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Sabine Peters` Roman erzählt vom behüteten Aufwachsen mit religiösen und literarischen Prägungen, thematisiert aber auch die Ängste, die vor niemandem haltmachen. Marie lässt im Sandkasten die Welt entstehen. Im Spielzimmer feiert sie mit den Schwestern einen Gottesdienst. Sie wird ein Indianer, ein Auto, ein Esel, eine Glocke. Der Mopp im Besenschrank verwandelt sich zu einem Götzen mit Mähne. Ein Bilderbogen über die profanen und magischen Erlebnisse einer Kindheit der 60er Jahre: Rangeleien unter Geschwistern, Urlaub mit der Familie in Holland, die schönsten Sommertage. Die Idylle ist immer gefährdet oder wird zum Zerrbild, Komik und Schrecken wechseln im Text ab. Sabine Peters beschreibt mit großer Intensität, unaufgeregt und phantasievoll das behütete Aufwachsen mit religiösen und literarischen Prägungen und erzählt dabei von Angst und Jubel, Zorn und Zuneigung, Autoritätshörigkeit und Widerspruchsgeist. Ein Geschichten- und Geschichtsbuch über die "Wohlstandsjahre" der Bundesrepublik, das schließlich in eine surreale Gegenwart springt; die Bilder reißen, bilden neue Muster und wirbeln davon. Ein Roman über das scheinbar Kleine, voller Poesie und leiser Töne, behutsam und virtuos erzählt.
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Seitenzahl: 224
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Sabine Peters
Ein wahrer Apfelleuchteteam Himmelszelt
Roman
Im Wasser
In der Wüste
Mittagessen
Der Schutz der Großmutter
Ort der großen Vorführung
Auto, Krefeld, Ferien in Holland
Holland, Fortsetzung
Lehrreiche Kunst
Glauben und Wissen
Schulbeginn
Gespräche
Schulweg
Zahnarzt
Schneewittchensarg
Das Hühnerhaus und der Besuch von Oma Hanna
Einfache und schwere Übungen
Im Vaterland
In Mutters Stube
Fürs Leben lernen
Niemand entgeht dem Schicksal
Karneval
Wie ein Fieber kommt und geht
Umzug
Neue Wege in der Stadt
Der Frühling kommt, wir freuen uns
Der kranke Raum
Kleiderkammer
Bergpass
In der Küche
Schlösser
Pferd und Sphinx
Wassergeschichte
Übungen in Logik
Elternhäuser
Andere Menschen, andere Sitten
Vaters Fantasie und Mutters Arbeit und Mamatschis Wille
Kadenz
… wie sich unser Sinn denn an alles, besonders in der
Kindheit, gewöhnt …
Ludwig Tieck: Der blonde Eckbert, 1797
kindersprache
wenn ich jetzt spreche wie ein kind
weiß ich garnicht ob ich jemand finde
der sich das anhören möchte
denn ich spreche ja jetzt nicht als kind
weil ich dazu schon viel zu alt bin
aber vielleicht ist es auch ganz egal
ob sich jemand das anhören möchte
wenn es mir nur eine freude macht
und ich dann weniger griesgrämig bin
bei den anderen
Ernst Jandl: der gelbe hund, 1980
In Wirklichkeit waren es sieben Brüder
Anonym, 2020
Es war einmal ein Boot im Meer.
Kinder saßen in der Wanne, Schwestern waren Seeleute.
Die Älteste saß als Kapitän am Heck des Bootes, beim Stöpsel und bei den Hähnen, sie hatte die Macht über Kälte, Wärme, Zufluss und Abfluss. Die Zweite saß vorn, nannte sich Steuermann und hielt nach Gefahren Ausschau. Sie wischte auch die Bugscheiben des Bootes und bewegte ihre Arme dabei gleichmäßig, als wären sie huldvolle Scheibenwischer an Vaters Auto.
Die beiden Älteren sangen das Lied vom geladenen Schiff, das Gottes Sohn trägt. Die Dritte war ein tatenloser Passagier auf dem beengten, billigen Platz in der Mitte. Doch der wurde zum Ehrenplatz, sobald der Schiffer seinen Auftritt hatte.
Bei dem gemeinsamen Baden trat er immer erst spät auf. Wenn eine der beiden großen Schwestern Schiffer wurde, durfte die Dritte an den Stöpsel oder wechselte zum Bug. Dabei schlängelten sich die Kinder als glitschige Wale geschickt aneinander vorbei. Sie bliesen große und laute Fontänen, sie pupsten Blasen.
Doch vor dem Schiffer-Auftritt gab es Anderes zu tun. Sie erschufen Schaum, der trieb auf dem Wasser, flog durch die Luft. Kleine Wolken wurden auf den Wannenrand erhoben. Dann stießen Schnäbel und Mäuler zu, saugten sie ein und spien sie wieder aus. Größere Schaummassen wurden im Wasser erstickt und tauchten unversehrt anderswo wieder auf. Schaum-Ungeheuer, hatte man eines besiegt, schon war es in anderer Gestalt wieder da. Die Kinder bliesen Schaum durch die Luft und schrien, wenn Sturm war. Es stürmte oft, dann drohten sie zu kentern, das Wasser war aufgewühlt, alles bäumte und bog sich. Sie selbst waren das Tosen. Oft schrie die Mutter von draußen: Wehe, wenn ich komme! Aber sie ließ den Töchtern Zeit. Sie kümmerte sich um ihr jüngstes Kind, das noch gefüttert und gewindelt wurde und das sie in einer Schüssel badete, bevor es eines Tages auch zur Bootsbesatzung kommen würde.
So war die Mutter nicht dabei, wenn die drei Älteren Vaters Gebot befolgten. Er hatte sie gelehrt, was er von einem Seemann wusste, Matrosen im Boot müssen schiffen. Denn das bekämpft die Pilze. Die Kinder wollten nicht wie tote Bäume pilzbewachsen sein. Ihre Eltern hatten ihnen das Leben geschenkt. Sie befolgten Vaters Gebot.
Jutta war der Kapitän, Barbara Steuermann, Marie der Passagier. Das Boot legte ab, sie schipperten los, schlugen Wellen.
Jutta als Älteste trug die Verantwortung. Barbara war der Meister der Reihenfolge, der nichts vergaß. Wenn sie sagte, heute ist Marie dran, war es ihr Tag als Schiffer. Die Mitte war jetzt der wichtigste Platz, sie saß dort feierlich wie Gott Sohn. Zu ihrer Rechten und Linken die armen Schächer. Es stand ihr frei, zwischen zwei heiligen Sätzen zu wählen: Der Schiffer steht, oder, der Schiffer sitzt. So war es Brauch. Marie donnerte: Der Schiffer sitzt, und Barbara und Jutta verneigten sich, auch das war Brauch. Fertig?, fragte Jutta, Meister der Handlung. Die Antwort musste man gemessen sagen: Fertig, sagte Marie majestätisch. Jutta und Barbara hielten sich die Ohren zu und tauchten, um unter Wasser mit aufgerissenen Augen zu sehen, ob die Dritte auch ein rechter Schiffer war. Mit brennenden Augen hielten sie durch. So lange, bis Marie ihr Wasser laufen ließ, ein Rinnsal, beinahe unsichtbar. Die beiden Schwestern tauchten schreiend auf. Die Dritte hatte das Gebot erfüllt. Sie hatten es gesehen und sie sagten, dass es gut war.
Damit Gerechtigkeit herrschte, musste der Schiffer danach die Taufe erdulden. Im Namen des Vaters, des Sohnes, des Geistes.
Auftritt des armen Täuflings und der beiden Täufer. Die beiden Älteren hoben Händeschalen voller Schaum und Wasser auf und gossen sie über Marie aus. Fertig?, fragte Jutta. Marie kniff die Nasenflügel und die Ohren zu, verneigte sich und sagte, fertig. Die Schwestern tauchten sie unter Wasser, wo alles ganz anders klang, wo auch die Zeit ganz anders verlief, wo einer nur warten konnte und beten, beten, endlich die Stimmen der Schwestern zu hören, wie sie langsam und feierlich sprachen, im Namen des Vaters, des Sohnes, des Geistes. Sie rissen Marie hoch an die Luft, und die schrie Amen, Amen, schrie aus Leibeskräften. So war es Brauch und Gebot. Das Schreien war lebensnotwendig, denn unter Wasser fehlte der Atem Gottes, der allen Menschen das Leben einblies. Der Gotteshauch schenkte das Menschenleben und er behütete es. Die Mutter sang davon, am Abend, wenn die vier Kinder schon in ihren Betten lagen. Man ahnte: Vorher, in der Wanne, stritten Gott und sein Widersacher, das war die Lebensgefahr. Man musste auf Gottes Hauch in sich selbst vertrauen, wenn man Täufling war, man musste schreien, wenn die Schwestern mit dem Beten fertig waren und man wieder leben durfte.
Die Eltern hörten vom Brauch des Taufens und verboten ihn. Dieser Brauch gehört ins Haus Gottes und nicht in die Wanne. Die Mutter sagte: Der Herr unser Gott sieht alles, auch wenn ich’s nicht sehe. Ihr dürft nicht lügen, ihr dürft auch nicht taufen. Man kann dabei sterben. Ohne Luft erstickt der Mensch.
Die Kinder aber atmeten und regten sich, sie alle drei rutschten und glitschten und spritzten, sie lobten den Herrn auf seinem geladenen Schiff, den Vater, den Sohn und den Geist. Sie waren drei Schiffer, immer wieder von neuem getauft mit dem Wasser des Lebens.
Im Garten lag ein Viereck, begrenzt von Eisenbahnbohlen, auf denen man saß, wenn man nicht stand, um alles im Blick zu haben. Vier Vaterschritte mal vier Vaterschritte Länge und Breite, ein großes Gebiet aus Sand für vier Töchter. Es lag unter dem Mirabellenbaum.
Die Kinder waren selten gemeinsam dort. Jutta und Barbara fanden sich schon zu groß, sie spielten mit den Nachbarsjungen Autorennen. Marie behauptete: Katrin ist noch zu klein für den Sand, sie kann nicht backen, nicht bauen, sie muss in der Küche bleiben.
Doch sie selbst war draußen. Es war im großen Garten eine kleine Wüste.
Wer sie betrat, der wurde verwandelt.
Es war ein kleiner Mensch in einer großen Wüste. Marie zog dort als Wanderer umher. Sie war mit ihren Freunden unterwegs, den hellen harten Mirabellenkernen. Es gab keinen Weg, nur Massen von Sand, die eine Gruppe wandernder Kerne leicht verschütten konnten. Die Kerne legten kaum Spuren. Sie keuchten unter der Wüstensonne. Sie verloren sich mitunter aus den Augen. Mancher Kern verschwand, um nie wieder das Licht des Tages zu sehen. Eine helfende Hand kam von oben, um die höchsten Berge zu ebnen. Die Hand hielt eine Schaufel und bahnte den Kernen Wege. Die Wanderer sollten nicht lebenslänglich durch die Wüste irren. Man musste sie verwandeln, um sie zu erlösen.
Alles war in Verwandlung begriffen. Ein verbotener Apfel machte weise. Wasser wurde zu Wein. Eine ungehorsame Frau erstarrte zur Säule aus Salz. Fünf Brote und zwei Fische machten fünftausend Männer satt. Eine Schlange wurde verurteilt, künftig auf dem Bauch zu kriechen. Der Menschensohn war ein Lamm, daher wurde Blutrotes weiß wie Wolle.
Marie wusste von diesen Dingen, denn in der Kirche gab es Geschichten und Lieder darüber, und die Eltern erzählten. Auch Mamatschi, Vaters Mutter, sprach oft von Geheimnissen, die seltsam waren, denn man sollte sie nicht bei sich behalten, sondern in alle Welt verbreiten. Schwerter konnten Flammen schlagen. Bei Lämmern lagerten Löwen. Es gab keine Wüste in einem Garten, sondern umgekehrt, einen Garten in einer leeren Wüste. Im Anfang war die Leere. Dann wurde ein Garten angelegt. Gott setzte die ersten Menschen hinein. Es gab auch viele Tiere, Bäume und einen Fluss.
Marie kam mit der Arbeit nur langsam nach. Es waren sieben Kinderschritte in Länge und Breite. Ihre Kerne stapften durch die Wüste, sie hatten zwar eine Straße, aber die führte ins Nichts. Die Kernleute kullerten einen Hang hinab, versuchten den Aufstieg auf einen nächsten Hügel mit Schwung und rutschten zurück. Marie beschwor ihre Männer, wir müssen den Garten erreichen, dort gibt es Wasser und Äpfel für alle. Der gemeinsame Zug wurde größer. Haselnüsse als Lämmer, auch Kamele und Löwen kamen dazu, später sogar zwei Autos. Ihre Namen: Onkelchen und Babel. Die Kerne waren nun Kinder. Marie schuf einen Garten aus Blättern und Gras, ließ es reichlich aus Wolken regnen. Da wurde ihr Garten zu Matsch. Er verschlammte, schwamm davon, versickerte. Sie sah, dass es schlecht war. Ein böser Apfel zischelte mit gespaltener Zunge. Ihre Kernleute in der Wüste drohten zu verzagen. Die Kinder weinten und schrien. Marie eilte zu ihnen und setzte alle auf einen Hügel, auf dem zu ihrer Freude Blumen Schatten spendeten. Da lachten alle und hielten Picknick. So konnte sie sich wieder dem Gartenbau widmen. Frisches Gras und neue Blätter. Stöckchen als mäandrierender Fluss. Sie gebot den Wolken, bedachtsam zu regnen. Ein wahrer Apfel leuchtete am Himmelszelt. Außerhalb des Gartens sorgte sie für glatte Wege und machte das Krumme gerade. Die Gruppe wanderte weiter. Es war ein langer Zug unterwegs durch die Wüste, ein Lkw war dazugestoßen, er trug die erschöpften Kerne und Greise. Onkelchen, Babel und Marie gingen vornweg, um den richtigen Weg zu finden. Zogen durch eine tiefe Schlucht, die über ihnen einstürzen wollte. Schon war der Weg versperrt, sie waren gefangen. Die Räder des Lkw wühlten vergeblich im Sand. Die Gruppe sollte lebendig begraben werden für all ihre Sünden. Die Leute fielen auf die Knie und beteten an. Es regnete Steine vom Himmel. Babel wurde zerstört. Da endlich hatte Marie ein Einsehen und machte alles wieder gut. Die Leute zogen hoffnungsvoll dahin, auch Babel war auferweckt worden. Der Weg war mit Blumenblättern bestreut. Ein guter Apfel ernährte alle, und sie tanzten zur Schalmei. Babel und Onkelchen lieferten sich ein Autorennen. Marie war Onkelchen. Babel war klar im Vorteil. Maries eines Vorderrad eierte, aber sie holte den Sieg. Doch neues unbekanntes Unheil drohte.
Mutter rief aus dem Küchenfenster, Mittagessen, Marie!
Die Gruppenleute durften sich nicht umdrehen. Sonst würden sie zu Salzsäulen erstarren. Die Wüste war totenstill und ganz und gar reglos. Marie wurde klein wie ein Kern. Unauffindbar zog sie ihre Straßen.
Sie saß auf den Eisenbahnbohlen. Durch die Hand ließ sie den Sand rieseln.
Sie war ein Mirabellenkern in einem Garten.
Am Fuß des Berges rasteten die Wanderer. Sie mussten essen, damit sie nicht hungers starben. Doch sie hatten nur den falschen Apfel für fünftausend Sünder. Da aßen sie sich gegenseitig auf. Aber ein Wunder geschah, so wurde alles Blutrote weiß wie ein Lamm. Die Kerne waren kleiner und größer, als sie es waren.
Marie ließ es rieseln, bedeckte sich ganz mit Sand.
Wenn sie beim Tischdecken half, gab Mamatschi ihr das abgezählte Besteck in die Hand, als könnte sie noch nicht rechnen. Wie man es hinlegt, hatte der Vater oft genug erklärt: Die Gabel hat als Frau den Vortritt, kleine Löffel werden getragen, der Messermann spricht das Schlusswort.
Man konnte auch tun, als wäre der Tisch ein Fußballfeld wie im Garten der Nachbarn. Man baute sieben Tore auf den Tisch: Gabelpfosten, Löffelquerlatte und Messerpfosten. Auf Katrins Platz kam noch kein Messer. Mamatschi brachte das Geschirr und setzte es in die Tormitte. Fünfmal die vornehme Maria Weiß, ein Hühnerbildteller, ein Punkteschälchen.
Marie nahm die Servietten aus der Schublade, um sie neben die Mutterpfosten zu legen. Mamatschis Serviette wurde von einem silbernen Reif gehalten. Vater und Mutter hatten bestickte Stofftaschen, Geschenke von Jutta. Für Jutta und Barbara gab es auch Servietten, gerollt wie die von Mamatschi, sie steckten in bastumwickelten Pappreifen. Marie und Katrin trugen beim Essen Lätzchen. Mutter hatte Marie versprochen: Sobald du in die Schule kommst, darfst du Servietten und Maria Weiß benutzen.
Immer rief mittags jemand aus dem Flur: Nach dem Klo und vor dem Essen Händewaschen nicht vergessen! Tumult im kleinen Bad.
Dann sieben Leute um den Tisch im Esszimmer. Komm, Herr Jesu Christ, sei unser Gast, und segne, was du uns bescheret hast, Amen. Alle mussten von allem einen Anstandslöffel essen. Beispiel: Kartoffeln, Rührei, Spinat, dazu zerlassene Margarine.
Auf Maries Hühnerbildteller pickten eine weiße Henne und vier gelbe Küken ahnungslos, bevor das heiße Essen über sie hereinbrach. Marie griff nach der Gabel, um die Köpfe ihrer Hühner freizulegen. Schnell bekamen alle wieder Luft. Der Mund war vollgestopft, Spinat, Kartoffeln, Rührei, es war ein großer Essenskloß in Maries Mund, wichtig war nur, das Federvieh konnte atmen. Die vier Küken sollten sich an ihre Muttersicher halten, aber manche waren eigensinnig, sahen nicht den Bussard mit den harten Augen, seinem spitzen Schnabel und den messerscharfen Zinkenkrallen oben in der Höhe schwebend lauern. Der Bussard zog langsame Kreise über der grünen und gelben Landschaft. Er stürzte unvermittelt ab, fing Küken und sogar Lämmer, brachte sie in sein Nest zum Fraß für die eigenen Jungen. Da wurden sie zerfetzt und halb lebendig heruntergewürgt.
Der Vater hob den Zeigefinger und rief den beiden Jüngsten zu: Kauen, Schlucken! Einfache Übung!
Auch Katrins Mund war vollgestopft. Sie fuhrwerkte mit ihrer Gabel in dem grünen gelben Land, belud sie, ließ sie durch die Luft schweben. Wehe dir, du matschst, sagte Mutter, noch ist die Tischdecke sauber. Jutta sagte, wir hatten heute Diktat, und mittendrin hat Herr Vulker gepupst. Er ist ein alter Pupsmann, sagte Barbara. Ich höre das Wort nicht gern, sagte Vater. Ihr solltet dankbar sein, dass er sich noch mit Kindern abgibt, er könnte längst seine Rente verprassen. Marie roch an ihrem Lätzchen, das stank. Sie wollte auch zur Schule gehen, wollte eine Serviette und eine weiße Maria. Das war gegen den Hühnerteller treulos. Die Henne und alle Küken würden unter Katrin gefährlich leben, die aß langsam.
Marie stach sie in den Bauch, dann hob sie den Finger und rief: Kauen, Schlucken! Einfache Übung! Katrin sagte, Pupsmann.
Beim Mittagessen galt die Anstandslöffelregel nicht für Kinder, wenn es Niere, Leber, Herz und anderen Innereien gab.
Das Kartoffelpüree war ein Burgberg, in dem der Burgherr Möhrenprinzen gefangen hielt. Braune Linsensuppe kam aus einem dunklen Wald, an dessen Rand ein Moor lag, sie gehörte zum Land der Verruchten. Kartoffelklöße waren freundliche Riesenfrauen. Spargel schmeckte nach Wasserleiche, nach toter Jungfer. Die Gabel stakste durch den Urwald aus grünem Salat, pickte nach Schnittlauch, schnitt eine zitronensaure Fratze und spritzte vor Freude. Gekochte Erbsen nannte Vater lästiges Kindergesocks, er mochte lieber Erbsenmus, das lag auf den Tellern als matter Schlamm. Der Pfannkuchen rannte kantapper kantapper davon: Bin ich nicht schon dem Hasen und dem Wolf entkommen? Marie mochte ihn gern, obwohl er nicht rennen und rollen sollte. Sie hätte sich ihn gern auf den Kopf gelegt, als Heiligenschein. Die Blutwurst war vom falschen Glitzerspeck verflucht, vor Trauer schwarz, und wer sie aß, erlöste sie. Der Schellfisch lag in einem ovalen schwarzweißen Boot und schämte sich, wenn ihm die Silberhaut vom Leib geschnitten wurde und in feuchten Fetzen dalag. Reibekuchen waren niederes, stinkendes, rohes Gesindel, das man nur in der Küche aß. Reibekuchen waren, sagte Vater, manchmal Schwärzlinge, sie trotzten und schrien und brannten. Nudeln aßen sich von selbst und lagen sanftmütig im Bauch. Blumenkohl stank. Chicorée war bitter, aber die Eltern hatten in der Kriegszeit Giersch gegessen und sich nicht beklagt. Bratwürstchen rutschten im Hals zwar runter, aber sie wollten gleich wieder rauf. Gefüllte Paprika waren scharfe Chinesen, die Schlitzaugen machten. Die Frikadellen hatte Vater umbenannt, sie hießen Teigwaren, weil Mutter das Fleisch mit zu vielen Brotresten streckte.
Man schlug mit seinem Löffel auf den Wackelpudding ein und sagte: Zittre nicht, ich fress dich doch. Das Apfelkompott teilte man sich in Viertel, ließ den Löffel über jedes Viertel wandern und sagte dazu: Dich-es-se-ich-zu-erst-auf. Dann nahm man eine Löffelspitze. Man arbeitete sich langsam, aber stetig vor, bis aller Nachtisch weg war.
Wir danken dir, Herr Jesu Christ, dass du unser Gast gewesen bist, Amen.
Danach durfte eines der Kinder die große Tonne aus der Küche bringen, wenn nicht Advents- oder Fastenzeit war. Die große Tonne war eine schwarzrote blumengemusterte Dose aus Blech. Darin gab es Schokolade, Lakritzkatzen und Gummibären und man versuchte mit Mutter zu handeln, denn ein Stück Schokolade war mehr wert als ein Getier. Vater sagte zu den Kindern, ihr seid dumme Krämerseelen. Aber er handelte selbst mit Mutter, führte gewundene kluge Reden und stahl unterdessen.
Mamatschi lag mit geschlossenen Augen auf ihrem Bett. Ihre Daumen drehten sich. Marie stand auf dem Sessel, sah aus dem Fenster. Man hatte einen Überblick den ganzen Hügel runter, sah Rübenfelder, die Straße, auf der Weide daneben grasten Bauer Weilers Kühe. Marie spielte Autos zählen, aber es fuhr kaum eines den Hügel rauf oder runter. Fünf, sagte sie schließlich.
Sie holte Mamatschis Pantoffeln und ließ sie als Autos über die Fensterbank fahren. Sie knibbelte am Holzlack des Fensterrahmens. Puhlte an dem kleinen Loch der Kopfstütze des Sessels. Sah eine Fliege, die wieder und wieder gegen das Fenster dotzte. Sie nahm eines von Mamatschis Haarnetzen und schnupperte. Ein bitterer Geruch. Sie spannte das Netz, um die Fliege zu fangen, aber die ging nicht rein. Sie spielte mit sich selbst das Spiel von Taler, Maler, Kühchen, Gänschen, Ränzchen, Killewänzchen. Schließlich sah sie sich nach der Großmutter um: Schläfst du? Mamatschi sagte, ich ruhe. Aber das Daumendrehen hatte aufgehört.
Draußen ging die Wandergrete mit schnellen festen Schritten den Hügel herunter. Immer war sie auf den Straßen unterwegs, lief von Dorf zu Dorf, so war es, so würde es bleiben. Vater nannte sie unsterblich. Die Wandergrete war vielleicht so alt wie Großmutter, vielleicht auch nicht. Sie wirkte unheimlich, obwohl sie immer lächelte. Das war, weil ihr Gesicht aus Holz gemacht war.
Eine Fliege landete auf dem Kinn der Großmutter, sie schlug danach und öffnete die Augen. Mamatschi, bat Marie, bitte lies mir vor. Draußen kommen keine Autos.
Die Großmutter sah nach der Uhr, setzte sich langsam auf.
Marie zog ihr die Pantoffeln an, die eben noch Autos gewesen waren.
Mutter kam ins Zimmer, brachte Mamatschi eine Tasse Kaffee und Marie ihre Puppe Lieschen. Ihr drei passt gut aufeinander auf, ich fahre jetzt mit Katrin in die Stadt, sagte sie. Dass ihr mir kein Theater macht.
Vater war im Auto unterwegs mit Barbara und Jutta, sie suchten nach Spuren der alten Römer. Er schrieb darüber Aufsätze für Zeitschriften. Sein Beruf hieß freier Journalist. Vorher war er beim Eisenwalzwerk Rasselstein bei wertvollen alten Papieren gewesen, sein Raum hieß Archiv. Aber dann fand er, sein Chef war ein dummer Frühstücksdirektor und die Arbeit für ihn ein Dreck ohne Ende. Er hatte den Dreck gefeuert und folgte lieber den Römern. Jutta und Barbara mussten oft mit ihm fahren, auch wenn sie nicht wollten.
Mutter verschwand mit Katrin auf der Dorfstraße in Richtung Bushaltestelle.
Marie sah, wie der Bus den Hügel runterfuhr und winkte ihm nach. Sie streichelte den Gummibaum. Sie saß mit Lieschen im Sessel und fand es zu still im Zimmer. Mamatschi sagte, Courage. Du wirst schon sehen, die anderen kommen wieder. Sie gab Marie zur Beruhigung ein Stück Schokolade, griff nach einem Buch und setzte sich in ihrem Sessel zurecht. Sie trank einen Schluck Kaffee, schloss die Augen, schlug das Buch aufs Geratewohl auf. Sechzehnter Oktober, rief sie, der Tag meiner Namenspatronin! Wo ist meine Brille?
Beide kannten die Geschichte beinahe auswendig. Marie ließ ihre Puppe Purzelbäume schlagen, hörte der Großmutter zu: Die heilige Hedwig war eine Grafentochter und ging schon als Kind in ein Kloster. Dort lebten fromme Nonnen, die sie erzogen. Hedwig war noch jung, gerade zwölf Jahre alt, da wurde sie verheiratet. Der Herzog ging mit ihr nach Schlesien, das liegt im fernen Osten, im Herrschaftsgebiet der Kommunisten. Hedwig schenkte sieben Kindern das Leben und musste doch manche verlieren. Aber sie lobte Gott und klagte nie. Nach zweiundzwanzig Jahren Ehe lebten sie und ihr Mann enthaltsam. Sie gründeten eine Abtei. Hedwig half den Armen, wo sie konnte. Sie kasteite sich, das heißt, sie ging im Winter barfuß. Da ermahnte sie der Bischof, du musst Schuhe tragen. Mamatschi fragte, warum wohl? Lieschen schlug den Purzelbaum rückwärts. Hedwig holt sich barfuß im Schnee den Tod, sagte Marie. Mamatschi fragte, und was tat die heilige Hedwig? Sie gehorchte, trug die Schuhe, aber in der Hand. Marie hatte diesen Teil der Geschichte noch nie verstanden. Gab Hedwig ihre Schuhe nicht den Armen? Mamatschi sagte, hier steht nur, sie machte sich den Armen gleich. Marie stand auf und sah im Buch das Bild der verschleierten Frau, sie hatte einen gelben Reifen um den Kopf, das Zeichen ihrer Heiligkeit, und sie hielt Schuhe in der Hand. Lieschen verliert ihre immer, sagte Marie, die sind ihr zu groß.
Sie blätterte im Buch der Namenspatronen. Viele waren Märtyrer, die hatten ihr Blut für den Herrn Jesus gegeben. Bunte Bilder, Stephanus wurde gesteinigt, Sebastian durchbohrt von Pfeilen, die er vorerst überlebte. Maria war die Königin der Märtyrer, obwohl sie ganz natürlich starb und dann sofort, ganz ohne Prüfung und Gericht, in Gottes Reich einging. Sie hatte zwar keine Schläge und Wunden am Leib empfangen. Aber ein scharfes Schwert des Schmerzes hatte ihr die Seele zerfetzt. Das war, als sie erleben musste, wie ihr Sohn den Kreuztod duldete, um die Menschen zu retten.
Marie war nicht Maria, sie war keine Königin der Märtyrer so wie die Mutter Gottes. Aber Marie hatte noch einen zweiten Namen. Sie bat Mamatschi, lies mir von Agnes vor.
Großmutter trank ihren Kaffee, spuckte Satz aus, braune winzige Körnchen. Marie setzte sich auf ihren Schoß. Mamatschi roch aus ihrem schwarzen Knisterkleid nach Kaffee, süßem Schweiß und Schokolade.
Ein junges römisches Mädchen, Agnes, weigerte sich, vor des Kaisers Standbild und vor ihm selbst niederzuknien. Sie wurde in ein Verlies geworfen und zum Tod verurteilt. Mehrere reiche junge Männer wollten sie zur Frau nehmen, dann wäre sie aus dem Kerker herausgekommen und hätte in Freuden leben können. Aber Agnes hatte schon einen Bräutigam, den sie so liebte wie er sie, sein Name: Jesus. Daher wies Agnes die ganze Bagage der Freier ab. Die rissen ihr zornig die Kleider vom Leib und stellten sie draußen vor alle Leute, damit jeder sie verhöhnen konnte. Aber die Menschen wandten ihre Augen von dem reinen Mädchen ab. Das ergrimmte die Freier noch mehr. Sie schichteten einen großen Scheiterhaufen auf, um Agnes zu verbrennen. Die fürchtete sich, zitterte aber nicht, sondern betete für die Heiden, die ihr so großes Unrecht taten. Ein Schutzengel kam vom Himmel hernieder und hütete sie, so dass die Flammen ihr nichts taten. Als das der Richter sah, gab er dem Henker einen Wink, der zog das Schwert. Agnes beugte ihr Haupt auf den Richtblock. Noch im Sterben betete sie für ihre Mörder.
Ach ja, sagte Mamatschi, heilige Agnes, bitte für uns.
Das Bild im Buch zeigte ein Scheiterfeuer, lodernde rote und gelbe Flammen. Der Scharfrichter hielt sein silbernes Schwert, im Hintergrund stand ein Lamm, in den Wolken flogen Engel in weißen Hemdchen.
Mamatschi fingerte an ihrem braunen Samthalsband mit den fünf aufgestickten Perlen, versuchte noch einen Schluck von dem Kaffee, sie spuckte wieder Satz aus.
Lies auch den Rest vor, sagte Marie. Bitte.
Die bekehrten Römer erbauten über dem Grab der heiligen Agnes eine große Kirche. Lange Zeit wurden Lämmer geopfert, allerdings nicht geschlachtet, sie wurden geschoren. Aus der Wolle der Agnes-Lämmer webten fromme Nonnen weiße Bänder für die Gewänder der Erzbischöfe.
Ach ja, seufzte Mamatschi, so war es.
Auch Lieschen hatte weiße Wolle auf dem Kopf.
Marie ließ sich mit ihr auf dem Boden nieder. Die Puppe schlug Purzelbäume über Mamatschis Pantoffeln, vorwärts, rückwärts, dann kletterte sie an Mamatschis Beinen hoch, krallte sich an den labbrigen Strumpfhosen fest, rutschte ab, stieg wieder aufwärts, sie landete auf Mamatschis Schoß und wurde gewiegt.
Wieder stand Marie auf dem Sessel am Fenster.
Es ging nicht vorwärts mit dem Autozählen, es kam auch kein Bus.
Bauer Weiler trieb die Kühe in den Stall, zum Melken. Also schon Abend.
Dann kamen gleich mehrere Autos hintereinander den Hügel hinauf, Marie erkannte das von Herrn Frings und das von Herrn Zebner. Also Feierabend bei den Rasselsteinern.
Am Feierabend sitzen die Familien zusammen um den Abendbrottisch. Dann Spielen, Aufräumen und Waschen. Dann ins Bett und Beten. Dann kommt die Nacht.
Der Vater und die beiden großen Schwestern wurden von alten Römern in einem Kerker gefangen gehalten. Sie hatten auch Mutter und Katrin erwischt.
Marie wusste: Kinder, die alleine aus dem Haus laufen und auf der Straße schreien, werden verdroschen. Agnes war voll Furcht, zitterte aber nicht. Sie beugte ihr Haupt. Marie rutschte schnell vom Sessel runter, wollte schnell auf die Straße, schnell schreien. Mamatschi hielt sie am Kragen fest: Du musst dich nicht echauffieren! Immer Courage! Marie schrie, Mamatschi, bete!
Die Großmutter nahm das Kind auf ihren Schoß und betete. Mamatschi, bete lauter, schrie Marie.
Sie beteten gemeinsam, laut und lang, immer im Kreis. Mutter weckte sie auf.
Es war einmal ein Fürstensaal, ein hohes, kahles Haus. Dort wurden Feiern abgehalten.
Gott selbst war der König, die heilige einige Drei aus Vater, Sohn und heiligem Geist.
Er lebte dreifach, im Himmel, auf Erden und in den Herzen der Menschen, die ihm zu Ehren Kirchen bauten. Manche waren bis in jeden Winkel reich geschmückt mit Bildern, Skulpturen, Blumen, Teppichen, Vorhängen, andere sahen kahl aus. Die Eltern sagten, Gott braucht keinen Prunk. Sie fuhren sonntags mit den Kindern in eine neu gebaute Kirche am Stadtrand. Heilig-Kreuz, heller Beton.
Ein weiß verputzter, hoher, kahler Saal, von Leuchtstoffröhren erhellt. Die Gemeinde saß in einem großen Halbkreis auf Holzbänken vor dem erhöhten Altarraum. Es führten zwei mal drei Stufen hinauf. Dahinter ging es zwei mal drei Stufen abwärts, in einen kleinen Halbkreis, Betreten verboten. Dort lag das Herz der Finsternis.
Im Altarraum gab es den steinernen Opfertisch, er war gedeckt mit einem weißen Tuch. Darüber hing ein Kruzifix aus Holz. Im Altarraum standen auch ein Rednerpult, der Tabernakel mit dem Allerheiligsten und drei Schemel, ein kleiner, ein großer und wieder ein kleiner.
Die Wand im Rücken der Gemeinde war aus vielen einzelnen Bogenfenstern zusammengesetzt. Beton und Bleiglas. Diese Fensterwand ließ wenig Licht ein, außerdem stand die Empore mit der Orgel in ihrer Mitte.