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Alles ist Schein. Die Wahrheit unvorstellbar. Besonders nachts in Venedig. Das spannende Finale von Dragos dunkler Reise! Der junge Magier Drago ist den Fängen der Schwarzmagier um den hinterhältigen Conte Rubio di Scarfazzo entkommen. Doch die Gefahr ist noch nicht gebannt. Er muss in die Walachei, das Land der Vampire, und Graf Dracula von seinem Fluch erlösen. Denn dann werden alle Geschöpfe der Nacht ihm zu Diensten sein … Tauche ein in die geheimnisvolle Welt der Betrüger und Diebe und decke die Geheimnisse auf, die im Land der Vampire schlummern … Eine märchenhafte Trilogie für alle Leser ab 10 bis 99 Fans von Percy Jackson, Gregors Reise und Herr der Diebe werden Dragos Geschichte lieben!
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Seitenzahl: 292
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Die Diebe
von Venedig
Im Bann der schwarzen Magier
Von Morgen Verlag
Die Originalausgabe erschien 2013.
© 2013 Magnus Faust
Titel: Die Diebe von Venedig – Im Bann der schwarzen Magier
Autor: Magnus Faust
Covergestaltung: Hannah Sternjakob
Innenillustrationen: © Magnus Faust
ISBN: 978-3-910990-58-6
© 2024 Von Morgen Verlag
Eulerstraße 2, 13357 Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Die Verwendung dieses Werks im Ganzen oder in Teilenfür das Text- und Data-Mining ist nicht gestattet.
Das schwarze Fuhrwerk
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Heimkehr
Nachwort des Verlags
Über den Autor
Für Helena Mina, unser kleines, großes Wunder
Der Fuhrmann schwang die Peitsche über den Köpfen seiner schwarzen Rösser, wieder und wieder, als würden die ungeheuren Gewalten, die um sie her tobten, nicht genügen, sie um ihr Leben laufen zu lassen. Die Kutsche ächzte unter den Schlägen, die ihr der Sturm verpasste, Regengüsse fuhren durch die Fenster. Wie ein riesiger schwarzer Vogel zog das magische Gefährt seine Bahn über den verfinsterten Himmel. Und wann immer der Wind für einen kurzen Augenblick nachließ, stürzte das Gespann in Abgründe, die sich zwischen den Wolken auftaten, und Drago glaubte, sein letzter Atemzug sei getan.
Die Türme von Venedig waren nur noch schemenhaft am Horizont zu erkennen, wenn einmal mehr ein Blitz über den Himmel knisterte. Die Welt unter ihnen, wütende Wogen, auf denen längst kein Schiff mehr wankte, glühte in kaltem Grün. Drago hielt sich mit beiden Händen an der Tür der Kutsche fest, doch wurde er bei jedem Donnerschlag, bei jeder Böe, die das Gefährt erfasste, von seinem Sitz hochgerissen und beinahe nach draußen geschleudert. Er rang um Atem, so heftig peitschte ihm der Regen ins Gesicht. Und er war kaum inder Lage, zu sehen, wovon er seinen Blick doch nicht wenden konnte: den Kampf der Drachen gegen die Magier, der über der Lagune von Venedig tobte und diesen wundervollen Flecken Erde in ein Inferno verwandelte, wie er noch nie eines gesehen hatte. Die Mächte der Hölle schienen entfesselt, Feuer und Wasser kämpften ihren endgültigen Kampf.
Doch je weiter sie sich von diesem Krieg der Elemente entfernten, umso mehr schien der Kutscher sein Gespann in den Griff zu bekommen. Endlich war seine Peitsche wieder zu hören, weil der Donner des Sturms nur noch von ferne grollte. Die Stadt war aus ihrem Sichtfeld verschwunden, allein ein grünlicher Schimmer und ein grelles Flackern am tiefschwarzen Nachthimmel deuteten darauf hin, wo das Grauen tobte. Erschöpft ließ Drago sich auf die Bank zurücksinken, schloss die Augen und versuchte, seine Finger vom Holz zu lösen. Doch sie waren so sehr daran festgekrallt, dass er sie nicht zu strecken vermochte.
In welche Richtung sie wohl fuhren? Er wischte sich das Gesicht am Ärmel ab und öffnete die brennenden Augen. Norden? Osten? Um ihn her war nichts als tiefe Nacht. Kein Licht, das aus einer einsamen Hütte zu ihm heraufgeschimmert hätte. Kein Stern, der über ihnen geleuchtet hätte. Mit lautlosem Hufschlag galoppierten die schwarzen Pferde über den ebenso schwarzen Nachthimmel, angetrieben von ihrem unbarmherzigen Kutscher, der ebenso schwarz verhüllt war und kaum je das bleiche Gesicht umwandte. Nur die Hand, grün schimmernd, hob sich ein ums andere Mal, um die Peitsche zu schwingen. Hart. Heftig. Gnadenlos.
Wenn Drago sich Mühe gab, vermeinte er, im unbestimmten Dunkel um ihn her Umrisse zu sehen, die noch schwärzerwaren, noch bedrohlicher wirkten. Schatten, die näher kamen, die die Kutsche von beiden Seiten bedrängten. Und tatsächlich wich das Fuhrwerk diesen Schemen immer wieder aus, wandte sich das hölzerne Himmelsgefährt knarrend zur Seite, während die Pferde auskeilten und von ihrem dunklen Meister in eine andere Richtung gezwungen wurden. Einmal kam einer dieser Schatten der Kutsche so nah, dass er sie berührte. Da riss ein Stück vom Dach ab – und Drago wurde klar, dass diese Schatten keine Schatten waren, sondern Körper, die sie verfolgten, die sie bedrängten, die sich ihnen in den Weg stellten, so wie das riesige Schwarz, das plötzlich direkt vor ihnen auftauchte und sich so weit über den nächtlichen Horizont erstreckte, dass kein Ausweichen mehr möglich schien. Drago glaubte, den Kutscher lachen zu hören, dann sah er, wie die Peitsche sich nicht über seinen Kopf erhob, sondern hinabsauste unter die Pferde und sich mit lautem Knall um ihre mageren Leiber wickelte. Voller Schmerz wieherten die Tiere auf, krümmten sich zusammen und stürzten mit dem Fuhrwerk hinab ins Bodenlose.
Der Schatten wölbte sich über ihnen, der Abgrund darunter schien endlos. Drago krallte sich an seinem Sitz fest, schrie auf, schlug mit dem Kopf an die Rückwand und verlor vollends die Orientierung. Er fühlte sich wie im Inneren eines Wirbelsturms, der von allen Seiten an ihm riss, während die Kutsche weiter abwärts fuhr in einem Höllenritt, der unweigerlich in einer Katastrophe enden musste. Irgendwo dort unter ihnen lag entweder das Meer oder harte Erde. Sie würden ertrinken oder zerschellen, etwas anderes war nicht denkbar. Dragos Schädel fühlte sich an, als müsse er zerplatzen. Mit aller Kraft stemmte er sich gegen den Sog und kämpfte sichans Fenster. Ja, dort drunten ragten ihnen scharfe Felsen entgegen, ein zerklüftetes Gebirge, an dessen steinernen Graten sie in wenigen Augenblicken ihr Ende finden würden. Sie kamen näher und näher, Drago hörte sich selbst schreien, sah, wie seine Hände verzweifelt an der Tür rissen, als könnte er sich retten, indem er sich nach draußen warf. Doch die Tür blieb fest verschlossen. Drago presste die Augen zusammen. Er dachte an die Contessa, dachte an seine Mutter. An die kleine Schwester, die er nie wiedersehen würde. Kälte packte ihn. Er sah wieder hinaus und erkannte, dass sich unter ihnen eine Felsspalte auftat, in die die Kutsche hineinstürzte. Das Klappern des Fuhrwerks, das Wiehern der Pferde, der Knall der Peitsche, das Ächzen der durch die Luft wirbelnden Räder, das alles hallte von den steinernen Wänden tausendfach wider und wurde zu einem ohrenbetäubenden Lärm, der den Schrecken noch verstärkte, den die undurchdringliche Finsternis hervorrief. Gebannt starrte Drago durch das Fenster, spürte, wie die Pferde wieder aufwärts zogen, meinte, weit oben einen Streifen dunklen Graus zu erahnen, hoffte schon, keuchte, als er spürte, wie sein Herz gegen die Brust hämmerte, sah die Kutsche über den Spalt hinauffliegen, reckte den Kopf hinaus, um nach dem Schatten zu sehen, der aber nicht mehr da war, warf sich blitzartig wieder zurück in den Wagen, als er erkannte, dass neue Schatten auf die Kutsche eindrangen, wurde herumgewirbelt, als die Pferde erneut nach links und nach rechts und wieder nach links auswichen, fiel zu Boden, als das Fuhrwerk plötzlich wieder abwärts raste – und schloss die Augen, weil er sich sicher war, dies würden seine letzten Atemzüge sein.
Schon hörte er den Widerhall der Felsen, spürte die Kutschevibrieren. Dann, mit einem Mal, kam der Lärm zurück, den die irrwitzige Fahrt an den senkrechten Wänden vorbei verursachte. Drago presste sich die Hände an die Ohren, spürte einen Schlag, als die Kutsche gegen einen steinernen Vorsprung krachte, wurde zur Seite geworfen, klammerte sich an die Tür und starrte wieder hinaus in die undurchdringliche Finsternis. Bis er plötzlich meinte, ein Licht vorbeiblitzen zu sehen. Mit letzter Kraft zog er sich hoch und blickte nach vorne. Dort! Noch ein Licht. Und noch eines. Er versuchte, sich zu konzentrieren. Immerhin war es nicht mehr vollkommen dunkel um sie her. Und die Kutsche schien ihre Fahrt zu verlangsamen. Immer noch führte der Fuhrmeister die Peitsche mit eiserner Hand. Doch die Pferde griffen nicht mehr so weit aus, das Räderwerk krachte nicht mehr unter der Last, es gab kein wüstes Hin und Her mehr, sondern scheinbar einen klaren Weg, auf dem sie sich befanden.
Immer mehr Lichter zogen an ihnen vorbei. Und auf einmal knallte die Kutsche hart auf den Boden und setzte ihren Galopp auf einer steinernen Straße fort. Aus den Lichtern wurden Fenster, niedrig und trüb, aber doch Fenster, hinter denen Lampen brannten und Menschen saßen. Aus der Schlucht wurde eine enge Gasse, zu deren Seiten sich schmale, dunkle Häuser erhoben. Es war kein Himmel zu sehen, kein Ende des Weges, der sich wie eine Höhle in die Dunkelheit hineinwand. Die Rösser schnaubten, ihre Leiber, das konnte Drago jetzt im matten Schein der Lichter erkennen, glänzten feucht. Die Räder krachten über die Straße. Es schien ein trostloser, ein elender, ein verfluchter Ort zu sein – und doch atmete Drago auf, spürte, wie sein Herz leiser schlug. Es mochten rohe Mauern sein, doch es waren Mauern. Es mochten düstere Katakombensein, doch es war ein Ort, an dem Menschen lebten. Jedes Verlies, jeder Kerker wäre Drago lieber gewesen als der Albtraum, der hinter ihm lag. So empfand er es jedenfalls – weil er nicht wusste, was noch kommen sollte.
Magier und Mörder
Mit einem Ruck blieb das Fuhrwerk stehen. Drago wurde nach vorne geschleudert und bekam einen heftigen Schlag gegen das Bein. Verwirrt blickte er auf. Der Kutscher hatte mit seiner Peitsche die Tür geöffnet und deutete nun damit hinüber zum Eingang eines Hauses, über dem im schneidenden Wind dieser verwunschenen Gasse ein Schild schaukelte, auf dem eine blutende Hand zu erkennen war und ein Schriftzug, den Drago nicht lesen konnte, so alt und verwittert war er – vielleicht aber auch bloß in einer unverständlichen, fremden Sprache verfasst. Der Fuhrmann hob mit der linken Hand den Hut, verbeugte sich leicht, schien mit dünnen Lippen zu lächeln. Dann stieß er die Tür wieder zu, schwang die Peitsche, dass es knallte, und war im nächsten Augenblick im Unbestimmten zwischen der düsteren Gasse und dem dunklen Himmel verschwunden.
Drago aber stand da, die Tasche neben sich, die wie durch ein Wunder diese Fahrt unbeschadet überstanden hatte, und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Ein roter Tropfen zerplatzte neben ihm auf einem Pflasterstein. Blut!, schoss es Drago durch den Kopf. Er sah nicht zu jenem Schild hin, sondern duckte sich unter der Tür hindurch, um das Haus zu betreten, vor dem ihn der Kutscher abgesetzt hatte.
Es war eine Spelunke, wie Drago sie vom venezianischen Hafen kannte: Dunkle Gestalten saßen an den Tischen, schweigsam und mürrisch, dazwischen einige grelle Frauenzimmer, angetan mit schreienden Farben und ebenso geschminkt. Auch das war wie in Venedig. Ein jedes Augenpaar schien sich sogleich auf ihn zu heften und ihn misstrauisch zu mustern. Dichter Qualm lag in der Luft, der aus den zahllosen Pfeifen emporstieg, die ringsumher geraucht wurden. Drago spürte, wie die giftigen Schwaden seine Augen angriffen. Er hielt den Atem an und versuchte, einen freien Platz zu finden. Jetzt erst fiel ihm auf, dass ein seltsam grünlicher Schimmer den Raum beherrschte. Auf allem lag ein grünes Licht, ohne dass es aber eine einzige Lampe in diesem Raum gegeben hätte. Das war nicht nötig. Denn die Gäste leuchteten selbst. Es war ihre magische Aura, die das finstere Gasthaus erhellte.
In der Mitte des Raumes stand ein einzelner, freier Tisch, daran ein einziger Stuhl. Verwirrt und voller böser Vorahnungen trat Drago darauf zu. Die wilde Fahrt über den Nachthimmel wirkte in ihm nach: Er fühlte sich, als wäre ihm jeder kleinste Knochen im Leib gebrochen worden. Kaum konnte er sich zu dem Stuhl hinbewegen. Mit einer Hand stützte er sich mühsam am Tisch ab und erschrak, als er erkannte, dass auch seine Hand – wenngleich schwach – grünlich leuchtete. Auch er war eine Lichtquelle in diesem finsteren Loch. Und so wenig er es sich eingestehen mochte, musste er doch hinnehmen, dass er damit einer von ihnen war: eine jener fragwürdigen Figuren, die ein bizarres Schicksal oder eine unsichtbare Macht an diesem unwirklichen Ort zusammengeführt hatte.
Er ließ sich auf den Stuhl sinken, mühsam ein Stöhnen unterdrückend. Vom Nebentisch stand eine Frau mit blondem, wirrem Haar und fauligen Zähnen auf, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Sie warf den Kopf ein wenig zur Seite, schwang ihr schmutzig rotes Kleid und machte einen Schritt auf Drago zu. Doch noch ehe sie ihm näher kommen konnte, hatte der Mann, der neben ihr saß, ihre Hand gepackt und hielt sie fest. Drago sah sich um. Hinten im Saal erblickte er eine Theke, hinter der nur undeutlich ein hünenhafter Mann zu erkennen war. Der Wirt? Sicher. Drago hob die Hand. Da ließ der Hüne seine Arme sinken und beugte sich vor. Im ersten Augenblick glaubte Drago, seinen Erzfeind Cerbero in ihm zu erkennen. Doch Cerbero war klein und gebückt. Trotzdem wich er instinktiv eine Winzigkeit zurück, als der Riese hinter seiner Theke hervortrat.
Von einem anderen Tisch hatte sich ein schmaler Mann in Trauerkleidung erhoben, dessen Gesicht so grau war, dass es im dichten Qualm beinahe unsichtbar wirkte. Ohne dass er einen Schritt getan hätte, schien auch er langsam näher zu kommen, gefolgt von einem Schatten, der sich als riesiger Hund entpuppte und dessen tiefes Knurren im Dunst der Spelunke geradezu spürbar war.
Drago stand von seinem Stuhl auf. Er wusste nicht, warum oder wozu, aber er war sich mit einem Mal sicher, dass die Gestalten, die ihn hier umgaben, nichts Gutes im Schilde führten. Keiner sagte ein Wort, aber allein ihr Atem klang, als könnten sie sich kaum im Zaume halten, ihn zu packenund zu zerreißen. Waren es Menschen, die hier versammelt waren? Waren es Geister? Waren es Magier, da sie doch eine magische Aura hatten? Oder waren sie verzaubert, verhext? Er wandte sich zur Tür, stützte sich erneut auf den Tisch, da spürte er plötzlich eine eisig kalte Hand auf der seinen. Erschrocken wollte er die seine zurückziehen. Doch sie bewegte sich um keinen Millimeter. »Was …?«, stammelte er und starrte auf die fremde Hand. Sie war überraschend klein und zart. »Was …?« Er blickte auf. Ein Mädchen stand vor ihm, schmal, blass, aber mit lebendig glühenden Augen. »Ich bin froh, dass du da bist«, sagte sie, als hätte sie schon lange auf ihn gewartet. »Wir sollten rasch aufbrechen.«
Mit einem Mal hörte Drago, wie ringsum Stühle gerückt wurden. Überall standen sie auf an den Tischen, wandten sich zu ihnen und kamen langsam näher. Wären die Toten aus den Gräbern eines nächtlichen Friedhofs auferstanden und auf ihn zugekommen, Drago hätte es nicht als schrecklicher empfinden können. »Ich …« Er sah von den dunklen Gästen zu dem Mädchen und wieder zurück, zögerte. Weg. Er wollte weg. Doch konnte er sich dieser Unbekannten anvertrauen? Durfte er bleiben? Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Was war das hier? Was wollten diese Gestalten von ihm? »Ich …« Da sah er plötzlich, wie der riesige Hund, der hinter dem Wirt herangekommen war, zum Sprung ansetzte, die Zähne gefletscht, die Sehnen gespannt. »Ja«, keuchte Drago. »Gehen wir.« In diesem Augenblick sprang der Hund auf ihn zu – und das Mädchen zog ihn hinter sich her, zur Tür hinaus und auf die nächtliche Gasse.
Es dauerte keinen Herzschlag, da brach die Meute durch die Tür. Plötzlich schien die ganze Gasse grün zu glühen. Jetzthatten sie all ihre magische Energie entfesselt. Und sie würden alles geben, um Drago zur Strecke zu bringen. »Wohin?«, presste er hervor.
»Mir nach«, rief das Mädchen und riss ihn erneut mit sich, dass Drago beinahe die Sinne schwanden.
Sie rannten die Gasse hinab und flüchteten durch eine schmale Tür in einer Mauer, hinter der es so steil abwärtsging, dass Drago mehr fiel als lief. Über ihnen johlte die Menge wie bei einer Hinrichtung. Ein Graben tat sich auf, das Mädchen sprang aber nicht hinüber, sondern mitten hinein und zwang Drago unter einem Gitter hindurch in einen engen, niedrigen Kanal, in dem das Wasser so hoch stand, dass Drago bis zu den Knien nass wurde. Erst als sie in völliger Dunkelheit liefen, fiel ihm auf, dass auch das Mädchen grünlich leuchtete. Im Widerschein ihres Lichtes im Wasser tummelten sich Dutzende, ja Hunderte von … Ratten! Sie waren überall. Auch um Dragos Beine wimmelte alles von Ratten. Kaum hatte er sie entdeckt, spürte er auch schon, wie sie nach ihm bissen. Verzweifelt schlug er mit seiner Tasche nach allen Seiten hin. Doch es waren zu viele. Wo er eine traf, griffen ihn zwei andere an.
»Hier!«, rief das Mädchen und zog ihn auf eine Treppe, von der nicht mehr viel übrig war. »Du zuerst.« Sie gab ihm ein Zeichen, hinaufzusteigen. Und Drago tat, wie ihm geheißen. Schon nach wenigen Stufen musste er sich den Griff der Tasche zwischen die Zähne klemmen, weil es kaum einen Halt gab, an dem er sich hätte festkrallen können. Weiter und weiter hinauf zog sich die Treppe, immer schmaler aber wurden die Stummel einstiger Stufen, die hier noch verblieben waren. Drago blickte hinunter. Vor Schreck riss er den Mundauf, verlor die Tasche, versuchte nach ihr zu greifen, verlor den Halt und hing nur noch mit den Fingerspitzen einer Hand an einem winzig schmalen Mauervorsprung. Mit unglaublicher Geschicklichkeit fing das Mädchen die an ihm vorbeifallende Tasche auf und gab sogleich Drago einen Stoß, der ihn wieder ins Gleichgewicht brachte. Sie hat mir das Leben gerettet, durchfuhr es ihn. Sie hat mir das Leben gerettet!
»Das ist jetzt egal«, zischte sie, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Wenn wir nicht gleich oben sind, dann haben sie uns!«
»Ja!«, ächzte Drago und raffte all seine Kräfte zusammen.
»Ja.« Sie mussten weiter. Das Mädchen hatte Recht. Wer immer sie war, woher immer sie kam, was immer sie von ihm wollte, sie hatte Recht: Das war ihre letzte Chance, dieser Bande von Mördern zu entkommen. Denn natürlich waren es Mörder. Magier und Mörder. Sie hatten auf ihn gewartet. Und sie würden ihn töten. Mit dem größten Vergnügen würden sie das tun. Und mit Methoden, die Drago sich vermutlich nicht einmal vorstellen konnte. Wenn sie nur halb so grausam waren, wie sie aussahen, würden sie seine schlimmsten Albträume Wirklichkeit werden lassen.
Also schlug er seine Finger in jede winzige Lücke in dem alten Gemäuer und kletterte hinan, gefolgt von dem Mädchen, das keine Schwierigkeiten mit diesem Aufstieg zu haben schien. Endlich gelangten sie an einen Absatz, auf dem Drago stehen blieb.
»Gut«, sagte das Mädchen. »Und jetzt dort rüber.« Sie zeigte in die Dunkelheit, die der Treppe gegenüberlag. Nur mühsam konnte Drago erkennen, dass es dort eine Öffnung in der Mauer gab. Eine große Öffnung. Es würde ihnen nicht schwerfallen,sie zu betreten. Doch es gab keine Möglichkeit, dort hinzugelangen. »Die Brücke ist leider vor Jahren zerstört worden«, erklärte seine Begleiterin. »Wir werden springen müssen.«
»Springen?«
»Du solltest die Tasche zuerst hinüberwerfen. Sonst bist du zu schwer.« Sie hielt ihm seine Tasche hin. »Und mach schnell. Unsere Freunde sind nicht eben langsam.« Sie deutete in den Abgrund hinab. Und tatsächlich: Ein grünlicher Schimmer bewegte sich auf sie zu, begleitet von unbestimmtem Lärm, der immer stärker anschwoll. Drago nickte. Gut. Ein Tod im Abgrund wäre schneller und weniger qualvoll als alles, was diese Meute mit ihm anstellen könnte. Er holte aus, schwang die Tasche einmal über seinen Kopf und warf sie dann mit aller Kraft über den Abgrund hinweg in das Dunkel, das gegenüber in der Mauer klaffte. Zu seiner Verblüffung war kein Geräusch zu hören, dass sie aufgekommen war. Das Mädchen schien unbeeindruckt. »Und jetzt du.«
»Du zuerst«, sagte Drago, der nicht wusste, wie er seine Angst niederringen sollte.
»Wie du willst.« Sie nahm nicht einmal Anlauf. Sie kniete sich nur kurz nieder und federte dann in einem weiten Bogen von Drago fort ins Dunkel, wo sie wie seine Tasche ohne jeden Widerhall verschwand. Allein. Nun stand er allein da. Unter ihm ein klaffender Abgrund, über ihm unendliche Dunkelheit, hinter ihm eine wütende Menge mordlüsterner Magier oder Dämonen, die sich schon darauf freuten, ihn in die Hölle zu schicken.
Drago schloss die Augen. Er versuchte, das Bild der Contessa in sich heraufzubeschwören. Ihre zierlichen Hände. Ihre seidenen Schuhe. Ihr Haar. Ihren Blick. Du wirst das finstereReich Scarfazzos zerstören, hatte sie geschrieben. Du kannst es schaffen, dass die Kräfte der Magie wieder frei sind und von allen genutzt werden können! Du darfst nur Deine Reise nicht beenden, solange Du Dein Ziel nicht erreicht hast.
Das war sein Auftrag. Das hatte sie ihm hinterlassen. Sie hatte an ihn geglaubt. Und er? Würde er sie enttäuschen? Drago öffnete die Augen wieder. Er konnte jetzt die Stimmen johlen hören, den riesigen Hund bellen. Immer näher kam das grüne Licht. Du darfst nur Deine Reise nicht beenden, solange Du Dein Ziel nicht erreicht hast.
Und genau das würde er tun. Er würde seine Reise fortsetzen, bis er sein Ziel erreicht hatte. Plötzlich spürte er keinen Schmerz mehr. Nein, er spürte nur noch, dass ihm magische Kräfte innewohnten und dass diese Kräfte gut waren. Ein Sprung ins Ungewisse? Das würde seine geringste Prüfung sein. Er beugte sich kurz nieder und federte in hohem Bogen von der Plattform weg hinüber ins Dunkel, wo er fiel. Fiel. Fiel.
Usher
Drago spürte, dass seine Beine ihn trugen, doch er sah nichts. Undurchdringliche Finsternis umgab ihn. Wie durch ein Wunder stieß er nirgendwo an, stolperte nicht, fand stattdessen den Weg – auch wenn er nicht wusste, wohin ihn dieser Weg führen würde. Es war kalt. Feucht. Windig. Seine Schritte hallten von allen Seiten wider, die des Mädchens ebenso. Instinktiv folgte er ihr, obwohl er keine Kraft mehr in sich spürte, sondern nur noch Schmerz und Verzweiflung. Ihm war, als hätte er mit seinem Abstieg in das Schattenreich alles Leben in jeneranderen Welt gelassen, die hinter ihm lag; ihm war, als sei er schon tot und laufe, einem verfluchten, lebenden Leichnam gleich, durch die Unterwelt. Ein irres Lachen stieg in ihm auf, doch aus seinem Mund brach nur ein Keuchen, ein Seufzen beinahe, weil er keinen Atem mehr hatte, um zu lachen. Er spürte, wie ein Rinnsal warmen Blutes an seinem Hals herablief, er musste sich am Felsen angeschlagen haben. Ich bin nicht tot, dachte er. Tote bluten nicht – und sie sind kalt. Ich lebe noch. Und ich werde überleben. Ja, ich werde überleben. Diese Reise war meine eigene Entscheidung. Und ich werde sie zu Ende bringen. Gerade als diese Gedanken sich in seinem Kopf formten, hörte er vor sich die Stimme des Mädchens:
»Wir sind da.« Überrascht streckte Drago die Hände vor, hielt einen Moment im Laufen inne und stolperte. Und während er sah, wie sich vor ihm eine Tür öffnete, stürzte er der Länge nach auf den Boden.
Der Schmerz raubte ihm nicht die Sinne, aber den Atem. Kein Schrei entrang sich seiner Kehle, kein leisestes Geräusch. Nur der dumpfe Ton seines Aufpralls hallte in dem Raum wider, der sich vor ihm aufgetan hatte – und ein leises Klingen wie von Tausenden versteckten Glocken. Reglos blieb Drago liegen, die Augen weit aufgerissen, während er darauf wartete, ohnmächtig zu werden.
»Meine Güte. Ist er tot oder lebt noch etwas in ihm?« Die Stimme klang seltsam vertraut, und doch kannte Drago sie nicht. Aus dem schmerzenden Licht traten langsam Umrisse hervor. Jemand hielt ihm eine Lampe über das Gesicht. Als er jedoch merkte, dass die Helligkeit Drago quälte, nahm er die Laterne weg und stellte sie zur Seite. Ein aufmerksames, neugieriges Gesicht schwebte über ihm, umgeben von seltsamenGerätschaften, die aus dem Dunkel des Raumes hervorblitzten. Ein Mann beugte sich über Drago, nein, ein Herr, eine elegante Erscheinung mit fein getrimmtem Bart, hoher Stirn, weißem Kragen und einer Brille, die an einer schmalen Kette hing und dem Mann vom Hals baumelte.
Drago versuchte zu sprechen, zu atmen, zu brüllen vor Schmerz, doch das Feuer in allen seinen Gliedern, das Hämmern in seinem Kopf und die vollkommene Erschöpfung ließen nichts davon zu. Nur ein hohles, lang gezogenes Stöhnen bahnte sich den Weg und füllte die Stille, ehe es in einen quälenden Husten überging.
»Ich denke, er lebt«, sagte das Mädchen.
»Wenn du das leben nennst …« Der Mann legte beiseite, was er in den Händen gehalten hatte und was Drago aus den Augenwinkeln als golden glänzend wahrnahm, wie überhaupt ein metallisches Schimmern den ganzen Raum füllte.
»Wo … bin ich?«, presste Drago hervor. Er hatte einen blutigen Geschmack im Mund. Wer war der Mann? Hatte er dieses Gesicht nicht schon einmal gesehen? Drago schwirrte der Kopf, in seinen Schläfen pochte es. Rings um ihn her schien ein unablässiges Klickern und Klackern im Gange. Und wo war das Mädchen?
»Das war wirklich knapp«, murmelte der Mann und richtete sich etwas auf, sodass Drago mehr von dem Raum sehen konnte, in dem er wie ein Käfer auf dem Rücken lag. An den Wänden standen Regale, in denen sich unzählige Apparate stapelten. Es dauerte nur einen kurzen Augenblick, bis Drago verstand, dass es sich um Uhren handelte. Fertige Uhren und unfertige, Teile von Uhren, Uhrwerke. Da wurde ihm bewusst, dass die seltsamen Geräusche in seinem Kopf nicht in seinemKopf entstanden, sondern lediglich von den arbeitenden Uhrwerken stammten. »Wo bin ich?«, versuchte er es noch einmal.
»Auch wenn ich dich gerne unter anderen Umständen kennengelernt hätte, so darf ich dich doch willkommen heißen in meiner Werkstatt.«
»Wer sind Sie?«
»Mein Name ist Milford Usher«, sagte der Mann und deutete eine leichte Verbeugung an. Usher! Schlagartig wurde Drago klar, warum ihm der Mann bekannt vorkam: Er musste verwandt sein mit dem unseligen Tullston Usher, dem Schwarzmagier aus dem Kreis um Conte Rubio di Scarfazzo, dem finstersten Zauberer aller Zeiten. Der Name, die Sprache, die ganze Erscheinung: kein Zweifel, er entstammte demselben Clan. Drago war sich sicher, den Bruder jenes Mannes vor sich zu haben, den er in Venedig als den königlich-schottischen Begräbnismeister kennengelernt hatte. Der Mann musste das Zucken in Dragos Auge gesehen haben, denn er wich einen Schritt zurück und sah ihn erschrocken an. »Und du?«, fragte er, sichtlich auf böse Überraschungen gefasst.
»Wer bist du?«
»Ich bin ein … ein Reisender aus Venedig«, ächzte Drago.
»Er ist ein Freund«, sprang ihm das Mädchen bei und erschien nun endlich auch in Dragos Blickfeld. »Die Gäste in der Blutigen Hand waren nicht sehr nett zu ihm. Wie du siehst, Milford, geht es ihm nicht gut. Ich hatte gehofft, er kann auf deine Gastfreundschaft zählen.«
Der Uhrmacher sah mit erkennbarem Unbehagen von ihr zu Drago und wieder zu ihr. »Ähm, natürlich«, murmelte er.
»Aber du weißt, das wird nicht lange gehen.« Er zupfte an seinem Ärmel. Drago, dessen Augen sich endlich an das Licht gewöhnt hatten, bemerkte, wie ausgesprochen elegant der Mann gekleidet war: einfach, aber geschmackvoll. Sein Rock war aus feinstem Tuch, sein Hemd so weiß wie ein Hochzeitskleid, der Kragen steif gebügelt, die Knöpfe funkelnd poliert. Drago erinnerte sich an Tullston Usher, den Schotten in Venedig, der ganz in Schwarz gekleidet gewesen war – und im Übrigen ausnehmend hässlich. Das war dieser Mann hier nicht. Er wirkte sehr gepflegt. Schmal war er, fast asketisch in seinen Zügen. Die Augen aber waren denen seines Bruders so ähnlich, dass sich eine Verwandtschaft gar nicht hätte leugnen lassen.
»Einen Tag, Milford«, bat das Mädchen. »Höchstens zwei.«
»Ein Tag geht. Aber übermorgen erwarte ich Besuch von einem Auftraggeber.«
»Verstehe«, sagte das Mädchen. »Dann eben bis morgen. Das muss reichen.« Und zu Drago gewandt fügte sie hinzu:
»Ich hoffe, du hast keine Probleme mit Schmerzen. Denn es wird ein bisschen wehtun.« Das Lächeln, mit dem sie diese Worte sprach, wirkte dabei keineswegs zynisch.
Während sich der Uhrmacher an seine Werkbank zurückzog, tastete das Mädchen Dragos Glieder ab. Der linke Arm und das rechte Bein schienen weitgehend gelähmt. »Du hast dir beim Sprung die Schulter ausgerenkt«, erklärte das Mädchen.
»Tut mir leid, wenn es jetzt ein bisschen unangenehm wird.« Ehe Drago irgendetwas sagen oder tun konnte, hatte sie seinen Arm gepackt, ihren Fuß gegen seine Brust gestemmt und mit aller Kraft gezogen. Ein stechender Schmerz fuhr Drago durch die Glieder, vor seinen Augen schien alles in glühendes Rot getaucht. Zu einem Schrei fehlte ihm die Zeit, der Atem, die Kraft. Es dauerte nur einen kurzen Moment, dannentspannte sich sein Oberkörper und Drago ließ den Kopf auf den Boden sinken. Während er noch um Luft rang, hatte sich das Mädchen neben sein Bein gehockt und betastete das Knie. »Nein!«, keuchte Drago und versuchte kraftlos, sie abzuwehren.
»Keine Angst«, sagte das Mädchen mit tiefem Ernst. »Das hier lässt sich leider nicht so einfach wieder einrenken. Hier werde ich dir keine Schmerzen zufügen.« Sie seufzte. »Aber dafür wird es nicht so schnell wieder in Ordnung kommen.« Sie blickte ihn ernst an. »Wir werden Meister Ushers Hilfe brauchen.«
Der elegante Mann, der sich zwischenzeitlich an seine Werkbank zurückgezogen hatte, blickte von seiner Arbeit auf. Ihn schien das Drama, das sich wenige Schritte von ihm entfernt zu seinen Füßen abspielte, nicht sehr zu beeindrucken.
»Was kann ich tun?«
»Könntest du eine metallene Schiene anfertigen, um das Knie zu stützen? Er sollte es möglichst ruhig halten, am besten gar nicht bewegen.«
Der Uhrmacher nickte. »Für wie lange?«
»Ich denke, drei oder vier …«
»Drei oder vier Tage?« Entsetzt fuhr Drago hoch. »Nach dem, was ich auf dem Weg hierher erlebt habe, würde ich das kaum überleben!«
»Drei oder vier Wochen«, verbesserte ihn das Mädchen.
»Sonst bleibt das Bein für immer steif.«
Drago hatte noch genau den Lärm im Ohr, den der Pöbel hinter ihm veranstaltet hatte. Mordlust war das gewesen. Blutrausch. Irgendwo dort unten, woher sie gekommen waren, mussten sie immer noch sein. Vielleicht suchten sie immernoch nach ihm – weshalb auch immer. Er lauschte ins Ungewisse. Doch außer den unzähligen Uhrwerken war in der Werkstatt nichts zu hören.
»Was wollen sie von mir?«, fragte Drago und sank erschöpft zurück.
Das Mädchen lachte freudlos. »Du hättest dich sehen müssen, wie du da frisch und lebendig und unbedarft durch die Tür gekommen bist. Dich wollten sie. Natürlich.«
»Mich? Was meinst du damit?«
»Sie sind Verzweifelte. Sie vegetieren hier unten vor sich hin, hoffnungslos, mehr tot als lebendig. Dieser Ort hat ihnen alle Lebensfreude genommen. Buchstäblich! Wenn sie jemanden in die Finger kriegen, aus dem sie noch ein Fünkchen Leben saugen können, dann ist es um ihn geschehen. Dieser Ort erzeugt einen unstillbaren Hunger auf Leben. Sie wollten sich deine Lebenskraft einverleiben. Und dazu stehen ihnen einige Möglichkeiten zu Gebote. Aber das willst du lieber nicht wissen.«
Es fiel Drago schwer, ihr zu glauben. Aber wenn er an die Gestalten in der Spelunke dachte, musste er sich eingestehen, dass sie genau so wirkten. »Und du? Lebst du nicht auch hier?«
»Bei mir ist alles etwas anders.«
Während Meister Usher eine Schiene für das Bein anfertigte, versorgte das Mädchen die offenen Wunden an Dragos Körper, die Abschürfungen, die abgerissenen Fingernägel, die Wunde am Hals. Dann legte sie mit Hilfe des Uhrmachers die Schiene an und zog sie mit zwei Lederriemen so fest, dass Drago das Bein nicht mehr drehen oder knicken konnte. Als sie fertig waren, stellte sie zufrieden fest: »Nun ist alles nur noch eine Frage der Zeit. Gegen die gebrochenen Rippen könnenwir nichts machen. Die müssen von alleine heilen. Möchtest du aufstehen?«
Doch Drago schüttelte nur erschöpft den Kopf, schloss die Augen und schlief ein.
Die Verbannten
Als er erwachte, war er allein. Es war beinahe dunkel. Nur eine kleine Öllampe auf einem der Regale spendete mildes Licht. Immer noch litt er Schmerzen am ganzen Körper. Und doch war ihm, als hätte sich eine große lindernde Hand über ihn gelegt und würde ihn Stunde für Stunde heilen und ihm Kraft schenken.
Ein Schatten löste sich von der Wand. Drago erschrak, zuckte zusammen, krümmte sich vor Schmerz. »Tut mir leid«, sagte das Mädchen leise. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«
»Schon gut.« Drago versuchte, gleichmäßig zu atmen, das linderte den Schmerz. »Ich danke dir. Du hast mich gerettet.«
»Keine Ursache«, sagte das Mädchen leichthin. »Jeder hätte das getan.«
»Das bezweifle ich.« Drago musterte das Mädchen. Sie hatte ihr Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ihre Züge waren klar und fröhlich, obgleich ein ernster Ton darunterzuliegen schien. »Wer bist du?«
Sie versuchte ein Lächeln. »Mirabell. Ich bin eine Verbannte«, sagte sie mit leiser Stimme. »Zu wenig Magierin, um zu einer der Welten zu gehören. Und zu wenig normaler Mensch, um mich nicht darum zu kümmern.« Ihr Blick wanderte in eine ungewisse Ferne.
»Das musst du mir erklären.«
»Ein Fluch«, sagte sie nur. »Eine lange Geschichte mit einem einfachen Ende: Ich bin auf ewig hier festgekettet. Und du? Wer bist du?«
»Ich bin Drago.« Ein seltsamer Gedanke schoss ihm durch den Kopf. »Auch ein Verbannter. Ein Verbannter des Schicksals.«
Mirabell blickte ihn erstaunt an. »Ein Verbannter des Schicksals? Das musst du mir erklären.«
Mühsam richtete Drago sich auf. Es tat weh, aber inzwischen war es zumindest wieder möglich. »Wenn ich es nur selbst verstünde.« Wie gerne hätte er die Geister der Vergangenheit verscheucht. Doch die Erinnerung war wie die Büchse der Pandora: Sobald er sie geöffnet hatte, krochen all die bösen Ereignisse und Gestalten hervor und griffen nach ihm, hielten sein Gehirn in ihren Klauen und ließen ihn all das Schreckliche wieder erleben, das er in den letzten Monaten hatte erfahren müssen. »Es hat auf dem Markusplatz in Venedig angefangen«, flüsterte er und schloss die Augen.
Und dann erzählte er, wie er dem seltsamen Hannibal Rabe begegnet war, der ihn wie zufällig in die Welt der Magier eingeführt hatte. Wie ihn das Schicksal in die Fänge des Conte Rubio di Scarfazzo getrieben hatte – oder vielleicht ein kluger Plan. Wie er zum Zauberlehrling dieses großen Schwarzmagiers geworden war. Drago konnte es selbst kaum glauben, dass er diesem unbekannten Mädchen mit einem Mal seine ganze Geschichte offenbarte, die er doch besser hätte für sich behalten sollen. Doch als er erst einmal angefangen hatte zu reden, konnte er nicht mehr aufhören. Er erzählte von seinenersten magischen Experimenten, von seiner Reise ins Prag des 17. Jahrhunderts, von seinem Lehrer Vitus Weisz, der ihn dort in den Kreis der Magier aufgenommen hatte – und von seinem Kampf gegen den mächtigen Dämon Cerbero, dem er die Kraft zweier Drachen abgerungen hatte, weshalb ihn die Drachen vor dem sicheren Tod gerettet hatten. »Nur bleiben konnte ich in Venedig nicht mehr. Ich bin sozusagen im letzten Augenblick getürmt.«
Mirabell betrachtete ihn mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck. »Und als Ziel hast du dir ausgerechnet die Walachei ausgesucht?«
»Die Walachei? Ich weiß es nicht. Mir blieb nur, in das Schattenreich zu fliehen«, erklärte Drago und versuchte selbst, das alles zu verstehen.
»Das Schattenreich«, murmelte Mirabell. »Nun, das ist dir jedenfalls gelungen.«
»Was ist die Walachei?«, wollte Drago wissen.
Das Mädchen schwieg eine Weile. Schließlich setzte es sich neben Drago auf den Boden. Er konnte ihre zarten Füße unter dem Kleid sehen und musste an die Contessa denken, jene wundervolle junge Frau, deren Brief er bei sich trug und die in den Tiefen des Schattenreichs zu finden er so sehr hoffte. Mirabell hatte Ähnlichkeit mit ihr, obgleich sie ganz anders aussah. Sie trägt keine Schuhe, dachte er. Aus irgendeinem Grund beruhigte ihn das. »Die Walachei«, erklärte das Mädchen, »ist ein verfluchter Ort, ein düsterer Landstrich, in dem das Böse herrscht. Seit vielen Hundert Jahren. Sie ist das Land der lebenden Toten und der toten Lebenden.« Dann verstummte sie wieder und blickte starr vor sich hin. Drago sah, wie eine Träne in ihrem Augenwinkel glitzerte. Es war besser, nicht weiterzubohren. Irgendwann würde er mehr darüber wissen und verstehen, was sie mit diesen Worten sagen wollte. Trotzdem flüsterte er nach einer Weile, und er meinte es ernst: »Solange Menschen wie du hier leben, kann das Land nicht verloren sein.« Wenig später war er wieder eingeschlafen.
Ein Meisterwerk des Bösen