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Das große Finale der Duftakademie von Bestseller-Autorin Anna Ruhe Es ist Sommer und Ella ist zurück an der Duftakademie. Düfte brauen, abends auf der Lichtung in den Sternenhimmel gucken, ihre Freunde wiedersehen ? wie lange hat sich Ella darauf gefreut. Und dann kommt auch noch Besuch von der französischen Partnerschule! Alles könnte so schön sein. Doch über allem hängt wie eine dunkle schwere Wolke die ständige Bedrohung durch den Patron. Er will ihr Ende ? das der Duftakademie und das der Sentifleurs. Während die Duftakademie noch versucht, sich mit Schutzdüften abzuschirmen, fährt er längst schwerere Geschütze auf. Ella und ihren Freunden ist klar: Sie müssen den Patron aufhalten! Nur wie stellt man sich jemandem entgegen, der im Besitz uralter mächtiger Duftapotheken-Flakons ist? Große Spannung, Magie und Abenteuer für alle Mädchen und Jungs ab 10 Jahren. Fantasievoll erzählt von Bestsellerautorin Anna Ruhe und mit atmosphärischen Schwarz-Weiß-Illustrationen von Claudia Carls ("Woodwalkers", "Alea Aquarius"). Alle Bände der Duftakademie sind einzeln und unabhängig von der Duftapotheke lesbar. "Die Duftakademie" im Arena Verlag: Die Entdeckung der Talente (Band 1) Gefährliches Geflüster (Band 2) "Die Duftapotheke" im Arena Verlag: Ein Geheimnis liegt in der Luft (Band 1) Das Rätsel der schwarzen Blume (Band 2) Das falsche Spiel der Meisterin (Band 3) Das Turnier der tausend Talente (Band 4) Die Stadt der verlorenen Zeit (Band 5) Das Vermächtnis der Villa Evie (Band 6) Die Presse über "Die Duftapotheke": "Für ihre Geschichten lässt Anna Ruhe ihre Fantasie so richtig sprudeln!" ? ZEITleo "Fantasievoll und sinnlich." ? BÜCHER Magazin "Ein echt duftes Kinderbuch!" ? empfohlen vom Literaturkurier auf FAZ.net
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Weitere Bücher von Anna Ruhe im Arena Verlag:
Die Duftakademie. Die Entdeckung der Talente (Band 1)
Die Duftakademie. Gefährliches Geflüster (Band 2)
Die Duftapotheke. Ein Geheimnis liegt in der Luft (Band 1)
Die Duftapotheke. Das Rätsel der schwarzen Blume (Band 2)
Die Duftapotheke. Das falsche Spiel der Meisterin (Band 3)
Die Duftapotheke. Das Turnier der tausend Talente (Band 4)
Die Duftapotheke. Die Stadt der verlorenen Zeit (Band 5)
Die Duftapotheke. Das Vermächtnis der Villa Evie (Band 6)
Seeland. Per Anhalter zum Strudelschlund
Mount Caravan. Die fantastische Fahrt im Nimmerzeit-Express
Anna Ruhe wurde in Berlin geboren. Nach einem Abstecher an die englische Küste studierte sie Kommunikationsdesign und arbeitete danach als Grafikdesignerin, bis sie Schriftstellerin wurde. Im Jahr 2015 erschien ihr erster Kinderroman. Seitdem hat sie viele weitere Bücher veröffentlicht. Ihre Werke stehen regelmäßig auf der Spiegel-Bestsellerliste und wurden in viele Sprachen übersetzt. Sie ist Mutter von zwei Kindern und lebt mit ihrer Familie in Berlin. Weitere Informationen zur Autorin unterwww.annaruhe.de
Claudia Carls erklärte in ihrer Kindheit abwechselnd, Schriftstellerin oder Künstlerin werden zu wollen, bis sich dieser Konflikt mit dem Beschluss, Buchillustration zu studieren, schließlich auflösen ließ. Als Diplom-Designerin lebt und arbeitet sie in Hamburg und gestaltet Bilderbücher, Kinder- und Jugendbücher, Sachbücher und Plakate.
Für Luk und Milo
Ein Verlag in der Westermann Gruppe
1. Auflage 2024
© 2024 Arena Verlag GmbH
Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg
Alle Rechte vorbehalten.
Der Verlag behält sich eine Nutzung des Werkes für
Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.
Text: Anna Ruhe
Cover und Innenillustrationen: Claudia Carls
Umschlaggestaltung: Juliane Lindemann
E-Book ISBN: 978-3-401-81087-4
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Die Schritte des Patrons hallten in einem eintönigen Rhythmus über das Parkett. Auf dem Tisch in der Mitte des Raumes stand das Sentiskop, das der Patron immer wieder umrundete. Die Deckenlampe beleuchtete die dunkelgrauen Flüssigkeiten darin. Obwohl die Glasröhrchen bestens verschlossen waren und nichts entweichen konnte, war allein der Anblick Angst einflößend. Zumindest für diejenigen, die wussten, was diese Flüssigkeiten anrichten konnten.
Wie ein Raubtier im Käfig ging der Patron im Kreis und betrachtete das Sentiskop. Auf seinem Gesicht lag ein eigenartiger Ausdruck. Sehnte er sich nach der Überlegenheit, die ihm die Benutzung dieses Geräts verschaffen konnte? Oder gefiel ihm die Angst, die er damit auslöste? Von seinem Gesicht war es nicht abzulesen. So wie es auch sonst nicht möglich war, ihm anzumerken, was in ihm vorging. Er verriet niemals, weshalb er so begierig danach war, anderen Furcht einzujagen. Oder warum es ihm gefiel, Menschen dazu zu zwingen, gegen ihren Willen bei ihm zu bleiben.
Es war nicht zu verstehen, wieso jemand an solchen Dingen Gefallen fand. Aber so war es – so war der Patron gestrickt. Vielleicht würden wir es irgendwann verstehen können, das Warum. Weshalb manche Menschen Dinge taten, die andere verletzten. Oft mit voller Absicht. Manchmal sogar mit Freude. Ein unheimlicher Gedanke war das.
Nur vielleicht spielte das Warum am Ende auch gar keine Rolle. Einfach weil die Gründe nichts daran änderten und schon gar nichts entschuldigten. Es war einfach eine gruselige Tatsache und alles, was zu tun blieb, war, sich dem Patron entgegenzustellen. Und zu versuchen, ihm seine Macht zu nehmen.
Durch die Ritzen im Holz zwängte sich das Licht und drängelte mich aufzustehen. Doch die Wärme unter meiner Bettdecke hatte das bessere Argument, also blieb ich, wo ich war. Als Kompromiss beugte ich mich über die Bettkante unseres Doppelstockbetts und lugte zu Polly nach unten.
»Hey, Schnarchnase«, flüsterte ich. »Komm schon, wach auf!«
Polly brummte nur, bewegte sich aber keinen Millimeter.
»Heute startet der Unterricht mit Pflanzenkunde, hab ich im Stundenplan gelesen.« Ich beugte mich noch weiter nach unten und versuchte, mit meiner Hand an ihrer Bettdecke zu zupfen, damit Polly aufwachte. Allerdings war mein Arm nicht lang genug, um wirklich einen Zipfel zu erhaschen. Jedenfalls, wenn ich keinen Absturz aus der oberen Stockbettetage riskieren wollte.
Polly wickelte sich noch ein bisschen fester in ihre Decke und gab nur ein zweites Hm von sich. Die aufdringlichen Lichtstrahlen in unserem Baumhaus hatten also doch gewonnen. Zumindest gegen mich. Ich setzte mich auf, warf schweren Herzens die Bettdecke zurück und kletterte nach unten. Die Morgenluft war noch kühl und bescherte mir eine Gänsehaut. Doch dafür duftete sie nach warmem Holz und feuchtem Waldboden, dem Geruch unseres Zuhauses auf Zeit. Seit gestern war ich endlich im dritten Semester und zurück in der Duftakademie. Ganz tief sog ich den Waldgeruch ein. Bevor ich ins Bad hopste, zog ich noch einmal an Pollys Decke. »Komm schon, raus aus den Federn. Unser erster Tag im Sommercamp fängt an!«
»Ich mag keine Frühaufsteher«, knurrte sie.
»Doch, du magst sie!«, sagte ich noch, bevor ich die Tür hinter mir zuzog, mir meine Zahnbürste griff und meinem Spiegelbild einen wunderschönen Guten Morgen wünschte.
Als ich mit blitzblank geputzten Zähnen wieder aus dem Bad kam, hatte Polly sich tatsächlich im Bett aufgesetzt und starrte ein Loch in die Luft. »Ich dachte, du magst keine Frühaufsteher«, sagte ich und krabbelte zu ihr aufs Bett. Meine Füße waren von den Fliesen im Bad noch kalt, also schob ich sie unter das andere Ende ihrer Decke und lehnte mich ihr gegenüber an den Bettrahmen.
»Tu ich auch nicht.« Polly hob ihren rechten Mundwinkel. »Aber bei dir mache ich eine Ausnahme.«
Ich grinste schief zurück und war einfach nur froh, wieder hier zu sein. Hier, im Baumhaus Nummer fünf. Zusammen mit Polly.
»Hast du Ben schon gesehen?«, fragte ich und rieb mir meine Zehen. Ich selbst hatte gestern auf der Hinfahrt mit Mum stundenlang im Stau gestanden und war deshalb so spät angekommen, dass ich nicht nur Ben verpasst hatte, sondern auch die Eröffnungsfeier in der Aula. Als Mum mich endlich abgesetzt hatte, waren die meisten schon in ihren Zimmern und Betten verschwunden.
»Nur kurz. Ben hat wie immer gebraucht, um aufzutauen. Aber eine Nacht in der Duftakademie und er ist heute bestimmt wieder ganz der Alte. So, wie du ihn kennst.«
Ich nickte. »Hab ich bei der Begrüßungsfeier sonst noch irgendetwas verpasst?«
»Ein paar Neuigkeiten gibt es schon.« Polly schälte sich aus dem Bett und suchte sich Jeans und Socken aus ihrem Koffer. »Aber eins nach dem anderen.« Damit verschwand auch sie im Bad.
»Mach es bloß nicht zu spannend!«, rief ich ihr noch hinterher und fing ebenfalls an, in meinem Koffer nach Socken zu kramen. Meine Zehen tauten zwar wieder auf, aber das sollte auch bitte so bleiben. Fürs Erste zog ich mich an. Ausräumen würde ich den Koffer später. Jetzt musste ich mich erst mal ausgiebig darüber freuen, wieder hier zu sein.
»Hey!«, dröhnte es hinter der Eingangstür und ein gleichzeitiges Klopfen ließ mich zusammenzucken.
»Komm rein! Du bist spät dran.« Ich kicherte, als sich die Tür mit einem Quietschen öffnete und Ben mich angrinste.
»Also, ich würde mal sagen, wenn jemand spät dran ist, dann du. Wo warst du gestern? Ich hab mir schon Sorgen gemacht.«
Ich hob die Schultern. »Spät dran halt. Aber jetzt bin ich ja hier!«
Mit ihrer Zahnbürste im Mund kam Polly aus dem Bad geschlurft und nickte Ben zu. Der ließ sich auf den Stuhl fallen, auf dem am wenigsten lag, und zog etwas aus seiner Hosentasche.
»Tada!« Ben stellte einen kleinen Gegenstand auf den Tisch und wirbelte mit seinen Händen darum herum. »Hab ein Begrüßungsgeschenk für euch vorbereitet.«
Polly hob nur die Augenbrauen, während ich mich näher beugte – was in der Enge unseres Zimmers keine große Anstrengung war. Aus einem Flakon vor mir auf dem Tisch stieg eine dunkelrote Wolke auf. Im Inneren bewegten sich Blasen auf und ab. Ich atmete einmal aus und schloss die Augen, um dann tief einzuatmen. Ich konnte gar nicht anders, als zu lächeln. Alles duftete nach Kakaobohnen, Vanille, Kardamom und … noch viel mehr. Immer weiter sog ich den köstlichen Duft in mich ein und war zu nichts anderem mehr in der Lage, als einfach nur dazustehen und mich von den Wolken umwehen zu lassen. Sie stiegen immer dichter aus dem Flakon auf, bis unser Baumhaus davon ausgefüllt war. Am liebsten hätte ich den Duft für immer in mir eingeschlossen, so wunderbar war er. Als ich mich endlich dazu durchringen konnte, die Augen wieder zu öffnen, drehte ich mich zu Polly. Auf ihr Gesicht hatte sich eine Portion Glück gelegt. Sie sah genauso aus, wie ich mich fühlte.
»Das ist der beste Geruch, den ich in meinem ganzen Leben gerochen habe«, raunte Polly und ich konnte ihr nur zustimmen. Ben hatte sich zurückgelehnt und sagte gar nichts. Eigentlich erkannte ich ihn nur unscharf durch die Schwaden, die sich schwerfällig auf und ab bewegten, und trotzdem wirkte er so zufrieden, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Minutenlang saßen wir einfach da und konzentrierten uns auf den Geruchsmischmasch. Fast ein bisschen traurig fühlte ich mich, als mir bewusst wurde, dass nicht nur die Schwaden heller wurden, sondern sich auch der Duft mit jedem Atemzug ein Stück mehr verabschiedete. Der Flakon hatte sich zur Hälfte geleert, als Ben ihn wieder mit einem Korken verschloss. Eine Weile ließen wir noch die letzten Wolken um uns herumziehen, bis nichts mehr von ihnen übrig war.
Ich setzte mich auf die Tischplatte neben den Flakon und hob ihn in die Höhe. »Genüsslicher Duft«, hatte Ben handschriftlich auf ein Etikett geschrieben. »Woher hast du den … und was ist das?« Ich drehte den Flakon noch zweimal hin und her, bevor ich ihn Ben zurückgab.
»Ein Duft, der die besten olfaktorischen Erinnerungen in uns weckt«, erklärte er.
»Und kannst du das noch mal so sagen, dass auch andere verstehen, was du genau meinst?« Polly lehnte an der Wand und wirkte nicht weniger neugierig.
»Also …« Ben steckte den Flakon wieder ein und stand auf. »Das ist ein Duft, der Erinnerungen an die Düfte in uns weckt, die wir irgendwann mal als besonders angenehm empfunden haben. So was in der Art. Ich hab mir im Herbstsemester ein paar Herstellungsanweisungen aus dem verstaubtesten Bibliotheksbuch notiert, das ich finden konnte. Und weil ich zu Hause ein bisschen Zeit zu füllen hatte, habe ich versucht, den einen oder anderen selbst herzustellen.«
»Den einen oder anderen?«, wiederholte ich und guckte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Wie viele genau?«
»So … ungefähr einen Aktenkoffer hab ich voll davon.«
Polly schüttelte nur den Kopf. »Und ich dachte, niemand hält sich strenger an die Regeln der Duftakademie als du?«
Ben winkte ab. »Tu ich doch auch.«
»Wenn ich mich richtig erinnere, ist es uns verboten, Meteorpulver außerhalb der Duftakademie zu verwenden?« Polly zog sich ihren Pullover über. »Aber sag ruhig, wenn ich mich da täusche.«
»Ach, komm schon, ich hab das Meteorpulver im Grunde so gut wie gar nicht außerhalb der Akademie verwendet. Nur ein ganz kleines bisschen davon. Ich finde das unproblematisch. Aber … ihr braucht es ja trotzdem nicht gleich unserer Schulleiterin zu erzählen.« Noch im Reden stand Ben auf und öffnete die Tür. »Egal.« Er strich sich eine Haarsträhne zurück und winkte uns mit sich. »Von dem Duft bekomme ich immer einen Bärenhunger. Besser, wir beeilen uns, etwas Zeit fürs Frühstück haben wir noch. Vielleicht gibt es heute zur Feier des Tages Pancakes!«
Polly stupste mich in die Seite und wir grinsten uns an, während wir Ben nach draußen folgten. Polly schloss hinter mir die Tür und wir folgten Ben die Holzstufen nach unten, vorbei an den anderen Baumhäusern, bis wir auf dem Akademiegelände angekommen waren. Die Morgensonne strahlte längst auf die Tautropfen des Rasens und wärmte die Luft. Wir gehörten zu den Letzten, die sich zwischen den Bauwagen und Zelten entlangschoben und zum Frühstücksraum unter der Glaskuppel aufmachten. Die meisten kamen uns schon wieder entgegen und waren längst fertig mit ihrem Kakao, Müsli oder was auch immer.
»Hey!«, rief ich Theresa zu, als sie uns zusammen mit Miriam und Lin entgegenkam. Sie winkte mir, dann schoss ihr Blick sofort zu Polly und sie blickte grinsend auf den Boden. Ich schielte zu Polly, die den gleichen Ausdruck im Gesicht hatte.
»Beeilt euch lieber!«, sagte Miriam. »Das Frühstücksbüfett ist fast leer.«
Sofort ging Ben doppelt so schnell. Polly und ich hatten Mühe, ihm die Stufen nach unten in Richtung Cafeteria hinterherzukommen. Dort angekommen, stellte Ben mit Entsetzen fest, dass es Pancakesgegeben hatte.
»Das glaub ich jetzt nicht!« Er schob den Kopf in den Nebenraum, in dem der Koch bereits Pfannen und Töpfe auskratzte. »Keine Pancakes mehr übrig? Ich hab mich die letzten Monate auf nichts mehr gefreut! Was soll ich dann frühstücken?«
Hinter der Küchentür hörte ich das dröhnende Lachen des Kochs, bevor er Ben das Graubrot mit Marmelade empfahl, von dem noch Berge übrig waren. Ben sah aus, als könnte der Tag nicht schrecklicher starten. Aber der doppelte Kakao mit Sahne – den der Koch im Gegenzug für Bens Kompliment an ihn rausrückte – schien dafür zu sorgen, dass Ben den Tag dann doch noch nicht ganz abschrieb.
»Was waren denn jetzt die Neuigkeiten, die ich auf der Eröffnungsfeier verpasst habe?«, fragte ich Polly.
»Ach, nicht so wichtig. Aber wir bekommen Besuch von unserer französischen Partnerschule.«
»Der Académie des Senteurs?«, fragte ich ungläubig. »Und das findest du nicht so wichtig?« Meine Stimme klang plötzlich eine Oktave höher.
Polly zuckte nur mit den Schultern. »Da kommen halt ein paar andere zu Besuch, na und?«
Empört über so wenig Begeisterung drehte ich mich zu Ben, der mich nur zustimmend anlachte. »Ich finde, das ist eine Riesenneuigkeit!«, sagte ich und kippte meinen letzten Schluck Kakao runter.
Unser erster Schultag in der Duftakademie konnte also endlich anfangen. Laut Plan sollte die erste Unterrichtsstunde im Gewächshaus beginnen und … wir waren bereit.
Zusammen machten wir uns auf den Weg Richtung Gewächshaus, in dem uns Frau Haag in den Fächern Rohstoff- und Pflanzenkunde unterrichtete und das nur einen kurzen Fußweg entfernt lag. Auf dem Akademiegelände stand kaum noch jemand herum, die meisten waren also längst in ihren jeweiligen Unterrichtsräumen verschwunden. Wir legten einen Zahn zu, um nicht gleich am ersten Tag zu spät zu kommen. Als wir schließlich die Glastür zum Gewächshaus öffneten, empfing uns im Inneren nicht nur der altbekannte Pflanzendampf, sondern auch unsere Jahrgangsstufe zusammen mit Frau Iversen. Eigentlich war sie seit letztem Semester unsere Hausmeisterin oder Campleitung, wie die Akademie es betitelte. Nur wo war Frau Haag?
»Wie schön, dass ihr auch noch dazustoßt. Dann kann ich wohl endlich anfangen.« Frau Iversen warf uns einen tadelnden Blick zu und wir drückten uns zu den anderen.
»Die heutige Stunde müsst ihr leider mit mir vorliebnehmen«, fuhr sie fort. »Frau Haag ist ab morgen wieder für euch da. Aber das passt ganz gut. Wir werden nämlich einen Ausflug in den Wald machen, um dort nach ein paar Wildpflanzen zu suchen, die ihr für die nächsten Unterrichtsstunden benötigt.« Frau Iversen verteilte Eimer, Schippen, Scheren und einen Zettel mit Pflanzennamen an uns und schon stiefelte sie nach draußen und winkte uns, ihr zu folgen.
Ben stieß mich in die Seite und zeigte – leider kein bisschen unauffällig – in Raffaels Richtung. Der stand am anderen Ende der Gruppe, sah zu mir herüber und nickte mir zu. Mir wurde warm und ich lächelte leicht verkrampft zurück, bevor ich Ben verfluchte. Wieso musste er denn unbedingt auf Raffael zeigen? Was dachte der sich jetzt wohl, warum Ben das gemacht hatte? Aber es half ja nichts. Ich tat einfach so, als wäre mir nicht das Blut in den Kopf geschossen, und folgte stur dem Trupp, der das Gewächshaus verließ. So richtig wusste ich immer noch nicht, wie ich mich Raffael gegenüber verhalten sollte. Schließlich konnte ich ihn ungefähr so gut einschätzen, wie ich in einen verriegelten Tresorschrank blicken konnte. Außerdem wollte ich nicht, dass er den Eindruck bekam, ich würde mit Ben und Polly über ihn reden. Nicht, nachdem er mich lange Zeit links liegen gelassen und immer so angestrengt cool getan hatte. Erst Ende des letzten Semesters hatte sich das geändert – trotzdem wusste ich nicht genau, wo wir standen.
Raffael lief ein gutes Stück entfernt von mir und auch ich ging nicht zu ihm hinüber oder sagte etwas zu ihm. Offensichtlich vertagte jeder von uns beiden unsere Begrüßung auf später. Stattdessen folgten wir Alby Iversen hinein in den Wald, der unser Schulgelände umschloss. Die Bäume, die die Duftakademie umringten, ragten weit hinauf in den Himmel. Sie mussten schon Ewigkeiten hier stehen und vor sich hin wachsen, so mächtig wirkten sie. Wahrscheinlich gab dieser Wald mir deshalb immer das Gefühl, als beschütze er uns. Mit jedem Schritt, den wir weiterliefen, verdeckten die Baumkronen mehr die Sonne und ließen nur wenig Licht zu uns nach unten.
Erst nach einer kurzen Wanderung versammelte Frau Iversen uns um sich herum und hielt ein paar Bildtafeln hoch. »Folgende Pflanzen sollt ihr suchen und bestimmen. Aber bitte schneidet oder zupft die Blüten und Blätter nur von den Stängeln, um sie mitzunehmen. Reißt auf keinen Fall die Pflanzen samt Wurzeln aus, solange nicht explizit Wurzel ausgraben auf eurer Liste steht!« Nacheinander zeigte sie die Tafeln mit den Wildpflanzen herum, die wir finden sollten. Anfangen sollten wir mit Silybum marianum (Mariendistel), Artemisia vulgaris (Beifuß), Urtica (Brennnessel) und Arctostaphylos (Bärentraube). Polly zwinkerte mir zu und formte lautlos mit den Lippen: Brenn…nes…sel?
Ich verkniff mir ein Kichern. Das war wirklich nicht gerade die schwierigste Aufgabe unseres Lebens und daran änderten nicht mal die sehr kompliziert klingenden lateinischen Pflanzenbegriffe etwas.
Alby Iversen klatschte in die Hände und scheuchte uns los. »In genau einer Stunde treffen wir uns wieder hier mit vollen Eimern!«
Ich lief zusammen mit Ben und Polly in eine Richtung, in die noch niemand losgestiefelt war. Es war großartig, wieder hier zu sein. Auch wenn wir nur über Äste auf dem Moosboden vorwärtsstolperten und ein paar Brennnesselblätter pflücken sollten. Wir lachten und hakten uns beieinander unter. Der Wald roch so gut nach Baumrinde, Erde und warmem Grün, die Vögel zwitscherten und ein ganzes Sommersemester lag vor uns.
»Uuuund …?«, fragte Ben und fixierte Polly, als wir uns weit genug von den anderen entfernt hatten.
»Und was?«Polly imitierte Bens übertrieben aufgerissene Augen.
»Na, was wohl?«, sagte er. »Was ist denn jetzt … mit dir uuund Theresa?«
Polly grinste nur und wackelte mit ihren Augenbrauen. »Na, was soll schon sein? Wir beide haben uns sehr, sehr gern.«
Ich stieß Ben in die Seite und er warf Polly einen zufriedenen Blick zu. »Das klingt so, als ob es dir sehr, sehr gut geht.«
»Klar, tut es. Könnte nicht besser gehen.«
Ben lächelte und zog uns mit Schwung weiter. »Dann kann heute ja kein Wölkchen unsere fröhliche Brennnesselsuche trüben.«
Tatsächlich war ich die Erste, die eine Mariendistel entdeckte und mir an ihr in den Finger stach. Nerviges Gewächs. Wozu wir das wohl brauchten? »Müssen wir wirklich auch die pieksigen Blätter pflücken?«, fragte ich. »Reichen nicht auch die Blüten?«
Ben warf mir einen ungläubigen Blick zu, als wäre er Frau Haag höchstpersönlich. »Wir sollen Blüten und Blätter ernten, laut Frau Iversen. Wäre ja Mist, wenn wir im Destillationslabor später nicht das zusammenhätten, was wir auch brauchen.«
Mit einem Seufzen bückte ich mich also und stach mich noch ein paar Mal in die Finger, um die Pieksblätter in meinen Eimer zu befördern. Ich fluchte und hoffte, dass wir die Distel auch wirklich benötigten bei Frau Haag. Das Pflücken der Brennnesselblätter überließ ich zum Ausgleich Ben. Schließlich hatte ich meinen Beitrag erledigt und war dieses Mal im Gegenzug berechtigt, ihm meine sehr klugen Hinweise zum Thema »Brennnesseln« mitzuteilen. Am Ende der Stunde hatten wir Mariendistelblüten samt Blättern, Beifuß und natürlich Brennnesseln in rauen Massen in unseren Eimern. Nur Bärentrauben hatten wir keine gefunden, aber vielleicht konnten wir später ein paar unserer wertvollen Urtica dagegen tauschen.
Zurück im Gewächshaus bekamen wir von Alby Iversen Trocknungskästen für unsere Pflanzenausbeute ausgehändigt. Im Anschluss sollten wir noch die Seiten elf bis sechsundzwanzig im großen Lexikon der heimischen Heilpflanzen lesen und für die nächste Unterrichtsstunde die wichtigsten Fakten über die vier Pflanzen zusammentragen. Also schnappten wir uns eins der Lexika und machten uns damit auf den Weg zum Gemeinschaftsraum. Ich fand, unser Sommersemester fing mehr als entspannt an.
Wir waren nicht die Einzigen, die sich mit den Büchern in den Gemeinschaftsraum verzogen. Wahrscheinlich aus demselben Grund wie alle anderen auch. Schließlich hatten wir uns seit Monaten nicht gesehen, dabei war im Herbst so viel passiert. Natürlich hatten Polly, Ben und ich uns fast täglich geschrieben und uns auf dem Laufenden gehalten, aber von manchen anderen hatte ich nicht ein Mal etwas gehört. Ich war also mehr als gespannt, was sie zu erzählen hatten. Ganz besonders interessierte mich allerdings einer. Mit Raffael hatte ich zwar hin und wieder ein paar unverfängliche Textnachrichten ausgetauscht, aber das war natürlich etwas ganz anderes als ein Gespräch. Doch als wir durch die Tür in den Gemeinschaftsraum kamen, war Raffael nirgends zu sehen. Dafür saßen zwischen einigen aus den älteren Semestern bereits Tom, Luisa und Eddie in einer Ecke und tuschelten, während Miriam neben Theresa und Lin auf einem der Sofas klebte. Polly steuerte gleich auf Theresa zu, winkte uns hinterher und besorgte sich einen Sessel.
Miriam drehte sich zu Ben und mir. »Habt ihr schon gehört, dass wir Besuch aus der Académie des Senteurs bekommen? Ich bin so gespannt, wie die sind. Meint ihr, die lernen in ihrer Schule andere Sachen als wir?«
Ich hob die Schultern. »Keine Ahnung, wir werden es sehen.« Meine Antwort klang unbeeindruckt, dabei machte mich diese Nachricht ziemlich nervös. Aber das lag weniger an den französischen Gastschülern, sondern mehr an ihrer Schulleiterin. »Weißt du, ob auch Elo… äh … Frau de Richemont mitkommt?«
Miriam klopfte mit der Hand neben sich aufs Sofa und ich setzte mich zu ihr. »Es klang so, als Frau Alvenstein die Académie des Senteurs bei der Begrüßungsfeier angekündigt hat«, sagte sie. »Über diese Frau de Richemont kursieren ja eine Menge Geschichten. Ich hab schon so viel von ihr gehört … Du kennst sie doch, oder?« Miriam sah aus, als erwarte sie eine ganz unglaubliche Geschichte von mir als Antwort auf ihre Frage.
»Ähm, na ja.« Ich räusperte mich. »Kennen ist übertrieben. Aber ich bin ihr schon mal begegnet.«
»Und? Wie ist sie so?« Theresa beugte sich zu mir. »Stimmt das, was alle über sie sagen?«
Alle Augenpaare um mich herum starrten mich genauso an, wie es Miriam tat. Ich stutzte. »Was erzählt man sich denn über Elodiede Richemont?«
Auf einmal redeten alle gleichzeitig.
»Sie soll extrem begabt sein«, sagte Miriam.
»Mein Bruder Farris meint, sie ist die mächtigste Sentifleur auf der ganzen Welt«, kam von Polly. »Noch mächtiger als Luzie Alvenstein.«
»Manche haben richtig Angst vor ihr«, raunte Lin.
Ben zog eine ungläubige Grimasse. »Ist sie nicht die beste Freundin von Frau Alvenstein?«
»Na ja …« Ich verzog den Mund, weil das alles nur zur Hälfte stimmte. »Sie kommt aus einer Familie von Ewigen und besitzt eine eigene Duftapotheke«, versuchte ich meine Gedanken zu Elodiede Richemont zu ordnen. »Und ja, sie ist extrem begabt, mächtig und auch eine Freundin von Luzie Alvenstein. Aber ich würde nicht unbedingt sagen, dass Elodiede Richemont mächtiger oder die beste Freundin ist. Und ich hatte schon mal echt Angst vor ihr, das stimmt auch. Aber Luzie, also Frau Alvenstein, würde sie nicht einladen, wenn sie wirklich gefährlich wäre. So gut kennen die beiden sich schon, glaub ich.«
Das würde aufregend werden! Lauter neue Sentifleurs kennenzulernen, die vielleicht ganz anders unterrichtet wurden, als es in der Duftakademie der Fall war. Und wie es wohl sein würde, Elodiede Richemont so viele Jahre später wieder zu begegnen? Darauf war ich wirklich gespannt. Ein bisschen Bammel hatte ich aber auch. Alle um mich herum redeten weiter durcheinander und stellten irgendwelche Spekulationen darüber an, wie Elodiede Richemont wohl war. Doch ich klinkte mich aus dem Gespräch aus, weil noch jemand in den Gemeinschaftsraum kam, auf den ich insgeheim die ganze Zeit gewartet hatte. Raffael stand in der Tür und blickte sich um. Sein Blick huschte zu mir, dann nickte er Tom und Luisa zu, setzte sich aber allein mit seinem Heilpflanzen-Lexikon an einen der Tische. Einen Moment war ich unschlüssig, ob ich ihn genauso ignorieren sollte wie er mich. Doch dann entschied ich mich dazu, dieses bescheuerte Spiel mit ihm nicht mehr zu spielen, und stand auf. Mit weichen Knien ging ich zu ihm hinüber.
»Hey, Raffael!«, sagte ich.
Ruckartig drehte er sich zu mir um und sah aus, als ob er gleichzeitig überrascht und erleichtert war. »Ella! Hi, wie geht’s?«
Ich zog mir einen der Stühle am Tisch heran und nuschelte: »Ähm … gut. Und dir?«
»Auch gut.« Er lehnte sich zurück. »Du warst gestern Abend gar nicht da, ich hab schon befürchtet, du kommst dieses Semester vielleicht nicht.«
»Pff! Wieso sollte ich denn nicht kommen?«
Raffael hob die Schultern. »Stimmt, wieso solltest du auch nicht?«
Uns gingen die unverfänglichen Fragen und Antworten aus und ich merkte, wie mir bei dem Gedanken daran, mich gleich mit ihm anzuschweigen, heiß wurde. Deshalb redete ich einfach weiter. »Ich hab gehört, Elodiede Richemont soll uns mit ihrer Académie besuchen kommen. Wie findest du das?« Ich hob meinen rechten Mundwinkel. »Freust du dich auch so auf sie wie ich?«
Wir schmunzelten uns an. Immerhin hatten wir beide Elodie bereits vor Jahren kennengelernt – und das nicht gerade von ihrer liebenswürdigsten Seite. Sie hatte einem anderen Ewigen damals geholfen, uns zu zwingen, einige Duftapotheken-Düfte für ihn herzustellen.
Raffael verschränkte die Arme. »Sie soll sich verändert haben, hab ich gehört.« Er klang skeptisch.
»Das hab ich auch gehört. Hoffentlich stimmt es.«
Raffael senkte den Blick und nun schwiegen wir uns doch an. Ein paar Sekunden vergingen, bis es unangenehm wurde und ich schon aufstehen wollte. Aber Raffael hielt mich zurück. »Ich bin froh, dass du da bist, ich hab …« Dann brach er einfach seinen Satz ab. »Egal, ist einfach schön, dich wiederzusehen.«
»Ja, ich bin auch froh, dass du wieder hier mit uns in der Akademie abhängst und nicht mit dem Patron.«
Raffael lachte. »Und ich erst. Der Patron ist mir auf Dauer dann doch ein bisschen zu humorlos.«
»Das glaub ich sofort.« Ich lächelte und stand auf. »Wir sehen uns nachher, okay? Ich glaub, ich muss noch meine Wildpflanzen bestimmen, bevor es weitergeht.« Damit drehte ich mich um und ging wieder zurück zu den anderen. Dort setzte ich mich neben Ben, der natürlich längst damit beschäftigt war, sein Lexikon zu durchforsten.
Nach dem Mittagessen und einer Doppelstunde Sinnestraining bei Luzie Alvenstein ging es für uns zurück ins unterirdische Labyrinth der Akademie. Hier lagen so gut wie alle Unterrichtsräume und wahrscheinlich vieles mehr, von dem wir nichts wussten. Oder wissen durften. Die letzte Unterrichtsstunde unseres ersten Schultags hatten wir laut Stundenplan heute bei Frau Yilmaz.
»Habt ihr den neuen Unterrichtsraum schon gefunden?«, murmelte ich und fuhr mit dem Zeigefinger über meine Karte. Das Labyrinth mit seinen endlosen Gängen und Räumen flößte mir nach meinen früheren Erfahrungen immer noch gehörig Respekt ein. Wahrscheinlich würde sich daran auch nie etwas ändern.
»Klar, der ist hier.« Ben zeigte mir ein Zimmer, das irgendwo zwischen dem Sportraum fürs Sentifleurtraining und Herrn Mulders Büro lag. Ich versuchte, den einfachsten und schnellsten Weg auf dem Plan, den ich am Abend noch von Frau Eriksson bekommen hatte, nachzuvollziehen.
Doch Polly zog mich bereits weiter. »Dann kann ja nichts mehr schiefgehen. Kommt schon!«
Ausgestattet mit unseren neuen Lageplänen liefen wir also durch das Gewirr aus Gängen und Räumen, bis wir das Klassenzimmer für Duftnotenkreation fanden. Auch die anderen kamen in kleinen Grüppchen an. Offensichtlich war ich nicht die Einzige, die das Labyrinth am Semesterbeginn ziemlich beängstigend fand. Die Gänge und Räume veränderten sich ständig, sodass man sich immer wieder aufs Neue orientieren musste. Eine meiner größten Ängste war, mich hier unten zu verlaufen und nicht zurückzufinden. Dieses Labyrinth war nämlich nicht nur riesig, sondern auch seltsam. Bog man einmal falsch ab, war man schnell völlig verloren.
Der Klassenraum für das Fach Duftnotenkreation war vollgestellt mit Arbeitsbänken, auf denen Duftorgeln für uns bereitstanden. In unserem gewohnten Dreierteam suchten Polly, Ben und ich uns eine Arbeitsbank und machten es uns gemütlich, bis Frau Yilmaz da sein würde. Neben den Duftorgeln, also den Flakonsammlungen, die mit den Grundduftnoten befüllt waren, lagen Notizbücher und Tabellenbögen aus. Sicherlich sollten wir unsere neuen Duftkreationen darin eintragen. Ich freute mich schon riesig auf den Unterricht und konnte es kaum erwarten, dass es endlich losging.
Ich begutachtete unsere Duftorgel. »Das sind ja doppelt so viele wie im Herbstsemester!«, stellte ich fest. »Uns wird wohl ein bisschen mehr zugetraut diesen Sommer.«
Polly rutschte näher und zusammen lasen wir die Etiketten der einzelnen Grundduftstoffe, die wir miteinander kombinieren konnten. In den Flakons befanden sich ausschließlich pure Duftnoten, die noch nicht gemischt worden waren, wie zum Beispiel Mandarine, Vetiver, Zedernholz, Zitrone, Geranium, Lavendel, Basilikum und so weiter und so fort. Auch eine extragroße Flasche Basiswasser stand selbstverständlich bereit.
»Entschuldigt meine Verspätung!«, rief Frau Yilmaz, die zum ersten Mal, seit ich bei ihr Unterricht hatte, zu spät kam. »Verlieren wir nicht noch mehr Zeit! Wie ich sehe, habt ihr euch schon zusammengefunden und alle haben einen Arbeitsplatz, wunderbar!« Sie ging zu ihrem Schreibtisch, warf ihre Tasche darauf und blickte uns alle einmal der Reihe nach an. »Sind wir vollzählig?« Sie krempelte sich ihre Ärmel hoch, winkte uns zum Schrank, der hinter ihr stand, und zog eine der vielen Arbeitsschürzen heraus. »Sucht euch jeweils einen passenden Kittel, bevor wir starten.«
Das Gedrängel am Schrank ging augenblicklich los, aber Frau Yilmaz’ Händeklatschen beendete jede aufkeimende Diskussion, wer welche Schürze abbekam, und so standen wir alle nach kurzer Zeit wieder bereit vor den Arbeitstischen. Ich trug einen Kittel, der seinem äußeren Anschein nach schon oft im Einsatz gewesen sein musste und in den ich zweimal hineinpasste. Ich fühlte mich darin noch winziger, als ich es sowieso schon tat, und drehte mich zu Ben. Der zwängte sich nicht weniger unglücklich in eine viel zu enge Schürze. Eine Sekunde sahen wir uns an, dann lachten wir und tauschten einfach, auch wenn Frau Yilmaz bereits zum zweiten Mal in die Hände klatschte und uns antrieb.
»Keine Sorge, ihr nehmt nicht an einem Schönheitswettbewerb teil. Die Schürzen sollen nur eure Kleidung schützen. Legt einfach los!« Im Vorbeigehen kontrollierte sie jede Duftorgel darauf, ob auch alle Flakons darin ausreichend befüllt waren. »In den letzten zwei Semestern haben wir vor allem gelernt, Düfte herzustellen, die uns entspannen und positive Gefühle in uns hervorrufen. Damit seid ihr bereits geübt im Duftmischen. Deshalb denke ich, ist es an der Zeit, den Schwierigkeitsgrad etwas anzuheben. Zudem musstet ihr euch im letzten Semester ohnehin schon Aufgaben stellen, die ich euch gern erspart hätte.«
Ein Raunen ging durch das Klassenzimmer. Und auch ich schluckte, weil Frau Yilmaz nicht lange um den heißen Brei herumredete, sondern in uns allen die Ereignisse des letzten Herbsts wachrief.
»Der Patron hat manchen von euch gezeigt, wie Düfte negativ Einfluss auf uns nehmen können. Daran will ich euch nicht unnötig erinnern, dennoch habe ich beschlossen, mit euch zu üben, wie ihr mit solchen Situationen in Zukunft besser umgehen könnt. Worüber man Bescheid weiß, das kann einen nicht so kalt erwischen. Und deshalb werden wir zusammen üben, genau die Duftmischungen herzustellen, die die schlimmsten Gefühle in uns wecken. Nur so könnt ihr trainieren, diese zu kontrollieren und im Griff zu behalten. Am Ende dieses Semesters möchte ich, dass ihr keine Angst mehr davor habt, euch bestimmten Duftmischungen auszusetzen, und im allerbesten Fall sogar gelernt habt, mit welchen Düften ihr persönlich gegensteuern könnt.« Frau Yilmaz stand keinen Moment still, sondern lief zwischen den Arbeitstischen hin und her. »Wenn es dazu keine Fragen mehr gibt, dann möchte ich, dass ihr herausfindet, welche Gerüche für euch die unangenehmsten Erinnerungen wecken. Das kann einen Moment dauern und ist natürlich bei allen unterschiedlich. Lasst euch ruhig Zeit dabei. Es ist niemandem von euch geholfen, wenn ihr es euch leicht macht. Einfach ist diese Aufgabe nämlich nicht.«
Wir kannten den Duftfindungsprozess bereits gut genug und somit schnupperten wir uns einfach durch die Gerüche aus der Duftorgel und notierten uns, welche Emotionen die jeweiligen Flakons in uns weckten. Für gewöhnlich führten die nämlich immer geradewegs in unsere ganz eigenen Erinnerungen. Letztes Jahr um diese Zeit hatten wir Düfte gebraut, die das Gefühl von Sommerferien auslösten. Das war leicht. Ein bisschen Sonnencremegeruch, getrocknetes Holz und Salzwasser gemischt mit vielen Zitrus- und Blütennoten sowie einem Hauch Gras und Chlor. Das wirkte bei mir genauso gut wie bei fast allen anderen auch. Im Herbst hatten wir mit Winter- und Weihnachtsdüften experimentiert. Auch da hatten die meisten zu den gleichen Zutaten gegriffen, wie Zimt, Apfelnoten und Nelke. In Ausnahmefällen auch mal zu Weihrauch.
Dieser Sprung, den Frau Yilmaz heute mit uns machte, war größer, als es mir im ersten Moment klar war. Duftnoten herauszusuchen, die unangenehme Gefühle in einem auslösten, war tatsächlich schwierig. Man vermied sie ja normalerweise und konnte dabei auch nicht auf allgemeingültige Gerüche zurückgreifen, wie es in den letzten Semestern der Fall gewesen war. Das hier war sehr persönlich, für jeden von uns völlig anders und somit kompliziert.
Wir gaben uns einen Ruck und griffen nacheinander nach den Flakons. Ich überlegte, welche Erinnerungen in mir besonders unangenehme Gefühle hervorriefen. Allerdings war es schwer, das so genau zu bestimmen. Düfte wirkten schließlich unterbewusst. Oft registrierte man mehr ihre Wirkungen, als dass man sich wirklich an ihren Geruch erinnerte. Der erste Geruch, der mir spontan einfiel, war modrige Erde, warum auch immer. Etwas in der Art zu finden, war nur nicht so leicht. So ungewöhnliche Düfte wurden in der Regel nämlich gar nicht erst hergestellt und verkorkt. Viel Auswahl gab es zum Thema »modrig« also nicht. Ich versuchte es mit einem Flakon nach dem nächsten, bis ich beim Veilchen-Elixier, auch als Viola odorata bekannt, hängen blieb. Das roch zwar überhaupt nicht modrig, aber es erinnerte mich an etwas, das ich damit in Verbindung brachte. Also griff ich wahllos weiter zu, bis ich auch bei dem Duft von Punica granatum stockte, dem Duft der Granatapfelbaumrinde.
Wenn wir zu viele Düfte auf einmal in der Nase hatten, mussten wir unseren Geruchssinn immer mal wieder neutralisieren. Dafür gab es kleine Säckchen, die mit Kaffeebohnen gefüllt waren. Ohne einen kräftigen Atemzug Kaffeebohnen hätten wir sonst nach dem dritten Flakon rein gar nichts mehr wahrgenommen. Und so testeten wir alle, jeder für sich, einen Duft nach dem nächsten.
»Wie gesagt, lasst euch Zeit, bis ihr euch ganz sicher seid, welche Duftstoffe euch am meisten zusetzen. Gerüche täuschen einen leicht. Das Mischen solltet ihr deshalb unter keinen Umständen überstürzen.« Diesen Hinweis gab uns Frau Yilmaz mindestens drei Mal und immer wieder auf verschiedene Art.
Mittlerweile hatte ich eine Liste mit den Gerüchen erstellt, die mich am stärksten abstießen, und sie nach dem Grad des Unwohlseins aufgelistet, den sie bei mir auslösten. Ein bisschen überrascht war ich selbst, als ich sie betrachtete. Ganz oben stand Veilchen-Elixier (Viola odorata), gefolgt von Wermutblättern (Artemisia absinthium) und Tausendgüldenkraut. Sogar weiße Enzianblüten hatte ich notiert, wobei mir erst jetzt klar wurde, wie wenig ich den Geruch mochte. Nur wieso? Die Zutaten darauf sagten mir erst mal nichts. Wieso wirkten ausgerechnet diese Düfte so abstoßend auf mich? Ich konnte es mir nicht wirklich erklären, weil das eigentlich keine schlechten Gerüche waren, ganz im Gegenteil. Ich erinnerte mich nicht einmal daran, wo und wann ich diese einzelnen Duftstoffe bereits gerochen hatte. Offensichtlich hatte sich mein Unterbewusstsein etwas gemerkt, das ich selbst vergessen zu haben schien. Manche Erinnerungen ließen einen wohl mit der Zeit in Ruhe und verzogen sich, bis sie verblassten? Mist! Wie sollte ich daraus einen Duft mischen? Frau Yilmaz’ Aufgabe war wirklich kompliziert.
»Für heute soll es genügen«, beendete unsere Lehrerin irgendwann ihren Unterricht, noch bevor ich eine Lösung gefunden hatte.
Na, da hatten wir ja noch was vor uns! Ich schielte auf die Zettel von Polly und Ben, erkannte aber nicht wirklich etwas, das mir verraten hätte, was in ihnen die miesesten Erinnerungen weckte. Während ich meine Tasche packte und die Flakons zurückräumte, bemerkte ich plötzlich aus dem Augenwinkel Raffael. Ich warf ihm einen Blick zu, doch er lief so schnell an mir vorbei, dass er mich vermutlich gar nicht gesehen hatte. Mir fiel auf, dass er ungewohnt bleich im Gesicht war. Kurz überlegte ich, ob ich ihm nachgehen sollte. Doch er hatte es so eilig, dass er schneller verschwunden war, als ich eine Entscheidung treffen konnte.
Erst beim Abendessen in der Cafeteria sah ich Raffael wieder und kämpfte mich durch das Gedrängel am Büfett nach vorn in seine Nähe. Raffael wirkte immer noch blass. Doch als ich es fast bis zu ihm geschafft hatte, war er bereits samt beladenem Teller auf dem Weg nach draußen. Selbst Tom und Luisa, mit denen er sonst viel Zeit verbrachte, gab er nur mit einem Handzeichen zu verstehen, dass er in seinem Wohnwagen essen wollte, und marschierte nach draußen.
»Raffael!«, rief ich ihm hinterher, aber er war längst verschwunden und hörte mich nicht mehr. Ich blieb mit meinem Teller in der Hand stehen und überlegte, ob ich mich weiter aufdrängen sollte.
Im gleichen Moment zuckte ich zusammen, weil mir jemand eine Hand auf die Schulter legte. Es war Ben, der hinter mir stand und demonstrativ stöhnte. »Ein Buch mit sieben Siegeln, der Typ. Immer das Gleiche mit dem, oder?«
»Scheint so«, sagte ich nur, zuckte die Schulter und folgte Ben zu einem der Tische.
Während dort die wildesten Spekulationen losgingen, schob ich mir einen Löffel nach dem anderen in den Mund. Polly und Theresa überlegten laut, wie der Austausch mit der französischen Akademie wohl werden würde und wie sie sich von der Duftakademie unterschied. Morgen Vormittag sollten unsere Gäste schon eintreffen. Die Aufregung um mich herum steckte mich an und ich wischte meine Gedanken an Raffael beiseite.
Wenn er mit mir reden wollte, konnte er das ja einfach tun. Und wenn nicht, dann halt nicht.
Am nächsten Morgen war Polly sogar noch vor mir angezogen und trieb mich an, damit wir nach unten aufs Akademiegelände konnten.