden. Der obere aber, der die Waren in den Speicher gehievt hatte, dorthin, wo jetzt Dragos Familie hauste, der existierte noch, auch wenn das Seil brüchig geworden und die Trommeln, über die es gezogen wurde, verrostet waren.
Ein kalter Wind zog von Murano herüber, doch sehen konnte Drago die Insel von hier aus nicht. Oben, von seinemBett aus, konnte er bis hinüber nach San Michele und Murano blicken. Der Seilzug peitschte im Wind wie ein Schiffstau bei Sturm. Drago fröstelte. Seit Tagen war es kalt in der Stadt, der Sfumato wechselte sich ab mit eisigem Ostwind, das Meer war aufgewühlt, so sehr, dass die Gondeln bisweilen ihren Verkehr zwischen den venezianischen Inseln einstellen mussten.
Es dauerte eine Weile, bis Drago sich beruhigt hatte. Er lauschte auf die vielfältigen Geräusche aus den Häusern ringsumher, die die Nacht herbeitrug. Seine Hand spielte in der Hosentasche mit dem Würfel, den er einmal beim Spiel gewonnen hatte. Es war sein Glückswürfel: Elfenbein mit goldenen Augen, dabei sechs auf der einen und sechs auf der anderen Seite, sodass es eine doppelte Chance gab, die höchste Zahl zu würfeln. Er nahm das kleine Meisterwerk aus der Tasche und betrachtete es im fahlen Mondlicht. Glückswürfel. Drago lachte bitter. Dann warf er das Ding in weitem Bogen in die Nacht, direkt in Richtung des Jesuitenklosters, wo es in der Dunkelheit verschwand.
Flink und geübt packte Drago das Seil und kletterte daran hoch zum Dachfirst, an dem er ein kurzes Stück – das Seil hielt er so lange noch zur Sicherheit fest – auf dem flachen Bauch bis zu einem wilden Taubenschlag, der sich in dem schadhaften Dach eingenistet hatte, robben musste. Von dort konnte er sich zwischen Balken hindurch in den alten Kamin zwängen, der längst von niemandem mehr benutzt wurde und dessen Existenz Drago immer wieder seltsam vorkam: ein Kamin in einem Lagerhaus?
Als er auf dem Balken angelangt war, der sein Bett war, war es dunkel geworden in der Wohnung. So leise wie nur irgend möglich drückte Drago sich in die Nische, die ihm langsam zu kurz wurde. Aber es gab keinen anderen Schlafplatz, wollte er sich nicht wie der Rest der Familie in dem einen engen Raum dicht an dicht betten.
Er versuchte, seinen Atem zu zügeln, wollte nicht, dass die anderen merkten, dass er wieder da war. Er wollte nicht von ihnen angesprochen werden, nicht einmal von Luzia, obwohl die ihn noch jedes Mal verstanden hatte. Luzia war in Ordnung, sie war eine gute Schwester, auch wenn sie wenig sagte und oft stundenlang still am Anleger saß, um auf Papa zu warten, statt irgendwie Geld aufzutreiben.
Es rumorte in Drago. Er spürte, wie der Groll in ihm brannte. Heute, ausgerechnet heute, wo er nichts Schlechtes getan und seinen Lohn auf ehrliche Weise verdient hatte, heute hatte Vater ihn geschlagen – für etwas, das er nicht begangen hatte. Mit zusammengekniffenen Augen blinzelte Drago in die Nacht hinaus. Irgendwann hatte sich das Haus ein wenig zur Seite geneigt, und ein Spalt hatte sich aufgetan, durch den man von dem Balken, auf dem Drago schlief, hinausblicken konnte zur Lagune.
Dort drüben lag Murano. Und auf dem Weg dorthin San Michele, die kleine Insel, zu der sein Vater beinahe jeden Tag fuhr – ohne dass Mutter davon gewusst hätte. Sie sollte es auch nicht wissen. Sie war zu krank.
»Ich mache mir Sorgen«, hörte er seine Mutter unten flüstern.
»Das musst du nicht. Er wird bestimmt bald nach Hause kommen.« Die Stimme seines Vaters klang brüchig und schwach, so als würde er sich selbst nicht ernst nehmen.
»Und wenn nicht?«
»Er wird kommen!« Es sollte bestimmt klingen, aber es klang nur trotzig. »Er hat unrecht getan. Das muss er einsehen.«
»Svanko! Was, wenn er die Wahrheit sagt?«
Das verächtliche Schnauben seines Vaters versetzte Drago einen Stich ins Herz. Mit angehaltenem Atem lauschte er.
»Wer sollte ihm denn so viel Lohn bezahlen?«, sagte der Vater.
»Und wofür?«
»Hast du ihn denn gefragt?« Schweigen.
»Du solltest ihn fragen, hörst du? Sprich mit ihm.« Immer noch schwieg sein Vater.
»Bitte«, flehte die Mutter leise.
»Ich werde mit ihm sprechen.«
»Danke.«
Ein eisiger Windstoß fuhr durch den Spalt im Dach und lenkte Dragos Aufmerksamkeit wieder auf die dunkle Lagune. Wie eine zarte Sternenkette blitzten einige der Lichter von San Michele herüber. Flackernd schienen sie wie Leuchtfeuer den Weg ins Jenseits zu weisen. Drago fröstelte. Er zog die Decke fest um seine Schultern, lehnte sich gegen das raue Holz des Stützbalkens und versuchte, seine Gedanken schweifen zu lassen. Unten fing Li wieder an zu wimmern. Der Vater seufzte. Die Mutter summte kaum hörbar eine kleine Melodie. Hier über ihnen, über den Köpfen der anderen, saß er, Drago, und dachte an den Blinden, dachte an die Bleikammern, an den Reisenden im hellen Anzug, sah die Fratze von Pazzo vor sich und die hochgewachsene, schmale Gestalt seines Vaters auf dem Bug eines schlanken schwarzen Bootes. Was wussten sie alle schon voneinander. Wer wusste überhaupt etwas?
Seit sie in diese Stadt gekommen waren, hatten sie keine Ruhe gefunden. Es blieb eine Reise ins Ungewisse, auf der jeder sein eigenes unbekanntes Ziel hatte und ihre Wege sich nicht kreuzten. Vielleicht ahnte der Vater ja etwas von den kleinen Diebstählen und Betrügereien, die Drago beging, um wenigstens etwas Geld nach Hause zu bringen, vielleicht hatte er sich mit der Lüge abgefunden, dass die mageren Kupfermünzen der Lohn für Gelegenheitsarbeiten waren. Vielleicht, nein, ganz sicher war das einfach besser, als zu hungern. Nun aber war Drago mit zwei Silbergrossi zurückgekommen, und es sah nicht mehr nach einem kleinen Diebstahl aus, sondern nach einem großen …
Drago schüttelte den Kopf. Vater wollte vor allem eines: Mutter sollte sich keine Sorgen machen. Sie sollte daran glauben, dass bald genug zu essen für alle da sein würde, dass die Kinder es in Venedig besser haben würden, dass sie gesund werden würde und dass sie alle glücklich werden konnten! Also hatte er Dragos Lüge stets dankbar hingenommen. Solange es ging. Und nun meinte der Vater offenbar, es ginge nicht mehr. Dabei war er es doch, der die größte, die schwärzeste aller Lügen vor sich her trug. Er war es, der Mama sein düsterstes Geheimnis verheimlichte: die Wahrheit über seine Arbeit. Denn wenn er sein Boot bestieg, dann lenkte er es nicht zum Lido, nach Murano oder nach der Giudecca, sondern hinüber nach San Michele, der Toteninsel.
Illyrische Gefährten
Hannibal Rabe saß im Caffè Florian, dem alten Kaffeehaus am Markusplatz, der nachmittägliche Schatten des Campanile beschirmte seine Stirn, die Geräusche der Lagune wehten mit einem sanften Westwind herüber. Dazwischen mischte sich der Klang einer Mandoline, die ein blinder Sänger schlug, am Fuße einer der beiden Säulen, die den Zugang zum Markusplatz von der Seeseite her säumten.
Wie aus dem Nichts tauchte Drago auf und sah sich nach allen Seiten unauffällig um. »Ah, Giorgio, ich dachte schon, du kommst heute nicht«, sagte Rabe und stellte seine Tasche auf den Stuhl neben sich. Drago griff nach ihr, und nur für einen winzigen Augenblick, nur für einen Wimpernschlag flammte in ihm der Wunsch auf, unter den Arkaden und hinter dem Palast zu verschwinden, um in das dunkle Gewirr der Gassen und Kanäle einzutauchen und sich unauffindbar für den Fremden in dieser verwirrenden Stadt zu verlieren. Es wäre ein Leichtes gewesen! Es war nur die Ahnung eines Gedankens. Doch Hannibal Rabe hatte diesen Blitz, der Drago durchfuhr, genau erkannt. Seine spöttischen Augen schienen tief hinab bis in die schattigen Winkel seiner Seele zu blicken. Seine Hand aber hob sich vom Tisch, wo sie gelegen hatte, und gab eine im hellen Sonnenlicht funkelnde silberne Münze frei, die Drago zuflüsterte: »Ich bin dein. Doch du musst den Pakt erfüllen.«