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Alles ist Schein. Die Wahrheit unvorstellbar. Besonders nachts in Venedig. Der junge Magier Drago hat das Geheimnis der Drachen gelüftet. Doch damit hat er sich die mächtigsten Schwarzmagier zu Feinden gemacht. Mithilfe eines verbotenen Zaubers gelingt es ihm jedoch, selbst Magier zu werden und den Kampf gegen die finsteren Mächte aufzunehmen. Er begibt sich auf eine abenteuerliche Reise, die ihn nicht nur in ein anderes Land führt, sondern auch in eine andere Zeit, in der man ihn anscheinend schon erwartet hat ... Ein geheimnisvoller Roman über dunkle Verschwörungen, gefährliche Geheimnisse, mystische Wesen und die magischen Städte Venedig und Prag! Tauche ein in die geheimnisvolle Welt der Betrüger und Diebe und decke mit Drago eine Verschwörung dunkler Magier auf. Denn ein Geheimnis schlummert in der Stadt, in der die Zeit einst stehen blieb … Eine märchenhafte Trilogie für alle Leser ab 10 bis 99 Fans von Percy Jackson, Gregors Reise und Herr der Diebe werden Dragos Geschichte lieben!
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Seitenzahl: 290
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Die Diebe
von Venedig
Der Kreis der Magier
Von Morgen Verlag
Zuerst 2010 erschienen unter dem Titel:Dragos dunkle Reise – Der Kreis der Magier
© 2010 Magnus Faust
Titel: Die Diebe von Venedig – Der Kreis der Magier
Autor: Magnus Faust
Covergestaltung: Hannah Sternjakob
Innenillustrationen: © Magnus Faust
ISBN: 978-3-910990-57-9
© 2024 Von Morgen Verlag
Eulerstraße 2, 13357 Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
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Masken
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Der schwarze Fuhrmann
Nachwort des Verlags
Über den Autor
Lautlos drückte sich der Junge in die Schatten der Palazzi, suchte sich kleine Kanäle, in denen Gondeln vertäut lagen und im kalten Winterwasser schaukelten. Wenn diese Boote nicht genutzt wurden, dann waren sie in der kühlen Jahreszeit meist mit festem Leintuch abgedeckt. Ein solches Leintuch zerschnitt der Junge mit seinem Messer und tastete nach einem der Cavai, jener bronzenen Beschläge, die dazu dienten, alle Seile fest am Boot zu verschnüren. Meist waren es kleine Kunstwerke, die mit einem langen Sporn versehen waren und vom Gondelbauer tief in das Holz getrieben wurden. Jede Gondel hatte mehrere solcher Cavai – und es dauerte nicht lange, da hatte der Junge einen zu fassen bekommen. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht, doch es war kein Lächeln der Freude. Eher war es ein grimmiges Lächeln, das von seiner Entschlossenheit zeugte. Mit eiserner Hand packte er den Cavai und stemmte sich gegen den Rand der Gondel. Vor seinem geistigen Auge tauchten Bilder auf wie Gespenster aus der Vergangenheit: ein Mann im weißen Anzug, eine junge Frau mit Schnabelschuhen, blutunterlaufene Augen hinter einer dicken Brille, das Gesicht seiner Schwester auf dem Wasser des Canal Grande – und die blasse Gestalt seiner Mutter, die ihm traurig zulächelte. Er straffte sich und drückte den Rücken durch. Mit aller Kraft zog er an dem Cavai, alle Wut, alle Enttäuschung, aller Zorn lagen in seinem Griff. Mehr als einmal glitt das kalte Metall durch seine Finger und beinahe wäre er in das dunkle Wasser gestürzt, das an das schaukelnde Boot klatschte, als wollte es dem vergeblichen Bemühen des Jungen Beifall zollen. Denn vergeblich war es. Nicht bei dieser Gondel und nicht bei irgendeiner anderen gelang es ihm, die Beschläge zu lockern und zu entfernen. Vielleicht hätte er das Werkzeug der Gondelbauer dazu gebraucht. Vielleicht aber hätte auch nur der richtige Zauberspruch genügt. Ein Wort, ein Satz, von der passenden Geste begleitet, eine leichte Berührung des Cavai mit den Fingerspitzen, mit einem magischen Gegenstand oder auch nur der Blick, den man mit der Kraft des Willens darauf richtete … Doch all das lag nicht im Rahmen seiner Möglichkeiten. Denn der Junge wusste wohl, wie mächtig die Magie war, nicht aber, wie man sie anwandte.
Trotzig packte er das bronzene Stück erneut und biss die Zähne zusammen. Er würde sich ganz und gar darauf konzentrieren, würde all seine Kraft sammeln und – löste sich das Teil? Beinahe schien es ihm, als gäbe der Cavai ein klein wenig nach. Er hielt die Luft an, presste die Füße gegen den Rand des Bootes, zog, dass er meinte, seinen Rücken knacken zu hören, lockerte den tief im Holz sitzenden Sporn, ächzte, spürte, wie das Blut in seinem Kopf pochte, wie sein Körper nach Luft schrie, wie ihm schwindlig wurde. Dann, plötzlich, rutschte ihm der Cavai durch die Hand, riss seine Finger auf, dass das Blut spritzte, schnellte sein Körper hoch, ohne dass er sich noch irgendwo hätte festhalten können. Und der Junge stürzte rücklings hinaus auf den Kanal und ins Wasser, wo die kalte Flut wie eine Falle über ihm zuschnappte und ihn hinabzog bis auf den Grund.
Die heimliche Besucherin
Drei Tage und drei Nächte dauerte das Gewitter. Schwarze Wolkentürme bauten sich über der Lagune auf und wurden von Blitzen zerfetzt, die den Himmel überzogen wie Lava die Hänge eines Vulkans. Kein Mensch, der in Venedig lebte, konnte sich erinnern, jemals ein so gewaltiges Unwetter gesehen zu haben. Und niemand ahnte, dass es kein gewöhnliches Gewitter war, das über dieser alten, zerbrechlichen Stadt wütete, sondern etwas ungleich Größeres, etwas Ungeheuerliches, Magisches: ein entfesselter Drache, den die Reise durch ein ganzes Jahrtausend mit Kräften versehen hatte, die kein Magier zu erzeugen und kein normaler Mensch zu verstehen imstande war.
Drago aber saß auf der Plattform, die mehrere Stockwerke hoch über die Calle dei Crociferi hinausragte, und starrte in das fürchterliche Spiel von Finsternis und Glut, ohne Hunger oder Durst zu empfinden, ohne müde zu werden, ja, ohne sich auch nur zu regen. Er saß da, die Augen hinaus auf die Lagune gerichtet, und lauschte auf das Donnern und Tosen, das über seinen Kopf dahinzog, mächtig, gefährlich und ohne Unterlass. Er selbst hatte diese Kräfte entfesselt, auch wenn er es weder gewollt noch gewusst hatte. Nur weil er in der Kirche San Giorgio della Fiamma gewesen war, als Scarfazzos Magier den Drachen beschworen hatten, war es diesem magischen Geschöpf gelungen, den Bann zu durchbrechen, mit dem sie ihn hatten bezwingen wollen – und in die Freiheit des Himmels zu entkommen, wo er nun seine Macht und seine Größe demonstrierte und flammende Blitze in die fortwährende Nacht spie.
Seine Mutter war tot. Auch das war Dragos Schuld. So reglos er im wütenden Wind saß, so aufgewühlt war er innerlich. Sie hatten sie zu Grabe getragen, am Tag, nachdem sie gestorben war. Da war das Gewitter bereits am Horizont zu sehen, war der Drache bereits in Freiheit gewesen. Vielleicht, wenn Drago mehr über die Geheimnisse der Magie gewusst hätte, wäre alles anders gekommen. Vielleicht.
Immer wieder schlugen Blitze in einen der zahllosen Kirchtürme von Venedig ein. Doch wie durch ein Wunder ging keiner davon in Flammen auf. Mancher Riss in den alten Mauern aber zeugte von ungeheuren Kräften, die auf die wunderbaren Bauwerke herabgefahren waren.
Die Menschen hatten sich in ihren Häusern verkrochen und wagten kaum einen Blick hinauf in den düsteren Himmel. Niemand hätte es gewagt, ungeschützt im Freien zu sitzen. Niemand außer Drago. Er fühlte sich unangreifbar, vielleicht weil er nichts zu verlieren hatte. Seit seine Mutter tot war, war er geschlagen. Was sollte ihm schon passieren.
Also beobachtete er das flammende Schauspiel, von dem kaum jemand wusste, was wirklich dahintersteckte, und wartete. Er wusste nicht, worauf. Doch er wartete. Seine Schwester Luzia, die von Zeit zu Zeit vom Speicher herabstieg, wo die Familie wohnte, trat neben ihn, blickte mit ihm hinaus auf die Lagune, schwieg mit ihm, legte ihre Hand sacht auf seine Schulter, lauschte dem Tosen, das die riesigen Drachenschwingen verursachten – und ließ ihn dann wieder allein, wohl wissend, dass sie ihm nicht helfen konnte. Niemand konnte ihm helfen. Er musste selbst aus dem tiefen Loch herausfinden, in das ihn die Befreiung des Drachens gestürzt hatte.
Und dann geschah es doch: Am Ende des dritten Tages, gerade als es schien, als würde das Gewitter ein klein wenig nachlassen, als die Blitze etwas weniger wurden und ein schmaler Lichtstreif sich am Horizont abzeichnete, legte sich abermals eine zarte Hand auf Dragos Schulter. Diesmal aber war es nicht Luzia, die zu ihm herausgekommen war. Das spürte er sofort. Es war, als würde ein Licht nach ihm greifen. Seine Augen, die tagelang nur auf das Meer und den Himmel über der Toteninsel San Michele gestarrt hatten, zuckten. Neben seinen gefühllosen Beinen konnte er etwas schimmern sehen: Perlen. Perlen, mit denen ein Paar bunte Schuhe bestickt waren. Schnabelschuhe! Er holte Luft, spürte, wie ihm schwindlig wurde, fasste sich und blickte auf. Und tatsächlich: Neben ihm stand, die Hand sacht auf seiner Schulter, die Contessa Rosata, die Frau des Schwarzmagiers Scarfazzo, jenes Drachenbändigers und Wissensdiebes, der Drago in die dunkelsten Stunden seines Lebens gestoßen hatte.
»Ist es nicht wundervoll?«, sagte die Contessa mit ihrer sanften Stimme und blickte auf Drago herab mit einem Lächeln, das ihm die Luft nahm. Sie war so schön wie stets, wenn er sie gesehen hatte. Nein, sie war schöner. Denn ihr Anblick war der größte Trost, den er sich hätte vorstellen können. Und doch: »Wundervoll?«
»Deinem Mut ist es zu verdanken, dass er nun frei ist. Du hast es geschafft.« Ihre Augen blickten direkt in seine Seele.
»Ich habe es geschafft«, echote Drago mit brüchiger Stimme. »Ich habe geschafft, dass meine Mutter tot ist und ein Ungeheuer den Himmel zur Hölle macht.«
»Das sieht nur so aus, Drago. Ein Drache mag über ungeheure Kräfte verfügen, doch er ist kein Ungeheuer. Er ist ein magisches Wesen, das mit den menschlichen Vorstellungen von Gut und Böse nicht zu begreifen ist.« Sie zögerte einen Augenblick. »Das mit deiner Mutter tut mir leid«, sagte sie schließlich leise und Drago spürte, wie sie seine Schulter mit ihrer leichten Hand drückte. »War es der Bann?«
Drago nickte. Der Bann, ja. Das war es gewesen. Er hatte sein Schicksal an den größten Wunsch gehängt, den er gehabt hatte: dass seine Mutter leben solle! Und dann hatte er den Bann gebrochen, unter dem sein größter Wunsch allein erfüllt werden konnte – und seine Mutter war gestorben.
»Das ist traurig. Aber es ist nicht das Ende. Ich kenne das. Es geschieht jedem, dessen Wunsch mit einem Bann belegt ist. Eines Tages bricht der Bann, der Wunsch ist verloren und das Gewissen legt sich wie eine Fessel ums Herz.«
Drago nickte und sah wieder aufs Meer hinaus. Ja, genauso fühlte es sich an: als hätte sich eine eiserne Fessel um sein Herz gelegt, um es langsam abzuschnüren und alles Leben herauszuquetschen.
»Doch du musst auch die gute Seite daran sehen«, fuhr die Contessa fort.
»Die gute Seite?« Drago lachte bitter.
»Der Bann ist gebrochen. Das heißt, du bist frei.« Sie beugte sich zu ihm herab. Ihre Lippen waren so nah an seinem Ohr, dass er ihren Atem spüren konnte. Ein Schauer lief über seinen Rücken. Ihre Stimme war sanft wie die Frühlingssonne an einem friedvollen Tag. Er hätte ihr ewig lauschen mögen. So leise sie sprach, so sehr ließ sie ihn doch das Getöse des Drachen vergessen. »Du kannst tun, was du tun willst, Drago«, sagte sie. »Und du kannst tun, was du tun musst.«
Wie gerne hätte er ihr geglaubt. Doch er schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht«, erwiderte er tonlos. »Die Magier werden mich verfolgen. Nun, da Sie hier sind, Contessa, weiß ich, dass sie mich sogar schon gefunden haben.« Er lächelte wehmütig. »Sie werden sich rächen, weil ich ihre Pläne durchkreuzt habe. Was soll ich wollen, was soll ich müssen. Alles, was ich angefasst habe, habe ich zerstört. Ich bin ein Fluch für meine Familie. Wozu soll ich noch nütze sein. Nein. Mein Leben ist zu Ende, Contessa.«
Die elegante junge Frau setzte sich neben ihn und legte ihm den Arm um die Schulter. »Aber Drago, hast du nicht verstanden, dass alles, was dir widerfahren ist, Teil eines großen Plans war? Du konntest dich diesem Plan nicht entziehen und du konntest ihn nicht ändern. Nichts, wofür du dich verantwortlich fühlst, ist deine Schuld.«
Drago schloss die Augen und versuchte, sich ganz auf die warme Nähe der Contessa zu konzentrieren. Er roch ihren Blütenduft, spürte, dass auch sie zitterte. »Wie gern ich Ihnen glauben würde, Contessa«, flüsterte er.
»Du solltest mir glauben, Drago. Denn im Augenblick gibt es niemanden außer mir, dem du vertrauen kannst.«
Er hob den Blick und sah sie fragend an. In ihren grünen Augen spiegelte sich sein eigenes Gesicht wider. »Sie wissen nicht, wo du bist«, versicherte sie ihm. »Nur ich weiß es. Und die Wächter des Wissens. Aber die sind zu ewigem Schweigen verurteilt.«
»Woher …«
»Frag nicht.« Sie schüttelte leicht den Kopf und Drago hielt den Atem an, als eine Locke sich löste und ihr über die Schläfe fiel. Wie gerne hätte er sie berührt, hätte diese Strähne wieder zurückgeschoben, in der Hoffnung, dass sie erneut herabfiel … Doch das wagte er nicht. Niemals würde er es wagen. Die Contessa mochte jung sein, womöglich nur zwei oder drei Jahre älter als er, es war ja nichts Ungewöhnliches, dass ältere Männer aus der feinen Gesellschaft ganz junge Frauen heirateten. Doch auch wenn sie eine arme Dienstmagd gewesen wäre, Drago hätte sich kaum überwunden. Es war überhaupt das erste Mal, dass er eine Frau als Frau schön fand. Die Contessa lächelte, als sei sie seinen wirren Gedanken gefolgt. »Frag nicht«, wiederholte sie und schloss kurz die Augen. Dann sah sie wieder aufs Meer hinaus und erklärte: »Der Conte ist verschwunden. Seit der Befreiung des Drachen hat ihn niemand mehr gesehen.«
»Das tut mir leid«, log Drago, weil er das Gefühl hatte, er müsste etwas Tröstendes zu ihr sagen.
»Das muss es nicht. Ich liebe den Conte nicht. Ich habe ihn nie geliebt. Dass ich seine Frau geworden bin, hat andere Gründe – und es ist eine lange Geschichte.« Sie atmete tief durch. »Jedenfalls bedeutet das, dass niemand weiß, dass dein Bann gebrochen ist.«
Einen Augenblick musste Drago über ihre Worte nachdenken. Doch es stimmte: Der Conte hatte ihn durch seinen Willen gebannt. Er hatte ihm die Uhr geschenkt, die er täglich zur Mittagsstunde und um Mitternacht aufziehen musste, damit sein Wunsch erfüllt werde. Solange Drago dieser Pflicht nachgekommen war, war alles gut gewesen: Seine Mutter hatte gelebt. Niemand außer dem Conte hatte den Bann gekannt. Und den Wunsch hatte selbst der Conte nicht gekannt. Das bedeutete, dass, wenn er sich wieder unter die Magier mischen würde, niemand wüsste, dass er frei war – wenn auch um den Preis, dass seine Mutter gestorben war. Doch: »Wozu?« Er sah die Contessa fragend an. »Wozu soll das gut sein?«
»Wenn sie es wüssten, würden sie dich für das Verschwinden des Conte verantwortlich machen, und du müsstest dein Leben in Furcht verbringen. Es wäre ein kurzes Leben.« Sie sah ihn ernst an. »Du aber kannst deinen Weg weitergehen und dafür sorgen, dass alles ein gutes Ende nimmt.«
»Alles? Das kann es gar nicht.« Drago schüttelte den Kopf und biss sich auf die Lippen. Seine Mutter würde er nicht wieder lebendig machen können. Das war auch mit größter Magie nicht möglich.
»Doch, du kannst es. Alles, was du dazu brauchst, ist Magie.«
»Aber ich beherrsche keine Magie. Scarfazzo, der Conte, hat mich gelehrt, wo Magie existiert, was Magie bewirkt und vieles mehr. Aber wie man sie anwendet, das habe ich nicht erfahren. Und es bräuchte Jahre, um … ja, um was zu tun? Ich wüsste nicht, was meine Aufgabe sein soll.«
»Du weiß es nicht? Ist dir nicht klar geworden, dass die Welt von den Schwarzmagiern befreit werden muss? Dass die Magie wieder eine freie Kunst sein muss, die jedem offen steht? Scarfazzo hat Jahrhunderte lang alles magische Wissen gesammelt und alle Quellen gefälscht. Es gibt kaum mehr Zauberbücher auf dieser Welt, die nicht von seinen Helfern in der Accademia umgeschrieben wurden, damit niemand außer ihm und seinen Kreisen noch wahre Magie anwenden kann.«
»Und ausgerechnet ich soll etwas dagegen unternehmen?
Warum?«
»Weil du allein es schaffen kannst. Du hast es bewiesen.« Sie wies mit ihrer zarten, schmalen Hand hinaus auf die Lagune »Sieh nur, dir allein ist es gelungen, einen Drachen zu befreien. Niemand sonst konnte Scarfazzos Bande bisher davon abhalten, diese wundervollen Geschöpfe zu unterwerfen und sie ihrer Kräfte zu berauben. Überall in Venedig gleiten sie als schwarze Gondeln an uns vorbei, Drachenboote, stumm, starr, ins Wasser gezwungen durch einen Bannfluch aus den dunkelsten Winkeln schwarzer Magie.«
Drago fühlte sich elend. Der Drachensturm, die betörende Anwesenheit der Contessa, die beschwörenden Worte, mit denen sie alles, was ihm in den letzten Tagen durch den Kopf gegangen war, ins Gegenteil verkehrte, all das ließ ihn schwindeln. Wie ein Stein legte sich ihre Aufforderung auf seine Seele. Was sollte er tun? Glauben, was sie sagte? Und wenn er es glaubte: Womit sollte er den Magiern entgegentreten?
»Wenn du wissen willst, wo du den Schlüssel zu wahrer Magie findest, bedenke, wo du die falsche Magie entdeckt hast«, flüsterte die Contessa mit ihrem süßen Atem in sein Ohr. Er schloss die Augen, schluckte, atmete durch und wandte sich ihr zu – doch so unbemerkt und plötzlich, wie sie gekommen war, war sie auch wieder verschwunden. Nur der Wind trug noch ihren Duft mit sich, während das Gewitter über Venedig endlich schwächer wurde und der Himmel wieder heller. Dort, wo sie gestanden hatte aber, war der Abdruck eines ihrer Füße zurückgeblieben.
Das Rätsel der Contessa
Wenn du wissen willst, wo du den Schlüssel zu wahrer Magie findest, bedenke, wo du die falsche Magie entdeckt hast. Diese Worte gingen Drago wieder und wieder durch den Kopf. Er konnte die Stimme der Contessa hören, spürte ihren Arm, der auf seiner Schulter gelegen hatte, als sie das sagte, sah ihre Lippen vor sich, rot, verwirrend und wunderschön. Doch das Rätsel wollte sich nicht lösen. Vielmehr schien es sich in seinem Kopf immer mehr zu verknoten. Mühsam richtete er sich auf. Nach drei Tagen und Nächten, die er auf der Plattform verbracht hatte, schmerzten seine Glieder, als wäre er ein alter Mann. Ihm war schwindlig, sodass er sich an der alten Seilwinde festhalten musste, um nicht in die Tiefe zu stürzen. Alles Blut schien aus seinen Beinen gewichen. Er atmete schwer. Vorsichtig blickte er hinab in die Calle dei Crociferi. Doch von der zarten Gestalt der Contessa war nichts mehr zu sehen. War sie überhaupt auf natürlichem Weg an diesen Ort gekommen? Vielleicht war sie ja selbst Magierin. Immerhin war sie die Frau des größten und dunkelsten Magiers der Welt. Und sie machte sich Gedanken über die Magie! Wenn du wissen willst, wo du den Schlüssel zu wahrer Magie findest, bedenke, wo du die falsche Magie entdeckt hast.
Es würde Drago nichts übrig bleiben, als die Orte aufzusuchen, an denen er in den letzten Monaten gewesen war, in der Zeit, seit er den geheimnisvollen Hannibal Rabe kennen gelernt hatte, der auf seiner Suche nach den Drachen spurlos verschwunden war und damit alles in Gefahr gebracht hatte, was Drago lieb und teuer war.
Erste Sonnenstrahlen brachen durch die dunklen Wolken. Nach der langen Nacht konnte Drago kaum mehr die Augen offen halten, so geblendet war er. Das Licht erinnerte ihn daran, wie der Drache in die Freiheit entkommen war: Aus einer Gruft in der Kirche San Giorgio della Fiamma war er in die Luft emporgestiegen und dann in einem gleißenden Schein durch das große Portal nach draußen geschossen. Erstaunlicherweise war die Grabplatte, die ihm als Tür in diese Welt gedient hatte, bei weitem nicht groß genug für etwas so Riesiges wie einen Drachen, der beinahe den ganzen Kirchenraum ausfüllte. Und doch war das Geschöpf eindeutig dieser Gruft entsprungen. Ob die Contessa diesen Ort meinte, an dem Drago die falsche Magie entdeckt hatte? Wohl kaum. Denn der Drache war ein magisches Geschöpf, er war echt, da war nichts Falsches im Spiel.
Ohne so recht zu wissen, warum, fand Drago sich mit einem Mal in den dunklen Gassen der Stadt wieder. Ziellos trieb es ihn an den Kanälen entlang, über die Brücken und Plätze. Überall sah er schwarze Gondeln, die lautlos übers Wasser glitten oder in schattigen Winkeln vertäut lagen. Und sie alle sollten Drachen sein? Überall in Venedig gleiten sie als schwarze Gondeln an uns vorbei, Drachenboote, stumm, starr, ins Wasser gezwungen durch einen Bannfluch aus den dunkelsten Winkeln schwarzer Magie, hatte die Contessa gesagt.
Drago schüttelte den Kopf. Nein, das konnte nicht sein. Gondeln waren ganz normale Boote, von Gondelbauern kunstvoll geschaffen, von Gondolieri würdevoll durch die Kanäle gesteuert, von Kennern ehrfurchtsvoll bewundert und von Passagieren genussvoll benutzt. Da war nichts Magisches außer der Eleganz, der Leichtigkeit und der Melancholie dieser Boote … Drago blieb stehen und ließ den Blick über ein besonders schönes Exemplar gleiten, das unter einer Brücke auf dem Rio dei Santa Apostoli hindurchglitt. Auf dem Bug stand ein Gondoliere in traditioneller Tracht, einen Strohhut auf dem Kopf. Er summte ein Lied, das Drago schon einmal irgendwo gehört hatte, und stieß mit seinem langen Stab hinab auf den dunklen Grund der Lagune. Vor Dragos Auge erstand das Bild, wie mehrere Männer sich in der Gondelwerft des berühmten Signor Tremonti über ein riesiges schwarzes Wesen beugten, das sich auf dem Boden wand. Und kein anderer als Conte Rubio di Scarfazzo stand am Kopfende und stieß mit einem langen, dunklen Stab auf das Tier herab, drückte es nieder, bis sein Widerstand gebrochen war. Und dann? Was war dann mit diesem seltsamen Geschöpf geschehen? Hatte Signor Tremonti es durch schwarze Magie in eine Gondel verwandelt? Drago erinnerte sich daran, was er über Drachenboote gelesen hatte. Sie hatten einst die Wikinger so mächtig gemacht, dass das räuberische Volk die ganze damals bekannte Welt überwältigen konnte. Hatte Scarfazzo Ähnliches vor? Wollte auch er eine Weltmacht errichten, indem er die gewaltigen magischen Kräfte der Drachen für seine Zwecke einsetzte?
Plötzlich erschien ihm das, was die Contessa gesagt hatte, gar nicht mehr so unwahrscheinlich. Eine Stadt, in der die Zeit still stand, in der ein Kreis von dunklen Magiern sein Unwesen trieb, in der Menschen verschwanden und Drachen auftauchten, eine solche Stadt konnte auch der Ort sein, an dem sich das Schicksal der Welt entschied. Und er, Drago, sollte seinen Teil dazu beitragen. Er sollte gegen Scarfazzo kämpfen, den Mann, der alles magische Wissen dieser Welt für sich behielt und für die anderen zerstörte, indem er Dutzende von Schreibern im Keller der Accademia Bücher fälschen ließ. Wie aber sollte er ohne Magie diesen mächtigen Schwarzmagier besiegen? Er müsste in den Besitz von unverfälschten Zauberbüchern kommen, müsste sich alles Wissen aneignen und vermutlich jahrelang zaubern lernen, ehe er sich gegen Scarfazzo würde behaupten können. Plötzlich fiel es Drago ein! Die Accademia. Natürlich, dort hatte er die falsche Magie entdeckt – er hatte sogar selbst dazu beigetragen! Seine Feder hatte im Auftrag Scarfazzos die Zauberbücher der Accademia verändert. Dort also musste er suchen, um den Schlüssel zu wahrer Magie zu finden. Und es gab zwei Wege, um in die Accademia zu gelangen.
Das Kabinett der Magie
Der Palazzo Rubio lag düster über den stillen Wassern des Rio Malatin. Schwer und traurig hingen die dunkelgrünen Vorhänge hinter den Fenstern, aus denen trotz der Dämmerung dieses frühen Winterabends kein Licht drang. Es schien, als sei mit dem Conte auch das Leben aus dem alten Gebäude verschwunden. Aber natürlich durfte Drago nicht wissen, dass Scarfazzo weg war, seit dem Drachen der Ausbruch in die Freiheit gelungen war. Also setzte er eine unbekümmerte Miene auf, als er einen der Lakaien, die sich neben der Tür an der Vorderseite des Palazzo in ihre grauen Mäntel hüllten, fragte: »Ist der Conte zu Hause?«
Bisher waren ihm die Bediensteten Scarfazzos mit Wohlwollen begegnet – wenn man von Cerbero, dem Leibdiener des Conte, absah. Jetzt aber musterte ihn ein feindseliges Auge, das unter dem breitkrempigen Hut hervorlugte. »Er ist nicht zu sprechen«, raunte der Lakai und verfiel wieder in Schweigen.
»Und die Contessa?«, fiel es Drago ein. Natürlich konnte er auch nach ihr fragen oder nach einem Mitglied von Scarfazzos Anhängerschaft, die sich gerne im Palazzo aufhielten.
»Nicht zu Hause«, murmelte der Lakai.
»Signor d’Alengo? Oder Signor Tutticelli?« Der Diener sagte nichts.
»Cerbero!«
Eine knappe Bewegung des Kopfes hieß Drago einzutreten. Er atmete auf. Niemals vorher war er mit so viel Argwohn bedacht worden. Offensichtlich war etwas geschehen – und offensichtlich hatte man Angst, den falschen Menschen Zutritt zum Palazzo zu gewähren.
»Ich hätte nicht erwartet, dich noch einmal hier zu sehen«, sagte eine Stimme oben auf der Treppe, eine Stimme, die vor Missgunst und Feindseligkeit troff.
»Ich komme zum Conte.«
»Er ist nicht zu sprechen.«
»Dann warte ich.«
»Es kann dauern.«
»Ich habe Zeit.«
Wortlos drehte Cerbero sich um und bewegte seine gekrümmte Gestalt auf die Galerie, die im ersten Stock um die Eingangshalle herumreichte, sodass er in Dragos Rücken zu stehen kam. »Und was willst du von ihm?«
»Ich lerne bei ihm, das weißt du doch, Cerbero. Was ist los?
Warum benehmen sich alle so seltsam?«
Der zwergenhafte Diener beugte sich vor und legte seine krallenartige Hand auf die Balustrade. »Du weißt von nichts, was?«
»Wovon soll ich wissen«, gab sich Drago ahnungslos und versuchte, dem Scheusal so offen in die Augen zu blicken wie nur irgend möglich.
»Davon, dass …« Cerbero hielt inne und glotzte mit schiefem Grinsen auf Drago herab. »Egal«, sagte er dann. »Sag mir, was du in der Kirche zu suchen hattest?«
»In welcher Kirche?« Drago wusste natürlich, was der Diener meinte. Cerbero hatte ihn entdeckt, als er der Befreiung des Drachen zugesehen hatte.
»San Giorgio della Fiamma.«
»Oh! Ich erinnere mich!«, rief Drago. »Das heißt, ich erinnere mich eigentlich nicht. Alles, woran ich mich erinnere, ist, dass mich jemand ohnmächtig auf den Stufen vor der Kirche gefunden hat.«
»Soso. Und du erinnerst dich an nichts.« Plötzlich stand Cerbero vor Drago, so nah, dass der seinen fauligen Atem riechen konnte, und starrte mit einem Auge in sein Gesicht, während das andere merkwürdig teilnahmslos zur Tür hin glotzte. Drago hielt den Atem an. Die Nähe des Scheusals machte ihn schwindlig. »Tut mir leid«, sagte er dann. »Woran sollte ich mich denn erinnern?«
Doch Cerbero wandte sich ab. Er schien nicht ganz überzeugt, dass Drago die Wahrheit sprach. Dennoch sagte er: »Nichts. Du musst dich an nichts erinnern.« Er hielt inne. Ein Lächeln flackerte in seiner Fratze auf. Mit einem Ruck drehte er sich um und fragte: »Wie spät ist es?«
Drago nahm die kleine silberne Uhr zur Hand, die ihm der Conte zum Beginn seiner Lehrzeit geschenkt hatte. Verfluchte Uhr! »Es ist kurz nach vier Uhr nachmittags.«
Cerberos Lächeln war verflogen. Aber auch seine Zweifel schienen sich gelegt zu haben. Er schritt um Drago herum, als wollte er seine Witterung aufnehmen. Dämonen können die Aura eines Menschen spüren!, schoss es Drago durch den Kopf. Sie erkennen Magie! – Und offenbar stellte Cerbero fest, dass da keine Magie war: Drago war ein Mensch. Im Gegensatz zu dem Diener, der ein Dämon war und nur deshalb unter Menschen lebte und vor allem Menschen diente, weil er im Bann des mächtigen Magiers Rubio di Scarfazzo stand. Lediglich der Körper, in dem er lebte, gehörte einem Menschen. Drago schauderte. Hatte Cerbero prüfen wollen, ob ein anderer Dämon von Drago Besitz ergriffen hatte? Oder ob es Drago in den letzten Tagen gelungen war, sich magische Kräfte anzueignen? »Wo bist du gewesen?«, fragte der Diener, als hätte er Dragos Gedanken gelesen.
»Ich, ich …«, stotterte Drago. »Ich war krank. Ich hatte Fieber.«
Cerbero wandte sich ab, ein spöttisches Lächeln auf den Lippen. Fieber! Wie lächerlich solche Alltagskrankheiten für einen echten Dämon sein mussten.
»Wann wird der Conte wieder zu sprechen sein?«, versuchte es Drago.
»Das weiß ich nicht. So lange wirst du mit mir Vorlieb nehmen.« Der Zwerg bedeutete ihm, ihm zu folgen. Er ging voran durch die langen, düsteren Gänge des Palazzo, stieg einige Treppen hinauf und durchquerte eine Reihe von Zimmerfluchten, gefolgt von Drago, der überrascht war, immer neue Winkel dieses alten Gebäudes zu entdecken, die er noch nicht kannte, obwohl er als Scarfazzos Schüler Monate lang hier ein und aus gegangen war.
Endlich kamen sie bei der Bibliothek an. Cerbero murmelte eine unverständliche Formel, zeichnete mit den krummen Fingern geisterhaft etwas auf die Tür und schloss dann den wunderbaren achteckigen Raum auf. Drago hieß er in der Tür stehen zu bleiben. Dennoch konnte Drago erkennen, dass der Schrein an der hinteren Wand des Raumes geöffnet war und dass eine der Uhren, die sonst in dem Schrein hingen, fehlte: Es war die Uhr von Hannibal Rabe, jenem Gelehrten und Magier, dessen Diener Drago für einige Tage gewesen war – Tage, die sein Leben verändert hatten.
Der Dämon sah Dragos Blick und winkte in Richtung des Schreins, der sich daraufhin wie durch Geisterhand schloss und so den Kreis der silbernen Taschenuhren wieder verbarg.
»Hier.« Er hielt Drago ein Buch hin. »Lies das bis morgen. Ich erwarte dich um zehn Uhr in der Calle dei Crociferi. Am Kloster.«
Die Calle dei Crociferi! Am Kloster! Das war genau gegenüber dem Haus, in dem Dragos Familie lebte. Bisher hatte er es immer sorgfältig vermieden, jemanden wissen zu lassen, wo er wohnte. Zu gefährlich waren diese Kreise, als dass er ihnen hätte anvertrauen wollen, wo die Familie Flaba lebte. Aber würde er das nun verbergen können, wenn er Cerbero ausgerechnet dort traf? Oder wusste der Zwerg es längst und wollte ihn gerade deshalb dort treffen?
Drago warf noch einmal einen Blick in die magische Bibliothek des Conte, jene auf seltsame Weise schimmernde Kammer, in der sich in dunklen Regalen bis unter die Decke die wertvollsten Bücher über Zauberei befanden, die man auf dieser Welt finden konnte. Würde er jemals hierherkommen und selbst ein Werk auswählen dürfen? Was für großartige Bücher es hier geben musste! Werke über die Verwandlung in andere Wesen, Werke über magische Tränke und ihre Zubereitung, über Bannflüche und ihre Abwehr, die Beschwörung der Elemente, Bücher, die denjenigen, der sie gelesen hatte, mit ungeheuren Kräften ausstatteten, die es ihm ermöglichten, Dinge zu tun, die kein Mensch sonst zu tun vermochte … Wie gerne hätte Drago einmal eines dieser Bücher frei wählen wollen. Doch stets war ihm nur ein Band gegeben worden, der ihn mit Wissen über Zauberei bekannt machte, aber nicht mit dem Wissen um die Zauberkunst. Alles wahrhaft Magische hatte ihm der Conte vorenthalten. Und Cerbero, sein Diener, tat es ihm offenbar gleich. Drago nickte und seufzte innerlich, während er das Buch aufschlug und auf der ersten Seite las: Die magischen Orte Venedigs.
Schlagartig wurde ihm klar, dass dies ein Werk war, das
ihn wirklich mit Magie bekannt machen konnte! Die magischen Orte dieser an Magie reichen Stadt kennen zu lernen bedeutete, endlich wirklichem Zauber nahe zu kommen. Magische Orte, das waren Orte, die Magier aufsuchten, um ihren Zauber zu verstärken, um die Kraft der Elemente zu nutzen. Denn selbst ein Meister dieser Kunst konnte allein mit seinem Willen nur bescheidene Ergebnisse erzielen. Wer Großes ins Werk setzen wollte, der musste sich die Macht magischer Orte oder Geschöpfe aneignen – oder beides.
Sacht ließ Drago die Luft aus seinen Lungen. Er wollte sich nicht anmerken lassen, wie spannend er das Buch fand, das Cerbero ihm gegeben hatte. Doch er hatte den Eindruck, dass dieser es ganz genau wusste. Also nickte Drago und murmelte: »In Ordnung. Ich komme dann morgen um zehn Uhr in die Calle dei Crociferi.«
Fern von Gott
Es war ein eisiger Morgen. Obwohl es über der Lagune völlig windstill war, kroch den Bewohnern Venedigs die Kälte unter die Kleider. Wie durch Wolken glitt das Boot des alten Svanko über das seichte Wasser zwischen der Hauptinsel der Stadt und San Michele, der Toteninsel, auf der auch das Grab seiner Frau lag: Dragos Mutter. Der Bootsmann schwieg und Drago schwieg mit ihm. Wenn sie morgens hinüberfuhren, dann begleiteten sie bittere Erinnerungen – und sie machten sich gegenseitig unausgesprochen Vorwürfe, schuld zu sein an ihrem Tod.
Mira Flaba lag in einem schmalen Grab im Schatten einer hohen Zypresse. Es war ein Platz, der ihr gefallen hätte. Neben ihrer letzten Ruhestätte stand eine verwitterte, alte Gruft, in der vermutlich lange schon niemand mehr begraben lag. Die eiserne Pforte hing schief in ihren Angeln, faustgroße Stücke des einst weißen Marmors waren abgebrochen und im umliegenden Grund halb versunken. Durch einen schmalen Spalt in der Friedhofsmauer, die gleichzeitig die gesamte Insel vor Sturm schützte, konnte man hinübersehen nach der Hauptinsel, sah den Cannareggio und dort sogar das Haus in der Calle dei Crociferi, in dem sie, wenn auch ärmlich, bis vor kurzem noch glücklich vereint gelebt hatten, und in dem nun nur noch ein unglücklicher Rest der Familie hauste: Drago und seine Schwester Luzia und manchmal der Vater, der aber immer häufiger betrunken an einem der vielen Bootsanleger schlief, als warte er nur darauf, dass ihn einmal eine Welle wegspülte von dieser Stadt, die so viel Unglück über die Familie gebracht hatte, weg auch aus dem Suff und aus dem Leben, an dem er keine Freude mehr empfinden konnte. Die kleine Livia war noch von der Mutter in die Obhut einer Pflegefamilie gegeben worden, als diese zu krank gewesen war, sich richtig um sie zu kümmern. Drago wusste nicht, wo sie war. Aber er wusste, dass er sie finden und zu sich nehmen würde, sobald er es sich leisten konnte. Er würde für seine Familie sorgen – wenn er dieses Abenteuer unbeschadet überstand.
Wann immer er am Grab seiner Mutter stand, blickte er durch den Spalt in der Mauer hinüber auf die große Insel. Und es war ihm, als könne er sich selbst dort sitzen sehen und sein eigenes Schicksal betrachten. Ob er wohl jemals ein großer Magier würde? Er dachte an das Mysterium der Zauberei: Wort und Wille und Zeit mussten sich im Wirken eines Magiers verbinden, um die Wirklichkeit nach seinem Wunsch zu verändern. Wenn er die Zeit überwinden könnte, könnte er dann nicht den Tod der Mutter ungeschehen machen? Er musste herausfinden, was wirklich in den Zauberbüchern stand! Er musste mehr von den Originalen in Rubios Bibliothek in die Hände bekommen. Und er musste endlich wieder in die Accademia.
Als sie mit dem Boot an den Fondamenta Nuove angelegt hatten, beeilte sich Drago, zur Kammer der Familie auf dem Speicher des alten Lagerhauses in der Calle dei Crociferi hinaufzusteigen. Hinter dem Balken, auf dem er seinen Schlafplatz hatte, hatte er das Buch versteckt, das Cerbero ihm gestern gegeben hatte. Es war mehrere hundert Seiten dick. Und doch hatte er es schon kurz nach Mitternacht durchgehabt. Die magischen Orte Venedigs – der Titel hatte mehr versprochen, als das Buch zu halten schien. Und doch standen einige Dinge darin, die Drago so erstaunlich wie wahrscheinlich vorgekommen waren. Hatte er nicht selbst schon häufig ein seltsames Gefühl gehabt, wenn er nachts zwischen den zwei Säulen auf dem Markusplatz hindurchgegangen war, wenn er die Friedhofsinsel San Michele angesteuert hatte oder wenn er seinen Fuß auf die alte Brücke nahe Santa Maria Zobenigo gesetzt hatte? Ja, selbst der Palazzo Rubio schien von Magie umgeben. Und tatsächlich wurde auch dieser Ort in dem Buch als magischer Ort erwähnt, wenngleich seltsamerweise nicht von einem prächtigen Palazzo die Rede war, sondern von einer alten Kirche, die einst an dessen Stelle gestanden haben sollte. Drago versuchte sich zu erinnern, was er in Hannibal Rabes Büchern über den Palazzo Rubio gelesen hatte. Doch es wollte ihm nicht mehr einfallen, war wie weggeblasen.
Warum hatte Cerbero ihm ein solches Buch gegeben? Wusste er nicht, dass die Kräfte magischer Orte Drago womöglich selbst die Macht verleihen konnten zu zaubern? Doch. Das wusste Cerbero natürlich. Nichts Magisches war ihm fremd, war er doch als Dämon selbst ein magisches Wesen.