Die Einsamkeit der Lüge - Gillian White - E-Book
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Die Einsamkeit der Lüge E-Book

Gillian White

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Beschreibung

Vor der Wahrheit kannst du nicht fliehen! Der psychologische Spannungsroman »Die Einsamkeit der Lüge« von Erfolgsautorin Gillian White als eBook bei dotbooks. Wenn du niemandem mehr trauen kannst – am wenigsten dir selbst … Als Elly Freeman eine sagenhafte Summe im Lotto gewinnt, erzählt sie niemandem davon – auch nicht ihrem Ehemann Malcom. Sie ist besessen davon, sie beide um jeden Preis glücklich zu machen. Ohne dass er es weiß, beschafft Elly ihm einen neuen Job, der Malcolm rasch aufsteigen lässt. Aber je höher er gelangt, desto fremder wird er Elly. Sie beginnt, Malcolm nachzuspionieren … und verstrickt sich immer tiefer in einem gefährlichen Netz aus Intrigen und Eifersucht. Aber ist es wirklich Malcom, der sie betrügt – oder ergreift der Wahnsinn erbarmungslos Besitz von ihr? Eine Hauptfigur, der man nicht trauen kann, ein gefährliches Spiel mit der Wahrheit, und ein Ende, das seine Leser sprachlos zurücklässt: Gillian White beweist einmal mehr, dass sie die britische »Queen of Suspense« ist. »Gillian White schreibt wundervolle Geschichten über die ganz alltägliche Niedertracht.« Fay Weldon Jetzt als eBook kaufen und genießen: Das fesselnde Spannungs-Highlight »Die Einsamkeit der Lüge« von Erfolgsautorin Gillian White – Fans von Paula Hawkins und Gillian McAllister werden begeistert sein. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 466

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Über dieses Buch:

Wenn du niemandem mehr trauen kannst – am wenigsten dir selbst … Als Elly Freeman eine sagenhafte Summe im Lotto gewinnt, erzählt sie niemandem davon – auch nicht ihrem Ehemann Malcom. Sie ist besessen davon, sie beide um jeden Preis glücklich zu machen. Ohne dass er es weiß, beschafft Elly ihm einen neuen Job, der Malcolm rasch aufsteigen lässt. Aber je höher er gelangt, desto fremder wird er Elly. Sie beginnt, Malcolm nachzuspionieren … und verstrickt sich immer tiefer in einem gefährlichen Netz aus Intrigen und Eifersucht. Aber ist es wirklich Malcom, der sie betrügt – oder ergreift der Wahnsinn erbarmungslos Besitz von ihr?

Eine Romanheldin, der man nicht trauen kann, ein gefährliches Spiel mit der Wahrheit, und ein Ende, das seine Leser sprachlos zurücklässt: Gillian White beweist einmal mehr, dass sie die britische »Queen of Suspense« ist.

»Gillian White schreibt wundervolle Geschichten über die ganz alltägliche Niedertracht.« Fay Weldon

Über die Autorin:

Gillian White stammt aus Liverpool und arbeitete mehrere Jahre als Journalistin, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Mit ihrem Mann und zwei Hunden lebt sie in Totnes, Devon. Vier ihrer Romane wurden vom britischen Fernsehen erfolgreich verfilmt.

Bei dotbooks veröffentlichte sie ihre Romane »Das Ginsterhaus«, »Denn du bist mein«, »Hexenwiege«, »Ein unheimlicher Gast«, »Das Familiengrab«, »Das Hotel bei den Klippen«, »Der Peststein«, »Der Fluch der alten Dame«, »Du kannst uns nicht entkommen« und »Der Nachmieter«.

***

eBook-Neuausgabe August 2019

Dieses Buch erschien bereits 1996 unter dem Titel »Ellys Geheimnis« bei Lübbe.

Copyright © der englischen Originalausgabe 1992 by Gillian White

Die englische Originalausgabe erschien 1993 unter dem Titel »Rich Deceiver« bei Orion Publishing

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1996 by Bastei Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch Gladbach

Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Hunter Bliss

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96148-424-9

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Gillian White

Die Einsamkeit der Lüge

Roman

Aus dem Englischen von Eva Malsch

dotbooks.

Für Juliet in Liebe, und mit vielen Dank für alles mögliche, vor allem für die magischen vier Wörter »lieber offen als abweisend.«

Kapitel 1

Wieder einmal dämmert der Morgen über der Nelson Street, weht über die sanft gerundeten grünen Kuppeln der gläsernen Arcade hinweg und verwandelt sie in eine gespenstische Moschee, bevor er herabsinkt und sich auf den Kaminen der Luftschächte aufspießt. Dann gleitet er zur Tür Nummer neun hinüber, ruht sich auf der Schwelle aus und benetzt eine Kante des Mirror mit bernsteingelber Zunge.

Eine alte Gewohnheit führt Elly Freeman von Zimmer zu Zimmer, wo sie alle Vorhänge auseinanderzieht. Ihr Haar ist zerzaust, die Farbe ihres Morgenmantels erinnert an Cornflakes. In ihrem bescheidenen, ordentlichen Heim hat sich über Nacht nichts verändert. Alle Bilder hängen gerade an der Wand, die Möbel stehen an den richtigen Stellen, obwohl sie geschlafen und die Einrichtung sieben Stunden lang vernachlässigt hat. Sie legt die Zeitung vom Vortag mit dem halb gelösten Kreuzworträtsel neben den Abfalleimer und zuckt ein wenig zusammen, als sie das klebrige Zeug neben dem Linoleumboden sieht. Das spielt keine Rolle, sagt sie sich. Später wird sie sich drum kümmern. Heute ist ihr freier Tag, und sie wird das Haus saubermachen, weil sie es immer am Mittwoch saubermacht.

Als sie das Waschbecken im Oberstock gurgeln hört, denkt sie an einen Strohhalm, der träge die Reste aus einem Limonadenkarton saugt. Okay, also ist er schon aufgestanden. Dreimal geht sie am Briefkasten vorbei, wirft nicht einmal einen kurzen Blick auf die Zeitung, denn sonst würde sie in Versuchung geraten, auch nicht auf die Kuverts, die daneben herausragen, eng zusammengepfercht. Die Ränder biegen sich nach oben und berühren den Saum von Malcs Regenmantel. Alle Umschläge haben dieselbe Farbe, bis auf die Briefmarken, die kreuz und quer draufkleben und alt aussehen, wie das Mantelfutter. Die Zeitung rührt sie absichtlich nicht an – eine Belohnung für später. Dann will sie anfangen, das Kreuzworträtsel zu lösen, und Malc wird es abends vollenden.

»Irgendwas Interessantes?« Hinter Malc rauscht die Toilettenspülung, und sie hört ein Handtuch auf den Treppenabsatz fallen. Mittwoch – Waschtag – sogar Malc weiß das.

Also holt sie die Post und die Zeitung. Beiläufig gleitet ihr Blick über die Kuverts, während sie in die Küche geht und nach dem Wasserkessel greift. Dann schlitzt sie automatisch den einzigen Umschlag auf, der an sie adressiert ist, liest desinteressiert den Brief.

Und plötzlich weiß sie, wie sich Sterbende fühlen, die hoch in einer Zimmerecke schweben und sich selber beobachten, denn genau das geschieht jetzt mit ihr. Sie beobachtet sich selber von hinten.

Das ist sie –Elly Freeman. Sie weiß es, denn aus diesem Blickwinkel hat sie sich erst vor einer Woche im Fernsehen betrachtet. Erstaunt über ihre eigene Kehrseite, forderte sie diesen Dixons-Man auf, der sie gelangweilt anblinzelte: »Denken Sie doch an alle die Leute, die durchs Leben gehen und nur die Hälfte über sich selber wissen.«

»Nun, mit seiner Rückseite kann man nicht viel anfangen«, erwiderte er, sichtlich angeödet. »Wie die Leute von hinten aussehen, ist doch egal.«

Da ist Elly anderer Meinung. Sie achtet sehr genau darauf, wie die Menschen von hinten wirken, denn meistens fehlt ihr der Mut, ihnen ins Gesicht zu starren. Nein, Kehrseiten sind wichtig – und werden trotzdem ignoriert.

Und nun beobachtet sie ihren eigenen Kopf, der vom Brief aufblickt, steif wie ein Korken in einem Flaschenhals, dann sinkt er wieder hinab, um sich zu vergewissern. Sie kann sogar durchs Küchenfenster in den Hinterhof schauen, zur Mauer am anderen Ende, zur struppigen alten Sonnenblume neben der Mülltonne. Und sie schaut zu, als sich ihr Hals streckt und die Schultern vornüber hängen – die Anspannung vor der Explosion –, wie sie ihr Gewicht von einem Bein aufs andere verlagert, wie der verdrehte Gürtel des Morgenmantels an einer Seite herabhängt, weil er dort nicht in der Schlaufe steckt.

Von hinten, in ihrem blauen Kleid, hat sie in der Dixons-Sendung wie eine Putzmittelflasche ausgesehen, und darüber ist sie erschrocken.

Abrupt schlüpft sie in ihren Körper zurück, und ihr Gehirn schreit: Wieviel? Wieviel? Und da steht sie, schüttelt das Papier, weil es sich weigert, ihr das mitzuteilen – oder sie kann's nicht glauben!

Vor ihr erstreckt sich die breite Straße zum Reichtum. Eine Million, fünfhundertfünfundzwanzigtausend Pfund. In dem Brief steht noch eine ganze Menge, aber sie findet keine Zeit, alles zu lesen – über irgend jemanden, der diesen Morgen vorbeikommen wird, Ratschläge für Investments, aufrichtige Glückwünsche ... Wie eine Geburtstagskarte oder die Gratulation an jemanden, der eine gefährliche Operation überstanden hat, und Elly weiß, daß unweigerlich Blumen folgen werden. Dann wird sie noch gefragt, ob sie sich vielleicht anders besinnen und ein bißchen Publicity akzeptieren würde, und man habe sie anrufen wollen, aber sie sei unerreichbar gewesen.

Das ist sehr höflich von den Leuten, denn sie besitzt kein Telefon. Der Brief wirkt furchtbar aufgeregt, so als wären sie drauf und dran, irgendwas Verrücktes zu tun. Deshalb muß Elly sie anrufen und daran hindern, hierherzukommen. Die sollen sie in Ruhe lassen.

Aber sie hat kein Telefon und auch kein Auto.

In einem exakten Oval wandert sie durch die Küche, folgt dem Rand der alten Binsenmatte. Nicht einmal ein Bankkonto hat sie. »Für das bißchen Geld lohnt sich's nicht«, behauptete Malc, »diese Bastarde wollen dich nur in Schwierigkeiten bringen und an dir verdienen.« Am letzten Silvesterabend hatte Malcolm das Lottospielen aufgegeben, nach zwanzig Jahren. »Verdammte Zeitverschwendung! Angeblich wird man eher vom Blitz erschlagen, als ein einziges Mal zu gewinnen.«

Aber Malc lügt das Blaue vom Himmel runter. Das weiß Elly, wegen der einen Lüge, die er ihr ständig auftischt – nämlich, ihr Leben sei beendet. Das erzählt er ihr so kategorisch, als gäbe es keinerlei Gegenargumente. »Wir hatten alle Chancen, die wir nur kriegen konnten, und waren zu dumm, um was draus zu machen.«

Offensichtlich gibt er ihr die Schuld dran. Aber Elly freut sich auf jeden Tag, so wie immer, und hofft, irgendwas Nettes würde passieren. Und der Verdacht, es würde sich trotzdem nichts ändern . Nun, sie ist nicht dumm. Doch sie kann einfach nicht weiterleben, ohne irgendwelche angenehmen Erwartungen. Deshalb spielte sie weiterhin Lotto, heimlich, in ihrem eigenen Namen, während Malc die Fußball-Übertragungen sah, in seinem Sessel zusammengesunken, wütend und frustriert. Automatisch überprüfte sie die Ziehung. Seit er das Lotto aufgegeben hatte, fürchtete Elly, eines Tages könnten seine Zahlen auftauchen. Das würde ihn erledigen. Deshalb hatte sie die Zahlen geändert. Niemals träumte sie von einem Gewinn.

Wirklich komisch, denn normalerweise ist sie keine Heimlichtuerin. Sie hat ja auch nichts zu verbergen. Gedanken zählen nicht.

Sie stopft den Brief mit dem Scheck in die Tasche ihres Morgenmantels, unter eine Packung Papiertaschentücher, als wäre er ein schmutziges kleines Päckchen, ein ruchloses persönliches Geheimnis, das weggebracht und verbrannt werden muß.

O Gott, was habe ich getan, und was tue ich jetzt?

Warum springt sie nicht die Treppe hinauf, schreit aus Leibeskräften und erzählt Malc die Neuigkeit, um ihm zu beweisen, das Leben wäre noch längst nicht vorbei und würde erst beginnen?

Das tut sie nicht, denn sie könnte es nicht ertragen, seine Antwort zu hören. »Verdammte Närrin, das ist nur ein Werbetrick. Lies doch das Kleingedruckte, dumme Gans! Jedesmal fällst du wieder auf so was rein, du und all die anderen blöden Kühe.« Genau das würde er sagen. Das weiß sie. Und sie würde dastehen und beobachten, wie er zwischen Hoffnung und Angst schwankt, ein Kind, das die schlimmsten Gefahren befürchtet und um Widerspruch bettelt.

Oh, sie versteht, warum er so zornig und so verletzt ist, warum er sich in einen mißgelaunten verschreckten Mann verwandelt hat, wieso er sich nur noch um seine eigene Person kümmert. Das Leben – immer wieder redet er es ihr ein – sei nicht fair gewesen. Oft genug protestierte sie, ihm zuliebe, und jetzt hat sie's satt. Er ist kein Kind mehr.

Dann ist der Augenblick vorbei, wo sich die Gelegenheit zur Aktion geboten hätte. Ihr Entschluß steht fest – sie wird es verheimlichen. Bald steigert sich die Hinterlist zu einem gewaltigen Betrug. Sie deckt den Frühstückstisch und versucht nicht zu zittern.

»Eine Million, fünfhundertfünfundzwanzigtausend Pfund.« Es nützt auch nichts, die Summe vor sich hin zu flüstern. Denn das klingt genauso irreal, wie es schwarz auf weiß aussieht. Vielleicht ist Malcs Zynismus gerechtfertigt – es könnte tatsächlich ein Trick sein. Tapfer widersteht sie der Versuchung, sich irgendwo mit dem Brief einzusperren. Sie muß warten.

Seine Füße, nur mit Socken bekleidet, tappen die Treppe herab, und als Elly dieses Geräusch hört, schnappt sie zu ihrer eigenen Verblüffung nach Luft. Das hat nichts mit dem Brief zu tun. Wenn Malcolm morgens herunterkommt, ringt sie immer nach Atem, bevor sie weiß, in welcher Stimmung er sich befinden wird. Sie läßt zwei Eier in kochendes Wasser gleiten, ihr Magen krampft sich zusammen, sie hält immer noch den Atem an. Während die beiden Eier in den Topf hinabsinken, hinterlassen sie beklemmende weiße Blasen.

Elly Freeman dreht den Kopf seitwärts, um ihren Mann zu mustern. Es ist lange her, seit sie ihn wirklich gesehen und registriert hat, wie er aussieht, und nicht, welche Gefühle er erweckt.

Auf einen Fremden würde Malcolm wie ein verkaterter Säufer wirken. Das liegt nur an den morgendlichen Tränensäcken, die ihm den mürrischen, herausfordernden Blick eines Gewohnheitstrinkers verleihen. Lose hängt die Krawatte um seinen Hemdkragen herum, was sein äußeres Erscheinungsbild nicht gerade verbessert.

Er ist ein vierzigjähriger Lagerverwalter, übergewichtig, und er bemüht sich, der Realität tapfer ins Auge zu blicken, aber hinter der Fassade verbirgt sich überhaupt nichts außer schlaffer Trägheit. Sein Lächeln strahlt nicht mehr. Manchmal ist es immer noch da, aber sehr scheu und zögerlich, und sein Haar klebt dicht gekraust am Kopf, wie eh und je. Ein Teil seiner Attraktivität ist immer noch vorhanden und peppt ihn auf, wenn man genau hinschaut. Sekundenlang flammt die alte Liebe in Elly auf, zu dem Mann, der er einmal gewesen ist, zu den Morgenstunden vor vielen Jahren, die sie fast vergessen hat.

»Falls du die Eier erst jetzt kochst, kann ich sie nicht essen, weil ich keine Zeit habe.«

Der Toast ist fast fertig geröstet. Sie nimmt den Orangensaft aus dem Kühlschrank und stellt ihn vor ihn hin. Während er die Zeitung ausbreitet und die Schlagzeilen überfliegt, tastet er nach der Teekanne und füllt seine Tasse. Sie beobachtet seine Hand. Nur eine Tasse gießt er voll, während ihre leere direkt neben seiner steht. »Kommst du spät nach Hause, Malc?«

Da er nicht antwortet, muß sie die Frage wiederholen, dann grunzt er und erwidert ungeduldig: »Heute ist doch Mittwoch.« Also weiß sie, daß er nicht spät heimkommen wird. An einem Mittwoch ist er um fünf oder halb fünf wieder da. Er kann von Glück reden, weil er überhaupt noch einen Job hat, trotz der steigenden Arbeitslosigkeit. Obwohl seine Stellung – vor zwanzig Jahren angetreten – stets bedroht wird. O ja, sie weiß, warum er verbittert und verängstigt ist. Viele Männer in der Nachbarschaft sind neuerdings so geworden.

Er raschelt mit der Zeitung und bemerkt: »Dafür habe ich keine Zeit«, was sich auf die Eier bezieht, die im Kochwasser rattern. Dann erkundigt er sich: »War irgendwas los?«

Wie wird ihre Lüge klingen? »Keine besondere Post.«

Wieder raschelt die Zeitung. »Wahrscheinlich Rechnungen.« So als hätte sie ihm welche geschickt.

Wie gern würde sie ihre Hand auf seinen Arm legen und fragen: ›Malc, wann hast du angefangen, mich zu hassen?‹

Elly befördert die Eier in einen doppelten Eierbecher aus weißem Porzellan, ein Ding, das sie irgendwie an eine Schnabeltasse erinnert. Dann nimmt sie ihrem Mann gegenüber Platz. Sie glaubt, der Brief würde in der Tasche ihres Morgenmantels knistern, und fürchtet zu erröten. Auf die Eier weist sie ihren Mann lieber nicht hin, denn wenn sie davon spricht, wird er sie auf keinen Fall essen. Aber falls er sie zufällig selber entdeckt, vielleicht doch.

Eier, die nach Schwefel riechen, und eine Million Pfund zum Frühstück. O Malc, wann sind wir gestorben? Gab es einen besonderen Moment, wo wir die Augen schlossen? Und wer starb zuerst, du oder ich?

Was interessierte es sie, ob er die Eier ißt oder nicht? Aber es ist ihr wichtig, sogar sehr. Und so spielen sie miteinander, zwei verbissene Gegner. Aber bis zu diesem Morgen hat sie nicht gemerkt, wie lange das Spiel schon dauert.

Er verläßt das Haus immer vor ihr, denn an ihren Arbeitstagen muß sie vor neun Uhr in der Arcade sein, um den Laden zu öffnen. Vor Malc liegt ein weiter Weg, eine zwanzigminütige Busfahrt, und sein Dienst beginnt um acht. Wenn sie ihm von ihrem Lottogewinn erzählt, wird er nicht zur Arbeit gehen. Zum erstenmal seit zwanzig Jahren, abgesehen von seltenen Krankheiten.

Und was würden sie statt dessen tun? Wie würden sie die große Neuigkeit miteinander teilen? Das versucht sie sich auszumalen, während sie durch das Fenster starrt und ihn in seinem Regenmantel die Straße entlangtrotten sieht.

Schweren Herzens schaut sie ihm nach – sogar jetzt könnte sie ihn noch zurückrufen, seinem schlurfenden Gang neuen Schwung verleihen, seinen Rücken straffen, hellen Glanz in seine Augen zaubern. Ihre Hand umklammert das Fensterbrett, die Fingerknöchel treten weiß hervor. Sie würden in einen Pub gehen und die große Neuigkeit verkünden – Drinks für alle Jungs.

Und was dann? Würden sie sich das Mercedes-Kabrio im Autosalon ansehen? O ja, auch Malc hat seine Träume. Würde er immer lauter reden? Natürlich, er würde es in alle Welt hinausposaunen. Für ihn wäre das ein wesentlicher Teil seines Gewinns. Ein Wochenende in London, eine grandiose Feier in einem schicken Hotel, ein Abend im Theater, schöne Models, die in paillettenbesetzten Kleidern posieren.

Für ihn gehört das alles zum Lebensgenuß. Solche Dinge entnimmt er den Zeitungen und dem Fernsehen. Und wie kommt sie dazu, ihm solche Dinge vorzuenthalten? Ist sie ihm dieses Glück nicht schuldig?

Sogar in London könnten sie leben, wenn sie wollten, oder in den Süden übersiedeln.

Elly zieht den Scheck aus der Tasche und legt ihn auf den Küchentisch. Ja, er ist wirklich da, so real wie die Frühstücksreste ihres Mannes. Malc hat seine Eier gegessen, nur die zerbrochenen Schalen, der Geruch und die Toastkrümel sind übriggeblieben.

Nun spielt sie das alte Spiel und legt die Eierschalen zusammen, so daß sie nicht mehr zerbrochen aussehen, und zertrümmert sie mit einem Teelöffel. Die Freude über den Gewinn droht ihre Brust zu bersten. Und es drängt sie, irgend jemandem davon zu erzählen, sogar aufs Dach hinaufzusteigen, den Schornstein zu umarmen und die Neuigkeit in die Welt hinauszuschreien, Malcs Fußballrassel zu schwingen.

»Arme Leute gewinnen nicht im Lotto«, hat Malc einmal behauptet.

Nun, trotz ihrer Armut hat sie gewonnen. Das ist nur eine seiner vielen Lügen. Genauso hat sie sich nach Mandys Geburt gefühlt ... Sie schob den neuen Kinderwagen die Straße hinauf und erwartete, alle Leute würden hineinschauen. Das taten sie tatsächlich, und sie zog voller Stolz die Decke mit dem Häschenmuster beiseite, um ihnen das Baby zu zeigen. So war das in dieser Gegend. Damals blieben die Frauen daheim, machten das Haus sauber und kümmerten sich um die Kinder. Aber jetzt arbeiten sie alle. Um halb zehn sind fast alle Häuser in der Straße menschenleer.

Seit heute morgen hat Elly ein Geheimnis, und wenn sie Malc nichts davon erzählt, darf sie's auch niemand anderem verraten. Sollte er herausfinden, daß sie's ihm verschwiegen hat, würde er ihr niemals verzeihen, ihren Entschluß nicht verstehen. Wie gekränkt und verwirrt er wäre ... Deshalb darf sie's auch Mandy und Kev nicht sagen, oder?

Kann sie ein solches Geheimnis überhaupt für sich behalten? Das weiß sie nicht. Es ist das erste richtige Geheimnis ihres Lebens. Warum hat sie das bei ihrem Entschluß, auf eigene Faust Lotto zu spielen, nicht bedacht? Der Gedanke, sie könnte so reagieren, ist ihr gar nicht gekommen. Wenn sie sich überhaupt etwas vorgestellt hat, dann nur Champagner, eine fröhliche Party und bunte Papierhüte. Und das Auto, o ja, das Auto. Außerdem wollte sie sich Broschüren von Reisebüros schicken lassen, so wie die Hefte, die sie damals besorgt hat, damit Mandy und Kev die Bilder ausschneiden konnten. Aber diesmal würde sie tatsächlich eine Reise planen!

Ihre bisher weiteste Fahrt mit Malc hat zum Campingplatz am Meer geführt, bei Harlech.

»Eine Million ...«

Mit ihrem Geld könnte sie vielleicht auch Männer reizen, jenen gewissen Typ, der einen besonderen Lebensstil zu schätzen weiß und silberne Zigarettenetuis benutzt und schicke Sportschuhe trägt. Elly Freeman steht auf, streicht das Haar aus ihrem Gesicht, verknotet den Gürtel des Morgenmantels etwas enger, braucht den wärmenden Schutz des Frotteestoffs. Nächsten März wird sie vierzig, eine vierzigjährige Millionärin, die jetzt pinkeln muß, die in einem Souvenirladen in der Arcade arbeitet und deren Mann seinen Stolz verloren hat.

Verwundert schüttelt sie den Kopf. Die Wahrheit ist so simpel, daß sie ihr wie ein Schmerz erscheint, und es ist ein süßer Schmerz, obwohl er in ihrer Brust brennt. Wenn Malc so deprimiert ist, möchte sie nicht reich und frei sein. Sie will nicht herumsitzen und an irgendeinem seelenlosen Strand in Mallorca Cola mit Rum trinken, mit orangerot bemalten Zehennägeln und dem faltigen, fleckig gebräunten Körper einer Frau in mittleren Jahren. Und sie mag Malcs Plastikpalmen nicht, seine Verdauungsstörungen, seine Lethargie, seinen grunzenden Sex, seinen versteckten blinden Zorn, seine Freunde mit den lauten Stimmen.

Immer wieder freundet er sich mit einem versoffenen alten Barkeeper an, einem Versager wie er selbst, und sie tauschen Versagerwitze aus und amüsieren sich. Eigentlich wollte er nicht so werden, es entwickelte sich auf ganz natürliche Weise. Alle seine Freunde benahmen sich so, und deshalb dachte er, auch er müßte so sein. Aber Elly verabscheute diese tragische, selbstzerstörerische Komik eines alten Mannes, und ohne ihn möchte sie ihren Reichtum nicht genießen.

Nun ja, sie liebte ihn, natürlich. Sie kennt ihn besser als sonst jemanden auf der Welt, und sie kann sich nicht damit belasten, jemand anderen kennenzulernen. Manchmal hat sie sich umgesehen, und nach ihrer Ansicht gibt es niemanden, der ihm das Wasser reichen könnte – so drückt man das doch aus, nicht wahr?

Sie stellt das Geschirr ins Spülbecken und wischt den Küchentisch ab. Nun muß sie sich beeilen, um an diesem Nachmittag alles zu schaffen, was sie sich vorgenommen hat. Während sie die Treppe hinaufsteigt, hält sie den Scheck zwischen Daumen und Zeigefinger fest und spielt damit. Im Badezimmer sind die Fenster beschlagen. Elly läßt den Scheck über dem Wasser hängen, das in die Klomuschel rauscht, freut sich an den vielen Möglichkeiten – sie könnte dieses Papier einfach wegwerfen oder der Wohlfahrt spenden, aber sie weiß, daß sie's nicht tun wird. Dafür umklammert sie ihren Gewinn viel zu fest.

Draußen fahren Autos vorbei. Der Milchwagen poltert. Das Morgenlicht verkündet, bald würde der Sommer zu Ende gehen, und versilbert Ellys Lieblingssachen. Sie sitzt vor ihrem nierenförmigen Toilettentisch mit dem Doppelspiegel, der ihr gestattet, gleichzeitig beide Hälften ihres Kopfes zu sehen. Aber nicht den Hinterkopf. Niemals von hinten, und was nützt eine Hälfte ohne die andere? Was nützt eine Vorderseite ohne die Rückseite? Ein gräßlicher Anblick, kein Make-up, irgendwie im Rohzustand.

Wie eine Verrückte lacht sie sich an. An diesem Morgen will sie sich nicht von ihren Augen verschlingen lassen. Ist sie unscheinbar? Gewöhnlich? Ordinär? Früher sagten die Leute, mit ihrem runden Gesicht und dem glatten Haar würde sie der amerikanischen Sängerin Connie Francis gleichen – aber wer würde das jetzt noch behaupten? Ihre Haut ist glatt, die braunen Augen leuchten, kaum eine graue Strähne durchzieht das dichte, glänzende Haar. Das ist den Leuten schon aufgefallen. »Du hast noch gar keine grauen Haare, nicht wahr, Elly?«

Und Malc, selbst noch nicht ergraut, erwidert: »Sie hat ja auch keine Sorgen.«

Ihre Hände zittern immer noch, ihr Atem stockt und beschleunigt sich, und in ihrer Kehle spürt sie einen Hunger, der ihr fast wie eine Krankheit erscheint. Etwas ist geschehen, so wie sie es immer gewußt und immer geglaubt hat! Werden sich jetzt alle ihre Wünsche erfüllen? Ist es möglich, die Zeit zurückzudrehen und zu verändern?

Sie fühlt sich wieder jung und stark, voller Hoffnung. Rasch besprüht sie sich mit Parfüm, um ihren eigenen Geruch zu verscheuchen, und bemalt die Lippen. Nach jedem Strich mit dem Rougepinsel betrachtet sie den Scheck. Sie legt ihn auf das ungemachte Bett, dann nimmt sie das marineblaue Kostüm aus dem Schrank und wischt alte Kopfschuppen weg. Nein, sie hat keine grauen Haare, und keine Krampfadern, aber sie wird dick, die Haut beginnt zu erschlaffen. Sie packt neue Strumpfhosen aus, zieht sie an – welch eine Extravaganz!

Fertig angezogen tritt sie vor den großen Schrankspiegel und starrt sich an. Diesen Schrank teilt sie mit Malc, und seine beiden Anzüge und derben braunen Schuhe verströmen seinen etwas holzartigen Körpergeruch. Er atmet den Spiegel mit seinem Aroma an und läßt Elly verblassen.

Nun, sie sieht ganz normal aus, natürlich. Danach hat sie ein Leben lang gestrebt, oder? Lächelnd tritt sie zurück und ergreift den Scheck. Bevor sie das Kopftuch umbindet und in ihren durchsichtigen Plastikregenmantel schlüpft, sucht sie in ihrer Handtasche nach Kleingeld. Das wird sie für ein langes Telefongespräch brauchen. Und Geld für eine Busfahrkarte zur Bank – wenn möglich, genau abgezählt, damit der Busfahrer nicht stöhnt. Das will sie nicht. Elly Freeman ist eine Frau, die so etwas nicht erträgt.

Kapitel 2

Vor der Bank bleibt sie zögernd stehen, verärgerte Leute drängeln sich an ihr vorbei. Noch nie im Leben hat sie eine Bank betreten und ihre Ersparnisse, ebenso wie Malc, immer bei der Post eingezahlt.

Von der Tür aus sieht die Bank wie die Eingangshalle eines öffentlichen Schwimmbads aus – lauter Gummipflanzen und Plüsch, weiche braune Ledersessel von der Sorte, in die man einfach hineinfällt und kurzfristig die Kontrolle verliert. Formulare häufen sich auf niedrigen quadratischen Tischen. Hätte sie sich einen Termin geben lassen sollen? Vielleicht hat niemand Zeit für sie. Irgend jemand hat die Glasscheibe der Tür poliert, denn alles riecht nach Windolene.

Schließlich überquert sie den glatten beigen Teppichboden und tritt vor den nächstbesten Schalter. Sie wartet, den Kopf gesenkt. Auf dem Weg zur Bank hat sie in der Lottozentrale angerufen. Eine Frau meldete sich mit strenger Stimme, aber hilfsbereit, und verband sie sofort mit jemandem, der Bescheid wußte – Caroline Plunket-Kirby. »Ist es wahr?« fragte Elly ohne Umschweife, hochrot im Gesicht, weil sie so angestrengt den Atem anhielt. Inständig wünschte sie sich, die Frau würde ja sagen.

»Es freut mich sehr, Ihnen mitzuteilen, daß es tatsächlich stimmt, Mrs. Freeman. Zwei Tage lang versuchte ich vergeblich, Sie anzurufen und Ihnen die gute Neuigkeit zu erzählen, aber leider konnte ich Ihre Telefonnummer nicht aufspüren. Natürlich wurden bereits Arrangements getroffen, damit sie uns so bald wie möglich mit Ihrem Mann aufsuchen und die Einzelheiten besprechen können ...«

»Er soll's nicht erfahren.«

Nach einer kurzen Pause erwiderte Miss Plunket-Kirby: »Nun, das ist Ihre Entscheidung.«

»Ja, ich weiß, aber ich habe sie bereits getroffen.«

»Vielleicht sollten Sie erst einmal mit jemandem reden, der gewisse Erfahrungen besitzt ...«

»Dafür ist es jetzt zu spät. Mein Entschluß steht fest.«

»Aber da könnten einige Schwierigkeiten auftauchen ...«

»Das weiß ich, aber die muß ich eben meistern.«

»Wie lange sind Sie verheiratet, Mrs. Freeman?«

»Zwanzig Jahre!« schrie Elly in die Sprechmuschel, um den dröhnenden Straßenlärm zu übertönen und die glattzüngige Miss Plunket-Kirby zu erreichen. Mühsam hielt sie ihre Handtasche fest, damit sie nicht von der schmalen metallischen Ablage fiel.

»Wenn man zwanzig Jahre mit jemandem geteilt hat, ist es sicher ein schwerwiegender Schritt, ihn plötzlich auszuschließen. Und ich finde, wir sollten das in Ruhe erörtern – nicht am Telefon, zwei Fremde in aller Eile. Würden Sie mir Ihre Nummer geben, Mrs. Freeman, damit ich Sie zurückrufen kann, falls das Gespräch unterbrochen wird?«

Herausfordernd nannte Elly die Nummer des Ladens, in dem sie arbeitete, und preßte sich an die Tür der Telefonzelle, um der dunklen Wasserpfütze am Betonboden auszuweichen. »Und ich will keine Publicity, keine Blumen, keine Interviews. Nichts dergleichen!« Das klang nach einem Begräbnis, aber zu ihrer Erleichterung sprach sie mit jemandem, der Bescheid wußte.

»Sicher, das wäre unter diesen Umständen unklug. Und wann möchten Sie Ihren Mann verlassen, Mrs. Freeman, oder haben Sie das schon getan? Wir können Ihnen in allen Lebensbereichen helfen, nicht nur, was die finanziellen Aspekte betrifft. Und wir helfen Ihnen sogar gern, und wir möchten einbezogen werden. Wir sind nicht nur irgendwelche Maschinen, die Geld unter die Leute bringen, verstehen Sie?«

Um Himmels willen, warum diese Vertraulichkeit? Noch nie hatte Elly so offenherzig mit einem fremden Menschen gesprochen. »Wer sagt denn, daß ich ihn verlassen will?« fragte sie schockiert. Nie war ihr der Gedanke in den Sinn gekommen. »Seit zwanzig Jahren bin ich mit Malcolm verheiratet, und ich würde mich nicht einmal im Traum von ihm trennen.«

»Also wollen Sie ihm nur das Geld verheimlichen?«

»Das kann ich doch, oder.« Sie dachte, mit dem Geld im Rücken würde sie sich anders fühlen, aber so war es nicht.

»Nun, es ist Ihr Geld, meine Liebe. Und damit dürfen Sie natürlich machen, was Sie wollen, aber Sie brauchen fachmännischen Rat.«

Meine Liebe?

»Gerade bin ich auf dem Weg zur Bank. Ich habe den Scheck bei mir, in der Handtasche. Es ist doch nicht zu früh?« Sie strich über ihre Tasche und ärgerte sich, weil sie in die Rolle eines rebellischen Kindes gedrängt wurde.

»Vielleicht sollte ich vorher die Bank anrufen und die Situation mit dem Manager besprechen. Gewissermaßen würde ich Ihnen den Weg ebnen.«

Elly entschloß sich zu einer ehrlichen Antwort. »Ich weiß noch nicht, für welche Bank ich mich entscheiden werde. Auf keinen Fall die in der Arcade, in der Nähe meines Hauses. Man soll nicht beobachten, wie ich an einem Mittwoch hineingehe, aufgeputzt wie ein Christbaum.«

Wieder entstand eine kurze Pause. Glaubte die Frau womöglich, Elly würde ihren ganzen Gewinn abheben, davonlaufen und das Geld zum Fenster hinauswerfen? Und wenn sie das tat? Das war einzig und allein ihre Sache, oder? Und dann entgegnete Miss Plunket-Kirby aalglatt: »Natürlich, aber darf ich Ihnen vorschlagen, dem Manager meine Nummer zu geben? Das wird die Dinge wesentlich vereinfachen.«

Oh, du kannst mir vorschlagen, was du willst, meine Liebe. Elly fürchtete, sie würden sich alle verbünden und versuchen, ihre Entscheidung zu beeinflussen. Diese Geldleute – nur zu gut wußte sie, was Malc von ihnen hielt. Allmählich glaubte sie, er könnte recht haben.

Sie stellte sich vor, wie Caroline aussehen mußte, welches Auto sie fuhr, und in was für einem Haus sie vermutlich wohnte, sogar die Fernsehprogramme, die sie bevorzugte. Irgendwie fühlte sich Elly unterdrückt. Ist das meine eigene Schuld, überlegte sie, während sie sich zu behaupten suchte und auf ihren hohen Absätzen gefährlich schwankte, voller Angst, in einem so frühen Stadium ihrer neugewonnenen Unabhängigkeit manipuliert zu werden. Der Rock saß zu eng, deshalb ragte ihr Hintern hervor. Malc bemängelte das immer wieder, und sie wußte es selbst.

Mit den Frauen in ihrer Umgebung konnte sie mithalten, das hatte ihr niemals Schwierigkeiten bereitet, aber im Gespräch mit Caroline Plunket-Kirby fühlte sie sich albern und klein. Gegen solche Power-Frauen hatte sie sich niemals wehren können, schon in der Schule nicht, wo sie ihren Lehrerinnen hoffnungslos ausgeliefert gewesen war. Begriffsstutzige dumme alte Elly, voller Unbehagen, zu nichts nutze, abgesehen vom Kochen. Wann immer sich in der Nelson Street School eine dieser geistesgegenwärtigen Frauen zu ihr wandte, bohrte Elly in der Nase, oder sie mogelte gerade.

Aber das war vor vielen Jahren geschehen. Und jetzt besaß sie eine Menge Geld, oder? Sie gehörte zu den reichen Leuten! Zum Teufel mit Caroline Plunket-Kirby und allen anderen, die so hochgestochenes Zeug faselten. Verdammte Snobs.

Am liebsten wäre sie hinter den Fahrradschuppen gelaufen, um zwei Finger in die Luft zu strecken und sich ganz inständig zu wünschen, sie wäre nicht so dumm, sondern die allerbeste Schülerin und beliebt. Aber sie ging nicht mehr zur Schule und war fast vierzig Jahre alt.

»Gut, ich gebe dem Manager Ihre Telefonnummer, falls ich überhaupt mit einem rede, aber mein Entschluß ist unabänderlich«, erklärte Elly und zupfte an ihrem Kopftuch. »Ich werde mich nicht anders besinnen.« Plötzlich erkannte sie, warum sie sich so klein und unbedeutend fühlte – weil für Caroline Plunket-Kirby eine Million Pfund wahrscheinlich gar nichts Besonderes war. Sicher hatte ihr Haus viel mehr gekostet – und Ellys freudige Erregung und ihr rebellisches Getue würden bestenfalls das Mitleid einer solchen Frau erregen. Der Direktor im Personalbüro der Lottozentrale hielt Caroline sogar für qualifiziert genug, in Ellys Privatleben herumzustochern und ihr gutgemeinte Ratschläge zu erteilen!

Und jetzt hat sie sich also in die Barclays Bank gewagt, die Zweigstelle an der Avery Road. Während sie am Schalter steht, eine Million Pfund in der Hand, und erfolglos Aufmerksamkeit zu erregen sucht, schwindet ihr Machtgefühl dahin. Sie ist immer noch eine kleine Schachfigur in einem überlebensgroßen Spiel.

Nervös nimmt sie ihre Handtasche von einer Hand in die andere, neigt sich ein wenig vor, um ihren Fußknöchel zu entlasten, der vom unbarmherzig hohen Absatz gepeinigt wird. Schon jetzt spürt sie, wie sich eine Blase bildet, in der juckenden Anfangsphase. Heute abend in der Badewanne wird der Fuß wie Feuer brennen.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Sie starrt das Mädchen an. »Ja, ich würde gern den Manager sprechen.«

»Haben Sie einen Termin?«

»Nein, es handelt sich um einen Notfall.« Sie sollte das Rayon-Tuch von ihrem Kopf reißen. Niemand außer ihr trägt hier so was. Und warum hat sie den Plastikmantel angezogen, obwohl es gar nicht regnet? Nur aus Gewohnheit. Wenn sie ihn anhat, muß sie ihn nicht mit sich herumschleppen. Eigentlich ist ihr Kostüm für Nachtclubs bestimmt, mit den Rüschen rings um die Taille, und niemand läuft tagsüber mit solchen Schuhen herum. Außerdem hat sie sich im Überschwang der Gefühle viel zu stark geschminkt. Sie sieht aus wie eine alte Nutte, eine Straßendirne. Solche Typen wankten über die Gehsteige, um irgendwelche Penner aufzugabeln.

Hätte sie eine Stimme wie Caroline Plunket-Kirby würde dieses Mädchen sie nicht von oben bis unten mustern – nicht, wenn sie eine Caroline Plunket-Kirby mit seidigem Haar ohne Dauerwelle wäre und einen Hosenanzug und einen langen Seidenschal und einen großen Gürtel mit hübscher Schnalle trüge. Oder in ihrem Alter wäre vermutlich ein Jackett aus Kamelhaar angemessen, flache Schuhe mit Löchern an den Seiten und Laschen. Nun, überlegt sie, jetzt kann sie sich solche Sachen leisten. Aber sie wird's nicht tun. Noch nicht.

Das Mädchen blättert in einem Buch, neben dem ein angeketteter Kugelschreiber in einer Kristallpyramide steckt. »In einer halben Stunde kann Mr. Bradshaw, der Assistent des Managers, Sie empfangen, falls Sie warten möchten.« Sie streicht eine Haarsträhne – glatt und beige wie der Teppich unter ihren Füßen – hinter ein juwelengeschmücktes Ohr, das so zierlich wirkt wie eine Elfenbeinschnitzerei.

Ärgerlich runzelt Elly die Stirn und schnauft. Die Straße zum Reichtum sieht keineswegs so aus wie in ihren Träumen. Aber von diesem Teil der Ereignisse hat sie auch nicht geträumt. »Gut, ich warte«, entgegnet sie, tätschelt ihr Kopftuch, und das Mädchen schaut zu einer Sitzgruppe hinüber, neben der eine Kaffeemaschine blubbert.

Elly denkt nicht: Wartet nur, bis ihr wißt, was in meiner Tasche steckt! Mittlerweile nicht mehr, denn sie erkennt, daß es nicht allzuviel Geld ist – jedenfalls nicht für diese Leute. Hier wird sie niemanden beeindrucken. Sie werden lächeln und ihr gratulieren und auf den Rücken klopfen, aber vor allem versuchen, den Gewinn ihren idiotischen Händen zu entreißen und zu verwalten. Und alle werden darauf bestehen, daß sie die Million mit ihrem Mann teilt.

Natürlich ist sie nicht der Typ, dem man eine solche Summe anvertrauen kann – seht euch doch nur den Lidschatten an! Eine ungebildete, dumme Person, die in einem gemieteten Reihenhaus in der Nelson Street wohnt. Kein Telefon, kein Auto. In finanziellen Dingen wankelmütig – in jeder Hinsicht wankelmütig. Ihre Hand zittert, als sie sich Kaffee einschenkt, dann lehnt sie sich so weit zurück, daß sie die Tasse nicht erreicht. Meterweit ist sie davon entfernt. Sie versucht ihren Rock herunterzuziehen, weil ihre Knie knubbelig aussehen, wenn sie so dasitzt, und legt eine Zeitschrift auf ihren Schoß.

Nie zuvor hat Elly Freeman sich so albern oder unzulänglich gefühlt. Und auch niemals über Geld nachgedacht. Aber eins weiß sie jetzt schon – wer eine Million Pfund besitzt, gehört noch lange nicht zu den wirklich reichen Leuten. Die ganze Freude wird ihr verdorben, und sie ist noch nicht einmal dazu gekommen, irgend jemandem davon zu erzählen.

Schuldbewußt blickt sie sich um, als sie die Kaffeetasse abstellt und das Magazin auf den Tisch zurücklegt. Dann bekämpft sie ihre Panik, springt auf und läuft aus der Bank, bevor man nach ihr rufen oder sie zurückhalten kann.

Kapitel 3

O Malc!

Der Bus bahnt sich einen Weg zum Stadtzentrum, und Elly spürt jedes Zittern und jedes Poltern und jedes Ächzen des großen Vehikels, weil sie ihr Gesicht an die schmutzige Fensterscheibe preßt. Nachdem sie verzweifelt und niedergeschlagen aus der Bank geflohen ist, fühlt sie sich wie eine Verbrecherin. Sie glaubt, auch alle Leute, die sie davonlaufen sahen, müßten nun annehmen, sie hätte eine schwere Schuld auf sich geladen.

Jetzt will sie wissen, wie reich sie eigentlich ist. Mein Leben lang habe ich auf so etwas gewartet, denkt sie. Auf die Chance, glücklich zu werden, einen neuen Anfang zu wagen! Aber wenn jemand ihre Handtasche stiehlt? Der Dieb könnte den Scheck doch nicht einlösen, oder? Das ist nur ein Stück Papier und wertlos, solange sie keine Entscheidung getroffen hat. Wenn sie will, kann sie den Scheck einfach in einer Schublade liegenlassen, für alle Zeiten – so wie diese langweiligen Borkenstücke, die man als Pflanzen verkauft und die niemals gedeihen, wenn sie nicht gepflegt und gegossen werden. Auch Ellys Geld wird vertrocknen, wenn es nicht bewässert wird. Töte es oder erwecke es zum Leben. Zurückgeben kann sie es nicht – unmöglich. Sie muß es behalten, selbst wenn sie niemals einen einzigen Penny davon anrührt.

Aber das möchte sie auch nicht.

Es ist nur ein Stück Papier. Am liebsten würde sie die Tasche unter ihren Regenmantel schieben, falls das Geld irgendeine Aura ausstrahlt, die man sehen und erkennen könnte. Die Leute, die was vom Geld verstehen, würden es vielleicht sogar riechen. Ihr Blick irrt im Bus umher, forscht argwöhnisch in den Gesichtern, aber die anderen Fahrgäste starren geradeaus, schaukeln bei jeder Bewegung hin und her. Gelangweilt, lustlos, krampfhaft in sich selbst verschlossen, damit keiner den anderen berührt. Elly zerreißt ihre Fahrkarte in winzige Fetzen.

Welche Farbe hat die Aura des Geldes? Was für eine Farbe würde sie sehen, wenn es zu schwitzen anfinge? Sekundenlang betrachtet sie ihre Handtasche, ehe sie ihre Stirn wieder ans Fenster lehnt. Blau oder goldgelb? Oder rot? Oder vielleicht alle Regenbogenfarben, die miteinander verschmelzen, um ein wildes, zorniges Violett zu erzeugen?

Oder das dumpfe Braun eines verschlampten Kindermalkastens.

So, Schätzchen! Elly springt aus dem Bus. Jetzt wird sie ihrer heimlichen Leidenschaft frönen, die sie Malc nie gestanden hat, nicht einmal Di und Margot. Vermutlich ist sie eine geborene Heimlichtuerin und weiß es gar nicht.

Nun wird sie Pelze betasten.

Oh, sie lehnt Pelze ab, genauso wie die meisten anderen Leute. Natürlich dürften die wilden Tiere nicht sterben, nur damit die Frauen sich in Pelze hüllen können ... Und es geht ja auch gar nicht um die Pelze an sich, sondern um den dicken Teppichboden und die Stille da drinnen. Die Pelzabteilung bei Lendels weckt in Elly seltsame Emotionen, das gerade Gegenteil jener Gefühle, die sie empfindet, wenn sie in der Kathedrale sitzt. Die Kirche ist geräumig und großartig, und sie geht hin, um ein Wunder zu genießen und in ihrer eigenen Güte zu schwelgen, während die Pelzabteilung bei Lendels nach sinnlicher Verworfenheit und ungesunder Erotik riecht, nach der Frau, die man sein könnte, wenn man wollte und das nötige Geld besäße, wenn man verrückt genug wäre ...

Das einzige, was ihr die Pelzabteilung verdirbt, ist die Verkäuferin, die heranschlendert und sie beobachtet. »Kann ich Ihnen helfen, Madam?«

In diesem Augenblick ergreift Elly normalerweise die Flucht. Hier drin ist es immer so heiß. Wie können die Leute in dieser Atmosphäre bloß arbeiten? Elly schaut sich um. Die Verkäuferin ist ganz in Schwarz gekleidet, der klebrige Schmollmund zur Karikatur eines Kusses verzerrt. Elly wendet sich wieder zum schwarzen Zobel, der in einer Hülle steckt, aber der Saum hängt heraus, so daß sie sich bücken und ihn befühlen kann. »Was kostet der Mantel?« fragte sie, ohne die skeptische Verkäuferin anzuschauen. »Ich habe nach dem Preiszettel gesucht, aber ich finde ihn nicht.«

»Leider werden Sie ihn auch nicht finden, Madam, denn bei Lendels hängen keine Preiszettel an den Pelzen.«

Jetzt dreht sich Elly zu der Frau um und liest das Namenskärtchen an der Brusttasche. »Nun, Mrs. Gilman, würden Sie mir bitte verraten, wieviel dieser Mantel kostet?«

Was für eine langweilige Person, drückt Mrs. Gilmans müde, geduldige Miene aus, Sarkasmus schwingt in ihrer Stimme mit. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht – würden Sie mich zum Schreibtisch begleiten?«

Das macht Elly nichts aus.

»Also, dieser Mantel ...«.

Während Mrs. Gilman in ihren Papieren blättert, merkt Elly ihr an, wie sie die Bombe genießt, die demnächst platzen wird. Aber sie wird dieser Person sagen können: ›Sie können mich mal!‹

»Einen Augenblick ... Also, dieser Mantel ...«

Der Scheck brennt, und komischerweise leuchtet er hellgrün.

»Der Zobel, den Sie sich angesehen haben ...«

Allen beiden macht die Szene Spaß. Mrs. Gilman wird dieser aufgedonnerten Person mit dem schäbigen Kopftuch den Wind aus den Segeln nehmen. Und dieser Plastikmantel – es ruiniert das ganze Charisma der Pelzabteilung, wenn solche Frauen hier herumlaufen. Wenn die Verkäuferin die Zahl nennt, werden ihre Lippen kurzfristig weichere Züge annehmen. Und Elly weiß – oder sie hofft, daß sie sich den Zobel zurücklegen lassen und heute nachmittag abholen kann. Ha!

Mrs. Gilmans harte blaue Augen richten sich auf Elly. »Zehntausendfünfhundertfünfundzwanzig Pfund.« Und der Mund entspannt sich zu einem schwachen Lächeln.

Elly strahlt. Wenn sie es möchte, gehört dieser verworfene schwarze Zobel ihr, ebenso wie alles, was er verspricht – wenn sie will. Nun ist Elly das geschmeidige schwarze Pantherweibchen mit der Macht einer Siegerin – und Mrs. Gilman ein schwerfälliges, altes, räudiges Warzenschwein, das um ein Wasserloch herumschlurft.

Sprungbereit schaut Elly auf ihre Uhr. »Ich glaube, ich habe gerade noch Zeit, ihn anzuprobieren.«

Nun entgleist Mrs. Gilmans sorgfältig kultivierter Akzent ebenso wie ihr Gesicht. »Hören Sie, meine Liebe, ich habe wirklich keine Lust ...«

»Ich sagte, ich habe noch Zeit, den Mantel anzuprobieren.«

»Also, das ist doch ...«

Elly steht vor dem Spiegel, in den Pelz gehüllt, dreht sich ein wenig nach rechts, dann nach links. Luxus hängt an ihren Schultern, breitet sich aus wie eine Glocke, und Elly läßt sie hin und her schwingen, versucht Mrs. Gilmans böses Gesicht aus der rechten Spiegelecke zu verbannen. Es erscheint ihr wie ein Schmutzfleck, und sie möchte am liebsten vortreten, um es wegzuwischen.

Wild und mysteriös, sinnlich und erotisch. Elly sucht nach dem passenden Wort.

»Falls ich was sagen darf – ohne das Kopftuch würde der Mantel vielleicht besser aussehen.«

Elly lacht. »Ich könnte ihn kaufen, wissen Sie ... Zehn Tausender könnte ich ausgeben, und ich würde sie nicht einmal vermissen.«

Jetzt ist Mrs. Gilman vorsichtig geworden. Sie wirft besorgte Blicke über die Schulter, während sie Elly hastig zustimmt. »Sicher können Sie das, Madam. Und ich muß sagen, der Zobel steht Ihnen ausgezeichnet.«

Ein Pelzmantel – teure Restaurants, Theater, Bleistiftabsätze, die an den Pavillons am Flußufer vorbeiklappern, Weltstädte bei Nacht und Limousinen. Wieviel davon wird sie mit ihrem Geld erkaufen und was danach?

An ihrer Seite Malc, der einen eleganten Anzug trägt und ihr das Ballettprogramm überreicht, mit einer Rose und einem Kuß?

Wohl kaum.

Elly sinkt in sich zusammen, zieht den Mantel aus und gibt ihn Mrs. Gilman zurück. Dann betrachtet sie ihn wie die Abreise eines Freundes auf dem Bahnsteig, wo man stehenbleibt, bis der Zug davongefahren ist und nur noch traurige Vibrationen übrigbleiben. Mit winzigen Pelzhärchen an den Fingern. »Der Zobel paßt einfach nicht zu mir. Oder? Seien Sie ehrlich.«

Plötzlich sieht Mrs. Gilman traurig aus, als hätte das Make-up Risse bekommen, und beide sind nur noch Frauen, die gemeinsam einen Traum weben. Schmerzende Beine, enge Schuhe, die demoralisierende Wirkung eines deprimierenden Jobs und das Wissen, daß irgendwo da draußen das Leben in seiner ganzen reichen Fülle ohne sie vorbeiströmt. Jetzt glaubt die Verkäuferin nicht mehr, daß Elly in Geld schwimmt.

»In diesem Mantel haben Sie sehr hübsch ausgesehen, Madam. Er stand Ihnen großartig. Keiner anderen Frau hat er so gut gepaßt.« Keine gibt zu, daß sie Theater spielt, beide klammern sich an ihren Stolz.

»Nun, vielleicht komme ich zurück, wenn ich mich ein bißchen umgesehen habe«, sagt Elly und schlüpft in ihren Regenmantel.

»Gewiß, Madam.« Dann folgt das Motto des Ladens: »Wir alle sind nur hier, um unsere Kundinnen zufriedenzustellen.«

Bauernfängerei? Nein, was für ein lächerliches Wort. Und dann führt Elly eine ähnliche Szene in der Schmuckabteilung auf, probiert Diamantohrringe und sogar eine kleine Tiara – nun, die könnte sie in ihrer Handtasche nach Hause tragen und in einer Schublade verstecken.

Sie schlendert an einer Immobilienagentur vorbei, bleibt vor dem Schaufenster eines Autosalons stehen und sieht Malcs Lieblingsmodell. Schließlich ist sie übersättigt von ihren Träumen. Aber es sind einsame Träume, denn jedesmal erwacht sie und fragt wie ein verängstigtes Kind: ›Wo ist Malc?‹

Vielleicht hätte sie's ihm sofort sagen sollen. Das geheime Vermögen drückt sie nieder, die Handtasche fühlt sich beinahe zu schwer an.

Jetzt ist es ein Uhr, und sie wandert umher, versucht die stumpfe Struktur von Liverpool in sich aufzunehmen, die grandiose Traurigkeit, den Stolz, aber ringsum eilen nur Männer, die korrekte Anzüge tragen, in ihre Mittagspause und schwenken wichtigtuerisch ihre Schirme. Sie kommen aus Gebäuden mit majestätischen Steinstufen und Säulen, drängen sich durch Torbögen – ganz eindeutig Männer, die genau wissen, wohin sie gehen. Und Elly versinkt im Gehsteig, niemand nimmt Notiz von ihr. Vielleicht sollte sie ihre Handtasche hochschwingen ...

Könnten ihre Träume mit einem dieser Männer Wirklichkeit werden? Wer sind sie? Elly versucht sie als Individuen zu sehen, irgend etwas von ihnen festzuhalten, wenn sie vorbeimarschieren, aber das ist unmöglich und ebenso lächerlich, als würde sie die Hand ausstrecken und ihre Eier packen. Haben sie überhaupt Eier? Tragen sie die links oder rechts? Sie starrt die Nadelstreifenhosen an. Eine ganze Armee auf dem Marsch, und nichts wird sie besiegen. Ihre Anzüge und ihre Zeitungen, ihre Aktenkoffer und ihre hastigen Intentionen scheinen alles zu sein, was sie verkörpern.

Und wenn Malc hier neben ihr stünde, würde er ebenfalls im Pflaster versinken – in seinem Arbeitsoverall oder in seinem braunen Regenmantel. Selbst wenn Elly und Malc in Designer-Kleidung hier auftauchten, mit hypermodernen Frisuren, selbst wenn sie wie die anderen dahineilen und Schirme schwingen würden – sie hätten trotzdem das Gefühl, sie wären verschwunden.

Stolz!

Zielstrebigkeit!

Vortrefflichkeit!

Geld allein nützt gar nichts, denkt Elly, der Verzweiflung nahe.

Und trotzdem muß sie es ausgeben! Sie kann's nicht für immer verstecken – nun, natürlich kann sie das, aber so verrückt ist sie nicht.

An einem Kiosk kauft sie eine Packung Zigaretten, nur um ihre eigene Stimme zu hören. Tief in der Trance ihrer wirren Gedanken verläßt sie die Straße und steigt die Eingangstreppe eines Restaurants hinauf. Sie trifft keine Entscheidung, läßt sich einfach nur treiben. Drinnen sieht es aus wie in einem Hotel, und sie ist die einzige Frau. Eine Pause entsteht, als sie den Raum betritt, Suppenlöffel schweben über Tassen, Hände über Brotscheiben, und Augenpaare mustern sie. Nie hätte sie geglaubt, sie würde sich jemals so nackt fühlen. Sie geht zu einem Fenstertisch, aber der ist reserviert. Ein älterer, gebeugter Kellner eilt zu ihr und führt sie zu einem passenden Platz hinter einer Säule.

Einige Männer rauchen. Wahrscheinlich ist es okay, sich einen Glimmstengel anzuzünden, und so öffnet Elly geräuschvoll die Zigarettenpackung, verflucht das knisternde Zellophan. Zum erstenmal ißt sie woanders zu Mittag als in der Littlewoods-Kantine oder in Woolies-Selbstbedienungsladen. Sie hätte sich unter die restlichen Käufer in der Bold Street mischen sollen, aber offenbar hat sie die Orientierung verloren, sonst wäre sie niemals hier hereingekommen. Was um alles in der Welt treibt sie nur in diesem maskulinen Lokal? Was würde Malc sagen, wenn er sie jetzt sähe? Wie würde er reagieren, wenn er wüßte, was sich ereignet hat?

Elly kennt sich selber nicht mehr.

Aber niemand hat sie aufgehalten, als sie hereingegangen ist, oder? Immerhin weiß der Kellner Bescheid und hilft ihr väterlich und gönnerhaft. In einem schwarzen Anzug, bis zum Hals zugeknöpft, mit seinem weißen Haar und den glatten Stirnfransen gleicht er einem alten Beatle. Er schlägt ihr das Tagesmenü vor, Suppe und Lammkoteletts, und wenn sie will, kann sie danach Schokoladenpudding essen, mit Schokolade- oder Vanillesauce. Oder beides, wenn sie möchte, und sie lächelt wie ein Kind auf einer Party. Dann serviert er ihr ein Glas Hauswein.

Alles ringsum wirkt hübsch und friedlich. Und geschmackvoll, denkt Elly. Keine Chips und fettigen Rühreier, keine klebrigen Saucenflaschen auf dem Tisch, nein, ganz sicher nicht. Auch keine Papierservietten, sondern Pyramiden aus weißem Baumwollstoff und gepflegte minzgrüne Schüsselchen mit winzigen Löffeln für die Sauce. Keine Musik, nur vernünftige Gespräche. Wenn sie jetzt auf einen Tisch in der Mitte des Raums steigen und ihre Unterhose ausziehen würde?

Wie gern säße sie mit Malc in diesem Restaurant – mit einem Malc, der hierher passen und sich nicht von den anderen unterscheiden und es ganz bestimmt unterlassen würde, verlegen seine Chips zu bestellen. Könnte er hier zu Mittag essen, wüßte er, daß er erfolgreich ist. Auch alle anderen würden es wissen, nicht wahr? Aber wie soll man sich einen Weg in diese Welt erkaufen, die zweite Hälfte eines Buchs genießen, wenn man den Anfang nicht gelesen hat?

Einmal wollte man die Häuser in der Nelson Street abreißen lassen, aber dann ging den Leuten das Geld aus, während die Bulldozer schon anrückten. Der Baufirma mußte eine Entschädigung gezahlt werden.

Als Elly zu Hause ankommt, glaubt sie aus einem Traum zu erwachen, verwirrt und fröstelnd, so als wäre während der Nacht die Decke heruntergefallen. Hätte sie in der Bank nur nicht den Mut verloren, denn jetzt fürchtet sie sich ganz schrecklich vor diesem Scheck. Wäre sie dort geblieben, hätte sie das Geld wenigstens einzahlen können, dann würde es jetzt nicht so schmerzhaft an ihren Nerven zerren.

Eine Million, fünfhundertfünfundzwanzigtausend Pfund.

Sie spült das Frühstücksgeschirr und füllt die Waschmaschine, bevor sie Tee aufbrüht. Nun muß sie sich beeilen, um alles zu erledigen, bevor Malc nach Hause kommt, oder er würde erraten, daß sie weg war. Aber das spielt keine Rolle, sagt sie sich immer wieder. Noch nie hat er sich beklagt, wenn sie an ihrem freien Tag ausgegangen ist, um einen Schaufensterbummel zu unternehmen. Warum sollte er auch? Das interessiert ihn gar nicht.

Es ist die Lüge, die ihr Angst einjagt, der ungeheuerliche Betrug.

Aber das kann sie wiedergutmachen, nicht wahr? Dafür ist immer noch genug Zeit. Sie steht am Spülbecken, schält Kartoffeln und probt, was sie sagen könnte. Während sie eine bestimmte Miene einstudiert, merkt sie, daß sie die Zähne gefletscht hat. »Anfangs konnte ich's dir nicht erzählen, Malc, weil ich so schockiert war.« Dann erhebt sie die Stimme. »Vor lauter Aufregung brachte ich kein Wort hervor.« Nun spricht sie leise und ernsthaft. »Eine Zeitlang wollte ich die Neuigkeit für mich behalten, um mich dran zu gewöhnen, weißt du ... Ich mußte erst einmal in Ruhe darüber nachdenken.«

Und die Wahrheit – auch damit versucht sie's, denn sie möchte hören, wie es klingen würde. »Ich wollte alles unter Kontrolle behalten, Malc, und herausfinden, welche Träume ich hatte, bevor mir deine aufgezwungen wurden.«

Und noch schlimmer: »Ich fürchte mich vor der Wirkung, die das Geld auf uns ausüben könnte, Malc. So, wie wir im Augenblick zueinander stehen ...« Dann voller Verzweiflung, während sie die Waschmaschine einschaltet: »Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir so wahnsinnig leid.«

Als sie den Schlüssel im Schloß knirschen hört, gerät sie beinahe in Panik und spürt, wie ihr das Blut ins Gesicht steigt. Dann fällt die Tür zu, und sie hält wieder den Atem an – aber warum sollte Malc hinter den Boiler schauen? Dazu hat er keinen Grund, also ist der Scheck in Sicherheit.

Müde setzt er sich an den Küchentisch und murmelt ein knappes Grußwort.

»Malc«, beginnt Elly, kehrt ihm den Rücken und starrt den rosa Stöpsel im Spülbecken an. »Soeben habe ich im Lotto gewonnen.«

»O, Elly, bitte, um Himmels willen!« protestiert er. »Gerade bin ich nach Hause gekommen – und wirklich nicht in der Stimmung ...«

»Aber es ist wahr.« Ihre Stimme ist ausdruckslos, seine klingt erschöpft.

»Du spielst doch gar nicht Lotto, dumme Kuh. Kann ich noch baden, bevor wir Tee trinken?«

»Und ich wußte nicht, was ich mit dem Geld machen soll, Malc.«

Ermattet hebt er die Brauen, als er den Wäschekorb sieht. »Hast du das heiße Wasser verbraucht? Ich wünschte, du würdest nicht ständig das ganze Wasser verbrauchen ...«

»Sicher ist noch genug Wasser da, Malc. So wie immer.«

Heute bin ich ausgegangen und habe diese andere Welt gesehen, Malc.

Wie gern würde sie diesem menschlichen Wesen vertrauen, das manchmal weint und manchmal betrunken und manchmal ein Fremder ist, und sie beobachtet ihn durch einen Tränenschleier.

Malcolm Freeman ergreift die Zeitung und zieht sich das Hemd über den Kopf. Ein Großteil der Knöpfe ist immer noch geschlossen. Dann stapft er die Treppe hinauf. Der helle Zorn, den er entfacht, überwältigt Elly beinahe. Sie kann kaum glauben, daß ihr Herz auch nur die Hälfte ihrer Wut verkraftet und einfach weiterschlägt.

Kapitel 4

Dreimal – verdammt!

Schon dreimal ist sie soweit gekommen und hat wie eine alberne Gans vor der Bank gestanden, um dann in müder Verwirrung zurückzuweichen. Aber diesmal ist es anders. Diesmal muß sie hineingehen, oder ihre neue Idee wird in ihrem Kopf explodieren und ihn platzen lassen.

Der Scheck ist ein bißchen staubig und zerknittert nach seinem Aufenthalt hinter dem Boiler, aber das spielt sicher keine Rolle.

Ihre Angst erweist sich als grundlos. Es ist nur wieder ihr alter dummer Fehler, das mangelnde Selbstvertrauen.

Die Jugend des Managers erschreckt sie. Ja, sie wird den Manager persönlich sprechen – »Beasely, E. R.«, liest sie auf der Plakette. Denn diesmal ist der Assistent beschäftigt.

Beasely ist nicht viel älter als Kevin. Und er trägt einen Anzug, der auch Kevin gefallen würde, aus glattem und doch aufgerauhten Stoff, mit breitem Revers und ganz wenigen Knöpfen. Kein seriöser Anzug, denkt sie, als sie auf der Kante eines Sessels Platz nimmt und befürchtet, sie würde hineinfallen.

Kein teurer Anzug. Sie zieht ihn in Gedanken aus, weil sie nervös ist, weil sie ihn nackt und verletzlich sehen will. Ihr Blick löst die Krawatte, streift ihm das Hemd vom Körper. Dann öffnet sie die Gürtelschnalle, die Hose fällt runter, gefolgt von getupften Boxershorts.

Aber er wirkt nicht ganz so lächerlich, wie sie's gern hätte.

»Mrs. – eh – Freeman«, beginnt er, hebt die Brauen und rückt seinen Stuhl näher zum Schreibtisch, wo ein aufgeklappter Aktenordner liegt, mit einem leeren Bogen Kanzleipapier. Seine Stimme klingt kultiviert und freundlich, jene Stimme, die junge Männer benützen, wenn sie in den Souvenirladen kommen und kuschelige Stofftiere für die Ehefrauen kaufen, romantische Karten oder Scherzartikel. Ein glattrasierter Mann mit rundem Gesicht, recht hübsch, mit netten, funkelnden blauen Augen. Entwaffnend, denkt sie. Das ist er – entwaffnend.

Und dafür ist Elly dankbar.

Sie nickt, um zu bestätigen, daß sie so heißt, und er schreibt den Namen mit blauem Kugelschreiber auf ein Schildchen, in ordentlicher Handschrift. Inzwischen betrachtet sie das Guckloch in der Tür und überlegt, wieviel Mut und Verzweiflung man aufbringen müßte, um hier mit einer abgesägten Schrotflinte hereinzustürmen und die Bank zu überfallen. Wenn das irgend jemand täte, würde Beasely, E. R. wahrscheinlich nett und ruhig und höflich bleiben und auf einen verborgenen Knopf drücken.

»Wie kann ich Ihnen helfen, Mrs. Freeman?« Und er erscheint ihr keineswegs gelangweilt oder von anderen Geschäften abgelenkt oder hochnäsig wie das junge Mädchen.

Allmählich fühlt sich Elly etwas besser, aber ihre nackten Knie und ihr kurzer Rock sind ihr peinlich. Was sonst hätte sie zu dieser besonderen Gelegenheit anziehen sollen? Was in ihrer Garderobe wäre nur einigermaßen geeignet? Nichts! Also bedeckt sie die Knie mit ihrer Handtasche und preßt die Beine zusammen. Das Kopftuch nimmt sie nicht ab. »Ich habe ein bißchen Geld gewonnen, beim Lotto. Vor fast zwei Wochen kam der Scheck mit der Post, und nun möchte ich ihn hier einreichen.«

»Nun, Mrs. Freeman, dann muß ich Ihnen offensichtlich gratulieren. Ich freue mich wirklich für Sie. Wie ich annehmen muß, gehören Sie noch nicht zu unserem Kundenstamm?«

»Nein, bis jetzt hatten wir nie genug Geld, um was einzuzahlen. Wenn etwas übrigblieb, legten wir es in die Küchenschublade, in einem Kuvert, um das wir ein Gummiband wickelten. Einmal hatten wir ein Postsparbuch, aber das funktionierte nicht richtig. Malcolm sieht die Geldscheine gern, verstehen Sie? Wenn er sie anfassen kann, weiß er, daß sie tatsächlich da sind. Und er hat sein Geld noch nie anderen Leuten anvertraut, Banken und so.«

»Und nun hat sich Malcolm – Ihr Mann, vermute ich – anders besonnen?«

»Malcolm weiß nichts davon. Das ist mein Gewinn, ich habe unter meinem Namen Lotto gespielt, und der Scheck ist auf mich ausgestellt.« Elly öffnet ihre Handtasche, greift in das seidene Innenfach und legt den Scheck auf den Schreibtisch.

Sofort beugt sich der junge Mann vor, um die Summe zu lesen, dann hebt er den Kopf und mustert Elly abschätzend. »Das ist sehr viel Geld. Sicher waren Sie ganz aus dem Häuschen. Wieso um alles in der Welt kommen Sie denn erst heute zu uns?«