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Die Poetik, wie sie Aristoteles begründet und die Folgezeit bis in das 18. Jahrhundert benutzt und bereichert hat, war eine Formenlehre und eine auf diese gegründete Technik. Aristoteles hat überall das Verfahren von Verallgemeinerung, welche die Formen aus den Einzelthatsachen ableitet und sie coordinirt, sowie von Zergliederung, welche die Zusammensetzung dieser Formen aus Einheiten aufzeigt, angewandt: seine Methode ist descriptiv, nicht ächte Causalerklärung.
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Seitenzahl: 262
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Die Einbildungskraftdes Dichters
Bausteine für eine Poetik
von
Wilhelm Dilthey
Die erworbenen Einsichten und die neuen Aufgaben der Poetik.
2. Untersuchungen über das schaffende Vermögen, aus welchem die Kunstwerke, darunter auch die Dichtungen entspringen.
3. Probleme und Hilfsmittel einer heutigen Poetik.
Beschreibung der Organisation des Dichters.
2. Die elementare Function des Dichters.
3. Diese Function ist durch die grössere Energie gewisser seelischer Vorgänge bedingt.
4. Die Einbildungskraft des Dichters in ihrer Verwandtschaft mit dem Traum, dem Wahnsinn und anderen Zuständen, die von der Norm des wachen Lebens abweichen.
Versuch einer psychologischen Erklärung des dichterischen Schaffens.
1. Elementare Vorgänge zwischen einzelnen Vorstellungen.
2. Der Zusammenhang des Seelenlebens und die von ihm aus erwirkten Bildungsprocesse.
3. Die drei Hauptformen der Bildungsvorgänge und die Stellung des künstlerischen Schaffens im Zusammenhang des Seelenlebens.
4. Die Gefühlskreise und die aus ihnen stammenden ästhetischen Elementargesetze.
5. Die Gleichförmigkeiten im Causalzusammenhang des Gefühlslebens und einige aus ihnen stammende höhere Gesetze der Poetik.
6. Die Gesetze, nach denen sich unter dem Einfluss des Gefühlslebens die Vorstellungen frei über die Grenzen des Wirklichen hinaus umwandeln. Das Schaffen des Dichters. Die Hilfsmittel der poetischen Technik.
Bestätigende Selbstzeugnisse der Dichter.
Das Typische in der Dichtung.
Ausblicke auf die Theorie der poetischen Technik, welche auf diese psychologische Grundlegung gebaut werden kann.
2. Das dichterische Schaffen und der ästhetische Eindruck.
3. Die Technik des Dichters.
4. Die Geschichtlichkeit der poetischen Technik.
Die von Aristoteles geschaffene Poetik war in allen Zeitaltern bewussten kunstmässigen Dichtens bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts das Werkzeug der Poeten bei ihrer Arbeit und das gefürchtete Richtmaass der Kritiker bis auf Boileau, Gottsched und Lessing. Sie war das wirksamste Hilfsmittel der Philologie für Auslegung, Kritik und Werthbestimmung griechischer Dichtung. Sie war zugleich neben Grammatik, Rhetorik und Logik ein Bestandtheil des höheren Bildungswesens. Dann hat die aus dem deutschen Geiste geborene Aesthetik in der grossen Zeit unsrer Dichtung Goethe und Schiller bei ihrem Schaffen geleitet, Humboldt, Körner und die Schlegel in ihrem Verständniss gesteigert sowie in ihrem Urtheil gefestigt. Sie hat durch diese beiden Fürsten der deutschen Poesie das ganze Reich derselben beherrscht, unter Mitwirkung von Humboldt, Moritz, Körner, Schelling, den Schlegel, endlich Hegel, als den unter ihnen wirkenden Ministern der schönen Künste. Sie hat die Philologie umgestaltet; denn sie hat die rationale Hermeneutik, wie sie im Streit zwischen dem tridentinischen Katholicismus und den Protestanten geschaffen und von Ernesti durchgeführt worden war, ergänzt durch jene aesthetisch begründete hermeneutische Kunst, deren Regeln Schleiermacher nach dem Vorgange Friedrich Schlegels aus dem Princip der Form eines schriftstellerischen Werkes abgeleitet hat. Sie hat eine Werthabmessung und Kritik, welche den Verstand, die Regel sowie die grammatische, metrische und rhetorische Technik zu Grunde legte, ergänzt durch jene ästhetische Kritik, welche von der Zergliederung der Form ausging und deren bedeutende Ergebnisse bei Wolf, Lachmann und ihren Nachfolgern vorliegen. Ja diese deutsche Aesthetik hat in Frankreich und England den Fall der alten Formen beschleunigt und die ersten ihrer selbst noch ungewissen Bildungen eines neuen poetischen Zeitalters beeinflusst.
Heute herrscht Anarchie auf dem weiten Gebiete der Dichtung in allen Ländern. Die von Aristoteles geschaffene Poetik ist todt. Ihre Formen und ihre Regeln waren schon gegenüber den schönen, poetischen Ungeheuern eines Fielding und Sterne, eines Rousseau und Diderot kraftlose Schatten von etwas Unwirklichem geworden, Schablonen, von einer vergangenen Kunstweise abgezogen. Unsere Aesthetik lebt wohl hier und da noch auf einem Katheder, aber nicht mehr in dem Bewusstsein der leitenden Künstler oder Kritiker, und da allein wäre doch ihr Leben. Als in der französischen bildenden Kunst David seine Geltung verlor und Delaroche sowie Gallait emporkamen, als in der deutschen die Cartonmalerei des Cornelius in den Schatten der Museen verschwand und dem wirklichen Menschen von Schadow und Menzel Platz machte, da war das einst von Goethe, Meyer und den anderen Weimarer Kunstfreunden vereinbarte Gesetzbuch der idealen Schönheit in den bildenden Künsten ausser Kraft gesetzt. Als seit der französischen Revolution immer stärker die ungeheuren Wirklichkeiten London und Paris, in deren Seele eine neue Art von Poesie circulirt, die Augen der Dichter wie des Publicums auf sich zogen, als Dickens und Balzac das Epos des in diesen Städten kreisenden modernen Lebens zu schreiben begannen, da war es auch vorbei mit den Grundsätzen der Poetik, wie sie einst in dem idyllischen Weimar zwischen Schiller, Goethe und Humboldt berathen worden waren. Aus allen Zeiten und Völkern dringt eine bunte Formenmenge auf uns ein und scheint jede Abgrenzung von Dichtungsarten und jede Regel aufzulösen. Zumal aus dem Osten überfluthet uns elementare, formlose Dichtung, Musik und Malerei, halb barbarisch, aber von der herzensrohen Energie solcher Völker, die noch die Kämpfe des Geistes in Romanen und zwanzig Fuss breiten Gemälden auskämpfen. – In dieser Anarchie ist der Künstler von der Regel verlassen, der Kritiker zurückgeworfen auf sein persönliches Gefühl als den allein zurückbleibenden Maassstab der Werthbestimmung. Das Publicum herrscht. Die Massen, die in colossalen Ausstellungsgebäuden, in Theatern aller Grössen und Arten, wie in Leihbibliotheken sich drängen, machen und vernichten den Namen der Künstler.
Diese Anarchie des Geschmacks bezeichnet stets Zeiten, in denen eine neue Art, die Wirklichkeit zu fühlen, die bestehenden Formen und Regeln zerbrochen hat und nun neue Formen der Kunst sich ausbilden wollen; sie darf aber niemals andauern, und es ist eine der lebendigen Aufgaben der heutigen Philosophie, Kunst- und Literaturgeschichte, das gesunde Verhältniss zwischen dem ästhetischen Denken und der Kunst wiederherzustellen.
Das Bedürfniss nach Wahrhaftigkeit und nach packenden Wirkungen aller Art treibt heute den Künstler auf einem Wege voran, dessen Ziel ihm noch unbekannt ist. Diesem Streben opfert er die saubere Abgrenzung der Formen und die reinliche Erhebung des Idealschönen über die gemeine Wirklichkeit. Hierbei fühlt er sich im Einklang mit einer veränderten Gesellschaft. Der Kampf um Existenz und Wirkung in dieser ist rücksichtsloser geworden und verlangt die Ausbeutung der stärksten Effecte. Die Massen haben Stimme und Geltung erlangt und strömen mit grosser Leichtigkeit an Centralpunkten zusammen, an welchen sie nun die Befriedigung ihres Verlangens nach packenden Wirkungen, nach Erschütterungen des Herzens fordern. Der wissenschaftliche Untersuchungsgeist tritt jedem Object gegenüber in Thätigkeit, dringt in jede Art von geistiger Operation ein und bewirkt ein Bedürfniss, durch jede Art von Hülle hindurch die Wirklichkeit wahrhaftig zu erblicken. Naturen, die mit dem zahlen, was sie sind, waren unser Ideal im vorigen Jahrhundert; eine repräsentative, die zuständliche Schönheit veredelnde Kunst musste hiervon der Ausdruck sein; jetzt liegt unser Ideal nicht in der Form, sondern in der Kraft, welche in Formen und Bewegungen zu uns redet. So wird heute die Kunst demokratisch, wie Alles um uns, und der Durst nach Realität, nach wissenschaftlich fester Wahrheit erfüllt auch sie.
Der Künstler und der Dichter fühlen heute, dass eine wahre und grosse Kunst der Gegenwart einen Inhalt und ein Geheimniss dieser Zeit auszusprechen hätte, so gewaltig als das, welches aus den Madonnen oder den Teppichfiguren Raphaels auf uns blickt, aus den Iphigenien zu uns redet, und er empfindet leidenschaftlich, um so leidenschaftlicher, je dunkler ihm das Ziel seiner Kunst vorschwebt, seinen Widerspruch gegen jene Aesthetik mit rückwärts gewandtem Antlitz, die aus den Werken jener Vergangenheit oder aus abstracten Gedanken einen Begriff der idealschönen Formen ableitet und an diesem die productive Arbeit des ringenden Künstlers misst. Unter denselben Einflüssen ist die Poesie ganz umgestaltet, aber auch herabgezogen worden. Grosse Genies der erzählenden Dichtung wie Dickens und Balzac haben sich dem Bedürfniss eines lesehungrigen Publicums nur allzusehr angepasst. Die Tragödie krankt am Mangel eines Publicums, in welchem die ästhetische Reflexion das Bewusstsein von der höchsten Aufgabe der Poesie wach erhalten hätte. Die Sittencomödie hat unter denselben Umständen die Feinheit in der Führung der Handlung und den Adel des Abschlusses verloren; jenes Moment des Tragischen, das der grossen Comödie des Molière beigemischt war und ihr die Tiefe gab, wird nach dem Geschmack der Masse durch eine flache Sentimentalität ersetzt. In der deutschen bildenden Kunst ist mit dem Widerstreit gegen die unproductiv gewordene Aesthetik – denn unproductiv ist nur die Aesthetik, welche am Ideal eines Zeitalters nicht mehr mitarbeitet – eine Misologie entstanden, Hass der Künstler gegen das Denken über die Kunst, ja theilweise gegen jede Art von höherer geistiger Bildung, und die Folgen dieses Hasses liegen heute den Künstlern selber so gut als dem Publicum vor Augen.
Sollen die mächtigen Triebe nicht verkümmern, welche nach Wahrhaftigkeit, Erfassung von Kraft hinter aller Form und daraus stammender Energie der Wirkung in unsrer Kunst hindrängen, dann muss das natürliche Verhältniss zwischen der Kunst, dem ästhetischen Raisonnement und einem debattirenden Publicum wieder hergestellt werden. Die ästhetische Erörterung steigert die Stellung der Kunst in der Gesellschaft, und sie belebt den arbeitenden Künstler. In einem solchen lebendigen Milieu arbeiteten die Künstler der griechischen Zeit und der Renaissance, Corneille, Racine und Molière, Schiller und Goethe. In der Zeit ihrer höchsten künstlerischen Anstrengungen finden wir Schiller und Goethe ganz umgeben von einer solchen sie tragenden ästhetischen Lebendigkeit der Nation, von Kritik, ästhetischem Urtheil und lebhafter Debatte. Die ganze Geschichte der Kunst und der Dichtung zeigt, wie das nachdenkliche Erfassen von Functionen und Gesetzen der Kunst die Bedeutung und die idealen Ziele derselben im Bewusstsein erhält, während die niederen Instincte der menschlichen Natur sie beständig herabziehen möchten. Insbesondere die deutsche Aesthetik hat den Glauben, dass die Kunst eine unsterbliche Angelegenheit der Menschheit ist, tiefsinnig begründet. Nur indem das Dauernde in dieser Aesthetik, insbesondere die Einsicht in die Function der Kunst für das Leben der Gesellschaft, tiefer begründet wird, kann auch der Künstler, der Dichter die hohe Stellung in der Schätzung der Gesellschaft behaupten, die er in den hundert Jahren von dem verkommenen armen Günther bis zur Bestattung Goethe’s in einer Fürstengruft errungen hat. Aesthetisches Nachdenken über Ziel und Technik der einzelnen Kunstübung hat in jeder Blüthezeit der bildenden Kunst oder der Dichtung die Ausbildung eines festen Styls und einer zusammenhängenden Tradition in der Kunst wesentlich unterstützt. So sehen wir aus den Resten von Poetik und Rhetorik der Griechen, wie sich dort der feste Styl der Dichter und Redner überall Hand in Hand mit Regelgebung ausgebildet hat. Wir bemerken, wie die lange Blüthe des französischen Theaters durch das an der cartesianischen Philosophie genährte ästhetische Raisonnement gefördert wurde. Und Lessing, Schiller und Goethe bereiteten ihre Dichtungen durch tiefes ästhetisches und technisches Nachdenken vor; Wallenstein, Hermann, Meister, Faust wurden unter der lebendigen Betheiligung dieses Nachdenkens ausgebildet; ebendasselbe Raisonnement sicherte dann diesen Werken Verständniss und Aufnahme im Publicum. Kurz, die Kunst bedarf durchgängig einer Schulung der Künstler und einer Erziehung des Publicums durch die ästhetische Besinnung, soll ihr höherer Charakter den gemeinen Instincten der Masse gegenüber ausgebildet, gewürdigt und vertheidigt werden. Ist nicht der grosse Styl unsrer Dichtung nur aufrecht erhalten worden durch die königliche Gewalt unsrer beiden Dichter, die in Weimar residirten? Vermittelst einer von Weimar aus geleiteten umfassenden ästhetischen Beeinflussung, unterstützt von verfügbaren Zeitschriften, nicht ohne den Terrorismus der Xenien haben sie Kotzebue, Iffland, Nicolai niedergehalten und das liebe deutsche Publicum in seinem Glauben an Hermann und Dorothea und die Braut von Messina gehoben und bestärkt. Dieser Glaube ist demselben nicht natürlich gewesen.
Die Aufgabe der Poetik, welche sich aus dieser ihrer lebendigen Beziehung zur Kunstübung selber ergiebt, ist: kann sie allgemeingültige Gesetze gewinnen, welche als Regeln des Schaffens und als Normen der Kritik brauchbar sind? Und wie verhält sich die Technik einer gegebenen Zeit und Nation zu diesen allgemeinen Regeln? Wie überwinden wir doch die überall auf den Geisteswissenschaften lastende Schwierigkeit, allgemeingültige Sätze abzuleiten aus den inneren Erfahrungen, die so persönlich beschränkt, so unbestimmt, so zusammengesetzt und doch unzerlegbar sind? Die alte Aufgabe der Poetik tritt hier wieder auf, und es fragt sich, ob sie nun durch die Hilfsmittel, welche uns die Erweiterung des wissenschaftlichen Gesichtskreises zur Verfügung stellt, gelöst werden könne. Und zwar gestatten die empirischen und technischen Gesichtspunkte der Gegenwart, dass wir von der Poetik und den nebengeordneten ästhetischen Einzelwissenschaften zu einer allgemeinen Aesthetik aufsteigen.
Auch unter einem zweiten Gesichtspunkte ist eine Poetik ein unabweisbares Bedürfniss der Gegenwart geworden. Die unübersehbare Masse dichterischer Werke aller Völker muss für die Zwecke des lebendigen Genusses, der historischen Causalerkenntniss und der pädagogischen Praxis geordnet, dem Werthe nach taxirt und für das Studium des Menschen sowie der Geschichte ausgenutzt werden. Diese Aufgabe kann nur gelöst werden, wenn neben die Geschichte der schönen Litteratur eine generelle Wissenschaft der Elemente und Gesetze tritt, auf deren Grundlage sich Dichtungen aufbauen. »Das Material ist für beide dasselbe, und kein Fehler der Methode greift tiefer als der Verzicht auf die Breite der historischen, unter ihnen der biographischen Thatsachen für den Aufbau der generellen Wissenschaft menschlicher Natur und ihrer Leistungen, die nun einmal nur inmitten der Gesellschaft für uns da sind und studirt werden können. Es ist dasselbe Verhältniss, welches zwischen der generellen Wissenschaft und der Analyse der geschichtlichen Erscheinungen in Bezug auf alle anderen grossen Lebensäusserungen der Gesellschaft stattfindet.« Der Ausgangspunkt einer solchen Theorie muss in der Analysis des schaffenden Vermögens liegen, dessen Vorgänge die Dichtung bedingen. »Die Phantasie des Dichters in ihrer Stellung zur Welt der Erfahrungen bildet den nothwendigen Ausgangspunkt für jede Theorie, welche die mannigfaltige Welt der Dichtungen in der Aufeinanderfolge ihrer Erscheinungen wirklich erklären will. Die Poetik in diesem Sinne ist die wahre Einleitung in die Geschichte der schönen Litteratur, wie die Wissenschaftslehre in die Geschichte der geistigen Bewegungen.«1 Künstler und Publicum bedürfen einer solchen Werthbestimmung der Dichtungen aus einem möglichst sichern Maassstab. Wir sind in ein geschichtliches Zeitalter eingetreten. Die ganze Vergangenheit umgiebt uns auch auf dem Felde der Dichtung. Der Dichter muss sich mit ihr auseinandersetzen und nur die geschichtliche Ansicht, durchgeführt in einer Poetik, kann ihn freimachen. Die Philologie ferner, welche den Zusammenhang der Dichtungen eines Volkes untereinander und mit der Lebendigkeit des Nationalgeistes zuerst zum Verständniss gebracht hat, findet sich dabei stets einer historisch begrenzten poetischen Technik gegenüber, und das Problem des Verhältnisses derselben zu den allgemeinen Gesetzen der Dichtung führt sie nothwendig zu den Principien der Poetik.
So gelangen wir zur selben Grundfrage, nur in historischer Wendung. Können wir erkennen, wie die in der Natur des Menschen gegründeten, sonach überall wirkenden Vorgänge diese verschiedenen Gruppen von Poesie, getrennt nach Völkern und Zeiten, hervorbringen? Hier berühren wir die tiefste Thatsache der Geisteswissenschaften: die Geschichtlichkeit des Seelenlebens, sich äussernd in jedem System der Kultur, das die Menschheit hervorbringt. Wie ist die hier in den Gleichförmigkeiten sich äussernde Selbigkeit unseres menschlichen Wesens verknüpft mit seiner Variabilität, seinem geschichtlichen Wesen?
Vielleicht hat die Poetik in Rücksicht auf das Studium dieser Grundthatsache der Geisteswissenschaften, der Geschichtlichkeit der freien Menschennatur, einen grossen Vorzug vor den Theorien der Religion oder Sittlichkeit etc. voraus. Auf keinem anderen Gebiet, ausser dem der Wissenschaft, haben sich so vollständig die Erzeugnisse der Vorgänge erhalten; sie liegen in der schönen Literatur aufeinandergeschichtet da. Die wirkenden Kräfte scheinen noch lebendig in dem Erzeugniss zu pulsiren. Die Vorgänge vollziehen sich heute, wie zu jeder früheren Zeit; der Dichter lebt vor unseren Augen, Zeugnisse über sein Schaffen liegen vor. So kann das dichterische Bilden, seine psychologische Structur und seine geschichtliche Variabilität besonders gut studirt werden. Die Hoffnung entsteht, dass durch die Poetik das Wirken der psychologischen Vorgänge in den geschichtlichen Producten besonders genau aufgeklärt werden könne. An der Litteraturgeschichte entfaltete sich bei uns die philosophische Geschichtsbetrachtung. Die Poetik hat vielleicht eine ähnliche Bedeutung für das systematische Studium der geschichtlichen Lebensäusserungen.
Der Aufbau einer solchen Wissenschaft würde auch eine nicht zu unterschätzende practische Bedeutung für unser höheres Unterrichtswesen haben. Die älteren Gelehrtenschulen vor der Umwälzung unserer Philologie durch Humboldts und Wolfs Auffassung der Griechen unter dem Gesichtspunkte des Humanitätsideals wollte aus der Lectüre der Schriftsteller ein rationales Bewusstsein von den Regeln der Sprachen, des Denkens, des rednerischen und dichterischen Styls sowie eine darauf gegründete Sicherheit der Technik gewinnen. Dieser berechtigte Gedanke wurde in der Blüthezeit unseres griechischen Humanismus durch einen anderen verdrängt, dessen Geltung doch beschränkter ist. Die geschichtliche Erkenntniss des griechischen Geistes in seiner Idealität sollte nun zur schönen Menschlichkeit erziehen. Kehrt die Gelehrtenschule zu ihrem alten Grundgedanken in einer reiferen, mit unserem geschichtlichen Bewusstsein ausgeglichenen Form zurück, dann wird sie auch einer erneuerten Poetik bedürfen, wie einer erneuerten Rhetorik und einer fortgebildeten Logik.
1. Die Poetik als Formenlehre und Technik.
Die Poetik, wie sie Aristoteles begründet und die Folgezeit bis in das 18. Jahrhundert benutzt und bereichert hat, war eine Formenlehre und eine auf diese gegründete Technik.
Aristoteles hat überall das Verfahren von Verallgemeinerung, welche die Formen aus den Einzelthatsachen ableitet und sie coordinirt, sowie von Zergliederung, welche die Zusammensetzung dieser Formen aus Einheiten aufzeigt, angewandt: seine Methode ist descriptiv, nicht ächte Causalerklärung. Und zwar haben seine Grammatik, Logik, Rhetorik und Poetik augenscheinlich zur Grundlage die Beobachtungen, Zergliederungen, Formbegriffe und Regeln, welche in der Kunstübung selber entstanden und in der schulmässigen Bearbeitung der Sophisten durchgebildet worden waren. Indem er constante Formen nachweist, ordnet und so zergliedert, dass man Einheiten zu ersten Verbindungen und diese zu höheren Systemen zusammentreten sieht, vermag er überall das Erbgut des Handwerks selbst und das schulmässige von den Sophisten ausgebildete technische Wissen zu verwenden. Lehrte doch ein grosser Theil des griechischen Unterrichts, die Sprache zergliedern bis zu Lauten als letzten Einheiten, ein metrisch-musikalisches Ganze bis zu den Grundzeiten, die Beweisführung bis zu den Terminis, alsdann die Formen, wie sie aus den Zusammensetzungen entstehen, rubriciren, endlich die Regeln, nach denen in solchen Formen die verfügbaren Mittel zum Zweck verbunden werden müssen, erkennen und anwenden. Die Poetik des Aristoteles war eine Formenlehre und Technik in diesem Verstande; durch ihre Bruchstücke geht die Auseinandersetzung mit dem Erbgut der im dichterischen und schulmässigen Betrieb erworbenen Technik, und dem Verhältniss zu dieser verdankt sie ihre regelhafte Abgeschlossenheit, ihre lehrhafte Vollendung.
Wie unzusammenhängend auch der erhaltene Text der Poetik ist, wie einsilbig über das Verhältniss zu den Vorgängern und den andern aristotelischen Schriften: die logische Verknüpfung in dem Erhaltenen gestattet den Schluss, dass diese Formenlehre und Technik der Poesie nicht von Aristoteles aus allgemeinen ästhetischen Principien, wie dem der Schönheit oder des künstlerischen Vermögens abgeleitet, sondern nur durch Abstraction aus den Dichtungen und deren Eindruck und durch Schluss aus den technischen Beziehungen zwischen den Mitteln der Nachbildung, dem Gegenstande derselben und ihren möglichen Weisen begründet worden ist.
Die Regeln dieser Poetik sind durchgängig zurückgeführt auf die Eigenschaften der Dichtung, Nachahmung von handelnden Menschen im Darstellungsmittel der Rede (zu welchem Rhythmus und qualitative Tonordnung treten können) in verschiedenen Weisen der Darstellung zu sein. Dieses Princip der Nachahmung ist objectivistisch wie das der Logik und Erkenntnisslehre des Aristoteles, nach welchem Wahrnehmen und Denken einerseits, Sein andrerseits sich entsprechen und das Sein im Denken dargestellt wird. Und dieses objectivistische Princip ist der Ausdruck der natürlichen Auffassung sowohl der Erkenntniss als der Kunst. Einerseits ist also dies Princip der Nachahmung der einfachste Ausdruck eines freilich nur in der bildenden Kunst und Poesie, nicht in Musik, decorativer und architectonischer Kunst bestehenden einfachsten Thatbestandes von Kunstübung und Kunstgenuss. Andrerseits ordnet es im Sinne dieser objectivistischen Weltbetrachtung die Lust an der Dichtung der an allem Lernen und Schauen unter. Ist so das Princip nicht ohne weiter zurückreichende Beziehungen, so überwiegt doch durchaus der Gesichtspunkt des Technikers dabei, wenn diese Poetik sich daran genügen lässt, als Ursache in der menschlichen Natur, welche die Entstehung der Poesie bewirkte, die Freude am Nachbilden und der Wahrnehmung der Nachbildungen, verbunden mit der an Harmonie und Rhythmus, zu bezeichnen.
Alle weiteren Wirkungen, welche die Dichtung hervorzubringen hat, fliessen dann nach ihr aus der Natur des Gegenstandes, der nachgebildet wird: des handelnden Menschen. In diesem Zusammenhang geht die Poetik auf die psychologischethische Natur des nachzubildenden Vorgangs an bedeutenden Stellen zurück. So begründet sie die Lehre, welche doch nur die abstracte Formel für eine Eigenthümlichkeit der griechischen Tragödie ist, dass die Fabel das Princip und gleichsam die Seele der Tragödie sei, das Zweite erst die Charaktere, aus dem ethischen Satze, dass das Ziel des Menschen und seine Eudämonie im Handeln liegt. Daher können nach ihr in der concentrirten Nachbildung des Lebens durch die Tragödie die Handlungen nicht um der Charakterzeichnung willen auftreten. So sieht ferner diese Poetik das Eigenthümliche der Tragödie in der besonderen Art von Wirkung, welche der nachzubildende Gegenstand hervorbringt: der Furcht und dem Mitleid; sie bemerkt ausdrücklich, dass die Definition, welcher diese Angabe über das Merkmal der tragischen Wirkung angehört, in vorher Gesagtem begründet war. Auch diese uns leider verlorene Begründung muss ethisch-psychologisch aus der Natur des nachzubildenden Vorgangs dessen Wirkung abgeleitet haben. So darf endlich wol angenommen werden: wie eine bekannte Stelle des Aristoteles mannigfache ganz verschiedene Wirkungen der musikalischen Kunst, Unterhaltung (und zwar verschiedenen Charakters und Werthes), sittliche Bildung, Reinigung empirisch aufzählt, so hat auch die Poetik ein Mannigfaches solcher Wirkungen für die Dichtung, dem Wechsel der von ihr nachgebildeten Gegenstände entsprechend, angenommen. Die Poetik erkannte also in empirischer Unbefangenheit das Mannigfache der poetischen Wirkung an. Aber der Grund dieser Wirkung lag ihr nur in dem Verhältniss zwischen dem Nachbilden, den Gegenständen desselben und den Mitteln. Allein aus diesem Verhältniss wurden von ihr die Formen und Regeln der Dichtung abgeleitet. In diesem Verhältniss hat sie ihr einheitliches Princip. Sie denkt den Dichter als nach Regeln zum Zweck bestimmter Wirkung sein Werk hervorbringend. Sie ist eine Technik, und in ihr herrscht der Verstand. Von ihrem einfachen Grundgedanken aus hat sie mit unübertroffener Klarheit die Formen der Dichtung definirt, deren Theile zergliedert und die Regeln festgestellt, nach denen diese Theile gebildet und zusammengefügt werden müssen.
So ist eine Elementarlehre und Technik der Poesie entstanden, welche durch die Begrenzung des angegebenen Princips sowie der benutzten schönen Literatur eingeschränkt, aber innerhalb dieser Einschränkung mustergültig und höchst wirksam ist. Das Schema ihrer Ableitungen ist folgendes: jede Kunst Nachahmung; die Künste, welche durch Farben und Form abbildlich darstellen, werden von denen unterschieden, welche in Rede, Rhythmus und Harmonie ihre Darstellungsmittel haben. Unter diesen letzteren wird der Dichtung ihr Rang bestimmt. In der Weise der Nachbildung ist dann der Unterschied von erzählender und dramatischer Dichtung begründet. Insbesondere eine technische Betrachtung der Tragödie wurde nun durch die Lehre von der Einheit der Handlung, der Schürzung und Lösung des Knotens, der Peripetie und der Erkennung begründet, wenn auch die Erörterung der Möglichkeiten öfters in Casuistik ausartet.
Auch sofern diese Technik des Dramas, als abstrahirt aus dem beschränkten griechischen Kreis theatralischer Kunst, bestritten worden ist, diente sie doch, bei den neueren Dramatikern das ästhetische Bewusstsein von einer Technik der Bühne auszubilden. Der Schöpfer des spanischen Theaters Lope de Vega hat in Betrachtungen über die dramatische Kunst der Technik des Aristoteles Regeln wie die von der Verbindung des Ernsten und Lächerlichen, die er aus der Praxis des spanischen Theaters entnahm, gegenübergestellt und seine eigene Technik damit gerechtfertigt, dass Regeln und Muster der Alten mit dem Geschmack seiner Zeitgenossen nicht in Uebereinstimmung zu bringen seien. Die von Descartes beeinflusste Poetik, Corneille und Boileau haben in Auseinandersetzung mit der Tradition der Aristotelischen Theorie die Kunstweise des französischen Dramas zu einer strengen Technik ausgebildet. Je genauer man die im Wesenhaften so regelmässige Form der Shakespeare’schen Tragödie betrachtet, desto mehr möchte man vermuthen, dass der uns verborgene Vorgang, in welchem das ältere englische Theater, ja noch die Shakespeare unmittelbar voraufgehende Kunstweise von Marlowe und Greene, zu dieser Formstrenge fortgebildet worden ist, nicht ohne irgend eine Auseinandersetzung mit der vorhandenen technischen Theorie stattgefunden hat. Am Beginn unserer neueren deutschen Dichtung stehen Gottsched und der Streit der Aristotelischfranzösischen Poetik mit der schweizerischen. Lessing gedachte die Poetik des Aristoteles zu commentiren: er wollte sie in ihrer Reinheit herstellen und vertreten. Er hat in seinem Laokoon und seiner Dramaturgie auf der Grundlage dieser Poetik fortgebaut, im ächten Geiste derselben und doch mit Lessing’scher Selbständigkeit. Und als der Sturm gegen alle Regeln vorüber war, als unsere beiden grossen Dichter eine Technik unserer Poesie herzustellen trachteten, als zwischen ihnen in den neunziger Jahren jene merkwürdigen Debatten über Epos und Drama stattfanden, in denen noch nicht ausgenutzte Schätze von Beobachtungen über dichterische Formen gesammelt wurden: da waren sie erstaunt und erfreut, sich mit Aristoteles, den sie nun wieder verglichen, so vielfach einstimmig zu wissen.
Goethe schrieb am 28. April 1797: »ich habe die Dichtkunst des Aristoteles wieder mit dem grössten Vergnügen durchgelesen, es ist eine schöne Sache um den Verstand in seiner höchsten Erscheinung. Es ist sehr merkwürdig, wie sich Aristoteles bloss an die Erfahrung hält und dadurch, wenn man will, ein wenig zu materiell wird, dabei aber auch meistens desto solider auftritt.« Und Schiller in seiner Antwort vom 5. Mai 1797 ist ebenfalls mit Aristoteles sehr zufrieden und freut sich seines Einverständnisses mit demselben. Er bemerkt mit feinem Spürsinn, wie hier keine Philosophie der Dichtkunst nach Art moderner Aesthetiker vorliege, sondern Auffassung »der Elemente, aus welchen ein Dichtwerk zusammengesetzt wird«, wie sie entstehen müsste, wenn man »eine individuelle Tragödie vor sich hätte und sich um alle Momente befragte, die an ihr in Betrachtung kommen«. »Ganz kann er aber sicherlich nie verstanden oder gewürdigt werden. Seine ganze Ansicht des Trauerspiels beruhte auf empirischen Gründen: er hat eine Masse vorgestellter Tragödien vor Augen, die wir nicht mehr vor Augen haben; aus dieser Erfahrung heraus raisonnirt er; uns fehlt grösstentheils die ganze Basis seines Urtheils.« Das ist richtig gesehen und hätte Schiller dahin führen können, hinter Aristoteles den technischen Erwerb des griechischen Künstlers, Erklärers und Kunstrichters zu erblicken. Liest man weiter, so bemerkt man, wie Schiller hier Parthei ist und sein Urtheil über Aristoteles günstiger, als unser heutiges lauten muss. »Und wenn seine Urtheile … ächte Kunstgesetzte sind, so haben wir dieses dem glücklichen Zufall zu verdanken, dass es damals Kunstwerke gab, die … ihre Gattung in einem individuellen Fall vorstellig machten.« Das ist ganz die bekannte ungeschichtliche Vorstellung von der Idee, die sich in einem Falle realisirt, der Gattung, die in einem Exemplar zur Darstellung kommt!
Ja das Erbgut dieser Poetik ist nicht nur durch Lessing, sondern auch durch Goethe und Schiller erheblich vergrössert worden. Lessing hatte mit Aristoteles aus dem Verhältniss der Darstellungsmittel zu der durch sie bedingten Technik die obersten Gesetze der bildenden Kunst und weit glücklicher die der Poesie abgeleitet. Er hatte gegenüber den Franzosen die wahre Einheit der dramatischen Handlung in mustergültiger Analysis dargestellt, einstimmig mit dem Aristotelischen Text, aber zugleich von seinem dramatischen Lebensgefühl getragen. Goethe hat dann aus der Verschiedenheit der ganzen Position des epischen und des dramatischen Dichters gegenüber seinem Stoff die Grundunterschiede ihrer Kunstübung höchst geistvoll abgeleitet, indem er so die technischen Betrachtungen, die sein und Schillers Schaffen begleitet hatten, unter Einem Gesichtspunkte sammelte (über epische und dramatische Dichtung von Goethe und Schiller, Beilage zum Brief an Schiller vom 23. Decbr. 1797). »Der Epiker und der Dramatiker sind beide den allgemeinen Gesetzen unterworfen, besonders dem Gesetze der Einheit und dem Gesetze der Entfaltung, ferner behandeln sie beide ähnliche Gegenstände und können beide alle Arten von Motiven brauchen; ihr grosser wesentlicher Unterschied beruht aber darin, dass der Epiker die Begebenheit als vollkommen vergangen vorträgt und der Dramatiker sie als vollkommen gegenwärtig vorstellt. Wollte man das Detail der Gesetze, wonach beide zu handeln haben, aus der Natur des Menschen ableiten, so müsste man sich einen Rhapsoden und einen Mimen, beide als Dichter, jenen mit seinem ruhig horchenden, diesen mit seinem ungeduldig schauenden und hörenden Kreise umgeben, vergegenwärtigen.« Schiller fügt folgende Unterschiede hinzu. Wie der Erzähler seinen Stoff als ein Vergangenes vor sich stellt, kann er die Handlung gleichsam als stillestehend denken; er weiss schon Anfang, Mitte und Ende; er bewegt sich frei um sie, kann ungleichen Schritt halten, Vorgriffe und Rückgriffe thun. »Die dramatische Handlung bewegt sich vor mir, so bin ich streng an die Gegenwart gefesselt, meine Phantasie verliert alle Freiheit; es entsteht und erhält sich eine fortwährende Unruhe in mir« (Schiller zwischen 23. und 27. Decbr. 1797).2 Diese Hauptsätze sind bei Schiller und Goethe mit den werthvollsten technischen Einzelbeobachtungen verbunden, in denen nur das, was allgemeingültig aus der Beziehung zwischen dem Hervorbringen, dem Gegenstand und den Darstellungsmitteln folgt, von dem, was an ihrem Formideal zeitlich bedingt war, abgesondert werden muss. Mitbedingt durch Herder und Fr. A. Wolf, traten dann fruchtbare Betrachtungen über die epische Poesie hervor, von Friedrich Schlegel in seiner Poesie der Griechen und Römer (1797), von A. W. Schlegel in der von Friedrich abhängigen Recension des Hermann, von Humboldt in seiner bekannten Schrift, die ebenfalls an Hermann anknüpft (1798). Stand bei Aristoteles das Epos im Schatten der von ihm vorgezogenen, zu seiner Zeit noch lebendigen Tragödie, so haben diese Analysen den durchgreifenden Unterschied beider Dichtungsarten über die Aristotelische Poetik hinaus erforscht. Auch hat damals Friedrich Schlegel die Form der Prosadichtung zuerst mit ästhetischer Genialität untersucht.
Diese Poetik als Formenlehre und Technik musste sich unzureichend erweisen. Die Technik, die so von den griechischen Dichtern durch Abstraction abgeleitet war, stiess mit der zusammen, die im spanischen und englischen Theater sowie in dem neueren Roman steckte, und so musste die Allgemeingültigkeit dieser griechischen Poetik in Frage gestellt und in den so entstehenden Streitigkeiten eine Entscheidung aus Principien gesucht werden. Lange hatte die Mustergültigkeit der griechischen Kunst dem ästhetischen Raisonnement einen festen Halt gewährt. Wurde diese zweifelhaft, so musste nun ein solcher Halt in den Principien aufgesucht werden; er wurde schliesslich in der Natur des Menschen gefunden. Das Aristotelische Princip der Nachahmung war objectivistisch, analog der Aristotelischen Erkenntnisstheorie; seitdem die Untersuchung sich überall in das subjective Vermögen der Menschennatur vertiefte und die selbständige Kraft desselben erfasste, die das in den Sinnen Gegebene umgestaltet, wurde auch in der Aesthetik das Princip der Nachahmung unhaltbar. Derselbe veränderte Stand des Bewusstseins, der in der Erkenntnisstheorie seit Descartes und Locke sich äussert, machte sich auch in einer neuen Aesthetik geltend. Die causale oder virtuelle Untersuchung suchte auch hier, wie auf dem Gebiete der Religion, des Rechts, des Wissens, die Kraft oder Function zu bestimmen, aus welcher Kunst und Dichtung entspringen. Schon Baco und Hobbes, darin ächte Zeitgenossen Shakespeares und seiner Schule, erblickten diese Kraft in der Phantasie. Addison erkannte in der Einbildungskraft das Vermögen, welches den besonderen Grund dichterischer Gebilde enthält: eine Art von erweitertem Gesichtssinn, der Ungegenwärtiges vergegenwärtigt. David Young, Shaftesbury, Dubos, der lange nicht genug Gewürdigte, haben aus diesem schaffenden Vermögen die Grundzüge einer neuen Aesthetik abgeleitet. In Deutschland wurde diese Aesthetik dann ein systematisches Ganzes. Sie ging aus vom schaffenden Vermögen im Menschen, ja in der ganzen Natur, dessen Hervorbringung die Schönheit ist. Was die deutsche Aesthetik, als die höchste Leistung auf diesem Standort, für den Fortschritt der Poetik gewesen ist, wiefern sie aber doch auch der Ergänzung bedarf, ist nun kurz zu beschreiben.
Die Leistungen dieser deutschen Aesthetik können aber nur richtig geschätzt werden, wenn sie nicht allein in den abstracten Systemen, sondern auch in der lebendigen Beobachtung und Discussion, in Herders früheren Schriften, in Goethes und Schillers ganzer Lebensarbeit, in den literarischen und kritischen Leistungen der Schlegel u. s. w. aufgesucht werden. Die historisch-kritischen Arbeiten von Zimmermann und Lotze suchen die Förderung des ästhetischen Wissens auf diesem Höhepunkte unsrer Dichtung in den Theorien, die am meisten abstract und am meisten streitig sind. Die wirkliche Bedeutung dieser Aesthetik für die Interessen der Dichtung bestand doch darin, dass hier auf der Höhe unserer Poesie die Dichter und die Philosophen sich über die hervorbringende Kraft, das Ziel und die Mittel der Dichtung besannen. Die deutsche Poetik dieser Zeit muss als ein Zusammenhang erkannt werden, der von den allgemeinsten ästhetischen Principien bis in die technischen Feststellungen zwischen Goethe und Schiller sowie in die Analysen von Form und Composition bei den Schlegel und Schleiermacher reichte. Sie war ein lebendiges, wirkendes Denken, wirkend auf die Dichtung, die Kritik, das Verständniss und die literarhistorische oder philologische Erkenntniss. Und nur sofern philosophisches Denken wirkt, hat es ein Recht, zu existiren.
Die erste Errungenschaft dieser deutschen Aesthetik ist ein wichtiger Satz