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Die magischen Düfte sind in Gefahr - und nur Luzie kann sie retten! Auf Luzie Alvenstein und ihre Freunde warten dunkle Zeiten: Ihr Widersacher Edgar de Richemont versucht mit allen Mitteln, in die Villa Evie einzudringen. Denn nur mit der Duftapotheke kann er seinen Plan umsetzen und das Sentifleurs-Talent auf der ganzen Welt auslöschen. Nun ist es an Luzie und Mats, ihr Zuhause und die magischen Düfte zu schützen. Dabei stoßen sie auf verborgene Gänge und Räume, die scheinbar aus dem Nichts auftauchen und dabei immer mehr Geheimnisse offenbaren. Luzie spürt, tief im Herzen, dass die Villa Evie ihr helfen will. Doch Edgar ist gefährlicher als je zuvor - und er scheint zu allem bereit, um die Duftapotheke für sich zu gewinnen ... Große Spannung, Magie und Abenteuer für alle Mädchen und Jungs ab 10 Jahren. Fantasievoll erzählt von Erfolgsautorin Anna Ruhe und mit atmosphärischen, detailverliebten Schwarz-weiß-Illustrationen von Claudia Carls ("Woodwalkers", "Alea Aquarius"). In der Reihe "Die Duftapotheke" sind im Arena Verlag erschienen: Ein Geheimnis liegt in der Luft (Band 1) Das Rätsel der schwarzen Blume (Band 2) Das falsche Spiel der Meisterin (Band 3) Das Turnier der tausend Talente (Band 4) Die Stadt der verlorenen Zeit (Band 5) Das Vermächtnis der Villa Evie (Band 6) "Die Duftapotheke": Ausgezeichnet mit dem Leipziger Lesekompass 2018 und der Ulmer Unke 2018. Die Presse über "Die Duftapotheke": "Für ihre Geschichten lässt Anna Ruhe ihre Fantasie so richtig sprudeln!" - ZEITleo "Fantasievoll und sinnlich." - BÜCHER Magazin "Ein echt duftes Kinderbuch!" - empfohlen vom Literaturkurier auf FAZ.net
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Weitere Bücher von Anna Ruhe im Arena Verlag:
Die Duftapotheke. Ein Geheimnis liegt in der Luft (Band 1) Die Duftapotheke. Das Rätsel der schwarzen Blume (Band 2) Die Duftapotheke. Das falsche Spiel der Meisterin (Band 3) Die Duftapotheke. Das Turnier der tausend Talente (Band 4) Die Duftapotheke. Die Stadt der verlorenen Zeit (Band 5)
Seeland. Per Anhalter zum Strudelschlund Mount Caravan. Die fantastische Fahrt im Nimmerzeit-Express
Anna Ruhe wurde in Berlin geboren. Nach einem Abstecher an die englische Küste studierte sie Kommunikationsdesign und Illustration und arbeitete daraufhin viele Jahre als Grafikdesignerin in großen und kleinen Designbüros. Spannende Geschichten hatte sie schon immer im Kopf, mit dem Schreiben begann sie nach der Geburt ihrer zwei Kinder. Mit ihrer Familie lebt sie in Berlin. Weitere Informationen zur Autorin unter www.annaruhe.de
Claudia Carls erklärte in ihrer Kindheit abwechselnd, Schriftstellerin oder Künstlerin werden zu wollen, bis sich dieser Konflikt mit dem Beschluss, Buchillustration zu studieren, schließlich auflösen ließ. Als Diplom-Designerin lebt und arbeitet sie in Hamburg und gestaltet Bilderbücher, Kinder- und Jugendbücher, Sachbücher und Plakate.
Für Luk und Milo – wie immer und sowieso – und für Nikolai – ohne dich hätte ich bis heute noch kein Buch geschrieben. Danke für alles. You shine. Always. Und für Anna W. – ohne die diese Buchserie nicht das wäre, was sie ist.
Ein Verlag in der westermannGRUPPE
1. Auflage 2021
© 2021 Arena Verlag GmbH
Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Text: Anna Ruhe
Cover und Innenillustrationen: Claudia Carls
Handlettering Zitat, Seite 5: Suse Kopp
Lektorat: Anna Wörner
Umschlaggestaltung: Juliane Lindemann
E-Book ISBN 978-3-401-80964-9
Besuche den Arena Verlag im Netz:www.arena-verlag.de
Mein lieber Friedrich,
nun, da ich dich telefonisch nicht erreiche, schreibe ich dir diesen Eilbrief. Auch wenn ich mir vorstellen kann dass du am liebsten nichts mehr mit alldem zu tun hättest, so bitte ich dich doch darum, meine Zeilen sorgfältig zu lesen. Es ist überaus wichtig!
Der junge Edgar – Willems Enkel – ist auf der Suche nach deiner Wandelblume und du kannst dir sicher sein, dass er nichts unversucht lassen wird, bis er sie in seinem Besitz hat. In dem Parket, das ich dir geschickt habe, findest du ein paar abgefüllte Ampullen mit Schutzdüften, die du rund um dein Gewächshaus anwenden musst. Edgar de Richemont darf unter keinen Umständen an die Wandelblume kommen, Friedrich. Ich weiß, dass du deine Pflanzen nicht unbeaufsichtigt lassen würdest, und ich weiß ebenso, dass die Wandelblume nicht umgepflanzt werden kann, dennoch bitte ich dich, in nächster Zeit ganz besonders wachsam zu sein.
Edgars Zeit bei den Ewigen hat ihn tief verändert. In dem Jungen ist etwas Unberechenbares herangewachsen. Er wird alles in seiner Macht Stehende tun, um die Duftapotheke und das Meteorpulver zu besitzen. Ihm zur Seite stehen einige der früheren Diener der Ewigen. Überall auf der welt haben sie die Fabriken von Éternité übernommen. Mit Syrell de Richemonts Duftfirma hat er eine Macht im Rücken, die wir nicht unterschätzen dürfen. Sollten die Gerüchte stimmen, suchen Edgars Leute längst nach den bislang noch unentdeckten Sentifleurtalenten. Falls ihm das gelingt, wird kein Kind und kein Erwachsener, der das Dufttalent besitzt, mehr sicher sein. Sie alle schweben in Lebensgefahr. Sobald Edgar die Wandelblume hat, ist sein nächstes Ziel die Villa Evie. Und ich sorge mich m das Leben der jungen Luzie. Alvenstein und ihrer Familie.
Meine Aufgabe war und wird es immer bleiben, die Duftapotheke zu beschützen. Zu lange habe ich diese Aufgabe vernachlässigt. Doch damit muss endgültig Schluss sein.
Mein lieber Friedrich, ich flehe dich an: Ju, was du kannst, um die Wandelblume zu beschützen. Zwar liegen dunkle Zeiten vor uns, doch wie wir früher immer sagten: Wer seiner Nase folgt, der wird den richtigen Weg schon finden.
In Freundschaft verbunden,
Dein
Daan de Bruijn
Prolog
Ein Klacken drang durch die Dunkelheit. Es klang wie Metall, das auf Metall traf. Nur einen Spaltbreit öffneten sich die Glastüren und ließen jemand Fremdes hinein. Gleichzeitig strömte feuchte Pflanzenluft aus dem Innern in die Nacht hinaus. Die Nebelhülle, die das riesige Gewächshaus bislang wie eine unsichtbare Kuppel umspannte und alles und jeden vom Eintreten abgehalten hatte, war durchbrochen worden. Von Sekunde zu Sekunde löste sie sich weiter auf, bis sie endgültig verschwand. Schritte waren keine zu hören und auch sonst verriet nichts den Schatten, der sich seinen Weg durch Blätter und Blüten bahnte.
Nur ein halber Mond sah zu, wie unter dem Glasdach eine Messerklinge die Blüte von ihrem Stängel köpfte, bevor sie in einem speziell für sie ausgewählten Behälter verschwand. Hinter dem Schatten schob sich der Wind durch den Türspalt ins Innere und ließ die Blätter rascheln. Eine Eule rief, während der Schatten das Gewächshaus wieder verließ. Ein zweites Mal klackte Metall auf Metall und schnitt dem Wind seinen Weg zurück nach draußen ab.
Alles war wieder so still, als wäre der Schatten niemals hier gewesen.
Nur die fehlende Blüte zeugte von seinem Besuch.
1
Unser Haus war anders als andere Häuser. Es war nicht nur uralt und versteckte mehr Rätsel, als ich sie zählen konnte, es hatte sogar einen eigenen Namen. Die Villa Evie war nicht nur das zauberhafteste Haus, das ich je gesehen hatte, es war auch das geheimnisvollste. Immer wieder überraschte es mich und zeigte mir Dinge, mit denen ich niemals gerechnet hätte.
Zugegeben, der Wind zog immer noch durch jede Ritze und alles, was man bewegte, quietschte oder knarrte. Der Lack blätterte von allem ab, worauf er eigentlich halten sollte, und auch fließend warmes Wasser stand erst nach einer Stunde Ofenheizen zur Verfügung. Und trotzdem war die Villa Evie für mich das wundervollste Zuhause, das es gab. Mein magisches Zuhause.
Innerhalb der maroden Mauern fühlte ich mich sicher, selbst wenn draußen etwas Schreckliches lauerte. Etwas, das nur darauf wartete, mich zu erwischen. Aber mit dieser Angst lebte ich bereits seit unserem Umzug hierher. Sie war zusammen mit dem alten Haus in mein Leben getreten – und ließ mich seitdem nicht wieder los.
So war es auch an diesem Sonntagnachmittag. Und daran änderte weder die Spätsommerwärme etwas noch das Sofa, auf dem ich es mir allein gemütlich machte. Nicht mal das Wochenende, das hinter mir lag, oder der Kakao, den Pa für Benno und mich gekocht hatte, ließen mich die Angst vergessen. Obwohl der Duft heißer Schokolade immer noch wohlig in der Luft hing und sich mit all den anderen Gerüchen mischte, die durch unser Wohnzimmer zogen. Heute waren es Anis, Holz und Bergamotte. Zwar war der Kakao längst ausgetrunken und Pa mit Benno zum Einkaufen gefahren, aber der Schokoladenduft würde noch eine Weile im Wohnzimmer bleiben. So war es immer in der Villa Evie. Düfte verweilten bei uns länger, als sie es sonst überall taten.
In genau solchen Momenten, wenn mich das Haus mit seinen wechselnden Düften umwehte, vergaß ich für eine kurze Weile die Angst in meinem Hinterkopf. Ich wusste, diese Sorglosigkeit würde nicht anhalten – dafür war das, was uns bevorstand, zu gefährlich –, aber für ein paar Minuten erlaubte ich mir, mich in den Düften zu verlieren.
Sie mischten sich immer wieder neu und entwickelten unbekannte Kompositionen, die sich durchs Haus bewegten. Fast als besuchten sich die verschiedenen Gerüche in den Zimmern, um sich neu zu verbünden. Ich liebte jeden einzelnen von ihnen. Die Düfte unseres Hauses waren ein nicht mehr wegzudenkender Teil meines Lebens.
Meine Hand fuhr über den alten Wohnzimmertisch. Eines wusste ich ganz sicher: In der Villa Evie hatte ich Wurzeln geschlagen, die sich täglich tiefer gruben. Das Haus war mein Anker, meine Burg, mein Lieblingsort. Hier fühlte ich mich stark, immer und zu jeder Zeit.
Hier gehörte ich einfach hin.
Dafür gab es noch einen Grund. Unser Haus hütete nämlich ein Geheimnis, das tief verborgen lag und mein Leben seit unserem Umzug hierher komplett auf den Kopf gestellt hatte: die Duftapotheke. Bei dem Gedanken an die versteckten Räume unter dem Haus hievte ich mich aus den Sofakissen in die Höhe. Es war schön gewesen, meine Sorgen für ein paar Minuten auszublenden, aber ich hatte zu viel zu tun, um ewig hier herumzusitzen. Ich musste dringend zurück ins Labor.
In der Diele zog ich mir meine Halskette über den Kopf. Daran trug ich seit einiger Zeit den Schlüssel zum Fahrstuhl, der nach unten in die Duftapotheke führte. Ich kniete mich ans Ende des Treppengeländers und drehte an einer geschnitzten Blüte. Keine zwei Sekunden später knarrte die Holzvertäfelung unter den Stufen der Treppe. Stück für Stück schoben sie sich ineinander und gaben den Blick auf die Metallstreben unseres Fahrstuhls frei. Ich trat ein und drückte mich in die Enge. Mit geübten Bewegungen steckte ich den Schlüssel ins Schloss und schon bewegte sich der Fahrstuhl nach unten.
Seit wir aus Venedig zurück waren, bereiteten wir uns auf das Schlimmste vor. Früher oder später würde Edgar uns hier aufsuchen. Edgar de Richemont, wiederholte ich innerlich und eine Gänsehaut zog über meine Arme.
Es hatte eine Zeit gegeben, in der ich Edgar vertraute – eine Zeit, in der er nur der Enkel unseres Gärtners Willem gewesen war. Ich hatte Edgar sogar als Freund ins Herz geschlossen. Er wirkte schließlich bloß etwas älter als ich und er konnte verdammt nett sein, wenn er es drauf anlegte.
Außerdem hatte ich geglaubt, dass uns der Schrecken aus Edgars Vergangenheit – die Gefangenschaft, aus der wir ihn herausgeholt hatten – eng miteinander verband und Edgar somit zu uns gehörte.
Doch genau das Gegenteil war der Fall. Er hatte sich nicht nur gegen die Ewigen gestellt, die ihm bislang das Leben zur Qual gemacht hatten. Nein, Edgar hatte auch uns ins Visier genommen. Und die Angst vor dem, was er nun vorhatte, war in jedem von uns allgegenwärtig und bestimmte unsere Tage.
Schließlich waren Elodie und ich Sentifleurs. Wir besaßen ein Talent, mit dem wir mithilfe von Düften die Gefühle in anderen lesen und sogar auf sie einwirken konnten. Und dass Edgar alles dafür tun würde, uns zuerst dieses Talent zu nehmen, um es danach überall auf der Welt auszurotten, das hatte er uns erst in Venedig bewiesen. Sein Hass auf alle, die das Sentifleurtalent besaßen, kannte keine Grenzen. Und der Gedanke daran, was er bereit war zu tun, um sein Ziel zu erreichen, trieb mir immer wieder einen neuen Schauer über den Rücken.
Edgar hätte unser Freund sein sollen, unser Verbündeter. Doch wir hatten ihn vollkommen falsch eingeschätzt.
Und nun war alles anders gekommen.
Der Fahrstuhl hielt mit einem Ruck. Ich schob das Gitter beiseite, und anstatt den Knauf zu drehen, der an der Tür angebracht war, drückte ich die Klinke daneben hinunter. Im nächsten Moment kam das Labor in mein Sichtfeld. Nur eine Sekunde lang schloss ich die Augen und ließ mich von einem unbekannten Duftmischmasch aus Patschuli, Zedernholz und Weihrauch begrüßen, der mit jedem Schritt kräftiger wurde.
»Hallo!«, rief ich Daan de Bruijn entgegen, während ich auf die brodelnde Destille im Raum zutrat und eine himmelblaue Duftwolke im Raum betrachtete. »Haben Sie hier schon wieder übernachtet?«
»Luzie. Guten Abend«, brummte der alte Duftapotheker, ohne dabei den Kopf zu heben.
Umringt von Blechdosen, Fläschchen und Holzkisten kritzelte er gerade etwas in eins seiner Notizbücher. Dabei schob er die vielen Behälter, in denen unsere unterschiedlichen Rohstoffe zur Duftherstellung lagerten, unschlüssig hin und her.
Wenn man Daan dieser Tage finden wollte, gab es eigentlich nur zwei Orte: die Duftapotheke oder das Labor. Dort arbeitete er an neuen Düften, und das täglich von morgens bis abends.
»Sie müssen ab und zu auch mal schlafen«, sagte ich. »Wann waren Sie denn das letzte Mal auf Ihrem Hausboot?«
»Die Sessel nebenan sind im Grunde recht bequem.« Daan nuschelte seine Antwort noch unverständlicher als seine Begrüßung, während er sich weiter auf sein Notizbuch konzentrierte. Wahrscheinlich hörte er mir sowieso nur mit halbem Ohr zu. So wie er es in letzter Zeit meistens tat.
Ich betrachtete den Pflanzenmatsch, der in der Destille brodelte, um eine Idee zu bekommen, welchen Duft Daan gerade Duft ansetzte, konnte es aber nicht bestimmen.
»Wie weit sind Sie denn?«, fragte ich.
Daans Antwort war nur ein weiteres unentschiedenes Brummen, also ging ich ein paar Schritte auf ihn zu, bis ich neben ihm stand. Das Rezept, das er in sein Notizbuch kritzelte, war viele Male von ihm überarbeitet worden. Mehrere Zeilen waren durchgestrichen. Zahlen, Zutaten, Reihenfolgen, alles schien noch ungelöst in diesem Rezept.
Besser, ich ließ ihn weiter seine Notizen machen. Mittlerweile kannte ich Daan gut genug, um zu wissen, wie wichtig diese Momente des Aufschreibens waren. Besser, ich lenkte ihn nicht ab.
Seit wir wieder zu Hause waren, arbeiteten wir unter Hochdruck daran, die Villa Evie wie eine Festung zu sichern. Wir entwickelten und brauten Rezepte für allerlei Schutzdüfte. Drei neue Varianten hatte ich erst kürzlich hergestellt und war sogar ganz zufrieden mit dem Ergebnis. Bereits vor zwei Wochen hatten Mats und ich die gesamte Villa damit besprüht und sie dadurch wie einen Kokon eingeschlossen. Von außen betrachtet, sah sie kaum anders aus als sonst auch. Niemand würde bemerken, dass magische Düfte am Werk waren. Düfte, die jeden, von dem wir es wollten, daran hinderten, sich der Villa Evie auch nur auf ein paar Schritte zu nähern.
Selbst Edgar würde es nicht gelingen.
Zumindest hofften wir das.
Vor mir auf der Arbeitsfläche reihten sich ein paar neue Flakons fertig abgefüllt nebeneinander. Ich bückte mich, um Daans altmodische Handschrift auf den Etiketten zu entziffern. Nur einen Duft kannte ich bereits: den »Aromatischen Schutz«. Ich hatte ihn zusammen mit Mats vor einiger Zeit auf dem Anwesen der Baronin von Schönblom angewendet. Ironischerweise hatten wir mithilfe dieses Dufts damals Edgar aus der Gefangenschaft der Ewigen befreit. Und nun würden wir genau diesen brauchen, um uns selbst gegen Edgars Angriffe abzusichern.
Ich ließ meine Augen weiter über die Flakonetiketten schweifen und las lauter neue Namen. Vor mir blubberte das »Tausend-Schlösser-Odeur« neben einer wallenden Flüssigkeit, die sich »Ein Hauch Sicherheit« nannte. Sprudelnd und zischend reihte sich der »Geruch nach Urvertrauen« an die »Stählerne Duftmauer« und den »Geruch von Unantastbarkeit«.
In letzter Zeit hatte ich manchmal zugesehen, wie Daan den einen oder anderen Duft innerhalb unserer Hausmauern getestet hatte. Sie breiteten sich auf die unterschiedlichsten Arten aus. Ein Duft legte sich auf die Wände wie eine Versiegelung und ein anderer zog direkt in die Steine ein, als würde er sich mit dem Mauerwerk verbinden. Jeder einzelne Duft, den Daan bislang angesetzt hatte, ließ die Hoffnung in mir wachsen, dass wir uns tatsächlich mit ihrer Hilfe gegen alles und jeden schützen könnten. Doch war das wirklich so?
Immerhin hatte ich gesehen, wie mächtig Edgar inzwischen war. Die Düfte, die er an sich selbst angewendet hatte, sorgten dafür, dass er sich nahezu überallhin teleportieren konnte. An jeden Ort und in jede Zeit. So hatte er auch in Venedig herausgefunden, wie man den »Seelenlosen Tod« zubereiten konnte. Diesen grausamen Duft, mit dem man nicht nur das Sentifleurtalent abtötete, sondern auch jede Form von Emotion in seinem Inneren blockierte. Er führte zu einem innerlichen Gefühlstod, hatte Daan mir erklärt, der den Duft selbst vor vielen Jahren an sich angewendet hatte. Viele Jahrzehnte mussten danach vergehen, bis sich endlich wieder Gefühle in Daans Herz schlichen. Beinahe hatte er sich selbst in der Zwischenzeit völlig verloren.
Und genau das war Edgars Plan: Er wollte den »Seelenlosen Tod« brauen, um ihn dann allen Sentifleurs der Welt zu verabreichen. Auch Elodie … und mir. Doch dass die Chancen gut standen, daran zu sterben – was laut Daan eine nicht seltene Nebenwirkung war –, war Edgar völlig egal.
Um jeden Preis mussten wir ihn deshalb von der Duftapotheke fernhalten.
Mein Blick schweifte über die Arbeitsfläche. Neben Daan stand das Glas mit unserem Meteorpulver. Plötzlich stockte ich. Es war mittlerweile fast leer! Wie konnte das sein? Wir hatten das Glas doch bis zum Rand auffüllen können, nachdem wir den Meteorgesteinsklumpen in Paris bei Éternité, dem Duftkonzern von Syrell de Richemont, gefunden hatten. Ich hatte geglaubt, dass wir noch jahrelang mit dem Meteor arbeiten konnten, aber jetzt … wo war das alles hin?
Daan blätterte zur nächsten Seite und schrieb weiter in sein Notizbuch.
»Das ist aber nicht alles, was davon übrig ist, oder?«
Daan sah auf und runzelte die Stirn. Etwas Wehmütiges legte sich auf sein Gesicht, als er meinem Blick folgte. »Ich fürchte, doch. Die neuen Schutzdüfte verbrauchen besonders viel Meteor. Aber uns bleibt keine W…«
Die quietschenden Türscharniere schnitten Daan das Wort ab und ließen mich zusammenzucken.
»Wie kommt ihr voran?« Mit wenigen Schritten kam Elodie auf uns zu. Sie trug einen Rock mit einer schicken schwarzen Bluse, auf der ihre kerzengeraden dunklen Haare kaum auffielen. Sie schaute mit erhobenen Augenbrauen zwischen uns hin und her, doch Daan hatte sich längst wieder in sein Rezept vertieft, also hielt ich mir meinen Zeigefinger vor die Lippen. Elodie verstand und zog stattdessen einen Duft aus ihrer Umhängetasche. Es war ein rundes hellrosa Fläschchen, in dem sich eine einzige große Blase auf und ab bewegte.
»Was ist das?«, flüsterte ich und rückte näher.
»Ich habe ihn die ›Bannkreis-Brise‹ getauft.«
Während sie das sagte, roch ich noch etwas anderes. Ein Duft, der von Elodie selbst kam. Eine Sekunde lang konzentrierte ich mich auf den Hauch, der sie umwehte. Sie roch nach dem »Odeur von jedem Ort«, Daans Reiseduft, der einen in Sekundenschnelle überallhin bringen konnte. Aber gleichzeitig auch noch nach etwas anderem, wahrscheinlich hatte sie irgendeinen Zeitreiseduft dazugemischt.
»Du warst unterwegs?«, fragte ich und erkannte an Elodies grünlicher Gesichtsfarbe, dass sie mehr als nur einmal damit gereist sein musste. »Aus welcher Zeit kommst du?«
Elodie stockte, dann warf sie Daan einen verstohlenen Blick zu.
Der hob auf einmal tatsächlich den Kopf und sah zu ihr zurück. Er hatte also doch zugehört. »Hast du an unserem Projekt weitergearbeitet?«, fragte er.
»Nur etwas«, antwortete Elodie. »Eigentlich habe ich vor allem versucht, mehr darüber herauszufinden, wo Edgar Raffael versteckt haben könnte und … meinen Vater. Aber ich habe keinen der beiden gefunden.«
»Ah, verstehe«, brummte Daan und beugte sich wieder über seine Notizen.
»Von welchem Projekt redet ihr?« Ich schaute zwischen Daan und Elodie hin und her. Ein komisches Gefühl machte sich in meinem Magen breit. »Und wieso hast du allein nach Raffael gesucht und mich nicht um Hilfe gefragt? Was, wenn … Edgar dich gefunden hätte?«
Allein bei der Vorstellung wurde mir heiß. Elodie war nicht nur einfach nur durch die Zeit gereist, sondern sicher auch in Edgars persönliches Notizbuch. Und das war hundertfach gefährlicher. Schließlich war das Buch ein direkter Zugang in Edgars Gefühlswelt. Durch unser Sentifleurtalent konnten Elodie und ich darin zwar nach seinen Geheimnissen suchen, nur hatte das auch seinen Preis.
Mich fröstelte jedes Mal bei dem Gedanken daran. So viel abgrundtiefer Schmerz lag in diesem Notizbuch, dass bei jedem Eintauchen Panik in mir ausgebrochen war und ich mich fast zwischen den Seiten verloren hätte. Ich selbst hatte es bisher noch kein einziges Mal allein durch Edgars Dunkelheit geschafft, die sich in dem alten Buch versteckte. Was, wenn Elodie das auch passierte, aber niemand an ihrer Seite war, um ihr wieder herauszuhelfen?
»Du warst doch in der Schule«, wiegelte Elodie ab und hielt mir stattdessen ihre neue »Bannkreis-Brise« vor die Nase. »Wie hätte ich dich denn um Hilfe bitten sollen?«
Ich seufzte, während sich vor mir die rosa Blase in ihrem Flakon auf und ab bewegte. »Was kann der Duft?«
»Also …« Elodie wirkte zufrieden mit sich. »Der zieht einen Schutzkreis um die Villa Evie, durch den hoffentlich niemand mehr hindurchkommt, der nicht zur Villa gehört. Ich habe mich ein bisschen von Burggräben inspirieren lassen. Der Duft wirkt wie eine Illusion und lässt Außenstehende glauben, dass zwischen ihnen und dem Haus ein Wassergraben liegt, den sie nicht überwinden können. Ist zwar nur ein Duft aus der Kategorie täuschend, aber du weißt ja: Einbildungen können mächtig sein.« Sie zwinkerte. »Mit dem hier – und mit den Düften, die Daan noch braut – können wir bald alle Düfte miteinander kombinieren. Dann wird alles noch wirkungsvoller und wir ziehen eine richtige Schutzmauer hoch. Durch die kommt dann ganz sicher niemand mehr durch.«
Hoffentlich, fügte ich in Gedanken hinzu. Denn obwohl wir die Villa bereits mit unzähligen Schutzdüften ausgestattet hatten, reichte es nicht, um wirklich sicher im Inneren zu sein. Das spürte ich, trotz aller Hoffnung.
Edgar hatte geschworen, das Sentifleurtalent auszulöschen. Und dafür brauchte er drei Dinge: eine schwarze Wandelblume, unser Meteorpulver, das er nur bekam, wenn er es zu uns in die Villa Evie hineinschaffte, und die Sentifleurs selbst.
Es war also nur eine Frage der Zeit, wann er versuchen würde, bis zur Duftapotheke vorzudringen. Und was passierte, wenn ihm das gelang … wollte ich mir gar nicht vorstellen.
2
Drei Tage später stand ich vor unserem Gewächshaus und starrte auf die bläulich schimmernde Barriere, die das Haus und den Weg zur Villa Evie umschloss. Eigentlich war es nur ein zartes Flirren in der Luft, an dem meine Augen entlangwanderten. Man erkannte es nur, wenn man davon wusste und sich direkt davorstellte, während das Sonnenlicht sich im Schimmern brach. Auf ein Neues streckte ich meine Finger aus, um zu testen, ob die Schutzwirkung auch heute noch hielt. Die Barriere war, wie von uns geplant, nicht zu spüren. Nur ein widerwilliges Gefühl stieg in mir auf, das mich augenblicklich drei Schritte rückwärtsgehen ließ. Perfekt.
Erst heute Morgen, kurz bevor ich zur Schule gegangen war, hatte ich unseren Postboten dabei beobachtet, wie er plötzlich vor unserer Villa abdrehte. So als ob er vergessen hätte, dass dieses Haus existierte und er hier genauso Briefe ausliefern musste, wie auch bei allen anderen Adressen in der Straße.
Ma und Pa hatten das Schauspiel beobachtet und ihre Mienen verfinsterten sich immer weiter, je mehr Nachbarn auf halbem Wege zur Villa Evie wieder abdrehten.
Es war mir schwergefallen, den beiden vor einigen Wochen begreiflich zu machen, dass unser Leben von nun an anders werden würde. Zwar schlossen die Schutzdüfte uns nicht im Haus ein, aber man merkte, dass es eine unsichtbare Mauer zwischen uns und dem Rest der Stadt gab. Am stärksten litt Benno darunter. Meinem kleinen Bruder fiel es besonders schwer, durch das Flimmern zu laufen. Es kostete ihn mit jedem Mal mehr Anstrengung, einfach weiterzugehen und dieses widerwillige Gefühl zu ignorieren, das der Schutzkokon in einem auslöste. Und seine Freunde – die konnten auch nicht mehr zu uns kommen. Mittlerweile beschwerte Benno sich zwar weniger darüber, aber ich sah ihm an, dass er sich eingesperrt und allein fühlte. Nur ändern konnte ich im Moment rein gar nichts daran.
Seit ich Ma und Pa von der Duftapotheke erzählt hatte, schwang ständig eine Sorgenwolke in der Luft. Pa versuchte sie, wie es so seine Art war, mit Scherzen zu bekämpfen, während Ma mich immer wieder bat, die Duftapotheke doch einfach fest zu verschließen und mich nicht verantwortlich dafür zu fühlen. Dabei hatte ich ihnen das Schlimmste, was uns bevorstand, noch nicht mal erzählt. Stattdessen hatte ich es Daan überlassen, meinen Eltern das Wichtigste beizubringen. Erwachsene glaubten sich gegenseitig ihre Beschwichtigungen ein kleines bisschen mehr.
Hinter mir hörte ich Schritte, die mich aus meinen Gedanken rissen. Ich wusste sofort, dass es Mats war. Er hatte mittwochs immer eine Stunde länger Unterricht als ich und schaute dann meistens erst am Nachmittag bei uns vorbei. Im nächsten Moment legte Mats mir einen Arm um die Schulter.
»Guck doch nicht so traurig«, sagte er und schaute ebenfalls in das schwache Flimmern vor uns. »Eure Schutzdüfte funktionieren super und es kommen ja noch mehr dazu.«
Ich atmete tief aus. »Edgar wird trotzdem irgendeine Schwachstelle finden, die wir übersehen haben.«
Doch Mats ließ sich von meinen Zweifeln nicht anstecken. »Dann werden wir eben nichts übersehen. Rechne mal nach, Luzie. Ganz egal, was Edgar auch in der Hand hat … er hat einen erfahrenen Duftapotheker, zwei Sentifleurs plus einen Furcht einflößenden Leibwächter namens Bonsky gegen sich. Und dann sind ja auch noch Willem, Hanne, Leon und ich da.«
Ich seufzte und ließ mich gegen Mats sinken. Seine Nähe war wie ein Trostpflaster. Sofort fühlte ich mich ein bisschen besser, drehte mich zur Seite und schlang beide Arme um seinen Bauch. »Das stimmt. Andererseits ist keiner von uns so wie Edgar. So weit, wie der bereit ist zu gehen, können wir nicht mal denken. Er hat viel zu viel Hass in sich. Keine Ahnung, ob wir dem wirklich gewachsen sind, völlig egal, wie viele wir sind.«
Mats verzog das Gesicht, sagte aber nichts dagegen.
»Es ist so schrecklich, dass wir Raffael noch nicht gefunden haben«, hauchte ich. Ständig hatte ich den kleinen Jungen vor Augen, dem ich vor ein paar Monaten beim Duftturnier in England begegnet war. Er war einer der talentiertesten Teilnehmer gewesen – ein Sentifleur, genau wie ich. Und nur aus diesem Grund hatte Edgar ihn entführt: um sein Talent für sich zu benutzen.
»Früher oder später finden wir ihn. Und dann holen wir ihn da sofort raus.« Mats lächelte mich an. »Mach dir nicht solche Sorgen. Raffael hält mehr aus, als du glaubst. Er ist schließlich ein kleiner Richemont, schon vergessen?«
Ich lächelte schief zurück. »Schon klar, die großartigen Richemonts!« Gespielt verdrehte ich die Augen. »Wenn er nur halb so stur wie Elodie ist, hast du wahrscheinlich recht und es geht ihm gut.«
»Ganz genau.« Mats zwinkerte. »Wir finden ihn schon. Und apropos Elodie: Sie tut alles dafür, dass wir das hinbekommen. Ich glaube, sie hat ein ziemlich schlechtes Gewissen. Immerhin hat sie Raffael damals zum Turnier geholt. Ohne sie hätte Edgar nie von seinem Talent erfahren.«
Das stimmte. Mir war längst aufgefallen, wie Elodie sich mit Edgars Notizbuch die Nächte um die Ohren schlug. Sie war blass, hatte Augenringe und sah ständig so aus, als hätte sie seit Ewigkeiten nicht mehr richtig durchgeschlafen.
Ich wusste auch, woher dieses schlechte Gewissen kam: Immerhin hatte Elodie bei dem Turnier Edgar unwissentlich die Namen all derjenigen Kinder unter die Nase gehalten, von denen sie ahnte, dass sie das Sentifleurtalent besaßen. Dank ihr brauchte Edgar sie nur der Reihe nach aufzusuchen.
Und das mussten wir verhindern. Bonsky und Willem bewachten die kleine Ella Tag und Nacht, damit ihr nichts zustieß. Schließlich war sie ebenfalls eine Sentifleur. Und bei Raffael … tja, sein Talent würde Edgar erst abtöten, sobald Raffael den »Seelenlosen Tod« für ihn gebraut hatte.
Trotz Elodies Bemühungen würde es jedoch nicht leicht werden, Raffael zu finden. Er stand nach wie vor unter dem Einfluss der »Untertänigen Wolke« und tat alles, was Edgar ihm auftrug. Raffael würde keine Fragen stellen und nicht zögern. Egal, was Edgar auch von ihm verlangte. Mir schauderte bei der Erinnerung an diesen Duft. Ich kannte das Gefühl und die Auswirkungen der »Untertänigen Wolke« nur zu gut. Ich wusste, wozu sie einen werden ließen.
Einem willenlosen Roboter.
Ich drückte mich noch fester an Mats und genoss die Umarmung, solange wir Zeit dafür hatten. Seit wir aus Venedig zurück waren und ich ihm verraten hatte, dass ich ihn mehr als nur mochte – sehr viel mehr, um genau zu sein –, war die Anspannung zwischen uns immerhin teilweise gebrochen. Wir verhielten uns nicht mehr so krampfig und trotzdem schwebte so viel Ungeklärtes zwischen uns. All die Dinge, die gerade passierten, ließen uns einfach keine Zeit herauszufinden, ob wir nun richtig zusammen waren oder doch für immer nur Freunde bleiben würden.
Aber die Art, wie Mats mich gerade festhielt, sagte mehr als tausend Worte. Manchmal reichte es vielleicht schon, sich zu zeigen, wie sehr man sich mochte.
Schließlich löste ich mich von ihm, wenn auch widerwillig, und nickte in Richtung Gewächshaus. »Jetzt ist erst mal wichtig, dass wir die Villa schützen. Und sobald wir mit der Herstellung der restlichen Düfte fertig sind, brechen wir auf und bringen Raffael nach Hause.«
Zusammen glitten wir durch das schwache Flirren in der Luft. Es kostete auch mich immer ein gutes Stück Willenskraft. Alles in meinem Inneren wehrte sich dagegen, die Barriere zu überwinden. Mats ging es da nicht anders, doch er griff nach meiner Hand, presste die Lippen zusammen und lief los. Dabei sah er immer aus, als wollte er sinnbildlich mit dem Kopf durch die Wand stoßen. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen und machte es ihm nach.
Immer noch Hand in Hand liefen wir durch das Gewächshaus und hinunter in die Duftapotheke. Wenigstens war hier alles, wie es immer war. Die vielen Gerüche, die surrenden Gaslampen und das Knarzen der Treppenstufen. Am Ende des Flures stieß ich die Tür auf und ging zum Tresen mitten im Raum. Dabei scannte ich die Regale ringsherum ab, und obwohl ich es nicht wollte, gingen meine Gedanken erneut zurück zu Raffael.
Es war alles andere als eine Leichtigkeit, ihn zu finden. Edgar versteckte ihn vermutlich irgendwo in der Vergangenheit – wo und wann genau, das wussten wir nicht. Nicht mal Elodie hatte eine Idee. Wahrscheinlich verzog sie sich deshalb immer öfter hierher ins Labor, um Daan zu helfen, schneller voranzukommen. Bei ihrem Projekt, wie Daan es genannt hatte. Dabei handelte es sich bestimmt um die Suche nach Raffael – oder um irgendwelche Spezialdüfte. Zumindest ging ich davon aus. In den letzten Tagen war ich so mit der Schule beschäftigt gewesen, dass ich gar nicht mehr danach gefragt hatte.
Allerdings bezweifelte ich, dass Daan sich von mir bei diesem Projekt helfen lassen wollte. Der alte Duftapotheker hatte schon immer versucht, mich aus möglichst vielem herauszuhalten. Um dir nicht zu schaden, betonte er dann meist. Elodies Unterstützung nahm er dagegen ohne Widerworte an.
Mit meiner Hand strich ich über den Tresen und betrachtete die ins Holz geschnitzten Schnörkel. Wir hatten die Duftapotheke erst vor einigen Monaten wieder vollständig aufgebaut und mittlerweile war kaum noch etwas davon zu erkennen, dass Edgars Leute sie völlig auseinandergenommen hatten. Die zertrümmerten Regale standen kerzengerade an der Wand, die Risse im Putz waren zugespachtelt und … sogar die Kerben im Tresen waren verschwunden.
Ich stoppte und starrte auf das glatte Holz. Moment. Tatsächlich – die Kerben waren einfach … weg. Und auch die Splitter, die gestern hier noch aus dem Tisch geragt hatten und von der Verwüstung erzählten, als wären sie alte Narben, die man nicht mehr loswurde.
»Hast du das repariert?«, fragte ich Mats.
Er kam näher und schaute auf den Tisch. »Nee. Aber vielleicht war es Willem?«
»Der ist doch so gut wie nie da.«
Mats hob seinen rechten Mundwinkel. »Also Daan war es ganz sicher nicht. Der hat seine Nase nur noch über der Destille hängen.«
»Hmmm …« Ich fuhr mit dem Daumen über das Holz. Es fühlte sich makellos an, völlig unbeschädigt. Dabei hatte ich genau gesehen, dass an dieser Stelle ein abgerissener Splitter eine tiefe Kerbe hinterlassen hatte. Und diese Kerbe war gestern definitiv noch im Holz sichtbar gewesen. Nun allerdings hatte sie sich – wie von Zauberhand – über Nacht geschlossen.
»Vielleicht hat sie sich ja selbst repariert.« Mats zwinkerte mich an.
»Wer?«
»Na, die Duftapotheke.«
»Pff«, machte ich nur. »Hör auf, dich über mich lustig zu machen.«
Mats Grinsen fror ein und er sah mich eine Sekunde lang schweigend an. »Mach ich gar nicht, um ehrlich zu sein …« Er brach ab und zog sein Handy aus der Tasche. »Mir ist das in letzter Zeit schon an anderen Stellen aufgefallen, dass Kratzer oder abgebrochene Holzstückchen plötzlich einfach so verschwinden.« Mats zeigte mir ein Foto vom Regal uns gegenüber. »Hier, das ist von gestern Abend.«
Ich nahm Mats das Handy ab und verglich im Wechsel das Foto auf seinem Display mit der Wirklichkeit vor uns. Auf dem Foto war deutlich eins der geschnitzten Ornamentblätter im Rahmen abgebrochen. Aber jetzt war das Efeublatt in dem Regal wieder da.
Langsam hob ich den Kopf und blickte Mats sprachlos an.
Doch der zuckte nur die Schultern. »Es könnte sein, dass das einfach an den vielen Düften liegt, die ihr gerade hier ansetzt.«
»Wie meinst du das?«
»Na ja, ihr braut gerade einen Schutzduft nach dem anderen und immerhin gehören die in die Kategorie der heilenden Düfte. Wenn so viel davon hier unten herumdampft, dann könnten sie ja auch im Gemäuer ihre Wirkung hinterlassen und Gegenstände oder Möbel heilen.« Mats hob fragend eine Augenbraue.
»Das klingt seltsam, aber logisch«, sagte ich schließlich.
Warum sollten unsere Düfte nicht auch Gegenstände beeinflussen können? Der »Duft der Kälte« veränderte zum Beispiel in Sekunden die Temperatur und ließ Eiszapfen auf Fensterbrettern wachsen. Wieso sollte sich dann nicht auch unsere Duftapotheke mithilfe ihrer Düfte reparieren können?
Mats lachte. »Das oder wir spinnen langsam.«
Mit einem Kichern umarmte ich ihn. »Ich bin so froh, dass du da bist.«
Mats drückte mich als Antwort ein bisschen fester als sonst an sich. »Weil wir so wenigstens zusammen verrückt sein können?«
»Genau deshalb«, sagte ich und knuffte ihn in die Seite. »Du hast es erraten.«
»Wie gut für uns beide.«
Ich griff nach Mats’ Hand und zog ihn nach nebenan ins Büro. »Lass uns gehen. Für heute reicht es mir an Verrücktheiten.«
Mats öffnete mir die Fahrstuhltür und wir drückten uns zusammen in den engen Raum. Mit ihm fühlte sich alles gleich viel leichter an. Das hatte es immer schon, aber seit nichts Unausgesprochenes mehr zwischen uns stand, kam es mir vor, als könnte ich endlich freier atmen.
Doch ein Blick auf Mats verriet mir, dass auch er müder war als sonst. Es war wie bei Elodie. Auch Mats schlug sich die Nächte um die Ohren. Er und Leon brüteten über irgendwelchen alten Listen aus dem Besitz der Ewigen, hatte er mir gesagt. Ich ließ ihn machen und fragte nicht weiter nach. Jeder von uns versuchte, auf die eigene Art und Weise zu helfen und irgendetwas zu finden, mit dem wir die Villa Evie beschützen könnten.
»Bis morgen«, flüsterte ich der Duftapotheke noch zu, dann schloss ich das Gitter und ließ uns beide ratternd nach oben bringen.
3
Das Eisengitter quietschte, als Mats und ich es aufschoben und den Fahrstuhl hinter uns ließen. Ich drehte die Holzblüte im Treppengeländer einmal um sich selbst und schon verschwand der Fahrstuhl hinter seiner Holzvertäfelung, als hätte es ihn nie gegeben.
Zurück in der Diele, empfing uns ein Geruch, der nicht aus der Duftapotheke kam, sondern aus einem von Mas nagelneuen Duftlämpchen. »Ist schon spät«, sagte Mats. »Meine Mom beschwert sich dauernd, dass sie mich wegen der Schule und dir gar nicht mehr sieht. Ich geh besser mal rüber.« Damit drückte er mir einen Kuss auf die Wange und verabschiedete sich. Ich sah ihm nach, mit einem Kribbeln im Bauch, bis unsere Haustür hinter ihm ins Schloss fiel. Erst dann folgte ich dem Geruch des Duftlämpchens. Er führte mich einmal durchs Wohnzimmer bis zu Ma ins Arbeitszimmer.
»Hi«, sagte ich und ging auf den Schreibtisch zu, an dem sie in einem Buch blätterte.
»Hallo, Spätzchen«, murmelte sie und ich stöhnte kurz. Für ein Spätzchen war ich definitiv schon zu groß, aber gut, wir waren ja unter uns.
»Was liest du da?«, fragte ich.
»Ach, ich wollte nur etwas nachschlagen.« Ma zeigte mir kurz den Umschlag des Buches, bevor sie wieder die Seite aufschlug, die sie gerade gelesen hatte. Das Buch war aus der Bibliothek, das erkannte ich sofort. Und es ging um Heilkräuter – natürlich. Seit Ma von der Duftapotheke wusste, interessierte sie sich brennend für alle Themen, die mit Düften oder Pflanzen zu tun hatten. Ständig sah ich sie mit einem der alten Wälzer herumsitzen, die Daan in der Bibliothek hinterlassen hatte. So als wollte sie unbedingt verstehen, was dieses magische Geheimnis, das unter der Villa Evie lag, für mich bedeutete. Zwar redeten wir nur selten darüber – es kam mir meistens so vor, als würde Ma am liebsten alles verdrängen –, aber ich spürte, wie es tief in ihr drin arbeitete. In dem Geruch, der ihr Arbeitszimmer füllte, schwang so viel Sorge mit, dass mein Sentifleurtalent kaum hinterherkam.
»Und?«, fragte ich vorsichtig. »Hast du gefunden, was du suchst?«
Ma schüttelte den Kopf und lächelte mich an. Auch sie wirkte müde und ein bisschen angespannt. »Noch nicht.«
Ich wusste nicht, was ich noch sagen sollte. Seit Daan ihr alles erklärt hatte, versuchte Ma, mich mindestens einmal täglich davon abzuhalten, in die Duftapotheke zu gehen. Wenn ich ihr daraufhin ebenfalls mindestens einmal täglich erklärte, dass wir die Duftapotheke nicht einfach abschließen und ignorieren konnten, lächelte sie tapfer und gab mir das Gefühl, dass wir das alles zusammen schon schafften.
»Na, dann lass ich dich mal ein bisschen mit den Heilkräutern allein.« Ich zwinkerte ihr zu und ließ sie weiterlesen, weil mich ein weiterer Geruch nach nebenan trieb. Er kam nicht aus einer der Duftlämpchen, sondern aus der Küche und brachte meinen Magen sofort zum Knurren.
Dafür war Pa verantwortlich.
Meine Füße beschleunigten und schon stand ich in der Küche und sog den Duft von frischem Oregano in brodelnder Tomatensoße ein. Herrlich!
Pa packte gerade Bennos Brotdose aus, die mein kleiner Bruder wie so oft unangerührt mit zurückbrachte. Wie jeden Nachmittag schüttelte Pa darüber nur den Kopf und wiederholte Mantra-artig, dass es trotzdem keine Schokocreme aufs Brot gäbe. Stattdessen öffnete er eine weitere Packung Nudeln, damit Benno wenigstens zu Hause nicht das Essen vergaß.
»Gibt’s Spaghetti zum Abendessen?«, fragte ich und fing schon mal an, den Tisch zu decken.
Anstatt mir zu antworten, warf Pa eine Spaghetti an die Decke, die ihm allerdings sofort zurück auf die Schulter plumpste.
Er lachte. »Ja. Sind aber leider noch nicht fertig.«
Der Nudeltrick war so eine Pa-Sache. Laut ihm waren seine Spaghetti erst dann fertig gekocht, wenn sie an der Decke kleben blieben.
Ich grinste und pickte ihm die Nudel von der Schulter. Erst jetzt spürte ich einen Bärenhunger in mir aufsteigen und setzte mich an den Tisch. Seit meine Eltern von der Duftapotheke wussten, riss Pa noch mehr Scherze, als er es sonst schon tat. Auch er machte sich Sorgen, das war für niemanden von uns zu übersehen. Aber im Gegensatz zu Ma versuchte er, die Sorgen mit überguter Laune und hartnäckigen Familienritualen kleinzuhalten. Das gemeinsame Abendessen war seitdem noch wichtiger geworden und durfte unter gar keinen Umständen mehr ausfallen.
»In zwei Minuten gibt’s Essen!«, rief Pa so laut, dass es im ganzen Haus zu hören war. Ich zählte bis drei und keine Sekunde später polterte Benno die Treppe herunter.
»Was gibt’s heute?«, trällerte er und hopste an den Tisch.
»Lass dich überraschen und zieh deine Mutter mal vom Schreibtisch weg.« Pa strich Benno über die blonden Strubbelhaare. »Sie hat jetzt wirklich genug gelesen.«
Benno sauste nach nebenan und zwang Ma, endlich zum Essen zu kommen, während ich mich auf meinem Stuhl zurücklehnte und meiner Familie beim Familiesein zusah.
Eine der schönsten Veränderungen zu Hause war definitiv die Tatsache, dass ich alles, was mit der Duftapotheke zu tun hatte, nicht mehr zu verstecken brauchte. Ich konnte sogar ohne Probleme und jederzeit mit dem ohrenbetäubend ächzenden Fahrstuhl runter in die Duftapotheke knattern. Es gab kein Rausschleichen mehr, kein Aufpassen und Herummogeln, damit sie nicht merkten, wohin ich auf dem Weg war.
Ein Teil in mir wünschte sich zwar, ich könnte meinen Eltern ihre Sorglosigkeit zurückgeben. Dass sie nie etwas von den magischen Düften oder meiner Verpflichtung hätten erfahren müssen. Aber auf der anderen Seite war ich unendlich erleichtert, dass es zwischen meinen Eltern und mir keine Lügen mehr gab.
Es war Freitagnachmittag und das Wochenende lag endlich vor mir. Ich war froh, die nächsten zwei Tage wieder richtig in der Duftapotheke verbringen zu können und nicht nur nach der Schule nach unten zu dürfen. Endlich hatte ich so viel Zeit, wie ich wollte, um den anderen beim Herstellen und Verteilen der Schutzdüfte zu helfen.
Für heute hatte ich mir als Erstes die Bibliothek vorgenommen und schob die Flügeltür auf. Das schummrige Licht dahinter machte mich müde, obwohl der Tag noch gar nicht zu Ende war und ich mit meiner Aufgabe nicht einmal angefangen hatte.
Vorsichtig zog ich den weißen Flakon aus meiner Tasche und hielt ihn ins Licht. Er war noch zu zwei Dritteln gefüllt, was mich erleichterte. Der »Aromatische Schutz« gehörte zu den Düften, die man regelmäßig auffrischen musste, damit ihre Wirkung nicht nachließ. Daan hatte uns angewiesen, alle drei Tage ein bisschen davon zu verwenden, anstatt, wie bei den meisten anderen Düften, alles auf einmal zu verbrauchen.
Ich ruckelte am Korken, bis es Plopp machte, und sah den Duftwolken dabei zu, wie sie aus dem Flakon in meiner Hand aufstiegen und sich im Raum ausbreiteten. Dann verkorkte ich den Flakon wieder. Schließlich musste ich aufpassen, nicht zu viel davon auf einmal zu verwenden.
Ein letzter Hauch weiße Wolken schwebten, noch durch die Bibliothek und ich sah ihnen nach. Tief innen drin wünschte ich, ich könnte mehr tun. Der Gedanke kam mir immer wieder. All die Zeit, die ich in der Schule verbrachte, nagte an mir, wo es hier doch so viel Wichtigeres zu tun gab.
Elodie dagegen arbeitete beinahe jede freie Stunde an den Düften. Und dabei war sie mir in so vielem weit voraus. Klar, das lag daran, dass sie durch den Ewigkeitsduft natürlich um einiges älter war – auch wenn sie nicht so aussah –, aber im Gegensatz zu mir konnte sie jederzeit in die Duftapotheke. Erstens war sie alt genug, um ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, und zweitens gab es keinen Vater und schon lange keine Mutter mehr, die irgendetwas von ihr verlangten. So hatte sie den ganzen Tag Zeit, sich den Düften zu widmen. Sie wurde von rein gar nichts abgelenkt.
Wobei … das stimmte nicht ganz. Immerhin füllte Elodie ihre Tage mittlerweile mit noch einem anderen Interesse. Sie sagte zwar nichts dazu, aber es war für uns alle nicht zu übersehen. Nicht einmal Benno konnte es ignorieren, obwohl er wirklich alles dafür getan hätte. Elodie war nämlich verknallt.
Bis über beide Ohren. Und das in Leon!
Wann immer Elodie also nicht in der Duftapotheke war, war sie drüben bei den Jansens. Um zu arbeiten, wie sie mir mit spitzem Ton erklärte, jedes Mal, wenn ich sie damit aufzog.
Ich holte noch einmal tief Luft. Der Geruch des »Aromatischen Schutzes« machte mich immer irgendwie glücklich. Fast fiel es mir schwer, mich loszureißen. Aber es half ja nichts. Schließlich musste ich auch noch andere Räume mit unseren Schutzdüften versehen. Gerade wollte ich die Bibliothek wieder verlassen, als mein Blick an dem alten Globus hängen blieb.