Luzie Alvenstein – Erbin der Duftapotheke (1). Ein Geheimnis zieht durch die Zeit - Anna Ruhe - E-Book + Hörbuch

Luzie Alvenstein – Erbin der Duftapotheke (1). Ein Geheimnis zieht durch die Zeit Hörbuch

Anna Ruhe

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Beschreibung

Zurück in die zauberhafte Welt der Duftapotheke! Der Auftakt der neuen Reihe von Bestsellerautorin Anna Ruhe Luzie ist die Erbin der Duftapotheke – ein Erbe, das es in sich hat. Die Düfte dort sind magisch und mächtig. Und in den falschen Händen gefährlich. Deshalb müssen sie um jeden Preis geschützt werden. Zum Glück hat Luzie ihre Freunde Mats und Elodie an ihrer Seite. Aber reicht das? Denn auf einmal gehen geheimnisvolle Dinge in der Duftapotheke vor sich. Ein unbekannter Flakon taucht auf und jemand hat sich an der Destille zu schaffen gemacht. Nur wer soll das gewesen sein? Die Lösung des Rätsels scheint in der Vergangenheit zu liegen. Den Freunden bleibt also keine andere Wahl: Mithilfe der Duftapotheke müssen sie ins Rom des Jahres 1871 reisen. Doch das ist riskanter als alles andere. Ein duftendes Zeitfenster hält schließlich nicht ewig. Und so könnten die drei allzu leicht in der Vergangenheit stranden … Große Spannung, Magie und Abenteuer für alle ab 10 Jahren. Wunderbar fantasievoll erzählt von Bestsellerautorin Anna Ruhe und mit zauberhaften Schwarz-Weiß-Vignetten von Claudia Carls ("Woodwalkers", "Alea Aquarius"). Anna Ruhes Duftwelt im Arena Verlag: Die Duftapotheke (1). Ein Geheimnis liegt in der Luft Die Duftapotheke (2). Das Rätsel der schwarzen Blume Die Duftapotheke (3). Das falsche Spiel der Meisterin Die Duftapotheke (4). Das Turnier der tausend Talente Die Duftapotheke (5). Die Stadt der verlorenen Zeit Die Duftapotheke (6). Das Vermächtnis der Villa Evie Die Duftakademie (1). Die Entdeckung der Talente Die Duftakademie (2). Gefährliches Geflüster Die Duftakademie (3). Im Bann der Düfte Die Presse über "Die Duftapotheke": "Für ihre Geschichten lässt Anna Ruhe ihre Fantasie so richtig sprudeln!" – ZEITleo "Fantasievoll und sinnlich." – BÜCHER Magazin "Ein echt duftes Kinderbuch!" – empfohlen vom Literaturkurier auf FAZ.net

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Zeit:7 Std. 51 min

Veröffentlichungsjahr: 2025

Sprecher:Uta Dänekamp

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Die Duftapotheke. Ein Geheimnis liegt in der Luft (Band 1)

Die Duftapotheke. Das Rätsel der schwarzen Blume (Band 2)

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Seeland. Per Anhalter zum Strudelschlund

Mount Caravan. Die fantastische Fahrt im Nimmerzeit-Express

Anna Ruhe wurde in Berlin geboren. Nach einem Abstecher an die englische Küste studierte sie Kommunikationsdesign und arbeitete danach als Grafikdesignerin, bis sie Schriftstellerin wurde. Im Jahr 2015 erschien ihr erster Kinderroman. Seitdem hat sie viele weitere Bücher veröffentlicht. Ihre Werke stehen regelmäßig auf der Spiegel-Bestsellerliste und wurden in viele Sprachen übersetzt. Sie ist Mutter von zwei Kindern und lebt mit ihrer Familie in Berlin. Weitere Informationen zur Autorin unter www.annaruhe.de

Claudia Carls erklärte in ihrer Kindheit abwechselnd, Schriftstellerin oder Künstlerin werden zu wollen, bis sich dieser Konflikt mit dem Beschluss, Buchillustration zu studieren, schließlich auflösen ließ. Als Diplom-Designerin lebt und arbeitet sie in Hamburg und gestaltet Bilderbücher, Kinder- und Jugendbücher, Sachbücher und Plakate.

Für Nikolai

Danke, dass du bei all den Reisen durch die Zeit meine Hand hältst. Ohne dich wäre ich hier nie angekommen.

Ein Verlag in der Westermann Gruppe

1. Auflage 2025

© 2025 Arena Verlag GmbH

Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Der Verlag behält sich eine Nutzung des Werkes für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

Text: Anna Ruhe

Cover und Innenillustrationen: Claudia Carls

Umschlaggestaltung: Juliane Lindemann und Sora Kim

E-Book ISBN: 978-3-401-81098-0

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»Bilder haben Macht.Was wir sehen, beeinflusst, was wir fühlen.Und was wir fühlen, entscheidet darüber, was wir denken.«

– Francesca Fratelli (Malerin), 1871

Prolog

Früher habe ich mir immer gewünscht, Superkräfte zu besitzen. Solche, mit denen ich jedes meiner Probleme einfach wegzaubern könnte. Damals hatte ich allerdings nicht den leisesten Schimmer, wie viel schwieriger mein Leben noch werden könnte und wie viel größer meine Probleme, wenn dieser Wunsch tatsächlich wahr wird. Es klingt komisch, ich weiß, aber ich habe etwas entdeckt, das mir wirklich so was wie Superkräfte verleiht – etwas, womit ich Dinge und Situationen einfach ändern kann. Manchmal fühlt es sich sogar fast so an, als könnte ich zaubern. Nur ist mein Leben dadurch kein bisschen leichter geworden. Eigentlich ist eher das Gegenteil der Fall.

Also raus damit: Ich habe ein Geheimnis. Eins, das nicht nur mächtig ist, sondern auch ziemlich gefährlich werden kann. Mittlerweile hütet meine ganze Familie dieses Geheimnis. Und meine allerbesten Freunde auch. Mysteriös, oder? Aber ich werde es dir erklären. Jedenfalls, wenn du mir die Zeit gibst, von vorn anzufangen. Ich bin mir sicher, dann wirst du es verstehen. Immerhin steht eins fest: Es gibt überall auf der Welt noch andere wie mich – und mein Plan ist es, sie zu finden.

Zuerst hörte sich das alles auch für mich seltsam an. Bestimmt habe ich den Kopf geschüttelt, als ich davon erfahren habe. Aber so ist es ja immer mit Dingen, die einem unglaublich vorkommen. Eins verspreche ich dir, ich werde dir nicht irgendwelchen Quatsch erzählen. Alles, was ich erlebt habe, werde ich so wiedergeben, wie es war. Stück für Stück. Wer weiß, vielleicht geht es dir wie mir, nur hat dir bisher noch nie jemand von alldem erzählt?

Also, bist du bereit?

Eine Dunstwolke aus warmfeuchter Pflanzenluft begrüßte mich. Genau wie es auch das Quietschen der Scharniere tat, die mit ihrem Geräusch die fehlende Klingel ersetzten. Nachdem ich die Glastür ganz aufgeschoben und ein paar Schritte ins Innere gemacht hatte, wehte mir als Nächstes der Duft von Jasminblüten und Zitronengras entgegen.

»Was machen wir nur mir dir?«, raunte ich unserem Gewächshaus zu und seufzte. Das Ding war schließlich nicht nur uralt und übermäßig historisch, es besaß auch noch die Höhe eines Einfamilienhauses. Wirklich. Unser Gewächshaus ähnelte denen, die man auch in Botanischen Gärten fand. Dabei stand es einfach hinter unserem Haus. Also dort, wo andere ihren Hühnerstall oder das Trampolin aufbauten. Aber bei uns war eben alles ein bisschen anders.

Auch heute brauchte ich einen Moment, um mich an die Luft im Inneren zu gewöhnen. Sie fühlte sich schwer und irgendwie zu dick an. Dabei duftete sie nach so vielen Dingen gleichzeitig. Nach Lavendel zum Beispiel, Kardamom, Salbei, Kakaobohnen und noch viel mehr. Die Glastür quietschte ein weiteres Mal, bevor sie hinter mir ins Schloss klackte. Kurz blieb ich stehen und atmete ein, bevor ich die nächsten Schritte machte. Hinein ins wilde Grün.

Seit Hanne weggezogen war und sich nicht mehr um das Gewächshaus kümmerte, wucherten die Pflanzen über uns hinaus. Sie übernahmen das Glashaus nach ihren eigenen Gesetzen und wir hatten keine Chance, den ganzen Ranken, Sträuchern und kräftig gewachsenen Bäumen Grenzen zu setzen. Im Vorbeigehen strich ich mit meiner Hand über die Blüten des Jasmins. Sofort hüllte mich ihr Honigduft ein und ließ mich ruhiger werden. Einen Moment lang legte ich meinen Kopf in den Nacken und sah zu den beschlagenen Glasscheiben hinauf, die weit über meinem Kopf die Sonnenstrahlen ausbremsten. Seit Ewigkeiten hatte sie niemand mehr geputzt. Ich straffte die Schultern, verscheuchte die Sorge darüber, wie wir das alles nur in den Griff bekommen sollten, und zwängte mich durch das Dickicht.

»Luuuuzie! Warte!« Hinter mir rannte Benno durch die Tür. Es dauerte nur Sekunden, bis ich roch, wen mein kleiner Bruder noch im Schlepptau hatte.

Ich keuchte kurz und hielt mir die Nase zu. »O Mann! Was hast du Mr Murphy heute Morgen zu fressen gegeben?

»Du bist fies!« Benno sah beleidigt zu mir hoch. »Mr Murphy ist noch klein und er hat eine schwierige Verdauung«, versuchte er es so erwachsen auszudrücken, wie er es mit seinen sechs Jahren eben konnte.

»Eine schwierige Verdauung …?« Meine Mundwinkel zuckten. »So was nennt man allgemein einen fahren lassen. Mannomann! Wie kann dein Minihund so rumpupsen, als wäre er ein Mammut mit Monsterblähungen?« Ich zwinkerte ihm zu, aber Benno verschränkte nur die Arme.

»Hör auf, Mr Murphy zu ärgern. Er muss sich doch noch bei uns einleben.« Mein Bruder zog seine Augenbrauen zusammen. »Ich glaub, unser Essen ist anders als das, das er kennt.«

Ich hob die Hände und warf dem Pudelwelpen, der aufgeregt Kreise um Bennos Beine drehte, einen kurzen Blick zu. Mr Murphy sah aus seinen braunen Riesenaugen zu mir herauf, als wäre ich – nach Benno – das zweittollste Wesen, das er je gesehen hatte. Dabei wedelte sein Schwanz im Zickzack durch die Luft. Wenn Mr Murphy nur nicht jedes Mal zur Begrüßung eine seiner Stinkbomben ablassen würde, wäre dieser flauschig gelockte Babyhund tatsächlich supersüß.

Immerhin bellte er eher selten, was ich ihm wirklich hoch anrechnete. Trotzdem glich seine Niedlichkeit die peinlichen Situationen, in die er mich schon gebracht hatte, nur zur Hälfte aus. War man mit Mr Murphy unterwegs und traf jemanden, stieg augenblicklich eine grässliche Duftnote mit halb betäubender Wirkung auf, für die man selbst so lange schweigend beschuldigt wurde, bis man Mr Murphys schwierige Verdauung erklärte. Allerdings war ich mir nie sicher, wie viel das tatsächlich half. Peinlich war es jedes einzelne Mal.

Benno rief den herumspringenden Mr Murphy zu sich zurück und sah mich an. »Was machst du hier?«

»Bin mit Elodie verabredet«, erklärte ich und ging weiter.

Mr Murphys persönliches Odeur war endlich verflogen und wurde von etwas Neuem abgelöst. Der Geruchsmischmasch, den ich nun wahrnahm, verscheuchte sogar den honigsüßen Jasminduft und lenkte mich in die Richtung, in die ich sowieso wollte. Er hatte etwas Unnatürliches und war schwer zuzuordnen. Im Grunde ahnte ich schon, was das war, also schob ich ein paar Äste aus dem Weg und arbeitete mich zusammen mit Benno und Mr Murphy an den Pflanzenbeeten entlang, immer dem neuen Duft entgegen.

»Na endlich!«, hörte ich Elodies Stimme. Sie selbst musste irgendwo hinter dem Dickicht aus Blüten und Blättern stecken. »Wieso kommst du so spät? Ich habe schon überlegt, wieder zu gehen.«

»Zu gehen? Echt jetzt?« Kurz verdrehte ich die Augen. Normalerweise ließ Elodie mich warten. Und das nicht zu knapp. Einmal hatte ich mir eine ganze Stunde an unserem Treffpunkt die Beine in den Bauch gestanden, bis sie endlich aufgetaucht war. Aber wenn es ausnahmsweise mal umgekehrt war und ich mich ein paar Minuten verspätete, war das offensichtlich eine unglaubliche Zumutung.

Ich seufzte, zwängte mich an einem Ginkgobaum vorbei und stolperte direkt in eine undurchsichtige Wolke aus Fliedergeruch und irgendwelchen weiteren Zutaten hinein. Nanu? Was war denn hier los? Mit der Hand wedelte ich durch den violetten Dunst, in dem ich gelandet war, und hörte Mr Murphy hinter mir ausnahmsweise doch bellen. Das, was Elodie im gleichen Moment sagte, hörte ich deshalb nicht. Also wedelte ich stärker durch die Fliederschwaden und machte zwei vorsichtige Schritte geradeaus, damit ich Elodie wenigstens sehen konnte. Doch da war nichts. Nichts, außer blauviolettem Nebel weit und breit. Ich drehte mich nach links, dann nach rechts und verlor die Orientierung.

»Wieso machst du so was?«, meckerte ich, weil ich schon ahnte, woher dieser Geruchsmischmasch und die Nebelwolken kamen. Elodie musste einen unserer Flakons geöffnet haben. Einen von denen, die es in sich hatten und eigentlich fest verschlossen und gut versteckt aufbewahrt werden sollten. Mir wurde allein bei dem Gedanken daran heiß, was alles passieren konnte. Und das aus gutem Grund.

Schon im nächsten Moment spürte ich, wie die Luft um mich herum in Bewegung kam. Der Blütenduft verstärkte sich mit einem Mal so, dass mir davon schwindelig wurde. Konzentrier dich!, versuchte ich mir zuzureden. Knospen schoben sich durch den Nebel. Immer dichter wuchsen sie auf mich zu und umringten mich. Ranken schlängelten sich an mir empor und quetschten mich immer enger in ihrer Mitte ein. Mein Puls wummerte.

»Elodie!«, rief ich, hörte sie aber nicht mehr antworten. Stattdessen packte mich etwas am Bein und schlang sich fester darum. Ich bückte mich und versuchte hektisch, die Ranke abzuschütteln, doch da kringelte sich bereits eine weitere um meinen Arm, zog sich zusammen und wuchs über mich hinaus. »Elodie! Beeennooo!«, brüllte ich und verlor den Boden unter meinen Füßen. Die Dornen eines Rosenstrauchs stachen mir in den anderen Arm und eine Rosenblüte drückte sich mir ins Gesicht. Das, was mein Bein umschlang, wurde kräftiger und hob mich weiter in die Höhe. Langsam verflogen die Fliederwolken und ich konnte zusehen, wie im Schnelldurchlauf immer neue Knospen entstanden. Sie wurden größer, falteten sich auseinander und blühten schließlich auf. Es sah aus, als würde man einen Film im Schnelldurchlauf vorspulen. In allen möglichen Farben und Formen toste ein Blumenmeer um mich herum. Ich steckte in einem Dickicht aus Knospen und Blüten fest, die wie ein Feuerwerk immer weiter aufpoppten. Mit Mühe versuchte ich einen Blick nach unten zu werfen – und augenblicklich drehte sich mir der Magen um. Ich schwebte so hoch in der Luft, dass mir die Glasdecke mittlerweile näher war als der Boden.

Weil klar war, was passieren würde, sobald die Wirkung der künstlichen Fliederwolke nachließ, klammerte ich mich in die Stängel. Zumindest theoretisch war ich vorbereitet. »Benno! Halt dich fest!«, brüllte ich wieder, ohne zu wissen, wo mein kleiner Bruder steckte und ob er mich überhaupt hören konnte. Mein Herz raste und meine Gedanken gleich mit.

Ein Windhauch zog mir über die Arme und ließ die Blätter rascheln, als wären sie vertrocknetes Laub. Und dann geschah es: Die Blüten ließen ihre Blätter fallen und verwelkten genau so schnell, wie sie sich entfaltet hatten. Ein plötzlicher Herbst setzte um mich herum ein und der mächtige Pflanzenstängel, der mich umklammert hatte, hielt auf einmal mein Gewicht nicht mehr und brach. Aus ihm war ein morscher Ast geworden. Ich griff nach allem, was ich noch zu fassen bekam, bis ich auf dem Boden landete. Vor lauter Herzrasen spürte ich nicht, ob mir etwas wehtat. Ich suchte nur nach Benno.

Mit Mr Murphy auf dem Arm kam mein kleiner Bruder ein Stück näher, bis er in einem Regen aus herabfallenden Blättern und Blüten stehen blieb. Sie verdorrten und zerfielen zu Staub, noch bevor sie den Boden erreichten. Der Babypudel gab einen jämmerlichen Ton von sich und Benno drückte ihn an sich und flüsterte ihm etwas ins Ohr, das ihn beruhigte. Gott sei Dank waren die beiden weit genug von dem plötzlichen Pflanzentornado entfernt gewesen. Ich rappelte mich hoch, zog ein paar Blätter und Äste aus meinen dunkelblonden Schnittlauchlocken und sah mich um. Der künstliche Herbst hatte alle Pflanzen auf einer Fläche im Umkreis von drei Metern verwelken lassen. Das wilde Grün war kreisrund wie weggeblasen. Ich schnappte nach Luft und drehte mich zu Elodie, die sich zufrieden durch ihre Haare strich. Wie immer fielen sie so glänzend wie ein dunkler Seidenschal um ihr Gesicht. Nur ein einziges welkes Blatt hing noch darin.

»Was sollte das denn?«, schnaubte ich und zeigte auf den Kahlschlag. »Wir sollen uns um das Gewächshaus kümmern und es pflegen, nicht es niederreißen!«

Elodie hob nur ihre Augenbrauen. »Willst du das etwa alles per Hand machen? Wir haben doch noch anderes zu tun, als von morgens bis abends Unkraut zu jäten oder endlos Büsche und Bäume zu stutzen. Jetzt kommt man hier endlich wieder durch. Woher soll ich denn wissen, dass du ausgerechnet in dem Moment hier reinlatschen musst, wenn ich gerade den Flakon öffne? Ich finde, die ›Verblühende Note‹ können wir ruhig öfter mal anwenden. Wozu haben wir die ganzen Flakons schließlich?«

Weil ich innerlich so kochte, verschluckte ich mich an meinem Ärger.

Elodie schien das aber nicht zu stören. Stattdessen hielt sie mir ein halb volles Fläschchen mit einem kaum noch zu entziffernden Etikett entgegen. Das Papier war vergilbt und die Tinte darauf verblichen. Selbst wenn das Etikett noch gut zu lesen gewesen wäre, man hätte sich anstrengen müssen, die altmodische Handschrift zu entziffern. Es war nicht zu übersehen, dass dieser Flakon aus einem anderen Jahrhundert stammte. Also eindeutig aus unserer geheimen Duftapotheke.

»Bestimmt nicht dafür …«, polterte ich los, weil ich nicht verstehen konnte, dass Elodie das nicht begriff. »Wir haben versprochen, dass wir dieses Erbe beschützen. Nicht, dass wir es verplempern, nur weil jemand von uns keine Lust zum Gärtnern hat und deshalb alles mal eben schnell zum Aufblühen und Absterben bringt. Hanne wäre fuchsteufelswild, wenn sie sehen könnte, was du ihrem alten Gewächshaus antust. Und überhaupt: Was ist, wenn genau an dieser Stelle, die du gerade dem Erdboden gleichgemacht hast, ein paar von den besonders seltenen Pflanzen waren? Dann sind die jetzt einfach weg!«

Elodie winkte ab. »Hanne sieht es ja nicht. Außerdem … was soll schon sein? Das wächst doch alles wieder nach, guck dich nur mal um. Und wenn nicht, rufen wir eben ihren Mann an, ob er uns neue Setzlinge davon schickt. Friedrich Blüm freut sich, wenn er auch mal ein paar seiner seltenen Pflanzen verkaufen kann.« Elodie zuckte die Schulter. »Lass uns endlich mit dem anfangen, weshalb wir heute hergekommen sind. Das, was wirklich zählt. Immerhin ist der Durchgang zum Geräteschuppen jetzt wieder frei.« Sie lächelte mich an und winkte mich hinter ihr her.

»Echt mal. Du bist …« Mit einem Kopfschütteln folgte ich ihr.

»Genial, ich weiß«, sagte Elodie nur und blieb vor dem Geräteschuppen stehen. Noch bevor sie die Tür aufzog, blickte sie zwischen Benno und Mr Murphy hin und her, die mittlerweile hinter mir standen. »Willst du den nicht hierlassen? Nicht, dass der unten was kaputt macht?«

»Der heißt Mr Murphy!«, gab Benno zurück und streichelte seinem Hund über den Kopf, als hätte er Elodies Worte verstanden und müsste deshalb getröstet werden. »Erstens ist Mr Murphy noch viel zu klein, um allein im Gewächshaus zu bleiben, und zweitens macht er nichts kaputt.«

Elodie drehte sich mit einem Blick zu mir um, der mir wortlos zu verstehen gab, dass es meine Schuld wäre, wenn der Hund sich nicht benahm. Ich zuckte die Schultern, genau wie sie es selbst gerade getan hatte. »Mr Murphy gehört jetzt zur Familie, da kann man nichts machen. Lass uns endlich anfangen!« Mit zusammengezogenen Augenbrauen sah ich daraufhin meinen kleinen Bruder an, aber Benno strahlte nur und nickte.

Elodie warf ihre Haare zurück und betrat den Geräteschuppen, während ich den historischen Drehschalter an der Wand betätigte. Zusammen quetschte ich mich mit Benno und Mr Murphy dazu und hörte die Gaslampe über uns knistern. Erst als sie ihr Licht auf uns warf, schloss ich hinter uns die Tür. Elodie drückte den Hebel am Boden nach unten und die Steinplatten unter unseren Füßen begannen zu quietschen. Schließlich bewegten sie sich. Der Schuppen drehte sich einmal um sich selbst. Als die Steinplatten mit dem Quietschen aufhörten, öffnete Elodie die Tür. Vor uns lag nicht mehr das Gewächshaus, sondern eine Holztreppe, die nach unten führte.

»Hat Leon nicht versprochen, hier Staub zu wischen?«, fragte ich, als ich meine Hand auf das Geländer legte und sie gleich wieder wegzog. Aber Elodie reagierte nicht auf meine Frage. Für das, was ihr Freund tat oder nicht, fühlte sie sich nicht verantwortlich.

Neben Benno stieg ich die Stufen nach unten in den geheimen Flur. Es war dunkel, nur aus dem Schuppen fiel von oben Licht herein. Elodie drehte den Schalter an der Wand und kurz darauf summten auch hier die Lampen über unseren Köpfen und beleuchteten die goldenen Bilderrahmen mit den Schwarz-Weiß-Fotografien. Ordentlich nebeneinander aufgereiht hingen sie im Gang über der Blümchentapete.

»Einen wunderschönen guten Tag, Herr de Bruijn!«, begrüßte Elodie den Mann, der auf jedem einzelnen Foto im Flur abgebildet war.

Ich nickte ihm nur wortlos zu. Schließlich war er selbst nicht mehr da, sondern hing nur als Gruß aus der Vergangenheit an der Wand. Daan de Bruijn, der Mann, der vor langer Zeit nicht nur das Gewächs- und Wohnhaus erbaut hatte, in dem wir lebten, sondern auch das, was unter diesen beiden Gebäuden versteckt lag. Den Ort, den ich von ihm geerbt hatte, um den ich mich kümmern musste und der mein gut gehütetes Geheimnis war. Okay, es war nicht nur mein Geheimnis. Ein paar Leute wussten ebenfalls davon. Elodie zum Beispiel und auch Benno, so wie Mr Murphy es ebenfalls gleich erfahren würde. Sogar Ma und Pa wussten endlich davon. Eine ganze Weile lang hatte ich geglaubt, das alles vor ihnen verheimlichen zu müssen, was schrecklich anstrengend gewesen war.

Doch mittlerweile wussten sie Bescheid und das machte alles so viel einfacher. Auch wenn ich ihnen versprechen musste, die Flakons, wie alles andere an diesem Ort, weder zu benutzen noch anzurühren. Stattdessen sollten wir unser Geheimnis wie ein verstecktes und stillgelegtes Museum behandeln. Selbst Elodie hatte das versprochen, obwohl sie sich nicht gerade streng daran hielt. Aber auch ich war mir nicht sicher, ob das langfristig so funktionieren würde, wie Ma und Pa sich das vorstellten. Trotzdem gab ich mein Bestes, es zumindest zu versuchen.

Es waren noch ein paar wenige mehr eingeweiht: Mats und Leon, Hanne van Velden, die ehemalige Besitzerin der Villa Evie, unsere frühere Nachbarin und ehemalige Duftapothekerin, sowie ihr neuer Mann Friedrich. Eigentlich waren wir zu viele, um ein echtes Geheimnis zu bewahren, und gleichzeitig zu wenige, um es gut genug beschützen zu können. Nicht nur ich würde diesen Ort bis in alle Ewigkeit hüten müssen. Wir alle mussten das. Nur leider gab es Leichteres.

Nachdenklich betrachtete ich das letzte Foto am Ende des Flures. Auch darauf war Daan de Bruijn zu sehen, vielleicht im wichtigsten Moment seines Lebens. Jemand hatte ihn auf einer seiner Expeditionsreisen fotografiert, wie er, in eine altmodische Tropenausrüstung gekleidet, auf einem schwarz glitzernden Gesteinsbrocken stand. Auch wenn dieser Fels auf den ersten Blick unscheinbar wirkte, er war das genaue Gegenteil davon und hatte alles verändert. Ohne den Meteorbrocken, auf dem Daan stand und aus dem er später ein feines Pulver – das Meteorpulver – hergestellt hatte, würde es diesen unterirdischen Ort gar nicht geben. Unsere wichtigste Zutat, die den Duftapotheken-Düften erst ihren Zauber verlieh, würde nicht mal existieren und wir bräuchten auch kein Geheimnis hüten. Ohne das Meteorpulver gäbe es nämlich keins. Daan hielt auf der Fotografie den Arm zu einer Siegerpose gestreckt und strahlte in die Kamera. So als wäre nun alles vollbracht, was es zu vollbringen gab. Dass alles nach diesem Moment erst anfing kompliziert zu werden, hatte er zu diesem Zeitpunkt nicht geahnt.

Während ich den gusseisernen Schlüssel hervorzog und ihn in die Holztür am Ende des Flures schob, holte ich tief Luft. Zweimal ließ ich das Schloss klacken, bis die Tür sich einen Spalt öffnete. Noch bevor ich sie ganz aufdrückte, ließ Benno den zappelnden Mr Murphy vom Arm. Der sauste sofort los.

»Nicht!«, rief ich gleichzeitig mit Elodie, aber da war Mr Murphy schon hinter der Tür verschwunden. Irgendetwas krachte, es rumste mehrmals, dann klirrte etwas und mein Herz blieb stehen.

Mit Wucht stieß ich die Tür zur Duftapotheke weiter auf und hechtete hinterher. Ich erwartete unheilvolle Dunstschwaden aus zerbrochenen Flakons und Überraschungen, denen wir nicht gewachsen wären. Hektisch suchte ich mit den Augen die Orte ab, an denen wir die gefährlichsten Flakons lagerten. Die, denen man lieber nicht zu nahe kam und die besser für immer verschlossen blieben. Doch nirgends dampfte es. Einen Moment lang stutzte ich und konnte mich trotzdem nicht zwischen Erleichterung oder Panik entscheiden. Bis ich schließlich zwischen den Sesseln und dem hüfthohen Buchregal Glasscherben in einer gelben Pfütze entdeckte. Ich stöhnte, entspannte mich aber gleichzeitig. Die Scherben stammten von einer Orangenlimo, die wir hier unten das letzte Mal getrunken und offensichtlich stehen gelassen hatten. Immerhin war es kein Flakon gewesen.

Daneben lagen verstreut Notizbücher auf dem Boden, die Mr Murphy zusammen mit der Limo umgerannt haben musste. Es waren alte Rezept- und Notizbücher aus vergangenen Zeiten, die sich auf dem Boden gestapelt hatten, weil sie nicht mehr ins Regal passten. Immerhin weichten sie nicht in der Pfütze auf. Ich angelte mir einen Lappen aus einer der Schubladen, sammelte die Scherben auf und wischte die klebrige Flüssigkeit notdürftig zusammen. Hinter mir hörte ich Elodie erleichtert aufatmen, während ich den Sessel vor mir beiseiteschob und mich zu den herumliegenden Büchern des alten Duftapothekers kniete.

»Zum Glück ist dir nichts passiert!«, sagte Benno und streichelte Mr Murphy. Der stand wie angewurzelt neben dem Chaos und hatte vor lauter Schreck erst mal einen fahren lassen.

»Meine Güte noch mal!« Elodie wedelte genervt mit der Hand vor ihrem Gesicht herum und hob eines der Notizbücher auf.

Benno störte die Duftnote seines Minihunds kein bisschen, stattdessen nahm er ihn wieder auf den Arm. »Sicher ist sicher«, nuschelte er mir zu.

»Wenn du Mr Murphy schon hierher mitnimmst, dann lass ihn wenigstens nicht auch noch frei rumlaufen!« Ich warf Benno meinen strengsten Blick zu, den ich auf Lager hatte. »Klar?«

Neben mir stapelte Elodie die Bücher bereits wieder auf. Aus einem der Expeditionsbücher von Daan war ein postkartengroßes Bild gerutscht. Ich griff danach und hielt es Elodie hin, damit sie es wieder in das Buch zurücklegen konnte, aus dem es gefallen sein musste. Doch als sie danach griff und es betrachtete, zuckte etwas in ihrem Blick.

»Alles okay?«, fragte ich. »Stimmt irgendwas nicht?«

Doch Elodie antwortete nicht, sondern starrte weiter darauf. Zwei oder drei weitere Sekunden vergingen, ohne dass sie etwas sagte. Schließlich sah sie wieder auf und reichte mir das Bild. Auf dem vergilbten Papier befand sich das Porträt einer Frau. Obwohl es nur eine Farbskizze auf einem losen Zettel war, schaute ich darauf in ein fremdes Gesicht, das mich nicht mehr losließ. Irgendwas in dem Blick der Frau ließ auch mich stocken. Ich konnte mich gar nicht davon lösen. Die in Ölfarbe gemalten Augen schauten mich an, als wollten sie mir etwas sagen. War es eine wortlose Frage, die plötzlich zwischen mir und der Frau in der Luft schwebte? Oder ein unsichtbarer Hinweis auf etwas, das ich begreifen sollte, selbst wenn ich keine Ahnung hatte, was es genau war?

Eigentlich war es kein besonderes Porträt. Gut, es musste aus einer längst vergangenen Zeit stammen, aber ansonsten war es nur ein ovales Frauengesicht, das von dunklen, streng zurückgesteckten Haaren umrahmt wurde. Das einzig Ungewöhnliche daran war der Gesichtsausdruck. Eigenartigerweise hatte ich das Gefühl, dass die Frau mir ein Rätsel aufgeben wollte. Eins, das ich nur lösen konnte, solange ich ihr Bild anblickte. Nur erriet ich es nicht. Alles, was ich wusste, war: Ich fühlte mich von diesem Blick gesehen. So, als würde mir die Frau gerade lebendig gegenüberstehen. Wie seltsam war das denn bitte? Als ob nicht ich das Porträt betrachtete, sondern es vielmehr mich abcheckte. Als würden diese Augen prüfen, ob ich es wert war, dass sie mir etwas verrieten. Verwirrt versuchte ich, Abstand zwischen mich und das Bild zu bringen.

»Wer ist das?«, fragte ich Elodie, die mit mir auf das Porträt starrte und bei meiner Frage zusammenzuckte. Doch schon im nächsten Moment verdrehte sie die Augen. »Woher soll ich das wissen?«

Erst als ich das Papier umdrehte, entdeckte ich den Titel der Zeichnung. Selbstporträt, Rom 1871 stand auf der Rückseite.

Elodie beugte sich zu mir und schien sich wieder gefangen zu haben. »Ach, das ist bestimmt irgendeine Frau, die Daan de Bruijn früher mal toll fand. Ist doch egal. Lass uns weitermachen!«

Mit der Hand strich ich über die Ränder des Papiers und betrachtete noch einmal das Porträt. »Aber … 1871?«, sagte ich. »Da war Daan doch längst mit Eveline verheiratet. Meinst du echt, nach allem, was wir über Daan und seine Frau wissen, dass er trotzdem eine andere toll fand?« Für mich ergab das keinen Sinn.

Elodie winkte ab. »Kann auch sein, dass die nur eine Tante von Daan war, eine Cousine oder was auch immer. Komm schon, Luzie, du hältst das Bild einer fremden Frau in der Hand, die schon ewig nicht mehr lebt.«

»Aber irgendwas hat dich doch auch gerade stocken lassen, als du es angesehen hast?«

»Mich lässt ständig etwas stocken, wenn ich anderen in die Augen blicke.« Elodie stand auf. »Das ist halt so, wenn man so ist, wie wir beide nun mal sind. Wieso wundert dich das plötzlich?«

»Weil … das keine echte Person ist, sondern nur eine gemalte!« Noch während ich das sagte, fühlte ich, wie falsch es sich anhörte. Zumindest hatte der Blick der Frau etwas seltsam Lebendiges.

Elodie hörte mir nur noch mit halbem Ohr zu, während sie die letzten herumliegenden Bücher zusammenräumte. Eilig griff ich mir das Expeditionsbuch von Daan, aus dem das Bild gefallen sein musste, und legte beides zur Seite, bevor ich Elodie half. Mr Murphy bellte schon wieder, nachdem er sich von seinem ersten Schreck erholt zu haben schien. Leider sah es nicht danach aus, als hätte er die Absicht, bald damit aufzuhören.

»Benno!« Ich warf ihm meinen strengsten Große-Schwester-Blick zu. »Wie soll ich mich konzentrieren, wenn Mr Murphy so rumkläfft? Geh mit ihm raus in den Garten. Das hier ist doch eh nichts für ihn.«

Aber Benno ignorierte meinen Kommentar einfach, wie er es immer machte, wenn ihm etwas daran nicht passte. Als hätte ich keinen Ton gesagt, lief er mit seinem Pudelwelpen auf dem Arm an den Regalen entlang und erklärte ihm, was es mit den ganzen Flakons auf sich hatte. »Es gibt da eine Geheimzutat, so ein schwarzes Pulver, das unsere Düfte magisch macht«, sagte er und nahm seinen Rundgang für Mr Murphy ernster als nötig. »Daan war ein ganz alter Opa, der die Duftapotheke gegründet hat. Der war nett. Und der hat uns ganz viel über die Düfte in den Fläschchen hier beigebracht. Leider kann er uns jetzt nichts mehr erklären, weil er schon tot ist. Aber er hat viel länger gelebt, als es normal ist. Luzie hat mir gesagt, dass Daan ungefähr 190 Jahre alt geworden ist. Sonst hätten wir ihn ja auch gar nicht kennenlernen können. Und das lag daran!« Benno zeigte auf einen der weggeschlossenen Flakons hinter den Glastüren. »Das ist der ›Duft der Ewigkeit‹. Den hat Daan früher selber benutzt und ihn auch so eingebildeten, stinkreichen Leuten verkauft. Die wurden dadurch dann genauso unsterblich wie er selbst. Aber eklig gestunken haben die davon und komische Augen haben sie auch bekommen. Und gefährlich waren die sowieso …«

»Bennooo?«, wiederholte ich mich.

»Gleich!« Mein Bruder streichelte Mr Murphy und fuhr mit seinem Vortrag fort. »Deshalb hat Daan aufgehört, den Duft zu verkaufen, und sich mit denen gestritten. Das war ganz schlimm. Wir hatten lange doll Angst vor den gruseligen Ewigen, weil die weiter von uns diesen Duft haben wollten, wir das aber nicht gemacht haben.« Benno war am Ende des Regals mit den zeitverschiebenden Düften angelangt und zeigte darauf. »Aber dann wurden die von jemand anderem hiermit ausgetrickst. Der hat die alle in die Vergangenheit geschickt und verbannt. Jeden woandershin. Das war Glück für uns. Jetzt können die uns nichts mehr tun.« Endlich hatte Benno seinen Rundgang beendet und drehte sich zu mir um. »Und nur, damit du’s weißt: Mr Murphy kläfft nicht, er unterhält sich mit mir«, sagte er, hob sein Kinn und wandte sich zur Tür. Mr Murphy bellte noch zweimal zum Abschied, dann verließen die beiden zusammen die Duftapotheke.

Elodie sah kurz auf und formte ein lautloses »Endlich!« mit ihren Lippen.

Wir hatten alle Bücher wieder aufgeräumt, die Pfütze verschwinden lassen und konnten damit anfangen, weshalb wir eigentlich hergekommen waren. Ich rückte den Samtsessel zurück an seinen Platz und ging ein paar Schritte durch die Duftapotheke. An den Wänden rings um uns herum standen vom Boden bis zur Decke Flakons in Holzregalen. Geschnitzte Blüten und Ranken verzierten die einzelnen Bretter. Darauf reihten sich zahllose Glasfläschchen in den unterschiedlichsten Formen aneinander. Wie immer konnte ich mir bei ihrem Anblick ein Lächeln nicht verkneifen. In einigen von ihnen bewegten sich die farbigen Flüssigkeiten wie Rauchwolken, in anderen wallten dicke Blasen schwerfällig auf und ab und in manchen sprudelte es sogar wie in einem Glas Mineralwasser. Alle waren mit handgeschriebenen Etiketten beklebt, die gerade noch so auf den Gläsern hielten. Um die Beschriftungen darauf überhaupt entziffern zu können, musste man ganz nah herangehen. Auf einem Flakon mit rundem Bauch stand zum Beispiel »Wahrhaftiges Aroma«. Ein zartrosa Fläschchen hieß »Traumhafte Brise« und ein schnörkeliges hellblaues nannte sich »Ein Duft von Freiheit«. Damit kein Flakon aus den Regalen fallen konnte, falls jemand mal nicht aufpasste, hatten wir zusätzliche Befestigungen vor die Duftfläschchen geschraubt.

An die Holzbretter der Regale waren Metallschilder genagelt und auf jedes davon eine andere Duftkategorie eingraviert worden. Allgemein unterschieden sie sich in ewige oder flüchtige Düfte. Aber es gab auch noch Unterkategorien, wie heilende, vergangene, zeitverschiebende, traumhafte und sogar schmerzhafte oder gefährliche Düfte. Einige Flakons gehörten sogar zu den besonders gefährlichen. Auf diesen Fläschchen klebten zusätzlich allerhand Warnhinweise, Totenkopfsymbole oder rote Banderolen. Für diese hatte Pa sicherheitshalber abschließbare Glastüren an den Regalen angebracht und sie zusätzlich mit Metallgittern versehen. Pa war das extrem wichtig gewesen. Auf die Art wollte er dafür sorgen, dass in der Duftapotheke auf ewig verschlossen blieb, was verschlossen bleiben sollte.

Ich duckte mich unter einer Reihe getrockneter Sträuße aus Kräutern hindurch, die von der Decke hingen, bevor ich mich an zwei Kisten vorbeischlängelte. Darin befand sich ein Sammelsurium an Gesteinen, von soliden Erzbrocken bis hin zu fein gemahlenem Mineralienpulver. Erst vor dem Tresen, der mitten im Raum stand, blieb ich stehen, setzte mich mit Schwung darauf und ließ den Blick schweifen. Der Zauber der alten Duftapotheke konnte einen so blenden, dass man völlig vergaß, dass dieser Ort unter dem Gewächshaus lag, also unter der Erde. Der Raum hatte einfach etwas Magisches an sich. Alles erinnerte an eine vornehme Apotheke aus dem vorletzten Jahrhundert und gleichzeitig wirkten die bunten Flakons, als gehörten sie in eine Hexenküche.

Normalerweise fühlte ich mich an keinem Platz der Welt sicherer. Doch seit ein paar Tagen hatte sich etwas verändert. Eine bedrohliche Atmosphäre hing hier unten in der Luft. Dabei wirkte alles ruhig. Fast zu ruhig. Als würde an diesem Ort etwas warten und nur noch einmal Luft holen, bevor es passierte. Immer wieder wunderte ich mich über alles Mögliche. Ich fragte mich zum Beispiel, wer den Durchgang zum Büro offen stehen gelassen hatte oder ob ich einen fremdartigen Geruch wahrnahm. Aber wahrscheinlich bildete ich mir das nur ein, weil in der letzten Zeit so viel passiert war. Schließlich war es keine leichte Aufgabe, dieses magische Erbe zu beschützen, und es setzte mich mehr unter Druck, als ich es mir eingestehen wollte. Also versuchte ich meine Gedanken einfach abzuschütteln.

»Wie fangen wir an?«, fragte ich Elodie, weil ich so gar keine Idee hatte, wo wir mit der Suche nach dem beginnen sollten, weshalb wir hergekommen waren. Bei unserer Übernahme der Duftapotheke hatten wir nämlich beschlossen, dass wir die Verantwortung dafür, sie zu beschützen, nicht auf ewig allein tragen konnten. Dafür war dieses Erbe nicht nur zu gefährlich, sondern auch zu mächtig. Und weil zu viel Macht in den Händen weniger Menschen nie gut war, würden wir in Zukunft Hilfe brauchen – von anderen, die so waren wie wir. Also anderen Sentifleurs. Das war die offizielle, wenn auch geheime Bezeichnung für solche wie uns. Wir wollten uns auf die Suche nach ihnen machen, damit uns die Sentifleurs dieser Welt helfen würden, unsere mächtigen Flakons zu beschützen. Und zwar vor all jenen, die sie missbrauchen könnten. Denn wer wünschte sich nicht, Superkräfte zu besitzen, um damit die eigenen Interessen durchzusetzen? Nur durfte es dazu niemals kommen. Also würden wir Hilfe brauchen. Eine Menge Hilfe.

Elodie brummelte nur, anstatt zu antworten. Sie blätterte neben mir in einer Sammlung loser Notizblätter, die – so wie das meiste aus der Duftapotheke – wohl schon ein paar Jahre auf dem Buckel haben mussten. Einen Moment lang sah ich ihr zu, während sie einen Bogen nach dem nächsten überflog.

»Was genau hast du da eigentlich?« Ich rückte näher zu ihr.

Elodie richtete sich aus ihrer gebeugten Haltung auf und sah von ihrer Blattsammlung auf. »Das sind Aufzeichnungen von zu Hause aus Paris, über die Stammbäume und Blutlinien der Ewigen. Altes Zeug. Ich bin es eigentlich schon mal durchgegangen. Trotzdem dachte ich, es schadet nicht, es noch mal genauer unter die Lupe zu nehmen. Bestimmt habe ich etwas übersehen.« Elodie blätterte weiter in den Papieren und ich sah ihr dabei zu. Das waren Notizen ihres Vaters und zu ihm hatte Elodie nicht nur ein schwieriges Verhältnis gehabt, sondern ein besonders schwieriges.

Ich überlegte, was ich sagen sollte. Das ganze Thema mit den sogenannten »ewigen« Familien war ein heikles. Als Elodies Vater – Syrell de Richemont – noch gelebt hatte, war er der Hauptverfechter einer jahrhundertealten Theorie gewesen. Diese besagte, dass es nur wenige Familiendynastien gäbe, die aufgrund ihrer hochwohlgeborenen Blutlinien zu einem auserwählten Kreis zählten. Durch ihre Herkunft glaubten sie, weit über allen anderen zu stehen. Elodie war in dem Glauben groß geworden, sie und ihre Familie wären deshalb so etwas wie »Bessergeborene«. Diesen Glaubenssatz wieder abzulegen und sich einzugestehen, wie gefährlich und schrecklich diese Theorie war, war nicht leicht für sie gewesen. Allerdings war es das auch für uns nicht gewesen, sie bei diesem Sinneswandel zu begleiten. Schließlich gehörte niemand von uns zu diesem auserwählten Kreis und ich hatte nicht selten das Gefühl, dass sie insgeheim eben doch auf mich herabsah.

»Wieso gehst du den ganzen alten Kram noch mal durch?«, fragte ich leicht genervt.

Elodie zuckte die Schultern und schob die Papiere zurück. »Irgendwo muss noch etwas stehen, das uns zu anderen Sentifleurs führt.«

»Du hast doch längst alle, die in den historischen Stammbäumen aufgelistet werden, überprüft und niemand neuen gefunden. Waren wir uns nicht einig, dass diese bescheuerte Blutlinien-Theorie Quatsch ist und dass das Sentifleurtalent nichts mit der Herkunft zu tun haben kann? Auch wenn das lange alle dachten.«

»Was schlägst du vor, wo wir anfangen sollen zu suchen?« Elodie seufzte und ließ sich in einen der abgeschabten Samtsessel fallen.

»Ähm, weiß ich auch nicht … vielleicht fällt uns ja irgendwas ein, woran wir noch nicht gedacht haben?«, haspelte ich. Aber weil mir klar war, dass das kein großartiger Vorschlag war, griff ich mir auch noch mal Elodies Blattsammlung. Die uralten Stammbäume waren aufwendig gezeichnet und überall standen Familiennamen irgendwelcher Adliger. Allein die winzige Schrift war so alt, dass sie kaum zu entziffern gewesen wäre, wenn ich nicht schon etwas Übung darin gehabt hätte. Das hatte ich nicht nur der Duftapotheke mit ihren altmodischen Etiketten, Notizbüchern und Rezepten zu verdanken, sondern auch Ma. Meine Mutter war schließlich Restauratorin, was bedeutete, dass sie ramponierten Krempel dazu brachte, wieder wie neu auszusehen. Und weil sie alles Alte liebte, hielt sie mir, seit ich auf der Welt war, Vorträge über den Zauber historischer Dinge. Außer uns liebte sie nichts mehr als gruftigen Kram. Je verstaubter, desto wunderbarer.

Mehr aus Ratlosigkeit als aus Interesse blätterte ich durch die Seiten der Stammbäume. Es war absurd zu glauben, dass sich nur über diese »Blutlinien« das Sentifleurtalent vererbte. Der eigentliche Grund war der, dass in der Vergangenheit ausschließlich adelige Familien Zugang zu den Flakons der Duftapotheke hatten. Schließlich benötigte man unerhört viel Geld, um sie sich leisten zu können. Und erst wenn man überhaupt mit einem Duftapothekenduft in Berührung kam, konnte man feststellen, ob das Sentifleurtalent in einem schlummerte oder eben nicht.

Während ich die vielen Adelstitel überflog, musste ich daran denken, dass Elodie und ich uns wahrscheinlich niemals angefreundet hätten, wenn uns nicht diese Sache mit dem Sentifleurtalent miteinander verbinden würde. Auch wenn der Weg dahin mit ihr nicht gerade leicht gewesen war, war Elodie trotzdem eine Art große Schwester für mich geworden. Von der Seite warf ich ihr einen verstohlenen Blick zu, wie sie in dem Sessel saß und nachdachte. Niemanden bewunderte ich mehr als sie und gleichzeitig hatte ich vor niemandem mehr Schiss. Aber das würde ich natürlich niemals zugeben. Elodie war sich ihrer außergewöhnlichen Fähigkeiten nur zu gut bewusst und wenn jemand wirklich keinen Ego-Boost benötigte, dann sie.

»Also, Folgendes.« Elodie war zu einem Ergebnis gekommen und setzte sich auf. »Wir haben ein Problem …«

»Nur eins?«, unterbrach ich sie und musste lachen.

Elodie hob ihren rechten Mundwinkel. »Okay, wir haben ein Hauptproblem und noch eine Menge Nebenprobleme.«

»Schieß los, was ist unser Hauptproblem?« Ich legte die nutzlosen Stammbäume zur Seite und sah zu ihr hinüber.

»Theoretisch müssten wir um die Welt reisen und allen, denen wir begegnen, einen Stoß aus einem Duftapothekenduft unter die Nase sprühen, wenn wir herausfinden wollen, ob jemand ein Sentifleur ist. Nur … erstens würden wir uns auf die Art vermutlich eine Menge Ärger einhandeln und zweitens haben wir nicht genug Geld, um die nächsten Jahre einfach fröhlich auf Weltreise zu gehen.«

»Nicht zu vergessen, dass ich leider noch ein paar Jahre in die Schule gehen muss«, murmelte ich. Entmutigt über die Aussichtslosigkeit unserer Suche, ließ ich mich in den zweiten Samtsessel fallen, der Elodie gegenüberstand. Die Gaslampen an der Decke flackerten wie gewohnt und füllten mit ihrem Knistern unsere ratlose Stille.

»Wann hast du es eigentlich zum ersten Mal gespürt?«, fragte ich in unser Schweigen hinein.

»Was meinst du?« Elodie sah mich an. »Was gespürt?«

»Na, die Sache mit deinem Sentifleurtalent.« Ich rutschte tiefer in die Polster. »Bei mir war es der Moment, als ich das erste Mal die Villa Evie betreten habe und mit den Duftapothekendüften in Berührung gekommen bin. Ich glaube, unbewusst war mir da sofort klar, dass sich mein Leben komplett verändern würde. Alles hat sich auf einmal intensiver angefühlt. Als könnte ich die Gefühle und Gedanken der Menschen um mich herum plötzlich lesen wie ein Buch. Mich hat das völlig umgehauen, dass diese speziellen Düfte nur mir etwas über die versteckten Empfindungen anderer Menschen verraten, die für alle anderen aber unsichtbar bleiben. Ich glaub, richtig verstanden habe ich es erst, nachdem mir Daan vom Sentifleurtalent erzählt hat. Bis dahin dachte ich, ich wäre halt ein bisschen sensibler als andere und würde Dinge eben stärker wahrnehmen. Am Anfang habe ich mich vor allem anders gefühlt. So komisch anders. Ging dir das auch so oder wusstest du gleich, was los ist?«

Elodie kniff nur die Lippen zusammen und auf einmal hing Stille zwischen uns.

Vor lauter Unbehagen räusperte ich mich. Manchmal reagierte Elodie immer noch ganz plötzlich abweisend und ich konnte nie voraussehen, wann oder warum sie das tat.

»Mann, Elodie«, sagte ich in ihr Schweigen hinein. »Ich will es doch nur besser verstehen. Wir stecken hier schließlich zusammen drin. Und du kennst dich schon viel länger damit aus.«

Elodie blickte zur Seite und sagte immer noch nichts.

Ich bereute, dass ich überhaupt damit angefangen hatte. Dabei wäre es eigentlich an mir gewesen, beleidigte Leberwurst zu spielen. Immerhin hatte ich ihr so einiges aus unserer Vergangenheit verziehen. Und das waren keine Kinkerlitzchen gewesen. Manchmal war sie echt ungerecht, wenn sie ihre plötzliche lautlose Wut bekam. Ihr stiller Ärger tauchte jedes Mal ohne Vorwarnung auf und ich wusste immer noch nicht, wie ich damit umgehen sollte. Nur eines wusste ich, nämlich dass es auch mich wütend machte.

»Wieso sagst du nichts?« Ich hörte meiner Stimme an, wie sie leiser, aber auch härter wurde.

»Weil ich es nicht mehr weiß.« Elodie funkelte mich an. »Es ist schon zu lange her. Ewig!«

Als Antwort stand ich auf und suchte nach irgendetwas, das ich tun konnte. Ich wollte jedenfalls nicht mehr dasitzen und mich für etwas schuldig fühlen müssen, wofür ich nichts konnte. Elodies Familie stammte nämlich nicht nur von den adligen De Richemonts ab, sondern sie gehörte auch zu den Ewigen. Was bedeutete, dass sie ihre Lebensjahre mithilfe der Duftapotheke und dem längst verbotenen »Duft der Ewigkeit« unnatürlich in die Länge gezogen hatten. Und somit war Elodie bereits mehrere Jahrzehnte lang sechzehn Jahre alt. Verständlich also, dass man über die Zeit hinweg Dinge vergaß. Aber galt das wirklich auch für so außergewöhnliche Ereignisse? Na ja, vielleicht wollte sie nur nicht darüber reden. Oder zumindest nicht mit mir.

»Und jetzt?«, fragte ich. »Wie machen wir weiter? Wo suchen wir nach anderen Sentifleurs?«

»Sag du es mir.« Elodie hatte die Arme verschränkt. »Wenn ich es wüsste, hätte ich es längst vorgeschlagen.«

Ich hob die Hände. »Okay, ich suche nebenan weiter. Vielleicht findet sich in Daans Büro irgendein Hinweis.« Mit Enttäuschung im Bauch drehte ich eins der Regale, bis sich die verborgene Tür öffnete, die nach nebenan führte.

Das Büro war ein fensterloser Raum, der direkt hinter der Duftapotheke lag. In der Mitte stand ein Sekretär mit einem museumstauglichen Wählscheibentelefon darauf. An den Wänden klebten Blümchentapeten, die den Raum noch enger und düsterer wirken ließen. Daan hatte in und unter der Villa Evie lauter ausgeklügelte Geheimverstecke gebaut. Manche von ihnen waren groß, andere winzig und ich war mir sicher, dass wir noch lange nicht alle entdeckt hatten. Zuerst fuhr ich mit der Hand die Unterseiten des Schreibtisches ab, schob den Rollschrank von der Wand und untersuchte Wände und Boden nach weiteren Geheimöffnungen, die uns vielleicht bislang verborgen geblieben waren. Doch nichts. Elodie muffelte zwar weiter, kam mir aber hinterher und half mir wenigstens, die Schubladen durchzugehen. Einfach war es nicht mit ihr.