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Zwei Brüder planen einen Milliardencoup – ihr Einsatz: das Leben.
Mike Ford, unabhängiger Berater und Anwalt, steht kurz vor seiner Hochzeit mit Annie Clark, Tochter aus bestem Hause. Weil er einen Trauzeugen braucht, nimmt Mike zum ersten Mal nach Jahren wieder Kontakt zu seinem Bruder Jack auf. Anders als Mike, der seine kriminelle Vergangenheit hinter sich gelassen hat, hält Jack sich nach wie vor mit schmutzigen Geschäften über Wasser. Als Jack deshalb in Schwierigkeiten gerät, wird Mike von den Auftraggebern seines Bruders erpresst. Mike soll die aktuelle Direktive der US-Notenbank beschaffen, die den amerikanischen Leitzins regelt, und zwar bevor diese an die Öffentlichkeit gelangt. Wer im Besitz dieser Insiderinformationen ist, kann mit Milliardengewinnen an der Börse rechnen. Beschafft Mike diese Direktive nicht, stirbt Annie. So planen die Ford-Brüder den größten Coup ihres Lebens: einen Einbruch in die New Yorker Zentralbank.
Ein packender, penibel recherchierter Thriller um ein tödliches Katz-und-Maus-Spiel.
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Seitenzahl: 456
Mike Ford, unabhängiger Berater und Anwalt, steht kurz vor seiner Hochzeit mit Annie Clark, Tochter aus bestem Hause. Weil er einen Trauzeugen braucht, nimmt Mike zum ersten Mal nach Jahren wieder Kontakt zu seinem Bruder Jack auf. Anders als Mike, der seine kriminelle Vergangenheit hinter sich gelassen hat, hält Jack sich nach wie vor mit schmutzigen Geschäften über Wasser. Als Jack deshalb in Schwierigkeiten gerät, wird Mike von den Auftraggebern seines Bruders erpresst. Mike soll die aktuelle Direktive der US-Notenbank beschaffen, die den amerikanischen Leitzins regelt, und zwar bevor diese an die Öffentlichkeit gelangt. Wer im Besitz dieser Informationen ist, kann mit Milliardengewinnen an der Börse rechnen. Beschafft Mike diese Direktive nicht, stirbt Annie. So planen die Ford-Brüder den größten Coup ihres Lebens: einen Einbruch in die New Yorker Zentralbank.
Ein packender, penibel recherchierter Thriller um ein tödliches Katz-und-Maus-Spiel.
Matthew Quirk ist in New Jersey aufgewachsen und hat in Harvard studiert. Anschließend arbeitete er jahrelang als investigativer Journalist für »The Atlantic«. Seit Debüt Die 500, der erste Roman mit dem Protagonisten Mike Ford, erschien 2012 bei Blessing. Matthew Quirk lebt in Washington D. C.
MATTHEW QUIRK
Die
DIREKTIVE
THRILLER
BLESSING
Originaltitel: The Directive
Originalverlag: Little, Brown and Company, New York
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Copyright © 2014 by Matthew Quirk
Copyright © 2016 by Karl Blessing Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design
unter Verwendung von shutterstock/Dean Drobot und thinkstock/istock/gkuchera
Satz: Leingärtner, Nabburg
e-ISBN: 978-3-641-10230-2V001
www.blessing-verlag.de
Für Ellen
Die Polizisten kamen näher. Ich spürte, wie sein Blut auf meiner Haut zu Schuppen trocknete. Sie würden mich für den Täter halten. Sollte ich die Hände hochnehmen und mich stellen? Sollte ich mein Leben jenen Gesetzen anvertrauen, die zu befolgen ich geschworen hatte? Jenen Gesetzen, die meine Familie zerstört hatten?
Oder lieferte ich mich den Mördern aus, die in dem schwarzen Auto neben mir warteten? Es war die einzige Möglichkeit zu entkommen. Die Hintertür des Wagens öffnete sich. Ich war unschuldig, doch ich wusste, dass es nun auf die Wahrheit nicht mehr ankam.
Eine Hand streckte sich mir entgegen.
Der einzige Ausweg war die Flucht nach vorn.
Ich stieg in den Wagen.
1
VIER TAGE ZUVOR
Setze niemals auf das Spiel eines anderen. Diese einfache Regel hat mir mein Vater beigebracht. Wie kam ich also dazu, mit zwölfhundert Dollar in der Tasche durch eine Seitenstraße in Manhattan direkt auf eine zwielichtige Taschenspielergang zuzumarschieren, die aussah, als hätte sie heute mal eine Pause von den üblichen Messerstechereien gemacht, um eine Runde Karten zu spielen?
Keine Ahnung. Wäre ich bei klarem Verstand gewesen, hätte ich wahrscheinlich die acht Stunden dafür verantwortlich gemacht, die ich heute, flankiert von meiner Verlobten Annie und meiner zukünftigen Schwiegeroma, mit der Begutachtung verschiedener Geschirrservice zugebracht hatte.
Bergdorf Goodman verfügt über einen kleinen Verkaufsraum – die sogenannte Verlobungssuite –, in der man von einem Verkäufer in einem Dreiteiler und seiner Eskorte aus mehreren attraktiven Damen so lange Luxusartikel vorgeführt bekommt, bis man irgendwann tausendfünfhundert Dollar für einen Wasserkrug für durchaus angemessen hält.
Annies Mutter war bereits vor vielen Jahren verstorben. Daher hatte ihre Großmutter Vanessa die Aufgabe übernommen, die Hochzeitsvorbereitungen zu leiten. Der Verkäufer mit dem fast unmerklichen argentinischen Akzent zeigte uns Teller, Messer, Gabeln, Unterteller, Teetassen und Schüsseln in allen erdenklichen Variationen.
Annie interessierte sich nicht besonders für materielle Dinge – das hatte sie auch nie nötig gehabt –, aber mir entging nicht, dass ihre Großmutter unermüdlich darauf pochte, dem guten Namen der Familie Clark und den damit verbundenen Erwartungen gerecht zu werden.
Aus vier Stunden wurden fünf. Dies war erst das zweite Geschäft, das wir an diesem Tag aufsuchten.
»Mike?«, fragte Annie. Sie und ihre Großmutter starrten mich an. Der Verkäufer und sein Harem runzelten hinter ihnen die Stirn wie Geschworene im Gerichtssaal. Ich war mit den Gedanken ganz woanders gewesen.
»Was meinst du?«, fragte Vanessa. »Flache Tassen oder welche mit Fuß?«
»Oh, ich bin eher für die unkomplizierte Variante.«
Vanessa schenkte mir ein Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte. »Das wundert mich nicht. Diese hier sind raffinierter, die anderen etwas … eleganter, findest du nicht?«
Annie sah mich an. Ich würde alles tun, um sie glücklich zu machen, aber nachdem sie mich vier Tage lang von einem überteuerten Laden New Yorks in den nächsten gezerrt hatten, verließen mich allmählich die Kräfte.
»Ganz genau«, sagte ich.
Annie wirkte besorgt, Vanessa verärgert.
»Welche denn nun?«, wollte ihre Großmutter wissen. »Das war eine Frage.«
Vor ein paar Jahren hatte Annies Vater seine blutrünstigen Schäferhunde auf mich gehetzt. Inzwischen fand ich ihn im Vergleich zu Vanessa richtig sympathisch.
Annie sah erst ihre Großmutter und dann mich an. »Mike?«
Der Argentinier spielte mit seiner Uhrenkette. Vanessa drehte die Damastserviette in ihren Händen so fest wie eine Garrotte zusammen. Meine Augen waren vom endlosen Starren und der übertrieben hellen Beleuchtung der Warenhäuser derart trocken, dass ich glaubte, meine Lider beim Schließen über die Augäpfel kratzen zu hören.
Einfach auszuflippen und beispielsweise den Tisch mit einer energischen Armbewegung leer zu räumen wirkte zunehmend verführerisch, wäre aber nicht unbedingt ein schlauer Schachzug gewesen.
Ich stand auf und schnalzte mit der Zunge. »Verzeihung«, sagte ich. »Würdet ihr mich entschuldigen? Mir ist eingefallen, dass ich vor Geschäftsschluss noch meinen Vermögensberater anrufen muss.«
Es war eine Lüge, aber eine effektive. Wenn Annies Familie irgendetwas heilig war, dann Geld. So konnte ich mich gefahrlos abseilen.
Ich eilte auf den Ausgang zu. Der Argentinier winkte mich zu sich – vielleicht hatten sie ja eine kleine Notaufnahme für entnervte Verlobte mit blutigen Steaks und Sportfernsehen eingerichtet –, doch ich brauchte frische Luft und die Straßen New Yorks.
2
Auf dem Weg zu Bergdorf’s – zwischen den marmornen Verkaufsräumen der Fifth Avenue und dem Mittelschichtsvergnügungspark, den der Times Square inzwischen darstellte – hatte ich beobachtet, wie in einer mit Müll zugestellten Seitenstraße Three Card Monte gespielt wurde.
Zwischen den Menschenmassen, die sich auf den Bürgersteigen drängten, waren jede Menge Ganoven und Betrüger unterwegs. Taschendiebe plünderten die Menge, die sich um einen chinesischen Porträtzeichner versammelt hatte. Auf der anderen Straßenseite hielten ein paar Möchtegernrapper Passanten an, schrieben ihre Namen auf zehn Dollar teure CDs und brachten sie dann mithilfe einiger unverhohlener Drohungen an den Mann. Nachdem ich stundenlang tadellose Manieren an den Tag gelegt und klimatisierte Luft geatmet hatte, taten mir der Lärm und die Kleinkriminalität um mich herum richtig gut.
Ziellos schlenderte ich durch die Straßen und fand mich irgendwann vor den Kartenspielern wieder, die ich zuvor beobachtet hatte. Überrascht bemerkte ich, dass sie immer noch zugange waren. Sie hatten ihr Geschäft lediglich ans andere Ende der Straße verlagert.
Der Geber war ein schmächtiger Weißer, der die drei Spielkarten mit einer zähen, verzweifelten Ausdauer hin und her schob. Er hatte sich eine übergroße Yankees-Kappe tief in die Stirn gezogen, und seine Jeans hing ihm bis über den halben Hintern herunter.
Als Tisch dienten ihm drei aufeinandergestapelte, mit einer Zeitungsseite bedeckte Getränkekisten. Sein Mundwerk war so flink wie seine Hände. »Die Zwei verliert, das Ass gewinnt.«
Er warf mir einen Blick zu, tat aber so, als hätte er mich nicht bemerkt. Als ich näherkam, gab er seinen vier Komplizen mit einem fast unmerklichen Heben der Augenbraue zu verstehen, dass ein neuer Spieler im Anmarsch war.
Sobald ich hinzutrat, machten mir seine Kumpane auf ein weiteres unauffälliges Zeichen hin Platz, damit ich alles deutlich beobachten konnte. Sie ließen mich vier Runden lang zusehen: Die Karten tanzten, das Geld wanderte zwischen dem Geber und den Gewinnern und Verlierern hin und her. Aber das war reine Show, schließlich gehörten sie alle zum selben Team. Der Einsatz war ihre gemeinsame Kapitalanlage – die typische Three Card Monte-Abzocke.
Und deshalb ist es ziemlich dämlich, auch nur einen Cent zu setzen. Selbst wenn ich ihre Tricks gekannt hätte, hätte ich sie mit ihren eigenen Waffen schlagen müssen.
Ich hätte innehalten und einen Augenblick darüber nachdenken sollen, was zum Teufel ich hier machte. Dann hätte ich mich umdrehen und zu Bergdorf’s und den Sorbetlöffeln aus Sterlingsilber zurückkehren sollen.
Stattdessen beschloss ich, einzusteigen. »Mitmachen oder weitergehen, Mann«, sagte der Geber. »Wenn du was zu glotzen brauchst, da vorne kannst du dir König der Löwen reinziehen. Hier wird gespielt.«
Ich ignorierte ihn, tat so, als wäre ich leicht eingeschüchtert und würde trotzdem versuchen, den harten Kerl zu markieren. Ich verhielt mich nicht nur wie das ideale Opfer, ich sah auch so aus. Da ich die ganze Woche über schwer beschäftigt gewesen war, hatte ich Annie gebeten, meinen Koffer zu packen. Deshalb trug ich einen Pullover mit V-Ausschnitt unter einem blauen Blazer, eine Moleskinhose und Segelschuhe – wahrscheinlich wollte sie, dass ich in Anwesenheit ihrer Großmutter so aussah, als wäre ich gerade einem Jachtclub entsprungen. Das Outfit war so dämlich, dass ich mich am liebsten selbst ausgeraubt hätte.
Die Komplizen bauten sich hinter mir auf, drängten mich sanft in Richtung Tisch. Diesen ersten Schachzug nannte man »die Reihen schließen«. Lediglich eine Frau spielte. Sie hatte schon zweimal gewonnen.
Sobald die drei Spielkarten verdeckt auf dem Tisch lagen, platzierte man seinen Einsatz vor diejenige Karte, die man für das Pikass hielt. Nun konnte ein anderer Spieler überbieten, indem er den doppelten Einsatz vor eine andere Karte legte und so weiter. Nur der höchste Einsatz zählte – es gab also nur einen Wettenden und einen Einsatz pro Runde: Das war der Schlüssel zu diesem Trick.
»Er nimmt meine Einsätze nicht mehr an«, flüsterte die Frau mir zu. »Ich bin zu gut für ihn. Ich hab ihn durchschaut.«
Sie war etwa einssechzig groß, blass und blond. Straßenerfahren, mit einem grimmigen Ausdruck in den Augen und einem Körper, der nur schwer zu ignorieren war. »Helfen Sie mir mal«, sagte sie mit wissendem Blick, schmiegte sich an mich und drückte mir achtzig Dollar in zerknitterten Zwanzigern in die Hand. »Setzen Sie die für mich auf die linke Karte.«
Ein bleicher, durch den offenstehenden Mund atmender Teenager setzte vierzig Dollar in die Mitte. »Achtzig«, sagte ich und legte ihr Geld vor die linke Karte. Der Geber sah auf die Geldscheine hinunter, deckte ziemlich missmutig das Ass neben meinem Einsatz auf und gab mir hundertsechzig Dollar.
Beim Three-Card-Monte-Trick gibt es eine klassische Rollenverteilung. Die attraktive Frau zu meiner Linken war die »Anheizerin«. Ihre Aufgabe bestand darin, mir einen risikolosen Vorgeschmack auf das Spiel zu geben, mir zu demonstrieren, dass der Geber durchaus zu schlagen war und ich guten Gewissens mein eigenes Geld setzen konnte. Ich schob ihr den Gewinn über die Zeitung hinweg zu. Als sie danach greifen wollte, packte der Geber ihr Handgelenk. »Was soll die Scheiße?«, sagte er. »Der Typ hier hat gewonnen. Anfängerglück.«
»Das Geld gehört ihr«, sagte ich. »Ich habe für sie gesetzt.«
Er wirbelte zu mir herum. »Die Wall-Street-Kacke kannst du dir hier oben sparen, Mann. Willst du spielen? Dann raus mit der Kohle. Oder hast du alles für deinen Matrosenanzug ausgegeben?«
Das war der nächste Schritt: die Beschimpfung des Opfers. Er wollte mich beleidigen und wütend machen, dafür sorgen, dass ich es ihm heimzahlen wollte – und schon hatte er mich am Haken und konnte mich ausnehmen wie eine Weihnachtsgans.
»Die Ecke des Pikass ist umgeknickt«, flüsterte mir die Frau zu, die inzwischen an mir hing wie ein Bond-Girl. Das sollte mir Selbstvertrauen einflößen. Die Ecke war tatsächlich abgeknickt, aber jeder geschickte Trickdieb konnte so etwas nach Belieben manipulieren. Das war ein weiteres Element des Trickbetrugs: Ich sollte fest davon überzeugt sein, nicht verlieren zu können. Ich zog meine Brieftasche hervor und nahm einen Zwanzigdollarschein heraus.
Dann beobachtete ich, wie der Geber die Karten neu mischte. Er nahm immer zwei gleichzeitig in die Hand und ließ eine davon auf den Spieltisch zurückfallen. Instinktiv geht man von der Annahme aus, dass er die untere fallen lässt, aber mit etwas Geschick kann man sie vorher unbemerkt vertauschen. Der Kerl war nicht besonders gut, aber selbst dilettantisch ausgeführt ist dieser Trick nur schwer zu durchschauen.
Dann lagen die Karten schließlich vor mir. Das Ass war deutlich am Knick zu erkennen, und ich legte meinen Zwanziger davor ab. Das war der Einsatz des Jugendlichen mit dem offenstehenden Mund. Er war der »Lockvogel«. Sollte man wider Erwarten die richtige Karte treffen, würde er sofort das Doppelte auf eine andere Karte setzen, um den Gewinn zu verhindern. Setzte man auf die falsche Karte, musste der Lockvogel nur zusehen, wie einem der Geber das Geld abnahm. Es ist hoffnungslos.
Und genauso kam es. Der Einsatz des Lockvogels wurde angenommen. Er verlor, und der Spieler deckte das Ass auf – ich hatte richtig vermutet.
»Sehen Sie, Sie hätten gewonnen«, flüsterte mir die Frau zu.
Ich nahm einige weitere Zwanziger aus der Brieftasche. Die Augen des Gebers funkelten gierig. Inzwischen hatte sich eine kleine Menge an Schaulustigen um uns versammelt. Zu meiner Rechten standen mehrere gut gekleidete und gut gebaute junge Schwarze. Verbindungsstudenten auf Ausflug, wie ich vermutete. Zu meiner Linken befand sich eine ältere Chinesin mit einem großen Einkaufsnetz aus Plastik in der Hand.
Sie setzte – korrekterweise – zehn Dollar auf die mittlere Karte. Offenbar hatte der Lockvogel, der nicht gerade der Hellste zu sein schien, nicht richtig aufgepasst. Er vergaß, den Einsatz zu verdoppeln.
Doch es spielte keine Rolle. Der Geber ließ die rechte Karte – eine Zwei, wie ich wusste – beim Aufdecken unter das Ass in der Mitte gleiten, und so kam es, dass die Dame das Spiel verlor. Man kann nicht gewinnen – selbst wenn man alles Geld der Welt hatte, um den Lockvogel zu überbieten.
Jetzt wusste ich alles, was ich wissen musste, um diese Typen zu schlagen. Ich nahm den Inhalt meiner Brieftasche – etwa neunhundert Dollar minus der heutigen Ausgaben – in die Hand. Es ist eine alte Gewohnheit von mir, stets viel Bargeld mit mir herumzutragen.
»Das Ass gewinnt, die Zwei verliert. Immer rangetreten und mitgespielt.«
Der Geber ließ die Karten durch die Finger gleiten und plapperte dabei unaufhörlich vor sich hin. Während des Mischens verschwand der Knick in der Karte. Er war ja auch nicht mehr nötig – ich hatte mein Geld gezückt und absolutes Vertrauen in Pussy Galore. Ich folgte dem Ass mit den Augen, bis die Karten auf dem Tisch ruhten.
»Links«, flüsterte die an mir hängende Frau, um mich in die Irre zu führen. Ich legte zehn Dollar in die Mitte – dort war das Ass gelandet. Damit ich nicht gewann, setzte der Lockvogel wie erwartet zwanzig auf die rechte Karte. Ich verdoppelte meinen Einsatz auf vierzig. So ging es hin und her. 80, 160, 320 …
»Sechshundertvierzig«, sagte ich und legte das Geld vor das Ass auf die Zeitung. Das Schöne an einem derart dicken Banknotenbündel ist, dass es für einen Sekundenbruchteil die Karten verdeckt.
Der verblüffte Lockvogel starrte erst mich und dann die Geldscheine in seiner Hand an – er hatte vielleicht noch sechs Zwanziger übrig und konnte meinen Einsatz nicht mehr verdoppeln. Er leckte sich über die Lippen und sah den Geber Hilfe suchend an.
Der zeigte sich unbeeindruckt.
»Aha, Gekko ist gierig. Gier ist gut! Sechshundertvierzig sind gesetzt.« Nun musste er nur noch das Ass – das, wie ich sehr wohl wusste, in der Mitte lag – gegen eine der Zweien an den Seiten austauschen, und das Geld gehörte ihm. Da er nicht mal so tat, als wäre er nervös, sondern nur breit grinste, war ich mir selbst meiner Sache nicht mehr so sicher. Ich hatte nicht die geringste Lust, Vanessa und Annie zu erklären, dass wir bei Burger King zu Abend essen müssten, weil ich mein Geld verspielt hatte.
Ich beobachtete, wie er die auf der rechten Seite liegende Zwei aufhob, um damit das Ass aufzudecken, auf das ich gesetzt hatte. Dabei tauschte er natürlich die Karten aus und drehte diejenige um, die er für eine Zwei hielt.
»Zwei verliert«, verkündete er triumphierend. Erst dann machte er sich die Mühe, auf den Tisch hinunterzublicken und sah das Pikass neben meinen sechshundertvierzig liegen. Seine Augen wurden immer größer.
Die ahnungslosen Zuschauer johlten belustigt. Einer der Umstehenden klopfte mir auf die Schulter.
Ich hatte seit Jahren nicht mehr mit Karten getrickst. Trotzdem war es mir nicht schwergefallen, diesen Amateur zu übertölpeln und die Karten mittels des kleinen und des Ringfingers selbst auszutauschen, als ich meinen Einsatz platziert hatte. Ich wusste ja, was er vorhatte, und als er die Karten später heimlich zurücktauschte, hatte er mir dabei unabsichtlich die Gewinnerkarte zugeschoben.
Ich hatte die Betrüger ganz ehrlich übers Ohr gehauen.
»Die Bullen!«, rief der Lockvogel.
Das hätte ich kommen sehen müssen. Wenn das Spiel den Bach runtergeht oder das Opfer um genug Geld erleichtert wurde, ruft einer der Handlanger »Polizei!«, und alle laufen weg. Das ist sozusagen die Notbremse. Selbst wenn das Opfer gewinnt, verliert es. Alle stürzten Hals über Kopf davon. Der Geber griff sich in einer schnellen Handbewegung sowohl die Karten als auch das Geld und rannte los. Meine neuen Freunde von Alpha Phi Alpha, die die ihrer Meinung nach gerechte Sache mit ihrer Muskelkraft unterstützen wollten, versperrten ihm zu beiden Seiten den Weg. Mit dem Ergebnis, dass er an mir vorbeimusste. Er verpasste mir einen rechten Haken in die Nieren, schubste mich beiseite und nahm Reißaus. Die Getränkekisten kippten um.
Die anderen schrien ihm einige sehr saftige Drohungen nach. Ich sah ihm einfach nur hinterher.
»Lässt du dich von dem Penner einfach so ausrauben?«, rief einer der Zuschauer. »Du hast gewonnen, Mann. Ich würd mir den Kerl schnappen und mir mein Geld wiederholen.«
»Setze niemals auf das Spiel eines anderen«, entgegnete ich, zuckte mit den Achseln und ging davon. Erst als ich die Seitenstraße verließ, wurde mir bewusst, dass ich bis über beide Ohren grinste. So viel Spaß hatte ich schon lange nicht mehr gehabt. Wenn ich einen Zusammenstoß mit den schweren Jungs von New York überlebt hatte, würde ich mich sicher auch meiner sechzig Kilo schweren Verlobten, ihrer Großmutter und einem Teeservice stellen können.
Kurz darauf saß ich wieder zwischen Annie und Vanessa bei Bergdorf’s. Das Ganze hatte gerade mal zwanzig Minuten gedauert, und der Schmerz unterhalb meiner Rippen war zu einem dumpfen Pochen abgeebbt. Arturo demonstrierte uns die Vorzüge verschiedener Fischgabeln.
»Mike«, sagte Annie und sah mich mitleidig an. »Kannst du noch? Oder reicht’s dir für heute mit dem Hochzeitskram?«
Unauffällig, sodass es die anderen nicht bemerkten, sah ich auf meinen Schoß hinunter und betrachtete die Beute, die ich dem Geber abgenommen hatte, als er an mir vorbeigerannt war. Wenn das Opfer derart weite Hosen trägt, ist ein Taschendiebstahl fast schon lächerlich einfach.
Er war entkommen, aber mit leeren Händen. Ich dagegen hatte nicht nur meine sechshundertvierzig wieder, sondern weitere achthundert Dollar als Entschädigung für meine Unannehmlichkeiten und ein Messer, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte. Der dünne, mit Messingbeschlägen versehene Griff war aus schön gemasertem Palisanderholz. Das Messer musste mindestens achtzig Jahre alt und spanischer oder italienischer Herkunft sein. Obwohl es kein Springmesser im eigentlichen Sinne war, klappte es blitzschnell und präzise auf. Eine tödliche Waffe – wahrscheinlich hatte der Gangster sie irgendwo mitgehen lassen. Ich klappte die Klinge ein und steckte das Messer zusammen mit dem Geld wieder weg.
Dann tätschelte ich das Banknotenbündel in meiner Tasche und lächelte. »Aber woher denn«, sagte ich und wandte mich Annies Großmutter zu. »Übrigens bin ich ganz deiner Meinung, was die Sauciere angeht, Vanessa. Da kommt nur Limoges infrage. Ach, Arturo«, sagte ich und rieb mir die Hände, »haben Sie zufällig noch einen Haviland-Katalog da?«
Und in diesem Augenblick – als ich eingerahmt von meiner Herzallerliebsten und ihrer Großmutter in der Verlobungssuite saß, mit dem fünfzehn Zentimeter langen Messer und den schmuddeligen Zwanzigern spielte, die ich einem kleinen Ganoven abgenommen hatte – begriff ich, dass mit mir und meinem Traum von einem ruhigen, anständigen Leben, den ich seit Jahren träumte, irgendetwas nicht stimmte.
3
Wir trafen Annies Vater eine halbe Stunde später zum Abendessen in einem französischen Dreisternerestaurant. Er saß allein an einem Tisch, trank Champagner und telefonierte mit seinem Handy. Als er uns sah, beendete er das Gespräch und begrüßte Annie und Vanessa. Schließlich sah er erst mich und dann Annie an.
»Verschwendest du denn immer noch deine Zeit mit diesem Kerl?«
Niemand sagte etwas darauf.
Er lachte bellend und gab mir einen schmerzhaften Händedruck. »Nur ein Scherz! Setzt euch!«
Larry Clark – eigentlich Sir Lawrence Clark – ist ein britischer Ex-Rugbystar, der es in die Welt der Hochfinanz geschafft hat und nun einen Hedgefonds verwaltet. Er ist ständig von einer Aura der Aggressivität und körperlichen Fitness umgeben, und seine Art von Humor ist es, dich bloßzustellen oder dich anzulügen und dich dann auszulachen, wenn du tatsächlich glaubst, was er sagt.
Selbst jetzt, in seinen besten Jahren, hatte er die massige Statur des Rugbyspielers nicht verloren. Er rasierte sich täglich den Schädel zu jener glänzenden rosa Kraftkugel, die bei leitenden Führungskräften derzeit Mode zu sein scheint. Passte jedenfalls gut zu der finsteren Miene, die er immer dann aufsetzte, wenn er mich zu Gesicht bekam.
Ich war nach der Episode mit den Gaunern noch immer in so guter Stimmung, dass es mir nichts ausmachte, mir beim Essen die ein oder andere spitze Bemerkung von ihm anzuhören. Nach dem zweiten Gang entschuldigte ich mich. Es gelang mir, unseren Kellner in einem labyrinthartigen Weinkeller zu stellen, und mit einiger Mühe konnte ich ihn dazu überreden, mich die Rechnung begleichen zu lassen, bevor Clark es tat.
Das Vergnügen, die Betrüger betrogen zu haben, war nichts im Vergleich zu Larrys Gesichtsausdruck am Ende des Essens, als ihm der Kellner mit einem Blick in meine Richtung eröffnete, »dass sich der Gentleman bereits um alles gekümmert« hätte.
Als wir danach in Richtung Central Park gingen, sagte Vanessa, dass sie müde sei, und bat Annie, sie zum Hotel zu begleiten. Clark fragte, ob er mich »einen Augenblick entführen« dürfe.
Ich roch eine Falle. Annie hob ratlos die Schultern.
»Ich bringe ihn auch in einem Stück zurück«, sagte Clark, doch angesichts seines kaum verborgenen Zorns, dass ich ihn beim Essen ausgebootet hatte, war ich mir da nicht so sicher. Trotzdem ging ich mit. Die Heirat war schließlich beschlossene Sache. Vielleicht wollte er nun die Gelegenheit nutzen, um endlich Frieden zu schließen.
Wir schlenderten einen Abschnitt der Fifth Avenue hinunter, der mit gewaltigen, um die Jahrhundertwende von McKim, Mead and White entworfenen Hotels und Clubs für die damalige Finanzelite gesäumt war.
Clark öffnete die schwere Holztür eines vornehmen Reihenhauses. Ich konnte kein Schild daran erkennen – vielleicht war es sein Herrenclub, in dem wir uns bei Brandy und Zigarren versöhnen würden. Eine Vorstellung, die mir nicht besonders behagte, obwohl ich in den letzten Jahren gelernt hatte, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und über die Witze jener Typen zu lachen, die sich selbst als »bitterarm« bezeichneten und sich im gleichen Atemzug darüber beschwerten, dass man mit seiner Achtzehn-Meter-Jacht mit Stahlrumpf nur Probleme hätte. Andererseits – wenn das die Gelegenheit war, meine Differenzen mit Lawrence aus der Welt zu schaffen, sollte es mir nur recht sein.
Er führte mich in eine Bibliothek, wo wir auf Chesterfield-Sesseln Platz nahmen. Clark verzichtete auf den Small Talk, beugte sich vor und kam sofort zur Sache.
»Ich kenne deine Familie, Mike. Ich weiß, aus welchem Stall du kommst. Leider sind mir die Hände gebunden, denn Annie hat ihre Entscheidung getroffen, und ich kann nichts dagegen tun.«
Das also war der Lohn für meine jahrelange harte Arbeit, für die Zeit bei der Navy, das College und das Jurastudium in Harvard, für die Abende, an denen ich so abgebrannt und hungrig war, dass ich um acht ins Bett ging. Hätte ich Probleme gehabt, mich in seiner Welt zurechtzufinden, hätte ich seine Feindseligkeit noch verstanden. Doch als ich so dasaß und seinen bohrenden Blick ertrug, begriff ich, dass er mir misstraute, weil er selbst Dreck am Stecken hatte. Er hielt mich für einen extrem geduldigen Heiratsschwindler.
»Larry«, begann ich, wobei ich genau wusste, wie sehr er diesen vertraulichen Ton hasste. »Deine Tochter und ich, wir lieben uns. Wir passen aufeinander auf und sind füreinander da. Das ist ein seltenes, wunderbares Geschenk. Ich wünschte wirklich, dass du und ich noch mal von vorne anfangen und irgendwie miteinander auskommen könnten. Dann wäre alles einfacher und Annie wäre glücklich. Was sagst du dazu?«
Er antwortete nicht, sondern klopfte stattdessen mit seinem schweren Fingerring zweimal auf die Marmorplatte des Tisches neben ihm. Die Tür öffnete sich, und zwei Männer traten ein. »Meine Anwälte«, sagte Clark und stellte sie vor.
Soviel zu Brandy und Zigarren. Am meisten störte Clark wohl, dass wir beide uns so ähnlich waren. Er kam von ganz unten und hatte den Grundstock zu seinem Vermögen mit einigen äußerst zwielichtigen Immobiliengeschäften in London gelegt. Bei seinem ersten Versuch, mich und Annie auseinanderzubringen, hatte ich angedeutet, dass ich von seiner dunklen Vergangenheit wüsste. Damit hatte ich mir zwar etwas Bewegungsfreiheit verschafft, aber auch einen neuen Feind gewonnen. Dass ich ihn damals so bloßstellte, hat er mir nie verziehen.
Mit genug Geld kann man sich eine weiße Weste kaufen. Und wenn man es sich nur lange genug einredet, glaubt man früher oder später selbst, dass man sich nichts zuschulden hat kommen lassen. Auch Clark, so befürchtete ich, hatte irgendwann angefangen, an diese Lüge zu glauben. Eine solche Scheinheiligkeit kann gefährlich sein. Meine Herkunft, Annies Liebe und die Tatsache, dass ich so viel über ihn wusste, stellten eine große Bedrohung für ihn dar. Wie sehr er mich auch vor meiner Verlobten schlechtmachte – ich stand darüber. Und ließ mich auch nicht dazu herab, ihr von seiner Vergangenheit zu erzählen.
»Mike, es gibt noch einige Dinge zu klären«, sagte er. »Ich fliege morgen nach Dubai, deshalb werden wir das heute Abend hinter uns bringen müssen, so leid es mir tut.«
Ein Anwalt reichte Clark einen Papierstapel. Der andere hielt eine dicke lederne Aktenmappe in Händen, die aussah wie die Jahresbilanz eines Weltkonzerns.
»Kann ich dich irgendwie dazu überreden, diese Beziehung neu zu überdenken? Wie kann ich dich davon überzeugen, dass es sowohl in deinem als auch im Interesse meiner Tochter ist, wenn ihr künftig getrennte Wege geht?«
»Du machst Witze«, sagte ich.
Er starrte mich an. Es war sein voller Ernst.
Ich rieb mir einen Augenblick übers Kinn, ließ den Blick über die Mahagonibücherregale und die drei Inquisitoren vor mir schweifen.
In meiner Jackentasche befand sich noch das weiße Stück Papier, in das die Restaurantrechnung eingeschlagen gewesen war. Teures, makelloses Leinenpapier, einmal in der Mitte gefaltet. Ich nahm es heraus, zückte einen Stift, beugte mich vor und schrieb etwas darauf. Dann schob ich ihm den Zettel über den Tisch hinweg zu, lehnte mich zurück und verschränkte die Arme.
Einen Moment lang schien Clark erfreut darüber. Er hatte mich überzeugt, und wir konnten sein Lieblingsspiel spielen, das darin bestand, um astronomische Summen zu feilschen. Dann las er, was auf dem Zettel stand.
Mit einem wütenden Schnauben ließ er das Papier auf den Tisch fallen.
Du hast was zwischen den Zähnen, hatte ich geschrieben.
Während er mich zornig anfunkelte, fuhr seine Zunge hinter seinen Lippen hin und her, um den Essensrest aufzuspüren. Nachdem ich meinen letzten Job gekündigt hatte, waren eine Menge Firmen mit verschiedensten Angeboten an mich herangetreten. Ich hatte also eine gewisse Erfahrung darin, Leute zu verprellen, die mich kaufen wollten. Clark legte den Papierstapel vor mir auf den Tisch.
Gekränkt war ich natürlich trotzdem. Ich spürte den Messergriff in meiner Tasche, und einen Moment lang hatte ich eine surreale Szene vor Augen: Wenn ich einen dieser hübsch aufgeplüschten Anwälte aufschlitzte, würde wohl nur Watte aus ihm herausquellen. Was mich am meisten ärgerte, war jedoch, dass ich meine Wut nicht zeigen durfte. Das hätte ihm nur in die Hände gespielt und ihn in seinem Glauben bestärkt, dass ich nur ein kleiner Ganove war. Nein, ich musste eine ähnliche Selbstbeherrschung aufbringen wie Bruce Banner: Ruhig. Bleib ruhig.
»Ich nehme an, du weißt, dass unsere Familie weitverzweigte Geschäftsinteressen hegt«, sagte Clark. »Annie besitzt mehrere Treuhandfonds und Beteiligungsgesellschaften, und es müssen noch gewisse legale, finanzielle und steuerliche Formalitäten erledigt werden, bevor …« Er verstummte mit einem gequälten Seufzen.
Ich blätterte durch die Papiere. Bei dem Stapel, der über einen Zentimeter dick und so kompliziert wie eine Fusionsvereinbarung war, handelte es sich im Wesentlichen um einen Ehevertrag – für den Fall, dass ich versuchen sollte, die liebreizende Annie Clark um die vielen Millionen zu erleichtern, die ihr als Sir Larrys Alleinerbin zustanden.
»Dies ist ein urkundliches Dokument«, begann Anwalt Nummer zwei.
Danke. Clark vergaß gerne, dass ich einen Doppelabschluss in Jura und Politik an der Universität von Harvard gemacht hatte. Ich ließ den Anwalt weiterreden, während ich mir den Vertrag durchlas und ihn an mehreren Stellen mit Anmerkungen versah.
»Das ist nur ein erster Entwurf«, sagte Clark. »Ein Anfang. Ich bin zuversichtlich, dass wir uns einigen werden. Natürlich kannst du jederzeit eine zweite Meinung einholen. Hast du damit ein Problem?«
Ich warf den Vertrag auf den Tisch. »Ja, allerdings.«
Sie tauschten Blicke, und die Nasenflügel eines Anwalts blähten sich leicht. Ich spürte, wie ihre Anspannung stieg. Rechtsstreitigkeiten waren für diese Leute besser als Sex. Natürlich war der ganze Vertrag ein Schlag ins Gesicht für mich, und ich war davon überzeugt, dass es Clark auf eine Konfrontation abgesehen hatte. Doch diesen Gefallen wollte ich ihm nicht tun.
»Auf Seite neunzehn ist ein Fehler. Wahrscheinlich hast du übersehen, dass in Virginia anders als in New York das Bundesfamilienrecht gilt«, sagte ich. »Aber das ist keine große Sache.«
»Es ist nur ein Entwurf«, stammelte einer der Anwälte.
»Mir soll’s recht sein. Wer wird die Unterschrift bezeugen?«
»Wie bitte?«, fragte Clark.
»Es geht mir nicht ums Geld, Clark. Wenn du mich danach in Frieden lässt, unterzeichne ich jetzt und auf der Stelle. Der Vertrag ist in Ordnung.«
»Wir können einen neuen Entwurf aufsetzen.«
»Nicht nötig«, sagte ich. »Ich habe meine Korrekturen bereits eingearbeitet.« Ich unterschrieb drei Mal auf den letzten Seiten, stand auf und gab ihnen den Vertrag zurück.
»Wenn wir das von einem Notar beglaubigen lassen sollen, dann sag einfach Bescheid«, sagte ich. »Noch einen schönen Abend.«
Wenn ich dieses Arschloch tatsächlich loswurde, indem ich einen Vertrag unterzeichnete und auf ein paar Millionen verzichtete, war ich noch mal mit einem blauen Auge davongekommen. Ich verließ den Raum.
Als ich das Hotelzimmer betrat, saß Annie vor ihrem Laptop im Bett.
»Wie ist es mit Dad gelaufen?«, fragte sie. »Wie es aussieht, hast du’s überlebt. Friedensangebot?«
»Ehevertrag.«
»Was? Er hat dich einfach so damit überfallen?«
»Er und zwei Anwälte.«
»O Gott. Und, was hast du getan?«
»Was ich getan habe? Gar nichts. Den Vertrag unterzeichnet. Das solltest du auch tun. Ich will dir natürlich keine Vorschriften machen, aber dann wären wir ihn endlich los.«
Ich weiß nicht, was sie erwartet hatte. Dass ich den Kerl erwürge?
Sie legte den Laptop beiseite und schüttelte wütend den Kopf. »Ich werde sofort runtergehen und …« Sie schlug die Bettdecke zurück.
»Mach dir darüber keine Gedanken«, sagte ich. »Aber ich muss dir leider sagen, dass du keinen Anspruch auf den Jeep hast, wenn wir uns irgendwann trennen sollten.« Bei besagtem Fahrzeug handelte es sich um einen zwanzig Jahre alten Cherokee mit abgeblättertem Lack und defekten Stoßdämpfern. Ich brachte es einfach nicht übers Herz, ihn verschrotten zu lassen.
Selbst Clarks Unverschämtheiten hatten nichts gegen das Wohlgefühl ausrichten können, das sich nach vier vorzüglichen Gängen eingestellt hatte, und die eineinhalb Flaschen Chave Hermitage Burgunder hatten mich endlich begreifen lassen, warum manche Leute regelrecht besessen von Wein sind.
Ich legte mich neben sie aufs Bett.
»Würdest du mich auch lieben, wenn wir bettelarm wären?«, wollte ich wissen.
»Was soll denn das für eine Frage sein?« Sie klang zärtlich, aber auch leicht beleidigt.
»Natürlich, Mike. Natürlich«, sagte sie einen Augenblick später in versöhnlicherem Ton. »Natürlich«, flüsterte sie in mein Ohr. Dann beugte sie sich vor, um meinen Hals zu küssen.
4
Wenn es um den richtigen Wein zum Essen geht, habe ich nicht die leiseste Ahnung. Aber wenn ein Einbruch, gefolgt von einem Wettrennen mit der Polizei, oder eine gröbere Gewalttat anstehen, dann passen dazu am besten eine große Dose Steel Reserve und ein Schluck Old Crow.
Ein ansehnlicher Vorrat dieser beiden Getränke befand sich auf dem U-Bahn-Sitz neben mir. Ich war auf dem Weg zu meinem Bruder. Wahrscheinlich fühlten sich das billige Bier und der noch billigere Bourbon in Annies Jutebeutel mit der Aufschrift »Friedvolles Herz Yoga« und dem mandalaähnlichen Mutter-Erde-Logo etwas fehl am Platze. Aber ich hatte beides seit Jahren nicht mehr gekostet, obwohl ich und mein Bruder Jack früher nicht genug davon bekommen konnten. Man trank die ersten drei Fingerbreit Bier aus der Steel-Reserve-Dose, füllte sie mit Old Crow wieder auf, verschloss die Dose gut mit dem Daumen, drehte sie einmal um und nahm dann einen kräftigen Schluck – traditionsgemäß am Steuer, mit dem Lenkrad zwischen den Knien und auf dem Weg zu einem potenziellen Tatort. Das Bier allein hatte schon acht Prozent Alkohol, doch in Verbindung mit dem Bourbon verband sich der medizinische Geschmack der Stammwürze durch eine teuflische Alchemie zu einem Gebräu, das wie flüssige, brennende Reue schmeckte und bewirkte, dass man innerhalb von Minuten alle Hemmungen verlor und sich in eine tickende Teenagerzeitbombe mit unbändiger Zerstörungswut verwandelte.
Heute war ein besonderer Abend. Ich brauchte einen Trauzeugen, und dazu war ich bereit, mich meiner Vergangenheit zu stellen, so schmerzhaft es auch sein mochte. Mein Vater hatte mich schon seit geraumer Zeit gedrängt, wieder Kontakt zu Jack aufzunehmen. Angeblich war er mittlerweile sauber. Ich hatte meinen einzigen Bruder, mein ehemaliges Vorbild, vor Jahren aus meinem Leben verbannt. Und so sehr Jack das auch verdient hatte – es brach mir immer noch das Herz. Wie sich herausgestellt hatte, hatte ich meinen Vater zu Unrecht beschuldigt – vielleicht stand Jack ebenfalls eine zweite Chance zu.
Ich vermisste ihn. Niemand kannte mich so gut wie er. Und trotz all seiner Schwächen hatte er in meiner Jugend auf mich aufgepasst, während mein Vater im Knast gesessen hatte. Annie und ich besaßen einen großartigen Freundeskreis, aber über diesen Teil meiner Vergangenheit konnte ich nicht mit ihnen sprechen. Deshalb freute ich mich darauf, endlich die Deckung fallen zu lassen und mit jemandem über die alten Zeiten reden zu können. Ich musste Dampf ablassen, ohne dabei eine ähnliche Dummheit anzustellen wie in New York; der blaue Fleck prangte noch immer auf meinen Rippen. Wenn mir schon Leute wie Lawrence Clark ständig meine Vergangenheit vorhielten, warum sie dann verstecken? Jack war wieder in der Stadt. Vielleicht war die Hochzeit eine gute Gelegenheit, um uns wieder zusammenzubringen. Nachdem wir aus New York zurückgekehrt waren, hatte ich ihn angerufen. Nach einer etwas peinlichen Reihe von Nachrichten auf dem Anrufbeantworter und Rückrufen hatten wir uns auf ein Abendessen geeinigt.
Er wohnte am Rande von Takoma Park, direkt an der Grenze zu Washington, D. C. Auf Google Maps war unter der Adresse nur ein brachliegendes Grundstück zu erkennen, vor dem eine Pennerin einen mit allem möglichen Krempel beladenen Einkaufswagen vorbeischob. Auf dem Weg dorthin kam ich an Autowerkstätten, Pfandleihen und Gotteshäusern irgendwelcher obskurer Sekten vorbei. Genau so hatte ich mir unser Wiedersehen vorgestellt. Dad musste sich geirrt haben – ich bezweifelte stark, dass Jack dem Verbrechen abgeschworen hatte. Mit meinen Mitbringseln zumindest schien ich ins Schwarze getroffen zu haben.
Ich bog um eine Ecke, und ein paar Blocks weiter veränderte sich die Gegend dramatisch. Aus den Schnapsläden wurden Weinboutiquen, die Autos wurden teurer, und dann fand ich mich in einer Straße mit nagelneuen Reihenhäusern wieder. »Wohnen mit Stil!«, verkündete ein Banner.
Anscheinend waren die Bilder von dem brachliegenden Grundstück nicht mehr ganz aktuell und noch vor Baubeginn aufgenommen worden. Aus der Pennerin war inzwischen eine äußerst attraktive junge Mutter in einer engen Yogahose geworden, die einen Doppelkinderwagen von der Größe eines fahrbaren Rasenmähers vor sich her schob.
Jack wohnte in Nummer 108, einem dreistöckigen Eckhaus, das offensichtlich das Vorzeigeobjekt der Wohnsiedlung darstellte. Während ich die Stufen zum Eingang hinaufging, fragte ich mich, wie Jack an eine derart hochwertige Immobilie gekommen war. Beim Anblick der ordentlich mit Ringelblumen bepflanzten Blumenkästen vor der Haustür bekam ich ein ungutes Gefühl. Ich hätte mir weniger Sorgen gemacht, wenn Jack tatsächlich in einer verwahrlosten Bruchbude neben einem leer stehenden Grundstück gehaust hätte.
Ich drückte auf den Klingelknopf.
Der grinsende Mann, der mir dreißig Sekunden später öffnete, war kaum wiederzuerkennen. Er hatte kurz geschnittenes braunes Haar mit leicht ergrauten Koteletten und die schmalen Wangen eines passionierten Läufers, trug eine Patagonia-Weste, eine Chinohose und neue, einhundertdreißig Dollar teure mattgraue New-Balance-Turnschuhe. Das war nicht der Jack, den ich kannte. Der bisherige Geschmack meines Bruders war billig und auffällig gewesen. Dieser Mann jedoch war der zurückhaltende, gediegene, arrivierte Wohlstand in Person.
»Du hättest doch nichts mitbringen müssen«, sagte er, nahm mir die Tasche mit den Getränken ab und führte mich ins Esszimmer. »Aber trotzdem danke.«
Ein köstlicher Duft drang aus der Küche, die mit allen möglichen hochpreisigen Utensilien ausgestattet war: Shun-Messer, ein Standmixer, ein halbes Dutzend Le-Creuset-Töpfe in verschiedenen Größen. Gott sei Dank hatte ich bei Bergdorf’s einen Crashkurs zum Thema luxuriöse Haushaltseinrichtung erhalten.
»Schön, dass du da bist«, sagte er. »Ich wollte ja schon lange mal dieses Thai-Rezept ausprobieren, und jetzt habe ich endlich den richtigen Anlass dafür.«
Auf der Arbeitsfläche lag ein Ausschnitt aus der Times. Durch das rückwärtige Fenster konnte ich einen grauen Audi A6 in der Einfahrt erkennen. Ein typischer Konzernanwaltswagen, dabei hatte Jack zeit seines Lebens amerikanische Muscle Cars bevorzugt. In unseren jungen Jahren hatte er einen ’69er GTO gefahren, den er zwei Jahre lang restauriert hatte. Wir hatten die Karre sozusagen nach und nach aus verschiedenen, von einem Schrottplatz geklauten Einzelteilen zusammengebaut, für die wir über Zäune gesprungen und uns Wettrennen mit Rottweilern geliefert hatten.
Ich wandte mich wieder zur Küche um. Jack inspizierte stirnrunzelnd das Dosenbier und die Plastikflasche mit Whiskey, die ich ihm mitgebracht hatte.
»Soll ich dir eins einschenken?«, fragte er. Er hatte ein Kristallpilsglas aus dem Schrank geholt und machte sich nicht die Mühe, seinen Abscheu zu verbergen.
»Trinkst du eins mit?«
»Ich trinke kaum noch«, sagte er. »Aber tu dir keinen Zwang an.«
»Tut mir leid«, sagte ich. »Wenn du trocken bleiben willst, dann werf ich das Zeug weg. Sollte ein Witz sein.«
»Nein, nein, ich bin nicht auf Entzug oder so. Ich trinke nur nicht unter der Woche. Ich hab ziemlich viel zu tun, und ich vertrag das Zeug nicht mehr so wie früher.«
»Gut für dich«, sagte ich, sah mich im Erdgeschoss um – Marmorarbeitsflächen, Armaturen aus rostfreiem Stahl, ein neuer Flachbildfernseher – und überschlug im Kopf, wie viel das alles gekostet haben mochte.
»Du arbeitest Vollzeit?«, fragte ich. »Als Mechaniker?«
»Nein«, sagte er mit einem Kichern, als hätte ich einen Scherz gemacht. »Ganz geregelte Arbeitszeiten. Haufenweise Überstunden, du weißt ja, wie’s ist. Ich bin wohl endlich angekommen.«
»Freut mich für dich. Und in welcher Branche?«
»Sicherheitsberatung«, sagte er. »Und solche Sachen.«
Ein ziemlich ungewöhnlicher Job für Jack, der in seiner Jugend eher ein Sicherheitsrisiko dargestellt hatte.
»Im Ernst?«, fragte ich und klang überraschter, als ich beabsichtigt hatte.
Er grinste. »Ich weiß genau, dass du jetzt denkst, sie hätten den Bock zum Gärtner gemacht. Aber ich bin inzwischen sauber, und einige meiner damaligen …«, er suchte nach dem richtigen Wort, »… Erfahrungen erweisen sich als ganz nützlich. Ich übernehme Kurieraufträge, arbeite mit den Strafverfolgungsbehörden zusammen, stelle Ermittlungen an, kontaktiere Informanten. Das gefällt mir ganz gut. Obwohl ich den größten Teil des Tages auf meinem Hintern vor dem Computer sitze und die Biografien von irgendwelchen potenziellen Arbeitnehmern durchleuchte.«
»Für wen arbeitest du?« Ich kannte mehrere Firmen in dieser Sparte.
»Ich bin selbstständig«, sagte er. »Eine Ein-Mann-GmbH, um Steuern zu sparen.« Er holte eine grüne Glasflasche mit Mineralwasser aus dem Kühlschrank.
»Und für wen arbeitet diese GmbH?«
»Tut mir leid, Mike, aber du kannst dir nicht vorstellen, wie viele Vertraulichkeitsvereinbarungen ich unterzeichnen musste«, sagte er. »Na ja, vielleicht kannst du dir’s doch vorstellen.«
»Klar.« Das schienen mir alles faustdicke Lügen zu sein, andererseits schien er sich tatsächlich an seinen neuen Lebensstil gewöhnt zu haben. Und weshalb sollte er nicht in der Legalität angekommen sein? Ich hatte es ja schließlich auch geschafft, mich aus dem Sumpf zu ziehen und ein gesetzestreuer Bürger zu werden. Himmel, ich war fast enttäuscht von ihm. Jack Ford, einer der größten Trickbetrüger aller Zeiten, war zum Spießer mutiert.
»Dad hat mir erzählt, dass du momentan ebenfalls selbstständig bist«, sagte Jack.
»Genau. Ich hab meine eigene Firma.«
»Wenn du mal Hilfe oder Arbeit brauchst, sag einfach Bescheid. Du hast mir oft genug aus der Patsche geholfen, das hab ich nicht vergessen. Ich stehe tief in deiner Schuld, Mike. Das wäre das Mindeste, was ich tun kann.«
Das klang so mitleidig, dass mir fast die Galle hochkam. Doch ich schluckte meinen Zorn hinunter. Immerhin hatte ich ihm billiges Bier und üblen Fusel mitgebracht und war mit den öffentlichen Verkehrsmitteln gekommen. Für jemanden, der die Kreise nicht kannte, in denen ich verkehrte – und der keine Ahnung hatte, dass ich mein Handwerk bei einem der mächtigsten Männer Washingtons gelernt hatte –, klang die Vorstellung, dass ein Dreißigjähriger eine nette kleine Lobbyagentur hatte und im Hintergrund die Strippen zog, natürlich völlig unglaubwürdig. Jack hatte mich zum letzten Mal als Rekrut gesehen, der sich zur Navy verpflichtet hatte, um einer Haftstrafe zu entgehen. Verflucht, wahrscheinlich dachte er, dass ich hier war, um ihn anzupumpen.
»Vielen Dank, aber es läuft ganz gut.«
»Und was ist mit Annie? Dad hat in den höchsten Tönen von ihr geschwärmt. Wo habt ihr euch verlobt?«
»In der Toskana.«
Er stieß einen leisen Pfiff aus.
»Das war nur angemessen«, sagte ich. »Sie ist toll. Hat Sinn für Humor und ist fürchterlich intelligent. Sie durchschaut mich, und das macht mich zu einem besseren Menschen. Ich bin verrückt nach ihr, Mann. In dieser Beziehung mache ich keine halben Sachen.«
»Ich freue mich wirklich sehr für dich, Mike.« Er sah mich einen Moment lang an, als würde er es tatsächlich aufrichtig meinen, dann wandte er sich um und studierte sein Rezept. Er hatte ungefähr ein Dutzend Zutaten in kleinen Glasschüsseln vor sich aufgebaut.
Der Esstisch war für zwei Personen gedeckt, komplett mit Platztellern unter den Nudelschüsseln. Bis auf die Bierdose neben meinem Weinglas sah alles aus wie in einem Hochglanzkochmagazin. Jetzt erst recht: Ich öffnete die Bierdose, nahm einen Schluck und verfeinerte das Gebräu anschließend mit einem Schuss Old Crow.
»Auf uns«, sagte ich und hob die Dose. Jack starrte sein Mineralwasser verdrießlich an.
»Mach mir auch eins auf«, sagte er.
»Sicher?«, fragte ich.
»Aber ja. Es kann unmöglich so schlimm sein, wie ich’s in Erinnerung habe.«
Ich ging zur Arbeitsfläche hinüber und mixte ihm seinen Drink. Wir hoben die Dosen und tranken. Er kniff die Augen zusammen und verzog das Gesicht.
»O Gott. Es ist noch schlimmer«, keuchte er und schlug sich mit der Faust auf die Brust. Wir mussten beide lachen. Ich war erleichtert, dass wir so gut miteinander auskamen. So hatte ich die Gelegenheit, ihn hinter seinem Rücken auszuspionieren, bevor er dasselbe mit mir tun konnte. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Jetzt war es Zeit, dass ich mich mal gründlich umsah.
5
Ich hatte einen Blick auf sein Rezept geworfen: Es war in etwa so kompliziert wie eine Operation am offenen Herzen, und er würde die nächste Viertelstunde alle Hände voll zu tun haben. Das war meine Chance. Während Jack die Erdnüsse röstete, drückte ich den Lautstärkeknopf meines Handys, bis es auf Vibration umschaltete und in meiner Tasche brummte. Ich nahm es heraus und entschuldigte mich bei Jack. Er war über die Pfanne gebeugt und so konzentriert, dass er mich kaum bemerkte. »Hallo, Schatz«, sagte ich und ging nach oben, um in Ruhe telefonieren zu können.
Wenn es darum ging, Jack auszuspionieren, hatte ich einen entscheidenden Vorteil: Ich hatte den Großteil meiner Jugend in seiner Gegenwart verbracht, hatte ihn belauscht und beschattet und kannte daher seine bevorzugten Verstecke. Wie sonst hätte ich in der Pubertät an Feuerwerkskörper und abgegriffene Playboy-Hefte kommen sollen? Um der alten Zeiten willen sah ich unter der Matratze im Schlafzimmer nach. Nichts.
Ich klopfte gegen die Wände des Einbauschranks. Keine Geheimfächer oder versteckten Türen. Somit blieb nur eine ziemlich schwere Kommode aus massiver Eiche übrig. Es gelang mir, sie etwa einen halben Meter von der Wand wegzurücken, ohne allzu viel Lärm zu machen. Zu Highschoolzeiten hatte Jack hinter einer ganz ähnlichen Kommode ein Geheimversteck in einem Loch in der Rigipswand gehabt. Er hatte seine geheimen Besitztümer zu einem Bündel verschnürt, es in der Zwischenwand versenkt und das Ende der Schnur mit Klebeband am Rand des Lochs befestigt. Wahrscheinlich schlummerten immer noch ein halbes Dutzend Chinaböller in den Wänden des Mietshauses, in dem wir aufgewachsen waren.
Inzwischen hatte er seine Methode verfeinert: Der Rigips hinter der Kommode ließ sich aufklappen, und dahinter kamen zwei sündhaft teure, biometrisch gesicherte Safes zum Vorschein. Die Stahltür des oberen Safes war mattgrau und maß etwa einen auf einen halben Meter – ein Waffenschrank, wie ich vermutete. Und zwar ein ziemlich großer – hier hätte auch ein leichtes Maschinengewehr Platz gehabt. Leider hatte ich keine Zeit für eingehendere Nachforschungen.
Während ich herumschnüffelte, tat ich so, als würde ich über die Hochzeitsvorbereitungen plaudern: »Natürlich. Die Farbe der Stühle überlasse ich ganz dir …«
Dieses Gesäusel bildete einen schönen Kontrast zu der Tatsache, dass ich gerade Jacks trautes Heim nach potenziellen Gefahren durchstöberte. Der untere Safe war kleiner, mit einer quadratischen Tür von einem halben Meter Seitenlänge und einem Klasse-2-Kombinationsschloss mit Relocksystem. Das Ganze musste etwa eintausendzweihundert Dollar gekostet haben. Meiner Erfahrung nach gab niemand so viel Geld aus, nur um seine Geburtsurkunde sicher und trocken zu verwahren. Vielmehr deutete das auf Juwelen, Bargeld oder Drogen hin. Womöglich war mein Bruder aber auch ein Sicherheitsfanatiker. Immerhin waren wir unter Dieben und Einbrechern aufgewachsen, da ließen sich alte Gewohnheiten nur schwer ablegen.
Ich rückte die Kommode wieder an ihren Platz, ging zum Einbauschrank hinüber und überprüfte seine Gürtel. In seiner Jugend hatte Jack eine unzuverlässige .25er Raven Arms besessen – ein Klassiker unter den billigen, leicht zu beschaffenden Feuerwaffen. Meistens hatte er damit auf Bierdosen geschossen, war sich aber auch nicht zu schade gewesen, sie in einer heiklen Situation jemanden an den Kopf zu halten. Er hatte sie immer auf der rechten Seite im Gürtel getragen, also wusste ich, wonach ich suchen musste.
Im Kleiderschrank sah es genauso edel aus wie im Rest des Hauses: Ein halbes Dutzend schöner Anzüge von Zegna, Brooks Brothers und so weiter. Die breiteren Gürtel – wie man sie zu Jeans trägt – waren etwa fünf Zentimeter kürzer als die schmaleren Anzuggürtel. Auf Letzteren entdeckte ich, wonach ich gesucht hatte; etwa fünfzehn Zentimeter rechts von der Schnalle befand sich eine Druckstelle im Leder, die vom Holster einer ziemlich großen Waffe herrührte. Wahrscheinlich eine .40er. Jack bevorzugte nun also größere Kaliber, und was er auch immer arbeitete, er musste dabei eine Waffe unter einem gut geschnittenen Anzug verbergen. Also verbrachte er seinen Arbeitstag ganz bestimmt nicht damit, die Namen von potenziellen Investoren in die Accurint-Datenbank einzugeben und nachzuprüfen, ob sich der Betreffende der Scheckreiterei schuldig gemacht hatte.
Im Erdgeschoss klingelte ein Telefon. Ich durchsuchte die Schreibtischschubladen, blätterte durch den üblichen Buchhaltungskram, bis ich eine schwarze Plastikkarte entdeckte. Sie war etwa so groß wie eine normale Kreditkarte, aber dreimal so dick. Auf ihrer Unterseite befanden sich Kontaktstellen aus Kupfer, auf ihrer Oberseite vier gläserne Rechtecke.
So etwas hatte ich noch nie gesehen. Als ich sie in der Hand hin und her drehte, drückte ich dabei versehentlich auf eines der Rechtecke. Ein LED-Lämpchen in der Karte leuchtete auf und warf in kurzen Abständen verschnörkelte rote Schatten in den dunklen Raum.
Nach einer Weile hörte das Blinken auf. Während ich noch überlegte, was soeben passiert war, fing der Bildschirm von Jacks Laptop an, in ähnlicher Frequenz weiß zu blinken. Eine Kommandozeile erschien, ein Programmcode rollte über den Bildschirm, dann erschien eine Meldung in seiner Mitte: »Fingerabdruck nicht erkannt.«
Ich trat vor den Computer und fing an zu schwitzen, da ich keinesfalls scharf darauf war, bei meiner kleinen Hausdurchsuchung digitale Spuren zu hinterlassen. Eine Sekunde später ging ein Licht neben der Webcam am oberen Rand des Bildschirms an. Mein Gesicht erschien auf dem Monitor.
Der Computer piepte dreimal laut.
Überprüfung … Authentifizierung fehlgeschlagen, lautete die Meldung.
Bitte warten Sie. Administrator wird verständigt.
Mein Herz raste. Ich warf die Karte wieder in die Schublade und schloss sie.
Jack hatte mich wahrscheinlich gehört. Jetzt war ich der Dieb. Ich wartete, dass es an der Tür klopfte, dass er mir völlig gerechtfertigte Anschuldigungen an den Kopf warf. Doch nichts geschah.
Seltsam. Das Essen musste doch bereits fertig sein. Wieso sah er nicht nach, wo ich abgeblieben war? Ich hörte, wie eine Jalousie im Erdgeschoss heruntergelassen wurde. Dann ein Geräusch, als würden Möbel herumgerückt.
Ich ging zur Treppe.
»Bleib lieber oben«, sagte Jack.
Ich ging eine Stufe hinunter und sah mich im Wohnzimmer um. Jetzt wusste ich auch, wo die .40er Glock war: Jack hielt sie in seiner erhobenen rechten Hand.
»Keinen Schritt weiter!«
Endlich erkannte ich meinen Bruder wieder.
6
Als ich Annie erzählt hatte, dass ich meinen Bruder treffen würde, hatte sie sich alle Mühe gegeben, ihre Besorgnis zu verbergen. Obwohl sie große Vorbehalte hatte, was mein früheres Leben anging, verstand sie, wie wichtig es für mich war, die Vergangenheit endlich begraben zu können und wieder eine Beziehung zu Jack aufzubauen. Jemanden zu haben, mit dem ich reden konnte.
»Geh ruhig«, hatte sie gesagt.
Wir waren vor vier Monaten zusammengezogen, obwohl wir im letzten Jahr kaum eine Nacht getrennt voneinander verbracht hatten. Wir lebten in einem malerischen Stadtteil von Alexandria namens Del Ray. Bungalows aus den Vierzigern, alteingesessene Geschäfte an der Hauptstraße. Washington befand sich direkt auf der anderen Seite des Flusses. Nach dem großen Skandal war ich heilfroh, etwas außerhalb zu wohnen. Wir hatten überlegt, in eine andere Stadt zu ziehen, doch ich wollte in der Nähe meines Vaters bleiben. Als Kind hatte ich kaum etwas von meiner Familie gehabt. Jetzt, wo mein alter Herr aus dem Gefängnis war, bemühte ich mich, diese verlorene Zeit nachzuholen. Auch darum wollte ich Jack wiedersehen.
Annie kümmerte sich um den Garten. Ich mähte den Rasen. Wenn wir auf der Veranda saßen, kam immer jemand vorbei, um ein Schwätzchen mit uns zu halten. Ich lud die Nachbarn – den Kieferorthopäden zu unserer Linken, den Steueranwalt zu unserer Rechten – zum Grillen ein. Nette Leute, wenn auch etwas langweilig. Die Gespräche drehten sich um Buchhaltungssoftware und Rentenfonds.
Gelegentlich öffneten Annie und ich eine Flasche Wein, kletterten aus dem Dachfenster und beobachteten die Sterne, einmal sogar eine Mondfinsternis. Wir steckten uns gegenseitig kleine handgeschriebene Zettel in die Aktentaschen. Ich stand im Gerichtssaal, war gerade im Begriff, mich mit einem Bundesrichter anzulegen, öffnete meine Aktentasche und fand darin ein Post-it, auf dem »Danke für letzte Nacht, Euer Ehren« stand.
Aber es war nicht perfekt. Seit mein letzter Job in purem Wahnsinn und jenem grässlichen Augenblick geendet hatte, hatte sich zwischen Annie und mir ein Graben aufgetan. Es ist eine Sache, wenn deine Verlobte hört, wie du nach fünfzehn Minuten in der Warteschleife »Verflucht, ich könnte jemanden umbringen« murmelst, aber eine ganz andere, wenn dich diese Verlobte über der Leiche eines Mannes hat stehen sehen, den du tatsächlich umgebracht hast. Sie wüsste, dass ich keine andere Wahl gehabt hatte, hatte sie mir versichert. Aber vergessen hat sie es nie. Manchmal ertappte ich sie dabei, wie sie mich mit einem gewissen Argwohn beobachtete, und da wusste ich, dass die Zweifel und Vorbehalte, die ihr Vater ihr eingepflanzt hatte, an ihr nagten.
Und sie war nicht die Einzige, die nur ungern an den Tag zurückdachte, an dem ich mich meinem ehemaligen Chef Henry Davies hatte stellen müssen. Die meiste Zeit über hatte ich mich unter Kontrolle, aber manchmal – wenn ich wach im Bett lag oder mit der U-Bahn nach Hause fuhr – tauchte sein Gesicht vor meinem geistigen Auge auf, als wäre es direkt vor mir. Oder ich erinnerte mich an das Foto seiner Enkel auf seinem Schreibtisch, spürte, wie seine Finger meine Handgelenke umklammerten.
Trotz des Blutvergießens und der großen Anstrengungen, die danach unternommen worden waren, um den Skandal zu vertuschen, hatte ich aufgrund meiner damaligen Tätigkeit in Politikerkreisen immer noch den Ruf, ein fähiger Strippenzieher zu sein. Natürlich trauerte ich den erpresserischen und höchst illegalen Methoden, die in meiner letzten Anstellung zum Einsatz gekommen waren, nicht nach. Ich war froh, dass ich es mir fürs Erste leisten konnte, mir meine Klienten auszusuchen und nur die Fälle zu übernehmen, die mich nachts ruhig schlafen ließen und trotzdem für ein ordentliches Einkommen sorgten. Natürlich kein Vergleich zu den Summen, die ich früher verdient hatte, aber genug. Wirklich rentabel ist allein ein Pakt mit dem Teufel. Nur wenn ich von einem Fall wirklich überzeugt war, wandte ich gelegentlich einen der Tricks an, den ich von meinem alten Mentor gelernt hatte: eine kleine Andeutung beispielsweise, eine gedankenverlorene Bemerkung, aufgrund derer dein Gegenüber begreift, dass du alle seine Geheimnisse kennst.
Nach dem Tod von Annies Mutter hatte ihre Großmutter – mit ihrem vornehmen Akzent und den zusammengekniffenen Lippen – diese Rolle eingenommen und trieb Annie bei den Hochzeitsvorbereitungen fast in den Wahnsinn. Dies war eine einmalige Gelegenheit für die Clarks, ihre Klasse und ihren Reichtum vor der ganzen Welt zur Schau zu stellen. Der perfekte Tag. Die perfekte Tochter. Das perfekte Leben. Wenn mir die Hochzeit und das Bestreben, mich zu einem angesehenen, respektablen Mann ohne Ecken und Kanten zu machen, auf die Nerven ging, dann war das sicher nicht Annies Schuld.
Manchmal lag ich nachts wach und beobachtete die rot leuchtenden Ziffern auf dem Wecker und lauschte in die Finsternis. Irgendwann stand ich dann vorsichtig auf, um Annie nicht zu wecken, verließ die Nähe ihres warmen, geliebten Körpers, um auf die Veranda zu treten oder einfach nur im Garten zu stehen und trotz der beißend kalten Frühlingsluft die Sterne zu beobachten. Doch die Angst, dass mir jemand dort auflauerte, um mich aus meinem schönen Heim in die finstere Nacht zu zerren, konnte ich so wenig abschütteln wie die Schwerkraft.
Ich hatte mir gewünscht, dass Jack mich verstehen würde, dass wir uns gegenseitig helfen könnten. Deshalb war ich heute Abend zu ihm gefahren.
Aber damit hatte ich nicht gerechnet.
Ich lachte und ging kopfschüttelnd die Treppe zu Jacks Wohnzimmer hinunter. Ich hatte mir mit der Suche nach einem Trauzeugen absichtlich Zeit gelassen, weil ich die vage Hoffnung gehabt hatte, meinen Bruder für diese Aufgabe zu gewinnen – nachdem ich mich mit ihm versöhnt und die Vergangenheit hinter mir gelassen hatte. Jack musste doch nur dastehen und mir eine kleine Schachtel überreichen. Was konnte er da schon falsch machen?
Hier hatte ich die Antwort: Er hatte die Eingangstür mit einem Stuhl verrammelt, stand neben dem Vorderfenster und spähte durch die Lamellen der Jalousie. Eine Schweißperle lief seine Schläfe hinunter. In der Küche verklumpten die Nudeln im Topf. Das Ganze wirkte wie ein sorgfältig arrangiertes Interieur mit dem Titel: »Warten auf meinen Mörder.«
Ohne Jack weiter zu beachten ging ich zum Herd und kostete das Phat Thai.
»Hervorragend«, sagte ich.
»Danke«, antwortete er, ohne den Blick von der Straße abzuwenden.