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Die Eifelgräfin E-Book

Petra Schier

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Beschreibung

Welches Geheimnis hütet die Burg in der Eifel? Jerusalem, 1148. Drei Männer teilen nach erfolgreichem Kreuzzug ihre Beute. Im Angesicht eines magischen Kruzifixes schließen sie einen Pakt: sich und die Ihren auf ewig zu schützen. Zweihundert Jahre später: Wegen einer drohenden Fehde wird Elisabeth von Küneburg in die Obhut von Freunden geschickt. Sie genießt das Leben dort – doch dann bricht die Pest aus. Ihr Onkel Dietrich nutzt die Wirren, um die elterliche Burg einzunehmen. Er setzt alles daran, seinen Sohn, den düsteren Albrecht, so schnell wie möglich mit ihr zu vermählen. Gelingt es den Nachkommen der Bruderschaft, sie zu retten?

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Petra Schier

Die Eifelgräfin

Historischer Roman

Über dieses Buch

Welches Geheimnis hütet die Burg in der Eifel?

Jerusalem, 1148. Drei Männer teilen nach erfolgreichem Kreuzzug ihre Beute. Im Angesicht eines magischen Kruzifixes schließen sie einen Pakt: sich und die Ihren auf ewig zu schützen.

Zweihundert Jahre später: Wegen einer drohenden Fehde wird Elisabeth von Küneburg in die Obhut von Freunden geschickt. Sie genießt das Leben dort – doch dann bricht die Pest aus. Ihr Onkel Dietrich nutzt die Wirren, um die elterliche Burg einzunehmen. Er setzt alles daran, seinen Sohn, den düsteren Albrecht, so schnell wie möglich mit ihr zu vermählen. Gelingt es den Nachkommen der Bruderschaft, sie zu retten?

Vita

Petra Schier, Jahrgang 1978, lebt mit ihrem Mann und einem Schäferhund in einer kleinen Gemeinde in der Eifel. Sie studierte Geschichte und Literatur und arbeitet mittlerweile freiberuflich als Lektorin und Schriftstellerin.

Mehr Informationen zur Autorin unter www.petralit.de.

 

Weitere Veröffentlichungen:

(die historischen Romane um die Apothekerstochter Adelina)

Tod im Beginenhaus

Mord im Dirnenhaus

Verrat im Zunfthaus

 

(aus der Romanreihe um die Reliquienhändlerin Marisa)

Die Stadt der Heiligen

Für Papa.

Ich bin sicher, das hätte dir gefallen.

Wol mich der Stunde

Wol mich der stunde, daz ich sie erkande,

diu mir den lîp und den muot hât betwungen.

Sit deich die sinne sô gar an sie wande,

der sie mich hât mit ir güete verdrungen.

daz ich gescheiden von ir niht enkan,

daz hât ir schoene und ir güete gemachet,

und ir rôter munt, der so lieplichen lachet.

 

Ich hân den muot und die sinne gewendet

wohl an die reinen, die lieben, die guoten.

daz müez uns beiden wol werden volendet,

swes ich getar an ir huide gemuoten.

Swaz ich noch fröiden zer werlde ie gewan,

daz hat ir schoene und ir güete gemachet,

und ir rôter munt, der sô lieplichen lachet.

 

(Walther v.d. Vogelweide, 1197)

Wol mich der Stunde

(Übersetzung des Liedes aus dem Mittelhochdeutschen)

 

Gesegnet sei die Stunde, da ich die kennenlernte, die mir Leib und Seele bezwungen hat, seitdem meine Gedanken, die sie mir durch ihre Güte geraubt, sich ihr zuwendeten. Dass ich von ihr nicht loskommen kann, daran ist ihre Schönheit und ihre Güte schuld und ihr roter Mund, der so freundlich lacht.

All mein Denken und Fühlen habe ich auf die Reine, die Liebe, die Gute gerichtet. Was ich immer von ihrer Güte verlangen darf, möge für uns beide zu einem guten Ende führen. Was ich je auf dieser Welt an Freuden erfuhr, daran ist ihre Schönheit und ihre Güte schuld und ihr roter Mund, der so freundlich lacht.

 

(Walther v.d. Vogelweide, 1197)

Prolog

Vor den Toren Jerusalems August im Jahre des Herrn 1148

Die Sonne brannte erbarmungslos auf das bunt zusammengewürfelte Zeltlager herab. Es würde noch einige Stunden dauern, bis die abendliche Kühle den von Kampf und Belagerung geschwächten Soldaten Erleichterung verschaffen würde. Ein leichter Wind trieb in Böen feinen Wüstensand vor sich her, der sich den Männern in Ohren, Augen und Bärten festsetzte.

Eginolf, deutscher Ritter und Untertan Kaiser Konrads III., kratzte verdrießlich an einer verschorften Schnittwunde an seinem linken Unterarm herum. Er saß auf einem umgedrehten Eimer unter dem provisorischen Vordach seines Zeltes und beobachtete die wenigen Männer, die sich in glühender Hitze darangemacht hatten, einen Ochsenkarren zu reparieren, dessen Deichsel gebrochen war.

Als er neben sich eine Bewegung wahrnahm, hob er den Kopf und lächelte erfreut, als er den Ankömmling erkannte.

«Jost, wo bleibst du denn? Hast du noch Wasser bekommen?» Er winkte den Knecht heran und wies mit dem Kinn auf einen zweiten umgestülpten Eimer.

Jost ließ sich erleichtert auf die Sitzgelegenheit fallen und reichte ihm einen der beiden gefüllten Wasserschläuche. «Ja, Herr, aber am Brunnen war eine lange Schlange. Ich musste warten, und dabei habe ich gehört, dass der Kaiser angeblich bald nach Konstantinopel aufbrechen will.»

«Hoffen wir es», knurrte Eginolf. «Die Belagerung von Damaskus war reine Zeitverschwendung. Wie viele Männer haben wir dort verloren? Und wie wenige haben es geschafft hierherzufliehen?» Ohne auf eine Antwort zu warten, trank er einen Schluck und fuhr dann fort: «Wir sollten auf dem schnellsten Weg in die Heimat zurückkehren. Ich bin es leid, Tag für Tag dabei zuzusehen, wie die besten Männer Hunger und Durst zum Opfer fallen, und mir den Verstand von der Wüstensonne austrocknen zu lassen.» Ganz zu schweigen von den hohen Verlusten in den Kämpfen gegen die übermächtigen Sarazenen, dachte er bei sich.

Jost nickte zustimmend und wies dann auf einen Ritter, der sich mit Hilfe von Krücken auf sie zu bewegte. «Da kommt der Herr Radulf.» Er stand eilfertig auf, um dem Mann seinen Sitzplatz anzubieten.

Eginolf hob erfreut den Kopf und sprang dann ebenfalls auf, um den Versehrten zu begrüßen. «Radulf, mein Freund, setz dich zu uns in den Schatten. Hast du schon die Neuigkeiten gehört? Jost sagt, man erzählt sich am Brunnen, dass Konrad vorhat, nach Konstantinopel zurückzukehren.»

Radulf ließ sich umständlich auf dem Eimer nieder. «Hörte ich», nickte er. «Dann werdet ihr ja bald wieder bei euren Familien sein.»

Eginolf lächelte wehmütig. «Mein Weib, die gute Gertrude, wird nach so langer Zeit glauben, ich sei ein Geist.» Er blickte an seinem abgemagerten Körper hinunter. «Und fast kann man ja auch durch mich hindurchsehen. Was freue ich mich auf ihre Kochkünste! Und auf meinen Sohn», setzte er nachdenklich hinzu. «Er macht sicher inzwischen seine ersten Reitversuche. Alt genug ist er jetzt.» Er blickte Radulf forschend ins Gesicht. «Und du bist sicher, dass du uns nicht begleiten willst?»

Radulf nickte mit entschlossener Miene. «Ich bleibe hier, wenigstens vorläufig. Bei meiner Maria habe ich ein gutes Heim gefunden. Und sobald der Bruch an meinem Fuß verheilt ist, reisen wir zu ihrer Familie nach Edessa. Es heißt, dort kann man auch als Christ gut leben. Ich weiß noch nicht, was aus mir werden wird. Arnold ist natürlich nicht erfreut, denn er wollte mir ein Amt bei Konrad verschaffen.»

«Er ist immerhin der Reichskanzler», gab Eginolf zu bedenken. «Auch wenn du nur sein Halbbruder bist, bin ich sicher, er könnte …»

«Ich habe mich entschieden.» Radulf schnitt ihm das Wort mit einer Handbewegung ab. «Auch wenn ich damit das Wohlwollen meines Bruders verliere, werde ich hierbleiben.»

Eginolf seufzte und erhob sich, ging ins Zelt und kam wenig später mit einem kleinen Leinenbeutel zurück. «Dann ist es jetzt wohl an der Zeit, unsere magere Beute zu teilen.»

Radulf nickte schweigend. Offenbar wusste er bereits, worum es ging.

Jost stand auf und wollte sich diskret entfernen, doch Radulf hielt ihn zurück.

«Warte, Jost! Auch du sollst deinen Teil erhalten.»

Jost wandte sich um und schaute den Ritter fragend an.

Radulf wies ihn an, wieder neben ihm Platz zu nehmen, und Jost ließ sich auf den Boden sinken. «Du warst uns immer ein treuer Knecht, Jost, und ein verdammt guter Soldat.» Er schwieg einen Moment. «Und du bist als einziger der Männer meines Vetters Siegfried noch am Leben», setzte er nach einem Moment des Schweigens hinzu. «Du hast Eginolf und mir mehr als einmal das Leben gerettet, ebenso wie wir dir. Das verbindet uns. Und deshalb sollst du auch mit Eginolf zurück in die Heimat gehen. Wenn ich auch hierbleibe, so hast du doch das Recht, deine Familie wiederzusehen.»

Jost blickte verlegen zwischen den beiden Rittern hin und her. Offenbar wusste er nicht, was er darauf antworten sollte.

Eginolf übernahm das Wort: «Wir hatten den Sarazenen nicht viel entgegenzusetzen, doch einige wenige Schätze konnten wir ihnen dennoch entreißen. So wie diesen hier.» Er öffnete den Beutel und entnahm ihm ein handspannenlanges silbernes Kruzifix, das in einen ovalen, mit kleinen roten und blauen Edelsteinen besetzten Rahmen eingefasst war und an der Oberseite eine Öse besaß, durch die eine Kette aus feingearbeiteten und ebenfalls mit Edelsteinen besetzten Gliedern gezogen war.

«Dies muss eine bedeutende Reliquie sein», meinte Eginolf und hielt das Kreuz bewundernd und voller Ehrfurcht ins Licht. «Spürt ihr die Kraft, die davon ausgeht? Und sie fühlt sich warm an, als sei sie lebendig.»

Radulf berührte die Kette und nickte, und auch Jost legte vorsichtig seine Hand auf das Kreuz. Im gleichen Moment zuckte ein greller Blitz auf, und die Männer fuhren erschrocken auseinander.

«Habt ihr das gesehen?», rief Radulf begeistert.

Eginolf nahm das Kruzifix vorsichtig in die andere Hand. «Es ist ganz heiß geworden. Das ist der Beweis! Dies ist eine göttliche Reliquie! Ganz sicher ist sie von unermesslichem Wert.»

«Aber was wollt Ihr damit machen, Herr Eginolf? Wollt Ihr sie verkaufen?» Jost blickte argwöhnisch auf das Kruzifix.

«Aber nein, ein Kleinod wie dieses darf man nicht einfach verkaufen», widersprach Eginolf. «Wir teilen es. Seht ihr, das Kreuz lässt sich aus dem Rahmen herauslösen. Ein jeder von uns nimmt ein Stück als Glücksbringer und Unterpfand für seinen zukünftigen Wohlstand. Wir werden einander versprechen, keines der drei Teile jemals zu verkaufen. Sie sollen uns schützen, denn das ist doch der Sinn einer Reliquie. Und ihr habt gespürt, dass das Kreuz diese Kraft besitzt, nicht wahr?»

Jost und Radulf nickten.

Eginolf reichte Jost das Kruzifix, zog die Kette aus der Öse und reichte sie Radulf. Dann schob er den ovalen Rahmen zurück in seinen Beutel.

«Dieser Kreuzzug hat viele unnötige Opfer gefordert», sagte er mit feierlicher Stimme. «Ob Ritter, einfache Soldaten oder Knechte – diese Zeiten haben Mauern eingerissen und Grenzen verwischt. Sie haben Männer zusammengeführt und Freundschaften wachsen lassen, die es daheim nie gegeben hätte. Doch genau in diese Heimat kehren wir – wenigstens zwei von uns – mit Gottes Hilfe nun bald wieder zurück. Lasst uns deshalb geloben, dass wir, unsere Familien und unsere Nachkommen einander immer wohlgesonnen und in Freundschaft verbunden sein werden, ganz gleich, wie unser Schicksal spielt oder», er blickte auf Radulf, «wo es uns hinführen wird.»

Die drei Männer sahen einander lange an, dann nickten sie und legten die Hände zum Schwur aufeinander.

In diesem Moment kam ein Reiter durch das Zeltlager gesprengt. Die Hufe seines Streitrosses wirbelten eine Wolke von Sand und Staub auf. «Aufbruch!», brüllte er. «Bereitet alles zum Aufbruch vor! Es geht nach Hause, Männer. Morgen bei Sonnenaufgang ziehen wir nach Konstantinopel!»

1. Kapitel

Kohlstraße, kurz vor Kempenich5. September im Jahre des Herrn 1348

Rumpelnd und polternd rollte der geschlossene Reisewagen über den von dichtem Unterholz gesäumten Waldweg. Kaum ein Lichtstrahl drang durch die Wipfel der hohen Tannen, und der wolkenverhangene Himmel tat sein Übriges. Elisabeths Stimmung war auf dem Tiefpunkt.

Jeder Stein, jede Unebenheit ließ den Wagen holpern, und jeder Stoß ließ die Zähne der jungen Frau auf der Sitzbank hart aufeinanderschlagen. Der Kopf tat ihr davon bereits weh, sie stützte sich, seit sie am Morgen die Herberge in Mayen verlassen hatten, umständlich mit beiden Händen auf ihrem ungemütlichen Sitz ab, um ihr malträtiertes Rückgrat zu entlasten. Es musste bereits später Nachmittag sein, doch das diffuse Licht in diesem nicht enden wollenden Eifelwald ließ keine genauere Zeitbestimmung zu.

Mehrfach hatte Elisabeth versucht, die vorüberziehende Landschaft zu betrachten und sich so abzulenken, doch durch das kleine Fensterchen des Reisewagens sah sie nur Büsche und Baumstämme. Sie sehnte sich danach, auszusteigen und sich die Beine zu vertreten, doch der Fuhrknecht Herrmann, der den Wagen lenkte, würde ihr diesen Gefallen ganz sicher nicht tun. Mitten im Wald anzuhalten war gefährlich; nicht umsonst hatte ihr Vater ihr drei bewaffnete Männer zum Schutz mitgegeben.

Wenn sie wenigstens reiten dürfte! Doch sie hatte ihre hübsche Fuchsstute zu Hause lassen müssen. Mit Bedauern dachte sie an den weichen Gang des Pferdes und verlagerte ihr Gewicht ein wenig nach vorne, um aus dem Fenster sehen zu können. Gleich neben dem Wagen ritt Bruder Georg, ihr Beichtvater. Selbst er durfte auf einem Maulesel reisen, dachte sie mit leisem Groll. Sie selbst teilte sich den Platz im Wagen mit Kisten und Kästen, die hauptsächlich ihre Kleider enthielten.

Niemand wusste, wie lange sie fort sein würde, deshalb hatte ihre Mutter veranlasst, so gut wie all ihre Habseligkeiten einzupacken. Lise, Elisabeths ehemalige Amme und Kinderfrau, hätte sie begleiten sollen, doch sie war drei Tage vor der Abreise an einem plötzlichen Lungenfieber gestorben. Und da die übrigen Mägde alle gebraucht wurden, war Elisabeth ohne weibliche Begleitung abgereist.

Sie hielt sich am Türgriff fest und beugte sich vorsichtig aus dem Fenster, wobei sie achtgeben musste, dass ihr Kopf nicht bei einer erneuten Bodenwelle gegen den Rahmen geschleudert wurde.

«Wie weit ist es noch, Bruder Georg?», rief sie dem hageren Benediktinermönch zu, der ihrem Vater, dem Graf Friedebold von Küneburg, nun schon seit über fünfundzwanzig Jahren als Hausgeistlicher diente.

Der Mönch lenkte sein Maultier näher an den Reisewagen heran. «Nicht mehr sehr weit», antwortete er. «Seht Ihr die Kreuzung dort vorne? Herr Bastian erklärte mir vorhin, dass sich dort sechs Wege treffen. Von da aus ist es nur noch ein Katzensprung nach Kempenich.»

***

Die Stadt war noch kleiner, als Elisabeth erwartet hatte. Genau genommen war sie nicht viel mehr als ein von einer Stadtmauer umgebenes Dorf mit einem winzigen Marktplatz zu Füßen der allerdings recht ansehnlichen und wehrhaften Kirche. Die Burg lag am Steilhang eines Berges im Süden. Zwar war der Weg dorthin nicht befestigt, jedoch von vielen Fuhrwerken breit ausgefahren, und führte an einer hübschen kleinen Kapelle vorbei. Das winzige Gotteshaus weckte kurz Elisabeths Aufmerksamkeit, denn es stand im Schatten einer offenbar schon uralten Linde, deren ausladende Äste das kleine Gebäude zu behüten schienen. Wenig später hatten sie die Vorburg erreicht, die nur aus einem Mauerring mit zwei Toren bestand und in einen hohen Wall eingebettet war, der die Nord- und Ostseite der Burganlage schützte. Dahinter lagen die beiden Burggräben. Der Reisewagen und die Hufe der Pferde polterten auf den schweren Holzbohlen der ersten und knirschten auf den Steinen der zweiten Brücke. Ein leicht gebogener Zwinger, an dessen linker Seite eine Schmiede angebaut war, führte schließlich bergauf zu einem von einer kleinen Pforte flankierten Torturm, dahinter befand sich der Burghof. Das Mannloch auf der rechten Seite war verschlossen, dafür stand das Tor selbst einladend weit offen.

Elisabeth atmete auf und hatte die Tür des Reisewagens bereits aufgestoßen, bevor ihr einer ihrer Begleiter zu Hilfe eilen konnte. Vorsichtig stieg sie aus dem Gefährt und reckte unterdrückt stöhnend ihr Kreuz.

Zwei Knechte, die gerade dabei gewesen waren, ein Fuhrwerk voller Weinfässer abzuladen, kamen herbeigelaufen, um die Pferde zu einem Stall zu führen, der auf der rechten Seite des Burghofes an einen schlanken Schalenturm angebaut war.

Elisabeth atmete die spätsommerlich laue Luft tief ein. Sie drehte sich einmal um sich selbst und zählte dabei insgesamt sieben Türme in der sechseckigen Burganlage. Sehr beeindruckend, fand sie, wenn man bedachte, dass die Küneburg zwar größer war, aber nur vier Türme besaß. Der Bergfried als höchster Turm stand rechts neben einem der Flankentürme des Tores. Sein Eingang war nur durch eine hölzerne Treppe zugänglich, die bei Gefahr in wenigen Augenblicken abgeschlagen werden konnte. Dem Tor gegenüber stand das Wohnhaus – der Palas –, ein imposantes Steingebäude mit drei Obergeschossen. Die zahlreichen Sprossen- und Spitzbogenfenster waren nicht verglast, sondern an einigen Stellen mit dünner Wachshaut verschlossen. Die meisten Rahmen waren jedoch um diese Jahreszeit leer, und einige Fenster standen zusätzlich weit offen. Rechts neben dem Palas gab es noch zwei niedrige Gebäude und daneben einen Brunnen inmitten eines Kräuter- und Gemüsegartens, den vermutlich die Burgherrin angelegt hatte. Dem Duft nach, der einem der beiden eingeschossigen Bauten entströmte, musste es sich um ein Backhaus handeln. Prompt meldete sich Elisabeths Magen. Sie ließ sich jedoch ihren Hunger nicht anmerken, sondern blickte sich weiter um.

Hinter dem Palas erhoben sich zwei beeindruckende Türme und links hinter der Mauer, jedoch in einigem Abstand, wieder ein Schalenturm, der zur Burgseite hin offen war. Da die Entfernung zur Mauer recht groß war, vermutete Elisabeth, dass sich zwischen Mauer und Turm noch ein weiterer Hof befand. Vielleicht der Viehhof.

Gerade als sie Bruder Georg danach fragen wollte, hörte sie die energische Stimme einer Frau den Knechten und Mägden Befehle erteilen. Im nächsten Moment stand Hedwig, die Herrin von Burg Kempenich, vor Elisabeth. Sie war klein und ein wenig rundlich, mit hellblondem Haar, das fast gänzlich unter ihrer weißen Rise und dem geblümten Gebende verborgen war. Ihre wasserblauen Augen sprühten vor Energie und ließen sie jünger wirken, als sie war. Elisabeth schätzte sie auf fünfundzwanzig. Sie hatte Hedwig und deren Gemahl Simon, den Herrn von Kempenich, bereits einmal vor ungefähr zwei Jahren getroffen, als beide zu Besuch auf der Küneburg gewesen waren.

«Willkommen!», rief Hedwig und reichte Elisabeth zur Begrüßung beide Hände. «Wie schön, dass Ihr endlich hier seid, liebe Elisabeth. Wir hatten schon Sorge, Ihr würdet es nicht mehr vor dem Regen schaffen.» Wie zur Bestätigung ihrer Worte fielen nun die ersten vereinzelten Regentropfen. «Kommt rasch herein, meine Liebe. Ihr müsst ja ganz erschöpft sein!» Sie winkte Bruder Georg und den drei Bewaffneten. «Und auch Ihr, Bruder, und Ihr Herren, seid gegrüßt und kommt mit hinein!»

Sie folgten der Burgherrin in den Palas. Elisabeth bewunderte die große Eingangshalle, die wohl auch als Festsaal benutzt wurde, da die Wände mit wertvollen Teppichen behängt und mit Jagdtrophäen verziert waren. Es gab hier eine große offene Feuerstelle, drei große Tische mit schweren Bänken zu beiden Seiten und messingbeschlagene Truhen an der linken Wand. «Setzt Euch bitte!», forderte Hedwig sie auf, eilte geschäftig zu einer der beiden Türen, die in die hinteren Räume führten, und rief erneut einige Befehle. Ihre Röcke raschelten, als sie über den mit Stroh und frischen Kräutern bedeckten Boden wieder zu Elisabeth zurückkehrte und sich ihr gegenüber auf eine der Bänke setzte. «Trudi wird gleich den Wein bringen», sagte sie.

Elisabeth musste über die fröhliche Redseligkeit ihrer Gastgeberin lächeln.

«Simon ist leider nicht hier; er musste in Gerichtssachen zur Burg Olbrück. Aber er wird zum Abendessen ganz sicher zurück sein. Wie wird er sich freuen, Euch wiederzusehen, meine liebe Elisabeth! Und Ihr seid ja seit unserem letzten Treffen noch hübscher geworden! Eine echte Dame. Den Männern in der Gegend werden die Augen aus dem Kopf fallen, da bin ich mir sicher.» Hedwig winkte die Küchenmagd heran und ließ sie Wein in die bereitstehenden Zinnpokale einschenken. «Und Ihr seid noch gewachsen seit damals, nicht wahr?»

Elisabeth senkte verlegen den Blick. «Nun …»

«Ach was, verzeiht mir meine Unhöflichkeit», redete Hedwig bereits weiter. «Ich weiß, es gehört sich nicht, es zu erwähnen, aber Ihr seid nun einmal größer als alle Frauen, die ich kenne. Doch das», sie umfasste vertraulich Elisabeths Hand, «tut doch Eurer Schönheit keinen Abbruch. Im Gegenteil, will ich meinen. Stimmt Ihr mir da nicht zu, Bruder Georg?» Sie blickte zu dem Benediktiner hinüber, der sich mit den drei Rittern etwas abseits niedergelassen hatte. Er nickte pflichtschuldigst.

Hedwig lächelte so herzlich, dass Elisabeth ihre Verlegenheit wieder vergaß. «Die Burg ist größer, als mein Vater sie beschrieben hat», wechselte sie stattdessen das Thema. «Ein imposanter Bau.»

«O ja», bestätigte Hedwig stolz. «Und Simon hält sie auch in Schuss, so gut es geht. Ich will Euch später gerne alles zeigen. Doch nun möchtet Ihr Euch sicher erst einmal ein wenig von der Reise ausruhen, nicht wahr? Kommt, ich begleite Euch hinauf zu Eurer Kammer.» Sie blickte sich suchend um, erst jetzt schien ihr aufzufallen, dass Elisabeth keine weibliche Begleitung hatte. «Wo ist denn Eure Magd?»

Elisabeth sah bedrückt aus, als sie sagte: «Lise ist leider vor kurzem gestorben, Frau Hedwig. Und da die … Umstände zu Hause momentan etwas schwierig sind, konnten meine Eltern keine der anderen Mägde entbehren. Sie lassen Euch bitten, mir eine Eurer Mägde zur Verfügung zu stellen. Selbstverständlich bezahlt mein Vater …»

«Ach was, meine Liebe!» Hedwig wehrte entschieden ab. «Das kommt ja gar nicht in Frage! Wir haben genug Mägde …» Sie hielt inne und runzelte die Stirn. «Fürs Erste kann Leni Euch behilflich sein. Aber sie kümmert sich auch um unsere beiden Edeljungfern Gertrud und Herzelinde. Also werden wir dafür sorgen, dass Ihr so schnell wie möglich eine eigene Hilfe bekommt. Ich sage Simon gleich Bescheid, wenn er zurückkehrt. Nun kommt, und auch Ihr, Bruder Georg. Für Euch habe ich ebenfalls eine Kammer vorbereiten lassen.»

«Das ist sehr gütig von Euch.» Der Mönch verbeugte sich steif und folgte ihr gemeinsam mit Elisabeth zu der steinernen Wendeltreppe, die an der rechten Seite des Palas bis hinauf unters Dach führte.

Als sie das zweite Obergeschoss erreicht hatten, trat Hedwig an eine Tür und stieß sie auf. «Hier ist Euer Domizil, Bruder Georg.»

Sie ließ ihn in die schmale Kammer treten, in der nur ein Bett und eine Kleidertruhe standen, und stieg dann gleich weiter die Treppe hinauf. «Und hier», sie öffnete eine weitere Tür, «dies ist Eure Schlafkammer, Elisabeth. Sie ist zwar direkt unter dem Dach, aber dafür heizt die Sonne den Raum tagsüber recht angenehm auf. Ich lasse die Knechte Euer Gepäck herauftragen und schicke später Leni, damit sie Euch zum Essen holt. Braucht Ihr sonst noch etwas?»

«Nein, danke, Frau Hedwig.» Elisabeth schüttelte lächelnd den Kopf. «Die Kammer ist sehr hübsch. Ich werde mich erst einmal frischmachen.»

«Tut das, meine Liebe.» Hedwig nickte verständnisvoll. «Bis zum Abendessen sind es noch fast zwei Stunden. Also habt Ihr genügend Zeit, Euch auszuruhen. Und falls Ihr vorher schon Hunger habt: Ich habe Euch hier ein paar unserer köstlichen Sommeräpfel heraufbringen lassen.» Hedwig wies auf eine Schale mit rotwangigen Äpfeln, die auf einer Truhe neben dem Bett stand. «Ich lasse Euch nun allein.» Sie nickte Elisabeth noch einmal zu und eilte dann die Treppe wieder hinab.

Als ihre Schritte auf den steinernen Stufen verklungen waren, atmete Elisabeth auf. Sehnsüchtig betrachtete sie das Bett, das mit feinem weißem Leinen bezogen war und nach frischem Stroh duftete. Es war, der Größe nach zu urteilen, wahrscheinlich einmal ein Ehebett gewesen und besaß einen hübschen blassblauen Betthimmel und Vorhänge, die von silbernen Kordeln gerafft und zusammengehalten wurden. Die Kammer selbst war eigentlich viel zu groß für eine einzelne Person, denn sie nahm etwa zwei Drittel der Breite des Hauses ein und hatte mit einer Länge von mehr als fünfzehn Schritt beinahe schon Saalgröße. Die Dachschräge auf der rechten Seite ließ den Raum zwar weniger geräumig erscheinen, doch wenn man sprach, hallte die Stimme zwischen den fast drei Fuß starken Wänden wider. Auf der linken Seite gab es eine Tür, hinter der sich, wie Elisabeth sofort in Erfahrung brachte, ein großer Abstellraum voller alter Kisten und Möbel befand. Durch die fünf großen Fenster blickte man weit über die umliegenden bewaldeten Hügel, und wenn man sich auf einem der breiten Fenstersimse weit nach rechts beugte, sah man hinter dem Turm an der Nordwestecke der Burg einen Weg, der vermutlich nach Kempenich führte. Nach links verstellte den Blick jedoch der Westturm.

Zwischen den Fenstern standen große Kleidertruhen an den Wänden, links und rechts vom Kopfende des Bettes zwei weitere, kleinere Truhen. Auf der einen stand die Apfelschale, auf der anderen ein Halter mit einer dicken Kerze. Neben der Tür gab es einen Tisch mit einem gepolsterten Hocker und einer Waschschüssel. Daneben hatte man einen Krug mit frischem Wasser, eine Schale mit Seife und einen Korb mit Leintüchern gestellt. Über dem Tisch war ein Kerzenhalter angebracht und daneben mehrere Haken für Kleidung. In drei der fünf Fensternischen standen Krüge mit bunten Blumen. Auf dem Fußboden lag eine frische Schicht duftender Kräuter, über die Gänseblümchenblüten gestreut worden waren, wohl um das Auge des Gastes zu erfreuen. Hedwig hatte sich wirklich bemüht, dem ansonsten kahlen Raum eine gemütliche Note zu verleihen.

Das Poltern von Schritten riss Elisabeth aus ihren Gedanken. Zwei Knechte trugen ächzend ihr Gepäck herauf. Sie mussten mehrmals gehen, bis alle Kisten und Kästen in der Dachkammer standen. Elisabeth wartete ungeduldig, bis die beiden wieder fort waren, dann zog sie die silbernen Nadeln aus ihrem hochgesteckten Haar, schüttelte es, bis es wie ein dunkelbrauner Fluss weit über den Rücken fiel, und warf sich dann ohne Rücksicht auf ihr Reisekleid auf das Bett. Sie seufzte wohlig auf, stopfte sich eines der Kissen unter den Kopf und schloss die Augen.

2. Kapitel

Fluchend drückte Johann von Manten einem der Stallknechte die Zügel seines Pferdes in die Hand und eilte zum Palas. Der Regen hatte ihn auf dem Weg von Ahrweiler hierher bis auf die Haut durchnässt. Er würde vor dem Abendessen die Kleider wechseln müssen, wenn er sich nicht erkälten wollte. Aus der Küche, die gleich hinter dem großen Saal lag, drangen bereits köstliche Gerüche. Er lief zur Treppe und erklomm sie, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, bis er auf Höhe des zweiten Obergeschosses beinahe mit einer Fremden zusammengestoßen wäre.

«Hoppla!» Er prallte zurück und stützte sich mit beiden Händen an den Wänden ab, um nicht zu stürzen. Irritiert sah er die junge Frau an.

«Verzeihung.» Elisabeth trat einen Schritt zur Seite, um ihm Platz zu machen.

Johann blieb jedoch weiterhin vor ihr stehen und musterte sie unverhohlen, bis ihm endlich einfiel, um wen es sich handeln musste.

«Elisabeth von Küneburg, nicht wahr?» Er deutete mehr als knapp eine Verbeugung an. «Johann von Manten, zu Euren Diensten, edle Jungfer. Ich hoffe, Ihr hattet eine angenehme Reise? Entschuldigt mich bitte, wie Ihr seht, muss ich meine Kleider wechseln.» Ohne ein weiteres Wort schob er sich an ihr vorbei und betrat eine der Kammern des zweiten Obergeschosses, die er bewohnte, sooft er sich auf Burg Kempenich aufhielt. Er hatte bereits unter Simons Vater als Knappe hier gedient, und seit er selbst zum Ritter geschlagen worden war, hielt er sich oft hier auf, um dem jetzigen Burgherrn, der nur zwei Jahre älter war als er selbst, mit Rat und Tat beizustehen. Die Herrschaft Kempenich war nicht eben klein, und zudem oblag es dem Burgherrn, die sich hier ganz in der Nähe kreuzenden großen Handelswege, den Hellweg und die Kohlstraße, zu überwachen. Auch gab es auf beiden Wege einen Zoll, der von den Durchreisenden zu entrichten war.

Dies war also die Tochter des Grafen Friedebold von Küneburg, dachte er, während er sich die nassen Kleider vom Leib schälte. Ein ungewöhnlich schönes Weib, da hatte die Gerüchteküche nicht übertrieben. Und außerordentlich hochgewachsen.

Er griff nach einem trockenen Hemd.

Noch nie hatte er eine derart große Frau getroffen. Sie war vielleicht gerade mal eine Handbreit kleiner als er selbst, und er überragte schon die meisten Männer um einige Zoll.

Während er eine frische Bruoch anlegte und die Beinlinge daran befestigte, überlegte er, was er über Elisabeth von Küneburg wusste. Es war nicht viel. Die Burg ihres Vaters lag in der Nähe von Trier. Graf Friedebold war, wie die meisten Adligen der näheren und weiteren Umgebung, ein Lehnsmann des Trierer Erzbischofs Balduin. Er verfügte über große Ländereien. Elisabeth, dessen war sich Johann sicher, würde eine entsprechend große Mitgift erhalten. Wie er aus Simons Andeutungen herausgehört hatte, war sie mit einem Trierer Edelmann verlobt, Kunibert von Kronach, der ebenfalls ein Gefolgsmann Balduins war und obendrein als Gesandter in den Diensten von König Karl IV. stand. Weshalb Elisabeth in Kempenich zu Besuch weilte, war Johann entfallen. Hatte Simon ihm den Grund überhaupt genannt? Er hatte etwas von Erbzwistigkeiten unter den Küneburgern erwähnt. Falls dort eine Fehde drohte, hatte Graf Friedebold seine Kinder – er hatte insgesamt drei oder vier – wahrscheinlich sicherheitshalber fortbringen lassen. Eine kluge Entscheidung, sollte es zu einer Belagerung kommen. Und Hedwig freute sich vermutlich über die zusätzliche Gesellschaft.

Johann konnte mit dem zwar heiteren, jedoch nicht immer geistvollen Geschnatter Hedwigs und ihrer beiden Edeljungfern wenig anfangen und auf ein weiteres Weib in dieser Runde gut verzichten.

Er fuhr sich mehrmals mit den Fingern durch sein feuchtes Haar, warf sich eine leichte Schecke über und machte sich auf den Weg hinunter ins Speisezimmer.

***

Elisabeth blickte Johann erstaunt und auch ein wenig entsetzt nach. Der hochgewachsene und triefnasse Mann hatte sie unsanft aus ihren Gedanken gerissen, die sich auf beinahe ungehörige Weise mit dem bevorstehenden Abendessen befasst hatten. Er hatte sie auf unhöfliche Weise angesprochen; an so etwas war sie nicht gewöhnt. Normalerweise sprach ein Ritter und Edelmann erst mit ihr, wenn sie ihm offiziell vorgestellt worden war. Doch da er offenbar vom Regen überrascht worden und deshalb wahrscheinlich etwas gedankenlos gewesen war, musste man ihm dies wohl nachsehen.

Achselzuckend setzte sie ihren Weg die Treppe hinab fort.

Im großen Saal traf sie wieder auf Hedwig, die sie sogleich in das neben der Küche gelegene Speisezimmer führte und den beiden Edeljungfern Gertrud von Maifeld und Herzelinde von Reifferscheidt vorstellte. Die Mädchen waren höchstens dreizehn oder vierzehn Jahre alt und darauf bedacht, dem Gast ihre besten Manieren vorzuführen. Wenig später betrat auch der Burgherr Simon das Speisezimmer, begrüßte Elisabeth herzlich und bat sie, sich neben ihn zu setzen. Hedwig nahm auf seiner anderen Seite Platz, die beiden Mädchen zu ihrer Linken. Auch für Bruder Georg war am Tisch der Familie gedeckt worden, wenn auch etwas weiter unten an der Tafel, die so groß war, dass sie leicht noch weiteren Gästen Platz geboten hätte.

Erst nachdem das Essen – gebratene Forelle in Pfannkuchenteig – aufgetragen worden war, erschien auch Johann von Manten in der Tür. Ohne sich für seine Verspätung zu entschuldigen, nickte er Simon und Hedwig zu und ließ sich ungefragt auf dem freien Platz neben Elisabeth nieder. Verblüfft sah sie ihn von der Seite an und hätte sich beinahe verschluckt, als sie sein Gesicht nun im Schein der Kerzen sah, die in den beiden Leuchtern über dem Tisch brannten und enthüllten, was das Zwielicht im engen Treppenhaus verborgen hatte.

Sein kantiges Gesicht mit der langen geraden Nase war zwar nicht als schön zu bezeichnen, sondern eher als eigenwillig, doch wurde es durch eine auffällige Narbe verunstaltet, die schräg über seinen linken Wangenknochen bis hinunter zum Kinn verlief.

Gerade noch konnte sie einen entsetzten Ausruf unterdrücken. Rasch griff sie nach ihrem Becher und tat, als trinke sie einen tiefen Schluck daraus.

«Du kommst spät», bemerkte Simon in Johanns Richtung. «In den Regen gekommen?»

Johann nickte nur und nahm sich eine Forelle, noch bevor der Knappe, der ihnen aufwartete, sie ihm anbieten konnte. «Ich habe die Urkunden aus Ahrweiler mitgebracht. Der Bürgermeister will dich übrigens in Kürze wegen des Hellwegs aufsuchen.»

Simon brummelte etwas. «Geht es wieder um die Befestigung im letzten Stück vor Ahrweiler?»

«Wahrscheinlich.»

«Hm.» Simon sah nicht so aus, als freue er sich darüber. Dann wandte er sich an Elisabeth. «Verzeiht, edle Jungfer, ich vergaß ganz, Euch mit unserem guten Freund bekannt zu machen. Johann von Manten, dies ist unser Gast für die nächsten Wochen, die Jungfer Elisabeth von Küneburg.»

Elisabeth lächelte Simon zu und verneigte sich dann leicht in Johanns Richtung. Dieser hob jedoch nur kurz den Kopf und nickte ihr gleichmütig zu. «Wir hatten schon das Vergnügen», sagte er und widmete sich wieder seiner Forelle.

Brüskiert sah Elisabeth zu Simon, der mit mildem Tadel den Kopf schüttelte.

«Verzeiht ihm seine Ungezogenheit», beeilte sich Hedwig zu sagen, als sie Elisabeths Gesichtsausdruck sah. «Johann ist manchmal ein wenig ungehobelt. Aber ich bin sicher, er meint es nicht so.»

Johann warf der Burgherrin einen langen Blick zu. Sie kicherte. «Nun schau nicht so böse drein. Ich kenne dich doch und weiß ganz genau, dass du uns nur foppen willst. Tu uns doch den Gefallen und benimm dich ein wenig manierlicher. Was soll denn unser lieber Gast von dir denken?»

«Lasst es gut sein, Frau Hedwig», sagte Elisabeth mit einem kurzen Blick auf Johanns dichtes blondes Haar, das ihm in feuchten Strähnen bis zum Kragen ging. «So ein kalter Regenguss mag jeden Menschen verdrießlich stimmen. Wenn er erst wieder ganz trocken ist, wird er seine Stimme schon wiederfinden.»

Sie spürte Johanns verblüfften Blick. Er hatte ihre unausgesprochene Aufforderung, sich für sein unhöfliches Verhalten später bei ihr zu entschuldigen, also sehr wohl verstanden.

Um endgültig das Thema zu wechseln, berichtete Hedwig ihrem Gemahl von den unglücklichen Umständen, die es Elisabeth verwehrt hatten, eine persönliche Magd mitzubringen. «Ich habe Leni angewiesen, ihr behilflich zu sein, aber auf Dauer kann sie sich nicht um drei Jungfern kümmern, nicht wahr?»

Simon nickte Elisabeth zu. «Selbstverständlich sollt Ihr eine eigene Magd bekommen.» Er kratzte sich am Kinn, das von einem sauber gestutzten Bart geziert wurde. «Ich schicke morgen nach Kempenich und …»

«Mein Lieber, hat nicht Bertram erzählt, Hein Bongert aus Blasweiler habe neulich anfragen lassen, ob wir etwas für seine älteste Tochter tun könnten? Du weißt doch, dass er das Mädchen derzeit nicht verheiraten kann.»

«Nicht verheiraten will», korrigierte Simon.

Hedwig schüttelte den Kopf. «Nicht verheiraten kann», beharrte sie. «Soll er sie denn einem Leibeigenen geben? Du weißt genau, dass das nicht geht. Du würdest es an seiner Stelle auch nicht tun.»

«Sie ist nur ein Mädchen», brummelte Simon. «Er hat doch einen Sohn, der seinen Hof einmal erben wird.» Er zuckte mit den Achseln. «Aber du hast schon recht. Wir könnten sie nehmen. Da schlagen wir gleich zwei Fliegen mit einer Klappe. Elisabeth bekommt eine Magd, und ich habe auch noch dieser alten Abmachung Genüge getan.»

Als er Elisabeths überraschte Miene sah, erklärte er: «Die Bongerts sind freie Bauern. Ihren Hof haben sie schon seit zweihundert Jahren von unserer Familie in Pacht. Einer meiner Vorfahren hat damals per Urkunde verfügt, dass sie unter besonderem Schutz stehen. Seither haben sich die Familien in jeder Generation gegenseitig geholfen. Der jetzige Bauer, Hein, hat zum Beispiel für meinen Vater in der Fehde gegen meinen Onkel gekämpft. Nun habe wiederum ich eine gute Gelegenheit, ihm, oder besser seiner Tochter, etwas Gutes zu tun.»

Elisabeth sah ihn erstaunt an. «Euer Vorfahr hat dies in einer Urkunde festschreiben lassen? Wie ungewöhnlich, da es sich doch nur um Bauern handelt.»

«Achtet Ihr die Menschen, die für Euer tägliches Brot arbeiten, so gering, dass Ihr ihnen eine derartige Wohltat nicht gönnt?», sagte Johann neben ihr gereizt.

Erstaunt sah sie ihn an. «Ich achte Bauern keineswegs gering», gab sie leicht verärgert zurück. «Dennoch wundere ich mich, warum Herrn Simons Familie ausgerechnet diesen Leuten, wie er sagt, schon seit zweihundert Jahren verbunden ist. Findet Ihr das nicht ungewöhnlich?»

«Es wird schon einen guten Grund geben», knurrte Johann.

Simon hob beschwichtigend die Hand. «Den gibt es in der Tat. Diese Urkunde geht meines Wissens auf ein Versprechen zurück, das mein Vorfahr dem Ahnen dieses Bauern während des zweiten Kreuzzuges ins Heilige Land gab.»

Elisabeths Augen wurden groß. «So ähnlich wie die Freundschaftsbekundung, die unsere Familie mit der Euren verbindet?»

Simon nickte. «Ihr wisst davon?»

«Aber ja. Es heißt, unsere Familien seien seit jenem Kreuzzug innig und unwiderruflich in Freundschaft miteinander verbunden.»

«So ist es», bestätigte Simon. «Und auch darüber gibt es eine Urkunde, die jedoch, soweit ich weiß, neueren Datums ist. Sie schließt jegliche kriegerische Auseinandersetzung zwischen unseren Familien aus.» Er lächelte. «Bisher wäre sie nicht nötig gewesen.»

Elisabeth erwiderte sein Lächeln und dachte dann einen Augenblick nach. «Vielleicht gehen ja beide Versprechen auf dasselbe Ereignis zurück. Dann wäre es doch umso erfreulicher, die Tochter dieses Bauern in meine Dienste zu nehmen.»

«Das wiederum halte ich eher für unwahrscheinlich», meinte Simon. «Die Freundschaft unserer Familien besteht ja eigentlich, wenn man sie zurückverfolgt, noch viel länger als diese Urkunde. Möglicherweise sind wir ja sogar miteinander verwandt. Da liegt es doch nahe, solch einen Pakt zu schließen.»

«Nun ja, Ihr habt wahrscheinlich recht.» Elisabeth senkte den Blick auf ihren Teller. «Es war nur so ein hübscher Gedanke.»

Den spöttischen Laut, den Johann von sich gab, ignorierte sie würdevoll. Als er wenig später die Tafel mit einer gemurmelten Entschuldigung verließ, war sie richtiggehend erleichtert.

Hedwig sah ihm bekümmert nach. «Heute ist er wieder einmal in einer ganz scheußlichen Stimmung, Simon. Warum hast du nicht versucht, ihn ein wenig aufzuheitern?»

«Weil es nichts gebracht hätte», antwortete er aufgeräumt. «Du kennst ihn doch. Nur er selbst und unser Herrgott wissen, welche Laus ihm heute über die Leber gelaufen ist. Vielleicht hatte er Streit mit einem seiner Liebchen.»

«Simon!» Bestürzt schlug Hedwig eine Hand vor den Mund.

«Was denn?» Er lächelte nachsichtig. «Das ist doch nun wirklich ein offenes Geheimnis.» Er beugte sich vertraulich zu Elisabeth hinüber. «Johann von Manten ist unser guter Freund, doch keineswegs ein Engel. Seit dem Tode seiner Frau …»

«Mariana, die Gute, starb im Wochenbett», warf Hedwig ein.

«Seit ihrem Tod», wiederholte Simon, «ist er ein Eigenbrötler geworden. Oder jedenfalls hat er zuweilen solche Anwandlungen.»

«Und er führt ein zügelloses Leben?», schloss Elisabeth aus dem, was sie bisher gehört hatte.

«Das ist keinesfalls Gott gefällig», kam es in belehrendem Tonfall von Bruder Georg, der die Unterhaltung bisher schweigend verfolgt hatte. «Von einem Ritter und Edelmann kann man anderes erwarten.»

Hedwig räusperte sich verlegen.

Simon zuckte mit den Schultern. «Es gibt zwar Gerüchte über diverse Liebschaften, aber er selbst spricht nicht darüber, was man ihm vielleicht zugutehalten muss. Da ist er jedenfalls diskreter als sein alter Herr … Aber dies ist nicht für die Ohren einer zartbesaiteten Jungfer geeignet.» Er verzog die Lippen zu einem entschuldigenden Lächeln. «Lasst uns deshalb das Thema wechseln, liebe Elisabeth. Wie gefällt Euch denn Eure Schlafkammer? Hedwig hat sie selbst eingerichtet. Und wusstet Ihr, dass wir hier auf der Burg eine eigene kleine Kapelle besitzen? Sie befindet sich im ersten Obergeschoss gleich neben dem Treppenaufgang. Und zur Feier Eurer Ankunft lassen wir morgen früh eine Messe dort lesen. Vater Ambrosius kommt eigens dazu von Kempenich herauf.»

3. Kapitel

Das leise, gleichmäßige Rauschen des Regens war das Erste, was Elisabeth am folgenden Morgen hörte, als sie erwachte. Sie blinzelte kurz, und als sie feststellte, dass es gerade erst hell wurde, schloss sie die Augen wieder und kuschelte sich tiefer in ihre mit Gänsedaunen gefüllte Decke. Jede kleine Bewegung ließ sie schmerzhaft ihre Muskeln spüren, deshalb beschloss sie, noch ein Weilchen liegen zu bleiben.

Trotz des Regens war die Luft, die durch die geöffneten Fenster hereinwehte, nicht kühl, sondern noch immer angenehm sommerlich.

Sie musste noch einmal eingenickt sein, denn als sie das nächste Mal erwachte, hörte sie leise Stimmen vor der Tür ihrer Kammer. Vermutlich waren Gertrud und Herzelinde, die sich den Schlafraum gegenüber teilten, bereits aufgestanden. Inzwischen war es ganz hell geworden. Der Regen hatte nachgelassen, und die Wolkendecke war an einigen wenigen Stellen aufgerissen.

Voller Tatendrang setzte Elisabeth sich auf und schwang die Beine über die Bettkante. Sofort machten sich ihre malträtierten Muskeln bemerkbar, und Elisabeth verzog vor Schmerz das Gesicht. Es gab kaum eine Stelle an ihrem Körper, die nicht wehtat. Stöhnend erhob sie sich und zog sich ein frisches ärmelloses Unterhemd über den Kopf. Gerade als sie aus einer der vielen Reisekisten ein schlichtes weißes Unterkleid und einen blauen Surcot herausgesucht hatte, klopfte es leise an der Tür. Leni, die junge dralle Magd mit den fuchsroten Haaren und den schweren Holzpantinen an den Füßen, steckte den Kopf herein.

«Guten Morgen, Herrin. Braucht Ihr Hilfe? Mit den beiden anderen Jungfern wär ich jetzt fertig.» Sie sprach einen breiten bäurischen Dialekt.

Elisabeth nickte und winkte sie zu sich. «Du kannst mir beim Ankleiden behilflich sein. Und dann bring mir bitte frisches Wasser herauf und nimm den Nachttopf mit. Wo befindet sich eigentlich der Abort?»

«Draußen im Viehhof neben dem Misthaufen, Herrin», erklärte Leni und hielt ihr das Unterkleid hin, damit Elisabeth leichter hineinschlüpfen konnte. «Durch das Haupttor und dann rechts. Ihr müsst am Schweinestall vorbei und dann weiter hinters Hühnerhaus.»

Elisabeth zog sich nun auch noch den Surcot über den Kopf und begann, die Verschnürungen zu schließen.

«Ein feines Kleid habt Ihr da, Herrin.» Bewundernd betrachtete Leni den schimmernden blauen Stoff. «Braucht Ihr sonst noch was?»

«Nein, danke, Leni.»

Die Magd nickte, nahm den leeren Wasserkrug und den Nachttopf an sich und klapperte auf ihren hölzernen Schuhen die Treppe hinab.

Elisabeth flocht ihre Haare zu einem langen Zopf, den sie geschickt zu einer Schnecke formte und am Hinterkopf feststeckte. Sie warf einen kurzen Blick in den polierten Silberspiegel, den sie von zu Hause mitgebracht hatte, rieb sich ein Körnchen Schlaf aus dem linken Augenwinkel und schnitt eine Grimasse. Dann versuchte sie sich an einem freundlichen Lächeln, trotz der Schmerzen. Sie war zu einer Dame erzogen worden, und eine solche ließ sich ihr Unwohlsein nicht anmerken. Erst als sie mit ihrem Gesichtsausdruck vollkommen zufrieden war, legte sie den Spiegel beiseite und machte sich selbst auf den Weg hinunter zur Kapelle.

***

«Nun mach schon, Mädchen. Steig endlich auf! Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.» Der Ritter Bertram Aurich ließ sein Pferd vor Luzia tänzeln. An einem langen Strick führte er einen Esel mit sich, auf dessen Rücken zwei kleine Bündel festgeschnallt waren, die Luzias wenige Habseligkeiten enthielten.

Rasch umarmte sie noch einmal ihre Mutter, ihren Vater und die beiden jüngeren Geschwister. Zuletzt gab sie ihrer Großmutter einen Kuss auf die Wange, dann kletterte sie mit ihres Vaters Hilfe auf den Rücken des Esels. Sie war noch immer ganz benommen und wusste gar nicht, wie ihr geschah. Herr Bertram war erst vor zwei Stunden in Blasweiler eingetroffen und hatte ihren Vater zu sprechen verlangt. Hein Bongert hatte zunächst gedacht, es ginge um die diesjährige Zahlung des Zehnten, obgleich es dafür eigentlich noch zu früh im Jahr war. Die Abgabe an den Grundherrn, ebenso wie die Pacht für den Hof, wurde normalerweise erst zu Martini fällig. Und der Ritter hatte ihn auch gleich beruhigen können und ihm dann ein unglaubliches Angebot gemacht. Luzia, mit ihren siebzehn Jahren Heins älteste Tochter, sollte gegen Lohn als Magd für die Tochter irgendeines Grafen auf die Kempenicher Burg kommen. Eine solche Stellung war begehrt, vor allem für ein Mädchen, für das derzeit keinerlei Aussichten auf eine Heirat bestanden. Hein hatte dem Vorschlag natürlich mit Freuden zugestimmt, und Luzia schwankte nun zwischen Begeisterung und Panik. Allein hatte sie ihr Elternhaus noch niemals verlassen. Sie war zwar schon mehrmals in Kempenich gewesen, weil dort eine Tante von ihr wohnte und sie mit ihrer Mutter schon Eier und Kohl auf dem Markt verkauft hatte, doch auf der Burg war sie selbstverständlich noch niemals gewesen. Und ohne ihre Eltern und Geschwister hatte sie auch noch nie auskommen müssen.

Doch ihre Mutter hatte ihr Mut gemacht und gesagt, dass es ein großer Glücksfall für sie alle sei.

Bertram nahm den Strick fester und wendete sein Pferd, doch bevor sich der Esel ebenfalls in Bewegung setzen konnte, kam Luzias Mutter noch einmal zu ihnen gerannt. «Wartet!», rief sie. «Ich möchte dir noch etwas mitgeben, Luzia!»

Bertram zügelte sein Pferd, und Traud Bongert drückte ihrer Tochter ein weiteres kleines Bündel in die Hand. «Etwas für unterwegs», flüsterte sie ihr mit einem Zwinkern zu. «Und unser Glücksbringer. Du weißt schon, das alte Silberkreuz.»

Luzia hatte plötzlich einen Kloß im Hals. «Danke, Mutter. Aber ich gehe doch nicht weit fort. Wir werden uns bestimmt oft sehen.»

«Ich weiß, Kindchen. Aber sicher ist sicher.» Traud reckte sich und tätschelte ihr mit ihrer rauen Hand die Wange. «Gott und alle Heiligen seien mit dir, mein Mädchen. Und betrage dich gut!» Dann trat sie zurück, und Bertram ruckte an dem Strick, damit der Esel ihm endlich folgte.

Luzia band das kleine Bündel an den anderen beiden fest und umklammerte dann hastig die kurze zottige Mähne, als Bertram sein Pferd in leichten Trab fallen ließ und der Esel gezwungenermaßen ebenso schnell folgte.

***

Der Messe in der Burgkapelle wohnten nicht nur Simons Familie, sondern auch zahlreiche Dienstboten sowie einige Ritter bei, die Elisabeth am Vortag noch nicht gesehen hatte. Vermutlich verrichteten sie Wach- und Zolldienste für Simon. Sie selbst saß auf einer sehr schmalen Holzbank zwischen den beiden anderen Edeljungfern und den beiden Knappen, die Simon auf der Burg erzog. Nur Johann von Manten ließ sich nicht blicken, was Elisabeth nicht weiter verwunderte.

Die Messfeier war weniger erbaulich, als sie gehofft hatte. Bruder Georg, der seitlich neben ihr stand, schien ebenfalls nicht sehr begeistert.

Vater Ambrosius, der Pfarrer von Kempenich, war ein kugelrunder Mann mit schütterem Haar, das sich auf seinem Hinterkopf bereits so weit gelichtet hatte, dass er sich keine Tonsur mehr zu scheren brauchte. Offenbar litt er unter den Folgen eines Zechgelages, und der schale Geruch nach Bier, der ihm entströmte, war bis zu Elisabeths Platz wahrzunehmen. Ob es an seinen Kopfschmerzen lag oder an seiner geringen Bildung, wusste Elisabeth nicht einzuschätzen, doch ihrem geschulten Ohr fiel auf, dass er die lateinischen Formeln der Liturgie nur unvollständig und teilweise falsch aufsagte. Er schien sich dessen aber bewusst zu sein, denn die wichtigen Stellen wiederholte er sicherheitshalber mehrmals. Niemand schien es zu stören, vielleicht fiel es keinem der Anwesenden auf.

Elisabeth war jedenfalls froh, als der Gottesdienst vorbei war und die Familie sich für ein leichtes Frühstück im Speisezimmer traf. Da die Hauptmahlzeit des Tages am Mittag eingenommen wurde, gab es nur ein wenig Obst, Brot und Käse. Danach zeigte Hedwig ihr die gesamte Burganlage und half ihr schließlich, zusammen mit Leni, die Reisekisten auszupacken.

Nach dem Mittagsmahl zog sich Hedwig mit ihren beiden Edeljungfern zu einer Unterrichtsstunde im Sticken in ihre Kemenate zurück. Deshalb bat Elisabeth ihren Beichtvater, sie zu einem kleinen Spaziergang über das Burggelände zu begleiten. Vor dem Pferdestall trafen sie auf Johann, der sich gerade mit einem der Stallknechte über ein Pferd zu unterhalten schien, das ein Hufeisen verloren hatte. Jedenfalls hielt er ebenjenes Eisen in der Hand und gestikulierte damit. Als er sie erblickte, ließ er den Arm sinken und nickte ihr höflich zu.

Elisabeth blieb überrascht stehen und erwiderte seinen Gruß. «Wie es scheint, habt Ihr Eure üble Laune inzwischen überwunden», sagte sie ein wenig spitz. «Das ist höchst erfreulich.» Sie bemühte sich, nicht seine Narbe anzustarren, doch ihr Blick blieb immer wieder daran hängen.

Johann schien daran gewöhnt zu sein, denn er ignorierte ihre Blicke. «Schön, dass ich Euch mit so wenig Anstrengung meinerseits zu erfreuen vermag. Doch nach einem Tage wie gestern war mein größtes Begehr ein warmes Bett, nicht leichte Unterhaltung.»

«Dann war Euer Schlaf erholsam?» Seine noch immer kurz angebundene Art und die Tatsache, dass er nicht daran zu denken schien, sich bei ihr für sein unhöfliches Betragen am Vorabend zu entschuldigen, reizten sie zu einer weiteren spitzen Bemerkung. «Immerhin habt Ihr wohl die heilige Messe verschlafen, zu der Vater Ambrosius eigens aus Kempenich heraufgekommen ist.»

Johanns Lippen verzogen sich spöttisch. «Die heilige Messe heute früh, ach ja. Sagt, wie ging es dem guten Herrn Pfarrer? War er wieder nüchtern? Soweit ich weiß, war nämlich gestern der Leichenschmaus für den Schuhmachermeister Otto Aaren unten in der Stadt. Wie oft hat Vater Ambrosius denn heute das Paternoster wiederholt, bis er es vollständig aufsagen konnte?» Unerwartet zwinkerte er ihr zu, und ein winziges Lächeln huschte über seine Lippen. «Zerbrecht Euch nicht meinen Kopf, Jungfer Elisabeth. Wenn ich Gottes Segen nötig habe, erhalte ich ihn, auch ohne Vater Ambrosius.»

Damit wandte er sich ab und ging in den Stall.

Elisabeth blickte ihm sprachlos hinterher.

Bruder Georg verschränkte die Hände in den Ärmeln seines Habits und schüttelte tadelnd den Kopf. «Elisabeth, dieser Mensch ist unmöglich und ganz sicher kein Umgang für Euch. So etwas Unerhörtes habe ich ja noch niemals gehört! Hat er denn keine Angst um sein Seelenheil? Kommt, lasst uns weitergehen.»

Elisabeth nickte. «Ich stimme Euch zu, Bruder Georg. Johann von Manten ist ein merkwürdiger Mensch. Aber was Vater Ambrosius angeht, hatte er recht.»

«Und wenn schon! Das ist keine Entschuldigung dafür, der heiligen Messe fernzubleiben.» Bruder Georg hatte in dieser Hinsicht strenge Prinzipien, deren Einhaltung er auch von seinen Mitmenschen erwartete. Als jüngerer Sohn einer niederadligen Familie war er schon im Alter von acht Jahren in die Obhut des Benediktinerordens gegeben worden und hatte im Dienst an Gott und seinen Mitmenschen seine Berufung gefunden. Und wenn er auch, wie Elisabeth wusste, ein herzensguter Mann war, konnte ihn doch Nachlässigkeit in Glaubensfragen leicht reizen und in Rage bringen. Deshalb wechselte Elisabeth rasch das Thema, um die Stimmung nicht zu verderben, und ging mit ihrem Beichtvater zu Hedwigs liebevoll gepflegtem Kräutergarten. Sie bewunderten gerade die üppigen Petersilienstauden, als vom Zwinger her Hufgetrappel laut wurde. Ein Ritter zu Pferd, der einen Esel mit sich führte, auf dem ein junges Mädchen saß, tauchte im Torbogen auf. Der Ritter, ein etwas korpulenter junger Mann mit dünnem hellbraunem Haar, führte die beiden Tiere zum Pferdestall, ließ das Mädchen absteigen und übergab Pferd und Esel dem Stallknecht. Dann wandte er sich zum Palas, doch der Knecht hielt ihn mit einer Bemerkung, die Elisabeth nicht verstehen konnte, zurück.

Der Ritter blickte in ihre Richtung und kam dann auf sie zu.

Ein merkwürdiges Gefühl stieg in Elisabeth auf. Ein Kribbeln wanderte über ihren Rücken und setzte sich bis in ihre Fingerspitzen fort. Doch schwand es so rasch, wie es gekommen war.

Der Ritter – er war ein gutes Stück kleiner als Elisabeth und musste deshalb zu ihr aufsehen – blieb vor ihr stehen und verbeugte sich höflich. «Bertram Aurich, edle Jungfer, zu Euren Diensten. Ich … äh … bringe Euch das Mädchen Luzia, das Euch als Magd dienen soll. Frau Hedwig bat mich, die Kleine gleich zu Euch zu bringen. Ich hoffe, sie taugt was.» Er verzog verlegen die Mundwinkel und sah sie gleichzeitig mit großen Augen an.

«Danke, Herr Bertram.» Elisabeth lächelte erfreut und musterte dann das Mädchen eingehend von Kopf bis Fuß. Luzia schien etwa im gleichen Alter zu sein wie sie selbst, vielleicht ein wenig jünger. Sie war fast einen Kopf kleiner als Elisabeth, aber das war sie gewohnt. Luzia trug ein schlichtes braunes, kittelartiges Kleid, das um die Taille mit einem einfachen geflochtenen Band gegürtet war. Diese sackartige Bekleidung verhüllte kaum die weiblichen Rundungen, die ihren schlanken Körper für das männliche Auge sicherlich anziehend machten. So deutete sie jedenfalls die interessierten Blicke des Stallknechts, der neugierig zu ihnen herübergaffte.

Luzias herzförmiges Gesicht war hübsch, aber wenig außergewöhnlich. Sie hatte strahlend blaue Augen und eine kecke Stupsnase, die ihr einen frechen Zug verlieh und auf der sich ein paar vereinzelte Sommersprossen tummelten. Wirklich auffällig und schön war ihr rotgoldenes Haar, das sie allerdings in der Art vieler Bäuerinnen streng geflochten und zu einer dicken Schnecke eingerollt am Hinterkopf festgesteckt hatte – praktisch, aber wenig vorteilhaft. Der Gesichtsausdruck des Mädchens war offen und heiter, Elisabeth meinte an seinen Augen eine gewisse Intelligenz zu erkennen. Sie hoffte es wenigstens. Es gab kaum etwas Nervenaufreibenderes als begriffsstutzige Dienstboten.

«Also gut», sagte Elisabeth, nachdem sie ihre Musterung beendet hatte. «Du heißt also Luzia. Wie alt bist du?»

«Im Juni bin ich siebzehn Jahre alt geworden, Herrin», antwortete Luzia mit einer angenehmen, nicht zu hellen Stimme. Sie schien sich zu bemühen, deutlich zu sprechen, was Elisabeth ihr sofort zugutehielt, war doch der hiesige Dialekt der Knechte und Mägde für sie nur schwer zu verstehen.

«Schön. Da ich davon ausgehe, dass du bisher noch nirgendwo in Dienst gestanden hast, werde ich dir zunächst meine Kammer zeigen und dir erklären, was deine Aufgaben sind.»

Bertram räusperte sich. «Wenn Ihr mich entschuldigen würdet, edle Jungfer …»

«Aber ja, Herr Bertram.» Elisabeth schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, das ihn tatsächlich erröten ließ. «Ich danke Euch noch einmal herzlich, dass Ihr mir Luzia gebracht habt.»

«Aber gerne doch.» Bertram verbeugte sich erneut und entfernte sich dann, drehte sich auf dem Weg zum Palas jedoch noch zweimal zu ihr um.

Elisabeth wandte sich wieder an Luzia. «Was gibt es denn da zu lächeln?», fragte sie, als sie die amüsierte Miene des Mädchens sah.

Luzia zuckte wie ertappt zusammen. «Nichts, Herrin. Ich dachte nur …»

«Was?»

«Ihr habt auf den Herrn Bertram gewaltig Eindruck gemacht, glaube ich.»

Elisabeth verkniff sich ein Lächeln. Schüchtern war Luzia nicht. Sie blickte das Mädchen streng an. «Falls es so ist, schickt es sich nicht, darüber zu sprechen. Nun komm mit.» Sie drehte sich zu ihrem Beichtvater um. «Bruder Georg, würdet Ihr mich entschuldigen?»

«Sicher, mein Kind. Macht Euch um mich keine Gedanken. Ich werde den Spaziergang alleine fortsetzen.» Auch er hatte die neue Magd mit strengen Blicken gemustert, unter denen sie eingeschüchtert zu Boden blickte und eine Falte ihres Kleides knetete. Zufrieden wandte er sich ab und ging langsam davon.

«Was ist, Luzia? Bist du da festgewachsen?» Elisabeth, die bereits einige Schritte vorausgegangen war, winkte ihr ungeduldig.

Erschrocken zuckte Luzia zusammen und eilte hinter ihrer neuen Herrin her zum Palas.

4. Kapitel

«Hast du vielleicht ein Glück, Luzia!», befand Leni am Abend, als sie die neue Magd in die Küche führte, wo an einem großen schweren Tisch mit zwei Bänken die Knechte und Mägde der Burg ihre Mahlzeiten einnahmen. Aller Blicke richteten sich auf die Neue, die sich neben Leni am Tisch niederließ.

«Hört zu», rief Leni fröhlich in die Runde. «Das hier ist Luzia aus Blasweiler. Sie arbeitet ab sofort für das Grafenjüngferchen, diese Elisabeth. Warum die sich keine eigene Magd mitgebracht hat, ist mir ja schleierhaft, aber wie gut für dich, Luzia. Und wisst ihr was?» Bedeutungsvoll blickte sie in die Gesichter der anderen Mägde und Knechte. «Sie is’ sogar ein richtiges Glückskind. Darf nämlich oben bei der edlen Jungfer nächtigen. Ja, wirklich. Hat man so was schon gehört? Wir mussten ihren Strohsack und ihre Bündel bis hoch unters Dach schleppen.»

«Im Ernst?» Thea, die beleibte Köchin, musterte Luzia überrascht. «Na, das is’ ja wirklich was Feines. Da oben wirst du dann wenigstens nich’ von den Kerlen belästigt.»

«Kerle?» Erschrocken blickte Luzia die ältliche Köchin an.

Thea lächelte gutmütig. «Na sicher. Ein hübsches Mädchen wie du muss sich hier vorsehen. Bist ja nicht nur im Gesicht ganz ansehnlich. Da kriegen die Männer gerne Stielaugen.» Sie stieß einem der Küchenjungen den Ellenbogen in die Seite. «Aber keine Angst, die meisten sind harmlos. Und du lernst schon, auf dich aufzupassen, wenn du keinen Wert auf einen dicken Bauch legst.»

Luzia wurde rot.

Leni stieß sie kichernd an. «Hast wohl noch nich’, was? Is’ auch besser so. Aber vor den Rittern musst du dich in Acht nehmen. Da sind ein paar dabei, die keine Rücksicht drauf nehmen, ob du willst oder nicht. Hüte dich also vor dunklen Winkeln und geh nachts nicht alleine raus.»

«Bestimmt nicht!», rief Luzia erschrocken.

«Brav so», nickte Thea und lächelte mütterlich. «Warst ja wohl noch nie auf einer Burg, wie?»

Luzia schüttelte den Kopf.

«Es ist aber gar nicht so übel hier», erklärte Leni und griff in den Korb mit dem Schrotbrot. «Nimm dir auch, bevor dir die anderen alles wegessen. Die zwei Jungfern, für die ich arbeite, sind zwar ein bisschen hochnäsig, aber es lässt sich aushalten. Wie ist denn deine Herrin? Ich war ja heute Morgen nur kurz bei ihr. Meiner Treu, hab ich gedacht, so eine große Frau hab ich noch nie gesehen! Aber schön ist sie! Der liegen die Ritter bestimmt reihenweise zu Füßen. Und ihre Kleider erst! Selbst Frau Hedwig hat nicht so feine Sachen. Ich hab mich fast nicht getraut, sie anzufassen. Die muss mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden sein, sag ich euch.»

«Sie ist, glaube ich, ziemlich streng», warf Luzia ein. «Und reinlich. Sie hat als Erstes von mir verlangt, dass ich mir Gesicht und Hände waschen soll, bevor ich ihre Sachen anfasse. Dann hat sie mir erklärt, was ich alles machen soll, und gemeint, dass sie samstags immer badet und dass ich das dann auch machen soll.»

«Baden? Du?» Leni prustete los, und auch die anderen fielen in ihr Gelächter ein. «So richtig mit warmem Wasser und Seife und allem?»

Luzia zuckte hilflos mit den Schultern. «Ich weiß auch nicht, was das soll.»

«Freu dich doch.» Thea reichte ihr eine kleine Holzschüssel voll Gerstenbrei mit gekochten Zwiebeln. «Da kannst du dich doch mal fühlen wie ’ne Dame. Erzähl uns aber genau, wie das ist in dem Badezuber. Der Frau Hedwig musste ich ja auch schon oft das Wasser heiß machen. Aber jeden Samstag, sagst du?»

Luzia nickte.

«Was für eine Verschwendung», bemerkte eine zierliche Frau mittleren Alters, die gerade aus dem Speisezimmer kam, wo sie beim Auftragen der Speisen geholfen hatte. Sie setzte sich auf den freien Platz neben Luzia und nahm sich hungrig vom übrig gebliebenen Brot. «Scheinst es ja gut getroffen zu haben, Mädchen. Ich wünschte, mich würde mal so eine Grafentochter in ihre Dienste nehmen.» Sie lachte gackernd. «Wie kommst du bloß zu der Ehre?»

«Halt den Mund, Trudi», fuhr Thea sie unwirsch an. «Wir haben doch alle unsere angestammte Arbeit. Glaubst du, der Herr Simon entlässt dich einfach so aus deinem Dienst? Ist doch klar, dass er ’ne Fremde herholt. Wahrscheinlich hat die Jungfer ihm ordentlich was für Luzia bezahlt.»

Luzia sah sie überrascht an, dann schüttelte sie den Kopf. «Herr Simon hat mich nicht verkauft. Das geht doch gar nicht so einfach. Außerdem bin ich eine freie Bauerntochter.»

«Sag bloß!» Leni sah sie mit großen Augen an. «Kein Wunder, dass du sogar baden darfst. Bezahlen sie dich etwa sogar?»

«Ich glaube schon.» Zögernd blickte Luzia von einem zum anderen. «Meine Herrin hat noch nichts davon gesagt. Aber der Herr Bertram hat so was erwähnt, als er mit meinem Vater gesprochen hat.»

«Tatsächlich ein Glückskind», stellte Thea fest und klatschte in die Hände. «Aber deshalb musst du trotzdem genauso schuften wie wir anderen auch. Los jetzt, beeilt euch ein bisschen. Die Herrschaften sind bestimmt bald mit dem Essen fertig.» Sie sammelte mit Trudis Hilfe die Holzschüsseln, Löffel und leeren Brotkörbe ein.

Luzia wollte ihnen ebenfalls helfen, doch Thea winkte gutmütig ab. «Geh lieber raus und warte auf deine Herrin, falls sie dich braucht.»

Luzia verließ zögernd die Küche, und da sie nicht wusste, was man nun von ihr erwartete, stellte sie sich in eine Ecke des großen Saales und wartete darauf, dass Elisabeth das Speisezimmer verließ.

Sie fühlte sich ein wenig verloren in dem großen Raum und auf dieser Burg. Zwar waren die anderen Mägde recht freundlich, doch sie hatte nicht damit gerechnet, die einzige Freigeborene hier zu sein. Fast wie zu Hause, dachte sie, und es behagte ihr nicht, dass sie damit eine Sonderstellung einnahm. Sie hatte auf dem Hof ihres Vaters ebenso hart gearbeitet und beim Bestellen der Felder geholfen wie alle anderen auch. Sie hatte früher mit den Kindern der leibeigenen Bauern gespielt, und sie hatte selbst nie das Gefühl gehabt, anders zu sein. Etwas wohlhabender, das vielleicht schon. Aber je älter sie wurde, desto deutlicher war ihr geworden, dass sie sich doch von den anderen unterschied. Ihre Freundinnen waren alle bereits verheiratet, zwei hatten sogar schon Kinder. Doch sie selbst blieb unverheiratet, da ihr Vater sie nicht mit einem Leibeigenen verheiraten wollte. Auch nicht mit Karl, dem Sohn ihrer Nachbarn, obwohl er ein fleißiger junger Mann war und ihr gut gefallen hätte. Luzia seufzte und versuchte an etwas anderes zu denken. Um sich abzulenken, betrachtete sie die Jagdtrophäen an den Wänden.

Diese Elisabeth, die jetzt ihre Herrin war, erschien ihr als die ungewöhnlichste Frau, die ihr jemals begegnet war. Jungfer, verbesserte sie sich in Gedanken. Verheiratet war sie wohl noch nicht, obwohl sie etwas älter als sie selbst sein musste. Sie wirkte jedenfalls so. Aber vielleicht lag das nur an ihrer ungewöhnlichen Körpergröße. Sie war sogar größer als der Ritter Bertram! Und schön war sie auch. Als sie sie zuerst gesehen hatte, war Elisabeth ihr fast wie ein Engel erschienen. Und so … würdevoll. Ein anderes Wort fiel Luzia dafür nicht ein. Als sie einander zum ersten Mal angesehen hatten, hatte Luzia so einen merkwürdigen Schauer auf dem Rücken verspürt. Und dann war ihr nichts Besseres eingefallen als diese blöde Bemerkung über Bertram. Aber der hatte Elisabeth wirklich angesehen wie ein Hündchen! Sie hoffte, dass Elisabeth ihr das nicht übel nahm. Luzia knabberte auf ihrer Unterlippe herum. Sie musste sich zusammenreißen. Ihr Vater hatte sie auch schon dazu ermahnt. Sonst würde ihr loses Mundwerk sie womöglich noch ihre schöne neue Stellung kosten.

Sie schrak zusammen, als die Tür zum Speisezimmer aufging und Elisabeth zusammen mit einem weiteren jungen Mädchen herauskam. «Verzeiht mir, Elisabeth. Es war wirklich keine Absicht. Ich bin ganz aus Versehen gegen die Soßenschüssel …»

«Ja, ja, ist schon gut, Gertrud.» Elisabeth hob beschwichtigend die Hand, während sie mit der anderen, in der sie ein Tüchlein hielt, an ihrem Surcot herumrieb. «Macht Euch keine Sorgen, ich werde den Fleck schon wieder herausbekommen.» Sie sah sich um und winkte dann Luzia zu sich. «Komm mit, du musst mir helfen, das Kleid einzuweichen.» Sie ging voran, und Luzia eilte ihr hinterher die Wendeltreppe zu Elisabeths Schlafkammer hinauf. Oben angekommen, half sie ihr ungeschickt, die Verschnürung des Surcots zu lösen. Elisabeth zog das Überkleid über den Kopf, füllte Wasser in die Waschschüssel und weichte den Fleck darin ein. Dann drückte sie Luzia die Kanne in die Arme. «Geh zum Brunnen und hol Wasser für morgen früh herauf!»

«Ja, sofort, Herrin.» Luzia wandte sich zum Gehen. Durch die Fenster drang bereits die Dunkelheit, und plötzlich zögerte sie. Leni hatte sie gewarnt, draußen nicht alleine im Dunklen herumzulaufen. Aber wie konnte sie sich den Anweisungen ihrer Herrin widersetzen?

Es ist ja noch nicht so spät, versuchte sie sich selbst Mut zu machen und stieg entschlossen die ersten Stufen hinab.

«Und bring einen Krug Wein und einen Becher mit!», rief Elisabeth ihr nach.