Die dritte Hälfte - Sabine Peters - E-Book
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Die dritte Hälfte E-Book

Sabine Peters

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Beschreibung

Ein Arztroman, ein Generationenroman, ein Familienroman, ein Gesellschaftsroman über unser gegenwärtiges Leben. Ein großes Menschenbuch Manchmal sitzt Doc, der eigentlich Hermann Dik heißt, nach seiner Arbeit in der Praxis abgekämpft zu Hause und schwänzt sogar die Sportgruppe; es hapert mit seiner Work-Life-Balance. Dabei ist sein Job kurzweilig: Tür auf, einer raus, einer rein – und dann noch Hausbesuche. Seine Angestellte Christine hat sechs Beine und Arme, sie hält den Laden am Laufen. Doc hört die Geschichten der Patienten; Herr Viersen hat keine Zeit für den Bandscheibenvorfall, während Frau Glüsing sich extra schick für für den Arzt anzieht und Frau Bültjer im Altenheim an ihr Ende geht. Am Feierabend erwartet Doc keine liebende Frau, denn die ist tot; aber seine Schwester meint es gut mit ihm und bestellt ihn zum Familienfest. Die Welt ist bunt, sagt sich Doc, wenn seine Nachbarin Mechthild und ihr Sohn, ein junger Aktivist, bei ihm vorbeischneien. Und es gibt schließlich auch den Studienfreund Brummer, mit dem Doc über das Älterwerden, über Niederlagen und Aussichten quatscht. Sabine Peters skizziert vier Generationen, die aufgrund ihres Alters und ihrer Arbeit einen je eigenen Blick auf die Zustände haben. Doc, mittendrin, ist ein melancholischer Held, aber er ist nicht allein. Ein behutsames, menschenfreundliches Buch.

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Sabine Peters

Die dritte Hälfte

Roman

Inhalt

Umschlag

Titel

Die dritte Hälfte

Impressum

Abends in Hamburg Windstille und feiner Regen. Licht in den Fenstern der Nachbarn. Doc zog die Vorhänge zu und glättete eine Falte. Er fütterte seine Katze, aß Reste vom Vortag, spülte und wischte den Tisch ab: Ordnung ist das halbe Leben. Er fragte sich nach der anderen Hälfte und räumte auf. Als Fliege wäre er unfassbar, würde mit großen Augen durchs Zimmer streifen; aber auch Fliegen lebten nach einer Ordnung. Doc fand, er brauchte keine Flügel. Er würde bloß nachts gern schlafen.

Seine Schwester schickte eine E-Mail: Hier siehst Du eine Rentnerin in ihrem neuen Fummel! Kerstins Augen leuchteten auf dem Selfie; ihre Bluse ließ ihn kalt. Er schrieb: Well done. Ihre Antwort kam sofort zurück: Nimm Dir ein Beispiel, wenn Du so weit bist!

Wäre er eine betagte Fliege, täten ihm alle sechs Beine weh, aber er könnte mit ihnen schmecken. Erholsamer Sekundenschlaf, wann immer er wollte. Er hätte Fühler, große rote Facettenaugen und wäre komplett behaart. Dazu zwei immer noch kräftige Flügel und selbstverständlich ein Herz. Er würde aus dem Zimmer fliegen und sich zwischen Mond und Sonne tummeln, bis ein Vogel käme.

*

Mechthild Stepper stand auf einem Stuhl vor dem Wohnzimmerschrank und versuchte, die Chips zu erreichen. Der Tag war gegessen; gegen den fetten Kuchen im Büro half nach Dienstschluss nur Grillwurst. Auf der Straße trommelte ein Trupp Umweltfreunde für Schmuddelwetter und Tierwohl. Doch ihr Sohn Kilian rettete anderswo die Welt, und für sie selbst war für heute nun alles zu spät. Das war ein Vorteil. So frei wie Fliegen und Vögel. Sie griff nach den Chips, stand auf den Zehenspitzen, schwankte, fiel. Stand auf, rieb sich die Hüfte. Du bist keine fünfzig mehr, nimm dich in Acht. Anscheinend war aber alles heil geblieben. Zur Not gab es Doc nebenan in der Wohnung, doch den wollte sie am Feierabend nicht stören.

*

Christine Ohlerson war auf dem Sofa eingeschlafen und schrak auf, sie war im Traum in der Praxis gewesen. Ihr Arbeitsplatz sah fremd aus, überall standen Feuerkörbe. Sie maß den Blutdruck eines Patienten, als aus dem Sprechzimmer von Doc ein Winseln drang, das in ein Kreischen überging. Christine wusste gleich Bescheid: Einer von den Verseuchten hatte sich eingeschlichen, um seinen Fluch weiterzugeben. Sie sagte scharf zu dem Patienten: Wir können Doc nicht alleinlassen. Der Patient riss die Manschette vom Arm, dann war sie mit ihm im Schrebergarten. Sie musste etwas vergraben für spätere Zeiten, für die Großeltern. Der Patient kniete neben ihr in der Erde und sagte: Vorfahren haben in der Zukunft nichts verloren! Der Feuerkorb im Garten stand in Flammen.

*

Der Brummer hieß Dr. phil. Bruno Brumlik und lebte schon lange in Bonn. Seit seiner Studienzeit war er mit Doc befreundet. Gelernter Kunsthistoriker, Dozent. Seit Jahren plagte er sich mit Arthrose, Impingement, Bandscheibenvorfällen und Tinnitus. Nun war er vorzeitig in Ruhestand getreten und nahm die Abschläge hin; Hauptsache, raus aus der Uni. Der Brummer wollte zurück nach Hamburg, ohne den Absprung zu finden. Manchmal schrieb er noch Bildbetrachtungen für kleine Fachzeitschriften; das hielt ihn senkrecht, doch er nannte sich einen Zeitvertreiber. Seine Scheidung lag jahrzehntelang zurück; aber er wünschte sich noch immer eine anschmiegsame Brummerin. Er besuchte im Internet Partnerschaftsforen, suchte nach Frauen in seinem Alter und fragte sich, wen die Frauen dort suchten. In einem Brief an Doc erklärte er die Vorzüge der neuen Bekanntschaft, äußerte alte Zweifel. Denn er war nicht nur chronisch krank, sondern auch hypochondrisch veranlagt; Schwerpunkte Prostatasorgen, Demenzangst, Sterblichkeit. Soll ich nicht besser allein bleiben?

Doc schrieb zurück: Rasier Deinen Dreitagebart und triff die Frau, Kopf hoch!

*

Doc. Eines Tages war der einsilbige Name da. Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist das Angesicht. Auf zwei Beinen stehe, oben sei ein Kopf.

Doc hängte den Hut an den Nagel.

Dies hier war sein Hut; der Nagel war ein Haken an der Garderobe in der Praxis. Er warf einen Blick in den Spiegel. Dies hier war eine Halbglatze, ein Gesicht mit Brille, Tränensäcken, Hamsterbäckchen, Schnurrbart. Er hörte ein Gewirr von Stimmen. Dies hier war sein Arbeitsplatz, die Eingangstür stand offen, im Spiegel sah er das Türschild mit dem symbolischen Stethoskop.

Hermann Dik hörte schon seit langem auf den Namen Doc. Er wollte sein Werkzeug nicht gleich an den Nagel hängen und auch nicht bald, sondern irgendwann später.

Die Kollegin Ulrike, mit der er die Praxis in St. Georg teilte, residierte in dem großen, hellen Zimmer; sein Sprechzimmer war dunkel, schmal und lang und hieß der Schlauch. Tür auf, einer raus, einer rein, Tag, Herr Doktor.

Manchmal war es wie früher als Kind; er war wieder Krämer im eigenen Kaufmannsladen. Der kleine Manni schob ein paar Dinge von einer Seite zur anderen, schepperte mit der Kasse und rief ins Nichts: Was darf es heute sein? Sein Laden war gut sortiert, es gab in kleinen Schachteln Reis und Reißzwecken, Salmiakpastillen und Murmeln; unter der Theke auch Zeichnungen nackter Menschen, die er nur schwarz und teuer verkaufte. Die große Schwester sah sich seine Waren naserümpfend an und verlangte fangfrischen Butt oder, als Einbrecher und bewaffnet, wirkliches Geld in wirklichen Münzen. Nur seine Großmutter war eine gute Kundin. Was darf es sein? Selbstverständlich haben wir hier 1-a-Schmerztropfen für Sie!

Doc konzentrierte sich bei der Arbeit aufs Hier und Jetzt. Sein Laden brummte und summte jahrzehntelang. Er war kein netter Arzt aus einer Fernsehserie, aber er galt als gut. Seine Tage waren eng getaktet und er spurte. Sah Patienten genesen und welken, klopfte sie ab, säuberte Wunden, füllte großzügig Krankenscheine aus. Er hatte nie Zeit, doch manchmal nahm er sie sich, schiente das Bein eines Dackels und führte lange Gespräche, bis die Sprechstundenhilfe Christine von draußen rief: Weitermachen, Doc!

*

Die Zeit floss unsichtbar und lautlos. Doc, Jahrgang 1957, lernte als Kind von Katholiken in der Kirche: Der Leib war sündig und musste zum Tempel Gottes werden oder verderben. Er faltete die Hände so wie alle anderen und sagte Amen.

Er wollte nicht mehr in die harte, alte Zeit mit ihren Drohungen zurück.

Inzwischen galt der Körper als ein Schatz, den man behütete und hegte. Unsere Gesundheitskasse bietet Spitzenmedizin mit Hightech und mit Herz. Wir werden regelmäßig durchgecheckt und sammeln Bonuspunkte. Wir gehen abertausend Schritte täglich. Beim Arzt bin ich Klient und König Kunde. Mein Körper gehört mir und Eigentum verpflichtet.

Die Menschen in Docs Praxis waren sterbliche Leiber, Körper, bodies oder Datensammlungen. Er verbrachte viel Zeit am Rechner beim Dokumentieren. Gott zählte jedes Haar auf jedem Kopf, blickte in jedes Herz und konnte restlos alles sehen. Menschen dagegen strampelten sich damit ab, die Technik nachzurüsten. Der pharmazeutische Vertreter öffnete die Schatzkiste und pries den neuen Betablocker. Docs Assistentinnen beherrschten Arbeiten, die früher in sein Revier gefallen waren. Er sagte sich, du bist kein Wildhüter; er litt unter dem Zwang, sich selbst beim Denken zuzuhören.

*

Was der Mensch den lieben langen Tag daherfaselt. Wer sagte Doc, dass seine Tage lieb waren? Sie waren kurzweilig, weil sie vielfach gegliedert waren. Frühstück, der Fußweg zur Praxis als erster Spaziergang, Sprechstunde, Mittagspause, Sprechstunde, Hausbesuche, Altenheimbesuche, Fußweg nach Hause als zweiter Spaziergang. Seine Frau Lucy war schon lange tot, und nach vergeblichen Liebesmühen kam er allein zurecht: In der Freizeit gab es Freundschaften und Fachlektüre; er hatte sogar eine Katze.

Seine Eltern waren auch nach der Arbeit immer beschäftigt gewesen: Der Garten brauchte sie, die Feuerwehr war Ehrensache, und im Chor sang man zum Lob des Höchsten. Katholiken in der Diaspora in Hamburg, Anfang der Sechzigerjahre, Hardcore-Erziehung. Doc selbst hasste Gartenarbeit, hatte die Jugendfeuerwehr beizeiten verlassen und auch der Kirche den Rücken gedreht.

Hobby, das war ein Ausdruck für Briefmarkensammler aus alten Zeiten. Die schwungvolle Work-Life-Balance klang nicht viel besser. Work war das eine, in seinem Fall die Praxis. Sie sollte sich ins life einschmiegen. Life wie Vogel Greif, wie Sternenschweif, wie wife. Doch es gab kein Weib und kein Kind, keinen Kegel, die Liebe war tot, sein life war steif, es reimte sich nicht.

Wörter konnten ihm den Buckel runterrutschen. Er war kein armes, buckliges Männlein, er und seinesgleichen waren gesuchte Leute.

Freuden der Pflicht. Eng bemessene freie Zeit. Beim Frühstück hatte er gelesen: Die Volkshochschule bot für Männer Whiskey-Kurse an und Grundlagen des Motorsägens. Er sah schon, wie sie in seine Praxis torkelten, stinkend und blutüberströmt. Er sagte sich: Du bist ein heiteres Gemüt. Du ergreifst jeden Vorwand, um deine sonnige Seele zu kitzeln. Er beschwor sich, das ist die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Sein Leben mochte steif sein oder reif, oft überreif und sicherlich begrenzt, aber wenn ein Gedankenblitz ihn amüsierte, lächelte er in sich rein.

Dann breitete ein Schatten seine Flügel aus und flog über ihn hin.

*

Doc war ein Anhänger der Häubchentheorie, die er als kleiner Junge von der Großmutter gehört hatte: Im Teich stand Vogel Storch und spähte. Stakste voran, stach mit dem Schnabel zu, fischte ein Kind aus dem Wasser. Die Teichkinder trugen auf ihren haarlosen kleinen Schädeln Häubchen aus Stoff, die waren dunkel oder hell gefärbt und mehr oder weniger reich bestickt. Kein Mensch hatte sie je gesehen, doch jeder trug seit der Teichzeit sein eigenes Häubchen, war mit einem eigenen Wesen ausgestattet, an dem sich im Grunde nichts ändern ließ. Daher gab es Schattenexistenzen, leuchtende Gemüter und dazwischen allerhand Gemischtes. Der Vogel fischte Menschenwesen aus dem Teich und setzte sie in irgendeiner Zeit an irgendeinem Ort bei irgendwelchen Leuten ab. Nun ging es los. Man konnte allerhand versuchen und sich öffnen. Man konnte lernen, man konnte Freundschaft und Liebe finden, man konnte zur Decke oder zur Sonne fahren. Man kämpfte gegen Widerstände und fand Beistand, man erlebte Überraschungen und wurde überhaupt nicht fertig mit der Welt, aber das Häubchen saß fest. Da halfen kein Gewese und Getue. So viel zur Freiheit.

Die Welt war eine Kugel. Die Erde bestand aus Schichten. Überall lagen menschliche Überreste aus allen Zeiten. Archäologen knieten in der Erde und pinselten Staub. Manchmal fanden sie auf den Totenschädeln Fetzen von Stoff, deren Herkunft kein Wissenschaftler erklären konnte. Die Häubchentheorie war unbewiesen. Doc nannte sie als Schüler einen Aberglauben, aber sie holte ihn im weiteren Verlauf des Lebens immer wieder ein. Er war kein Fan von ihr, doch er kam auch nicht von ihr los.

*

Sein Tag begann mit Ritualen: Nach dem Rasieren wünschte er seinem Spiegelbild einen guten Tag. Er rührte einen Löffel Leinsamen in den Joghurt und aß danach ein Schwarzbrot mit Quark, exakt in sechs Stückchen geschnitten: Schon gab es eine Struktur. Jeden Tag trug er der Katze auf, lass keine fremden Männer ein. Und jeden Tag fürchtete er sich vor der Nacht.

In der Praxis drängte er sich am kundenumlagerten Tresen vorbei, sah im Spiegel sein altes Gesicht und hörte das alte Lied: GemeinschaftspraxisDoktorUlrikeBaumgartenundDoktorHermannDikmeinNameistChristineOhlersonwaskannichfürSietun.

Christine Ohlerson hatte vier Augen, vier Ohren, sechs Arme und Flügel. Sie konnte besser Blut abnehmen als Doc und Ulrike. Aber sie mochte keine vollbesetzten Wartezimmer: Wenn beide Ärzte schon hofften, die Luft sei rein, sahen sie die Patienten im Labor und im EKG-Raum schmoren. Christine stellte das lästige Telefon zehn Minuten vor Schließung der Sprechstunde ab und den Anrufbeantworter an. Sie trug seit ihrer Brustkrebs-Operation ein Tattoo auf dem Arm: Cthulhu war ein interstellares Wesen, das keinem Naturgesetz unterlag. Es hatte einen humanoiden Körper und Tentakel auf dem Kopf. Christine trug diese finstere Gottheit als Beistand gegen den Krebs, denn Gift wird mit Gift bekämpft. Sie schwärmte für Sci-Fi und Horror. Wenn sie von mythischen alten Welten, wahnsinnigen Wissenschaftlern und zeitreisenden Gehirnen sprach, besah Ulrike Baumgarten sich ihre Fingernägel.

Wieder hatte die neue Azubi vergessen, das Ultraschallgerät anzustellen; so kam auch heute der erste Stau von Patienten zustande. Hatice sprach fließend Deutsch und Spanisch; sie übersetzte auch Türkisch, wenn die Ärzte nur Bahnhof verstanden. Kafan patliyor, warte, ich weiß: Mein Kopf explodiert. Herr Yildirim hat Migräne.

Doc trug bei der Arbeit schon lange keinen weißen Kittel mehr und hatte sich auch das Stethoskop um den Hals abgewöhnt. Sein Schreibtisch war penibel aufgeräumt, die wenigen Gegenstände lagen in Reihe und Glied. In seinem blauen Heft aber herrschte das Chaos: hingeschmierte Notizen, holprige Verse, wilde Kritzeleien. Dafür nie ein Fussel an der Kleidung und die Brille immer frisch geputzt.

Das blaue Heft

Der Hinker aus Hamburg ist frohen Mutes,

er will im Gemüte immer nur Gutes.

Doch dann jagt sein Herz,

er fühlt großen Schmerz.

Er schlägt seine Frau, er schlägt seinen Hund,

er schlägt sich den eigenen Schädel wund.

*

Die alte Frau Glüsing war Stammgast in seiner Praxis. Sie trug den Sonntagsstaat, den es längst nicht mehr gab; sie trug den Arztbesuchsstaat: scharf gebügelte Bluse, ehrbare Brosche, Hose mit praktischem Dehnbund für die Senioren. Sie nahm auf der Stuhlkante Platz. Er fragte, wie geht es Ihnen? Sie fand, ihr Terrier gab Grund zur Sorge: Schagan war immer wild auf Wurst, jetzt macht er lange Zähne. Vielleicht liegt es am Alter. Sein Bauch ist manchmal hart, obwohl mit der Verdauung alles stimmt; er frisst auch die Möhren, die ich ihm in sein Futter menge, aber der Bauch macht mir Sorgen. Andererseits, Schagan benimmt sich auf der Hundewiese so gesellig wie sonst auch: Er zeigt Interesse an den anderen und läuft mit ihnen nach Stöckchen. Nur den Dobermann kann er nicht riechen, da macht er sich schleunigst davon.

Frau Glüsing setzte sich bequem zurecht. Doc schob die leidige Frage so lang wie möglich auf, doch schließlich unterbrach er: Jetzt zu Ihnen; wie geht es Ihnen?

*

Er saß abends zu Haus im Wohnzimmer, die Beine hochgelegt, und sah an den Gardinen auf und ab. Die Nackenwirbel knirschten. Frau Glüsing glich seiner Mutter; auch sie zerfranste mit den Jahren wie ein mürbes, altes Gewebe: Wenn er die Mutter fragte, wie geht’s, ließ sie verlässlich einen Schwall von Nachbarschaftsgeschichten los. Es brauchte Zeit, bis er verstand: Der Tratsch war ihre Art, sich auszudrücken und ihm zu zeigen, was sie bewegte.

Früher, noch in seiner Schulzeit, war sie ein Panzer gewesen; sie walzte direkt auf ihn zu und feuerte los: Du schlägst mir auf den Magen! Was gehen dich Atomkraftwerke an? Ich will sie nicht in meiner Küche, halt den Mund! Wenn du es gerne sauber hast, dann räum dein Zimmer auf!

Der Klatsch der alten Mutter über ihre Nachbarn klang verständnisvoll und milde: Herr Schulze, den musst du noch kennen, seine Frau hat mit mir im Chor gesungen, er wohnte gleich gegenüber vom Bäcker, also wo der früher war; der Schulze ist mitten im Gottesdienst aus der Kirche gestolpert; der Pastor sagt, er hat einen Darmkrebs. Schulze ist erst unlängst umgezogen, gleich vier Straßen weiter der schicke Neubau mit allen Schikanen, was hat er jetzt noch davon? Ein Neubau ist auch nicht das Gelbe vom Ei. Der Aufzug streikt, sagte der Pastor, er musste drei Stockwerke hochkrauchen, als er den Schulze besuchte.

Die Mutter war als Demente versteinert. Vorher breitete sie schwatzhaft ihren Krimskrams vor ihm aus und führte ihren Kaufmannsladen vor, ein gut sortierter Laden mit sehr schönen Funkelsteinen in den Schubladen. Sie war ein reicher Kaufherr aus dem Orient in ausgelatschten Pantoffeln. Eine morgenländische Mutter, eine Frühmorgenfrohnatur, die nie verstanden hatte, dass es auch Nachteulen gab. In den Schulferien platzte sie in sein Zimmer, riss die Vorhänge auf und sagte: Hier ist ein neues Unterhemd, dein altes habe ich weggeworfen. Du meinst vielleicht, man sieht es nicht, aber wenn du im Krankenhaus liegst, wundern sich die Schwestern, und es fällt auf mich zurück.

Seine Mutter war nach Lucy gestorben, aber noch vor Corona. Er hatte das Jahr ihres Todes vergessen. Die Mutter hatte sich mit Lucy gut verstanden.

Es gab die allgemeine Zeitrechnung und die persönliche.

Vor Lucys Tod, nach Lucys Tod.

Jedes Wort verlor den Sinn, wenn man es endlos wiederholte.

Die Katze strich durchs Zimmer. Sie machte einen Buckel und streckte sich. Mit der Vorderpfote wusch sie das Gesicht, sie kratzte mit dem Hinterbein das Ohr. Sie war die Beschützerin des Hauses, hütete das Feuer. Sie hatte neun Leben. Doc wusste nicht mehr, waren es neun Leben oder sieben? Lucy hatte sie nach der ägyptischen Göttin Bastet benannt, doch kein Mensch wusste, ob sie diesen Namen akzeptierte. Sie bewegte sich wie die erste und einzige Katze des Universums. Sie sprang Doc auf den Schoß.

Er drehte den Kopf von links nach rechts und wieder zurück und hörte es knacken. Gelenkverschleiß und Knorpelabrieb. Neben ihm stand das Kissen mit einem exakt geschlagenen Knick in der Mitte. Die Putzfrau hinterließ es immer so, als wollte sie beweisen, dass sie da gewesen war. Er nahm es und stopfte es in den Nacken.

Später raffte er sich auf und ging ins Schlafzimmer, um seine Oberhemden zu bügeln.

Freitag, Tag des Wäschebügelns; ohne Routinen verlottert der Mensch.

Über der Kommode an der Wand hingen die Fotos seiner lieben und weniger lieben Toten: Oma Hedi, Vater, Mutter, Lucy. Und Gisela, Frau Dr. Lindemann. Sie hatte ihn vor fünfunddreißig Jahren auf die Spur gesetzt; er war ein Medizinstudent im Praktikum und staunte und vertraute ihr. Es kam noch heute vor, dass er sie fragte: Was meinst du zu den Kopfschmerzen von Yildirim?

Die Studentin, die einmal während der Semesterferien in seiner Praxis mitlief, war geschickt gewesen, klug und freundlich. Beim Ärztestammtisch klagten einige Kollegen über arrogante, ehrgeizige Famulanten, doch er selbst hatte mit der Studentin damals Glück gehabt, dabei war er als Lehrer höchstens mittelprächtig. Sein Leitsatz, lass sie üben, war im Grunde Faulheit.

Das Bild von Gisela hing an der Wand, sie lag in Ohlsdorf auf dem Friedhof, konnte ihm nicht helfen. Er musste selbst versuchen, sich und anderen beizustehen.

Es war nun an der Zeit, sich selbst zu fragen, was er eigentlich getrieben hatte und noch treiben wollte.

Vorerst betrieb er das Bügeln. Man durfte sich auf Wäschereien nicht verlassen, die lieferten Falten an falschen Stellen. Er plättete pedantisch. Er hatte sogar ein Ärmelbrettchen.

*

Jeden zweiten Sonntag kam Mechthild abends zum Fernsehen vorbei. Sie lieferte die Filme, er die Getränke; beim Kochen wechselten sie ab. TV-Dinner, meistens etwas zum Löffeln.

Heute ein alter Mordsfilm aus England; Detective Chief Inspector und sein Sergeant gingen ihrer Arbeit für das Gute nach. Dazu der Hühnereintopf von Mechthild; Doc schmatzte, lobte, lächelte. Mechthild fand, er sah aber selbst heute so aus, als hätte er sich die letzte Nacht um die Ohren geschlagen und tagsüber Steine geklopft. Manchmal schlief er beim Fernsehen ein, obwohl sie da war; das nahm sie als Vertrauenszeichen.

Eine schwarz behandschuhte Hand brach einen Medizinschrank auf und griff nach Ampullen, ein Cello sägte Synkopen, dissonante gefährliche Töne.

Doc fragte, wie geht’s Kilian? Sie sagte, schreib ihm. Wenn du Glück hast, liest er deine Post und schickt dir einen Zweizeiler zurück. Ich weiß nur, dass er dieser Tage kommt. Wo will er schlafen? Er hat mir schließlich diese Mitbewohnerin ins Nest gesetzt! Doc fragte, ist das die Bohnenstange mit den rosa Haaren? Die stakste neulich im Hausflur vorbei. Mechthild seufzte: Tullia. Kilian sagt, eine Freundin von Freunden, Studentin. Leise und lieb, sagt er. Er braucht sein Zimmer als bewegter Mensch nicht mehr, sagt er, und ich kann die Miete kassieren. Aber wo schläft er, wenn er kommt? Im Wohnzimmer auf dem Sofa. Doc sagte: Besser als ein Baumhaus. Hauptsache, ihr schlagt euch nicht. Mechthild winkte ab: Kilian ist gewaltfrei. Jedenfalls gegenüber Lebewesen.

Er goss ihr Wein nach und trank sein bierfreies Bier. Fernsehzeit war Sprechzeit, doch Mechthild war keine von denen, die eine gute Nachbarschaft zum Arzt ausnutzen, um wichtige Fragen bezüglich des Ohrensausens zu stellen. Er sah, wie sie an ihrem Ekzem am Unterarm kratzte, und hielt sich zurück; er war kein Menschheitsretter, der ungefragt Diagnosen stellte. Die erste Leiche wurde zugedeckt, der Sergeant sah ihr traurig nach. Ein Jüngling mit englischen Zähnen trug feinen englischen Tweed und flirtete mit einem Mauerblümchen in züchtiger englischer Schuluniform. Die schwarzen Handschuhhände schraubten an einem Auto. Der Sergeant verfolgte einen Maskierten; ihre wilde Jagd ging über Mauern, durch dunkle Schuppen, Doc gähnte, und der Maskierte entkam.

Mechthild fand die Story dröge, aber Doc mochte Einschlaffilme, die selbst ein Kleinkind sehen durfte. Ihr war es schnurz; sie plauschte lieber zusammen mit ihm vor der Glotze, als sich allein zu sagen, was für ein Tünkram.

Indessen war der Jüngling guter Dinge und stieg in den Wagen. Mechthild nahm einen Löffel Eintopf und verschluckte sich, während sie sagte, Dummkopf, lass die Karre stehen! Das ist ein Cabrio, ein Triumph Stag, behauptete Doc. Sie zog die Nase kraus: Selbst Kilian weiß mehr von Autos als du. Er sagte: Der weiß nur Schadstoffzahlen, aber von Oldtimern hat er keine Ahnung. Der Maskierte brach in einem alten Haus bei einer alten Witwe ein und wühlte in alten Papieren, während die Witwe ahnungslos schlief. Mechthild checkte ihr Handy.

Das Mauerblümchen zog ein rosenrotes Kleid an, dazu mörderische High Heels, das Blümchen wurde zur Rosenlady, während der Jüngling zu ihr fuhr, er rollte durchs grüne englische Land, er war unterwegs zur Liebe, kam an einem See vorbei und lächelte, und Schwäne zogen über ihm. Grüne geschwungene Weiden und Felder flogen vorbei, während die Rosenlady sich die Lippen rot anmalte, Mechthild einen Schluck von ihrem Wein nahm und Doc einnickte.

Die Katze sah zur Tür herein, als der Maskierte sich über die schlafende Witwe beugte, begleitet von rabiaten Synkopen. Dann knallte es, das war das explodierte Auto mit dem explodierten Jüngling. Mechthild stellte die Glotze leiser, und die Katze sprang auf ihren Schoß. Der Detective Chief Inspector untersuchte Spuren, untermalt von zaghaftem Geigenzupfen. Doc schrak auf. Er hatte eine andere Musik gehört. Aus dem Nichts zwei Hände voll Töne, Akkorde, Posaune oder Saxophon und Stimme.

Das blaue Heft

Die Band bestand aus Pinguinen in schwarzweißen Fracks. There’ll be a hot time in the old town tonight. Lucy sang immer einen Viertelton daneben. Give me your telephone number. Man schreibt etwas auf und man schreibt etwas ab. Don’t go away nobody. Auch die Toten bleiben.

War einst ein grüner Erdenwurm,

kroch strebsam hoch hinauf den Turm.

In seinem Herzen war kein Stein,

da sprang er in den Mondenschein.

*

Regentropfen fielen von den Bäumen, aber die Wolkendecke war aufgerissen; ein heller Morgen in Hamburg-Volksdorf am Waldrand. Das Haus war alt und struppig wie der Garten.

Kerstin stand auf der Terrasse, blinzelte in die Sonne. Der Tag gehörte ihr. Jahrzehntelang stand sie um diese Zeit längst in der Bibliothek in Hamburg-Mitte, sortierte Bücher und betreute Leser. Als Rentnerin war man frei! Man konnte bis in die Puppen schlafen, aber die innere Uhr schlug pünktlich. Sie fühlte Tatendurst. Gerds kleines Elternhaus machte viel Arbeit; die Fensterrahmen brauchten einen neuen Anstrich, und im Garten sollte man die Sträucher längst zurückschneiden. Alles bleibt immer an mir hängen! Alles und immer, No-go-Wörter, sie sagten die blanke Wahrheit. Gerd fing jede Aufgabe mit Feuereifer an, dann tauchten Schwierigkeiten auf, und er verschwand im Internet. Projekt Kräuterspirale. Projekt Fahrradschuppen. Die Spirale ein Haufen Geröll, das Schuppendach undicht. Wenn ich nicht immer alles mache, bricht die Welt zusammen.

Die Bibliothek in der Innenstadt stand allerdings so da wie eh und je. Es gab nur keine Bücher mehr. Stattdessen im Erdgeschoss ein Park für die Kleinen, ein Lauf- und Hindernisparcours, und oben zockten Jung und Alt an Endgeräten. Neue Kunden mit niedrigschwelligen Angeboten gewinnen, Kinder toben lassen: Das leuchtete ihr ein. Aber es gab ihr doch einen Stich, als gleich nach ihrem Abschied weitere Bücher verschwanden. Seit der Kindheit war das Lesen Kerstins Lebensrettung; in ihrem Kopf vermischten sich die Heiligenlegenden mit den Lügen von Baron Münchhausen und den Abenteuern von Huck Finn. Der Winnetou aus ihrer Fantasie entsprach nicht den Geboten der politischen Korrektheit, konnte hexen und starb nie. Sie dichtete ihm neue Abenteuer für die Tochter Gitta an und war inzwischen für die Enkelin Jasmin zur Quelle der Verzauberung geworden. Das hoffte sie, denn es gab starke Konkurrenz in digitalen Medien.

Die Strickleiter an der Kastanie verrottete. Kerstin gab dem zerfaserten Ding einen Schubs. Gerd sollte es längst abhängen. Willst du, dass Jasmin sich ihren Schädel aufschlägt? Es kommt der Tag, da messe ich dir den Strom zu: Bevor du wieder am Computer hockst, streichst du die Fensterrahmen! Und wenn du einmal dabei bist, streichst du gleich auch den Gartenzaun; du kannst es wie Tom Sawyer machen und deine Freunde ranlassen. Gerd und Freunde? Männer hatten Kumpel.

Ihr Mann aber, der brauchte nicht nur Nachsicht, sondern auch Aufsicht. Er brauchte zu seinem eigenen Besten das milde Regime einer Königin.

Und trotzdem hatte Kerstin ihrem Bruder in einer stillen Stunde einmal anvertraut: Ich würde Gerd gerne in andere gute Hände geben.

Der Bruder hatte gesagt, du redest wie von einem Hund.

Er war genau so eine trübe Tasse wie ihr Mann.

Kerstin hatte das Thema gewechselt, denn sie wusste schließlich auch: Wehe, wenn andere als ihre eigenen guten Hände es wagten, sich Gerd zu nähern. Er war ihr Mann, und sie war stolz auf eine Ehe, die mit Wenn und Aber hielt. Bis der Tod euch scheidet. Dann würde sie Gerd hinterherweinen, sie würde allerdings kein Jahr lang Trauer tragen wie die Mutter: Schwarz machte schlank, erinnerte doch aber auch an Friedhof. Und welcher Mann wollte schon ein Gerippe tätscheln? Kerstin war rundlich, aber noch lange nicht dick. Sie liebte bunte, kräftige Farben, den ganzen Regenbogen einmal rauf und runter. Sie trug nie Hosen, denn wer schöne Beine hat, soll sie auch zeigen. Röcke verhalfen zu Anmut und Würde, und sie hatte als junges Mädchen den Hüftschwung geübt, bis er saß, siehe Marie Antoinette. Die war in dem Roman von Stefan Zweig sogar noch aufs Schafott mit leichtem Schritt gegangen. Kein Mensch lieh in der Bücherei noch Zweig aus, und ihre eigene Tochter ging wie ein Kaltblutpferd, leider.

An diesem hellen Morgen streifte Kerstin durch den Garten, setzte auf einer ausgedachten Linie hübsch einen Schritt vor den andern; da habt ihr den Hüftschwung, ihr Lieben. Der Garten applaudierte: unübertroffen! Sie übersprang eine Pfütze, als wäre sie wieder Kind. Ein Augenblick von Übermut. Eines Tages würde sie hier als Witwe gehen; natürlich würde Gerd vor ihr sterben. Er würde unsichtbar über ihr fliegen. Er wäre freundlicher als je in seinem Leben, er würde all ihre Eigenarten verstehen, so wie auch alle anderen Menschen nach dem Tod zu Weisheit und Freundlichkeit fänden. Das war die Liebe Gottes. Kerstin wusste, was ihre Mutter von dieser Art Glauben gehalten hatte: Du meinst vielleicht, du glaubst an unsern Gott, aber du strickst dir nur zusammen, was dir passt.

Warum auch nicht? Kerstins Gott war so großzügig wie sie selbst. Sie zahlte zwar noch Kirchensteuern, war aber eine der Karteileichen in der Gemeinde. Ihr Gott verlangte nicht, dass sie sich einmal in der Woche in der Kirche langweilte, er war dem Weltlichen zugetan und sah es gern, wenn sie Line Dance in der Gruppe übte. Er verstand, dass eine Ehefrau trotz Seitensprung noch treu sein konnte, er ließ das Gras wachsen, bis alles verjährt war. Er liebte bedingungslos und verzieh. Dereinst, im Jenseits, würde vollkommene Freude herrschen. Gott hatte den Menschen die Freiheit geschenkt, und deshalb war das Diesseits unvollkommen. Man musste dem Elend etwas entgegensetzen: Wer die Freude in der Welt vermehrte, tat gut.

Kerstin hatte sich während der Zeit des harten Lockdowns jeden Tag nach dem Homeoffice aufgebrezelt; oft trug sie ihr schönstes Outfit: sonnengelbe Strumpfhosen, orangefarbener Rock, dazu das klatschmohnrote Oberteil mit sonnengelbem Jäckchen. Sie drehte eine Runde durch das leergefegte Volksdorf und den Wald ringsum und sagte: Ich schmücke die Gegend mit mir. Sie hatte allen Leuten aus dem gebotenen Abstand gewinkt und stürmisches Winken der anderen erlebt. So machte man das!

Ihr Bruder wirkte grau, wenn sie ihn sah. Seine Tage in der Praxis stellte sie sich spitz und kantig vor, doch ihr Mitleid hielt sich in Grenzen. Hatte Herr Doktor sich je gefragt, ob seine große Schwester auch gerne das Abitur gemacht und eine Frau Doktor geworden wäre? War ihm früher aufgefallen, wie die Mutter mit ihm angab? Über ihre Tochter hieß es nur, die heiratet ja doch. Exakt. Geheiratet, ein Kind zur Welt gebracht, jahrzehntelang berufstätig und mittlerweile stolze Oma, aber für die Mutter zählte nur der Stammhalter, der Nesthaken.

Herr Doktor mit dem Stethoskop, ein gutgestellter Menschheitsretter, dessen Wert unangefochten war. Der nach der Arbeit keinen Finger krumm machte. Wer hatte sich um die sterbende Mutter gekümmert? Wer hielt das Elterngrab in Ordnung? Wer brachte die Familie zusammen, damit man sich auch jenseits von Beerdigungen traf? Lauter unsichtbare, unbezahlte Arbeit. Der Bruder brach sich keinen Zacken aus der Krone, wenn er ein paar Goldstücke spendierte. Gitta war schließlich seine Nichte und Jasmin die Großnichte. Solide Bausparverträge. Wer selbst kein Kind zustande brachte, konnte in die Zukunft der Verwandtschaft investieren. Neulich war das bröckelige Hausdach dran gewesen. Der Bruder hatte es begriffen, als er mit eigenen Augen all die Wasserschüsseln auf dem Dachboden gesehen hatte. Jetzt schimmerten im Sonnenlicht die regennassen neuen Schindeln. Einer der Dachdecker, ein alter Schwarzarbeiter aus der Nachbarschaft, der rackerte, bis er tot von der Leiter fallen würde, hatte mit ihr geflirtet. Sie selbst konnte es auch noch, eine Überraschung.

Aber keine große. Die Häubchentheorie des Bruders war ein Firlefanz. Im Märchen war von einer Glückshaut die Rede gewesen, doch wenn es stattdessen nur Glückshäubchen gab, dann war sie, Kerstin, mit solch einem Häubchen zur Welt gekommen; es war bestimmt ganz bunt und fein bestickt. Später hatte sie die mütterliche Präzision und Vaters Sanftmut übernommen und sich zum Besten hin weiterentwickelt, während Manni, der Kleine, vermutlich schon bei der Geburt ein mausefarbenes Häubchen trug. Blödsinn, es lag an den Eltern. Manni war pingelig wie Mutter, hatte Vaters Zagheit geerbt und war nie aus dem Mustopf rausgekommen. Negatives Seelenerbe. Es war erstaunlich, dass eine Frau wie Lucy ihn genommen hatte, und vorhersehbar, dass er nach ihrem Tod nicht in die Pötte kam.

Sie hatte den Bruder mehrfach verkuppeln wollen. Er nahm von ihr aber nur die Akupunkturpatienten an, die sie ihm aus der Nachbarschaft schickte. Vermutlich war er gut mit den Nadeln, sonst würden ihre Nachbarn nicht den weiten Weg zur Innenstadt machen. Kein Grund, ihn an sich selbst heranzulassen, wenn irgendetwas ziepte. Frauen stellten sich nicht an, sie bluteten von Jugend an und litten jeden Monat. Früh lernte man, was Schmerzen sind und dass der Mensch hinfällig ist. Einmal war von der Mutter ein unerwarteter Trost gekommen, als Kerstin, fünfundzwanzig, in ihrer Küche zusammenklappte. Die Mutter hatte gesagt, Menstruationsschmerzen können so schlimm wie Wehen sein. Für diesen Satz würde ihr alles andere verziehen werden am Ende der Zeit, und sie, Kerstin, hatte der Mutter schon heute vergeben.

Sie sah hinauf ins Himmelsblau. Schafswölkchen trieben dahin. In den nächsten Stunden würde es nicht regnen. Oben flogen die Toten und hatten ein gutes Auge auf alles, was sich hier regte. Sie lagen gleichzeitig auch in der Erde.

Kerstin ging ins Haus und sagte Gerd: Ich fahre zu unserm kleinen Grundstück nach Ohlsdorf, willst du mit?

Unser kleines Grundstück war das Grab ihrer Eltern; seine lagen in Öjendorf. Er fragte, mit dem Rad? Gleich kommt der nächste Schauer!

Und morgen sterben wir, und übermorgen geht die Welt unter. Sinnlos, mit Gerd zu streiten. Wir leben jetzt, der Tag ist jung, und auch Rentner müssen nicht rasten.

*

Der Brummer ließ seine zehn Finger auf der Tastatur tanzen. Sie tanzten blind und feurig; seine Tippfehlerquote lag auch bei längeren Texten bei null. Sein Brief an Doc war episch lang und im Kopf längst fertig, doch der Computer war ausgeschaltet.

Er kratzte den Dreitagebart, schaltete das Gerät ein und sprach sich gut zu: Im Kopf ist alles aufgeschrieben. Jetzt muss ich nur noch abschreiben. Man müsste bloß die Schmerzen in der Schulter und im Ellenbogen forthexen.

Er tippte: Lieber Doc, wann zwitschern wir mal wieder los auf eine Reise?

Der muntere Anfang gefiel ihm nicht. Delete.

Lieber Doc, aus Bonn nichts Neues. Mein Chef steht immer noch auf meinem Schreibtisch, obwohl er doch pensioniert ist und bei mir zu Hause nichts verloren hat. Er steht natürlich nicht auf meinem Tisch, er hat zu tun, der Herr Professor produziert und publiziert wie eh und je. Du kannst ihn im Radio hören, in großen Fachblättern lesen. In seinen Kreisen schiebt man sich Aufträge zu, man hat Erfolg und einen Namen, man tönt und klingt. Andere sind seit der Pensionierung weg wie nie gewesen. Dozenten, Mittelbauern, das Fußvolk der Uni. Kein Mensch will wissen, was ich weiß. Ich bin von Eifersucht zerfressen.

Der klagende Anfang gefiel ihm auch nicht. Delete.