Wo die Nacht lauert: Drei Spannungsromane in einem eBook - Gillian White - E-Book
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Wo die Nacht lauert: Drei Spannungsromane in einem eBook E-Book

Gillian White

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Beschreibung

Dunkle Seele, kaltes Grab: Der Spannungs-Sammelband »Wo die Nacht lauert« von Erfolgsautorin Gillian White jetzt als eBook bei dotbooks. Finsternis legt sich über das Land, Grausamkeit schleicht sich in die Herzen der Menschen … Zurückgezogen lebt die Sozialarbeiterin Georgie in einem Haus in Dartmoor, seit einer ihrer kleinen Schützlinge brutal ermordet wurde. Die Presse prangert sie als Schuldige an – und ruft schon bald zur erbarmungslosen Hetzjagd auf … Wie lebendig begraben unter all der Schuld fühlt sich auch Shelley, nachdem man ihren 11-jährigen Sohn beschuldigt, ein Baby getötet zu haben. Lauert hinter seinen unschuldigen Augen tatsächlich ein Monster? Und wem kann sie noch trauen? Diese Frage verfolgt auch drei Frauen, die in einem einsamen Hotel an der Küste Englands Zuflucht suchen – doch der Dunkelheit ihrer eigenen Seele können sie nicht entkommen … »Gillian White schreibt wundervolle Geschichten über die ganz alltägliche Niedertracht.« Fay Weldon Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der psychologische Spannungs-Sammelband »Wo die Nacht lauert« von Gillian White, der Queen of Suspense. Bietet eiskalte Spannung im Dreierpack mit den Romanen »Das Ginsterhaus«, »Das Familiengrab« und »Das Hotel bei den Klippen«. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 1379

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Über dieses Buch:

Finsternis legt sich über das Land, Grausamkeit schleicht sich in die Herzen der Menschen … Zurückgezogen lebt die Sozialarbeiterin Georgie in einem Haus in Dartmoor, seit einer ihrer kleinen Schützlinge brutal ermordet wurde. Die Presse prangert sie als Schuldige an – und ruft schon bald zur erbarmungslosen Hetzjagd auf … Wie lebendig begraben unter all der Schuld fühlt sich auch Shelley, nachdem man ihren 11-jährigen Sohn beschuldigt, ein Baby getötet zu haben. Lauert hinter seinen unschuldigen Augen tatsächlich ein Monster? Und wem kann sie noch trauen? Diese Frage verfolgt auch drei Frauen, die in einem einsamen Hotel an der Küste Englands Zuflucht suchen – doch der Dunkelheit ihrer eigenen Seele können sie nicht entkommen …

»Gillian White schreibt wundervolle Geschichten über die ganz alltägliche Niedertracht.« Fay Weldon

Über die Autorin:

Gillian White stammt aus Liverpool und arbeitete mehrere Jahre als Journalistin, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Mit ihrem Mann und zwei Hunden lebt sie in Totnes, Devon. Vier ihrer Romane wurden vom britischen Fernsehen erfolgreich verfilmt.

Bei dotbooks veröffentlichte sie auch ihre Spannungsromane »Denn du bist mein«, »Hexenwiege«, »Ein unheimlicher Gast«, »Der Peststein«, »Der Fluch der alten Dame«, »Du kannst uns nicht entkommen«, »Die Einsamkeit der Lüge« und »Der Nachmieter«.

In diesem Sammelband enthalten sind die Romane:

»Das Ginsterhaus«

»Das Familiengrab«

»Das Hotel bei den Klippen«

***

Sammelband-Originalausgabe November 2019

Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Eine Übersicht über die Copyrights der einzelnen Romane finden Sie am Ende dieses eBooks.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von adobe Stock/Keith

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96655-084-0

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

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Gillian White

Wo die Nacht lauert

Drei Spannungsromane in einem eBook

dotbooks.

Gillian White

Das Ginsterhaus

Übersetzt von Isabella Bruckmaier

Seit ihr kleiner Schützling brutal ermordet wurde, wird die Sozialarbeiterin Georgie von schweren Schuldgefühlen geplagt. Obwohl die junge Frau vor Gericht freigesprochen wird, löst die britische Presse eine wahre Hetzjagd auf sie aus. Georgie flieht aus London nach Dartmoor in ihr einsames Cottage. Doch die ersehnte Ruhe will sich nicht einstellen – plötzlich geschehen mysteriöse Dinge, die Georgie schier in den Wahnsinn treiben: ein unheimlicher Fremder taucht auf, Augen starren sie wie aus dem Nichts an und eine Farbpalette ist blutüberströmt … Georgie kommt ein furchtbarer Verdacht!

Kapitel 1

Vor langer, langer Zeit, so erzählt man sich, suchte der Teufel dieses Tal heim. Er hinterließ eine Fährte auf der dünnen Schneedecke, eine schnurgerade Spur von Hufabdrücken, die schwarzen Stapfen eines Zweibeiners, querfeldein, über Steinmauern und Zauntritte, den Friedhof und die gefrorenen Ackerfurchen.

Er hatte sich durch nichts von seinem Weg abbringen lassen.

Man erzählt sich, Millie Blunt, ein törichtes Mädchen, habe am Zweig einer alten Eiche seinen Hosenbeutel gefunden, als sie dort nach Mistelzweigen suchte. Das unglückselige Kind nahm ihn mit nach Hause in dem Glauben, er berge einen Zauber in sich. Eines Nachts, als der Mond, der durch das kleine Fenster fiel, ihre Bodenkammer mit seinem hellen Licht überflutete, legte sie ihn unter ihr Kopfkissen und schlief darüber ein. Von diesem Tag an sprach sie bis zu ihrem Tode nur noch wirres Zeug.

Warum aber der Teufel ein Tal wie dieses für einen seiner Streifzüge oder zum Seelenfang ausgewählt haben sollte, blieb für allezeit im Dunklen. Es gab schon damals nicht mehr als zwölf Seelen in dem kleinen Weiler Wooton-Coney, und die wenigen, die es gab, waren zweifelsohne Christen, die in solch unheimlichen Nächten wie dieser zu Hause blieben hinter ihren fest verrammelten Türen und Fenstern. Mit einem Wort, dies hier war eine fromme und gottesfürchtige Gemeinde. Die Kirche selbst und der Friedhof, durch den der Teufel seinen Weg genommen hatte, waren schon im siebzehnten Jahrhundert zusammengestürzt, und nur an den Überresten des alten Mauerwerks und den von Flechten überzogenen Grabsteinen ließ sich erkennen, wo sie sich einst befunden hatten. Der genaue Zeitpunkt ist nicht überliefert, doch irgendwann wurde die Wetterfahne des heruntergestürzten Kirchturms geborgen, und seit zweihundert Jahren dreht sich der verbeulte Blechhahn nun auf seiner verrosteten Stange über dem Giebel der alten Buckpit-Scheune.

***

Jahrhunderte sind seither ins Land gegangen, und Georgina Jefferson ist so sehr das Gegenteil des vom Schicksal verfolgten armen Mädchens, wie man es sich nur vorstellen kann. Sie ist gebildet und hat gute Manieren und sie ist gesund, geistig gesund. Während Millie Blunt es mit den Männern nicht so genau nahm und schon immer als nicht ganz richtig im Kopf galt (der Pfarrer schlug mit der Faust auf die Kanzel, stellte sie an den Pranger und nannte ihr Kind eine Ausgeburt des Teufels), bestätigten Georginas Lehrer in ihren Zeugnissen stets, sie könne es im Leben noch weit bringen.

Im Gegensatz zur unglücklichen Millie mit ihrem wirren, zerzausten Haar, dem fahrigen Blick und ihren Schwindeleien umgab Georgina nichts Melodramatisches. Als Millies Kind starb, hatte sie geschworen, der Teufel sei in der Nacht gekommen und habe es erstickt. Georgina dagegen ist nur schwer zu erschüttern, sie ist ausgeglichen, weder sentimental noch morbid, und sie lässt sich nicht so leicht von irgendwelchen Tagträumen mitreißen wie manche ihrer Freundinnen. Daher brachte sie diese Teufelsgeschichte nicht aus der Fassung, als sie sie das erste Mal hörte. Allerdings konnte sie sich, aus beruflicher Sicht, des Gedankens nicht erwehren, dass man mit Millies Eigenheiten heute behutsamer umgegangen wäre. Georgina würde keinen Hosenbeutel erkennen, wenn sie denn einen fände, und ihn wahrscheinlich für eine Art Sattelzubehör halten. Sie ist praktisch und vernünftig, sie neigt nicht zu Exzessen jedweder Art. Auf Partys sitzt sie ruhig auf ihrem Stuhl und sieht zu, während die schwächeren Sterblichen sich betrinken und zum Narren machen. Sie hält sich an ihren Tomatensaft mit einem Schuss Worcestersoße, sie ist die Disziplinierte und sie fährt am Schluss alle nach Hause.

Man kann Georgina Jefferson mit ihren zweiundvierzig Jahren, schlank, dunkelhaarig und gutaussehend, die ihre Kleidung bevorzugt bei Marks & Spencer kauft und an Weihnachten Postkarten von Wohlfahrtsorganisationen verschickt, nur als soliden, verlässlichen, verantwortungsbewussten und fleißigen Menschen bezeichnen, der mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen steht.

Und daher quält sie die Vorstellung umso mehr, sie könne, wie damals die arme Millie, langsam ihren Verstand verlieren.

***

Es war im Herbst, einem besonders satten, farbenfrohen Herbst, als sie die Gestalt auf dem Hügel zum ersten Mal sah. Die Luft war schwer von erdigem Geruch, und morgens spürte man schon den nahenden Winter. Sie ging geradewegs auf den Kerl zu und verjagte ihn, zumindest dachte sie das.

Ihre eigene Neugier überraschte sie. Doch hier, wo sie lebte, fiel es nicht schwer, die Welt draußen zu vergessen und dem Glauben zu verfallen, man müsse sich um alles und jeden kümmern. Sie sah ihn durch die sanft wehenden Vorhänge ihres offenen Küchenfensters, durch die dünne blaue Rauchfahne, die von einem Kartoffelfeuer aufstieg, durch die knorrigen Äste eines alten Apfelbaums hindurch, die sich unter dem Gewicht der von Wespen umschwärmten Holzäpfel bogen.

Eine Begegnung auf dem Land.

Zuerst glaubte sie, die Buckpits hätten wohl eine Vogelscheuche aufgestellt, so unbeweglich verharrte die dunkle Gestalt dort am Horizont. Aber eine Vogelscheuche wäre schmaler gewesen, und warum sollten sie eine Vogelscheuche auf einem kleinen Dreieck von einem Feld errichten, auf dem ohnehin nichts wuchs außer Gras – und nicht einmal das ordentlich?

Gedankenverloren schweifte Georginas Blick in die Ferne, ihre Hände waren vom Spülen noch voller Schaum, der Duft von Ringelblumen und Zitrone stieg ihr in die Nase. Ein paar Handtücher flatterten an der Leine, das Geräusch drang ihr ans Ohr, und der alte Holzschubkarren, halb voll mit Holzscheiten, sah sie vorwurfsvoll aus dem Grasgestrüpp an und erinnerte sie, dass die erste Arbeit, die sie sich heute morgen vorgenommen hatte, noch nicht ordentlich erledigt war.

Vor welchem Fenster sie auch stand, Georgie musste stets nach oben schauen, denn Gorse Penn Cottage befand sich in einer Senke, eingebettet in eine Moorlandschaft. Der Ausblick war immer interessant, das Buschwerk und die gelegentlichen Findlinge, dazu die tief am Himmel dahinziehenden Wolken sorgten für stimmungsvolle Farbwechsel und dienten zugleich als Schutz vor der Welt da draußen, vor der sie geflohen war. In ihrem Gesichtskreis gab es nichts als sanften Schatten.

War sie geflohen? Alle schienen das zu denken.

Oder hatte sie einfach das Schicksal hierher verschlagen?

Vernünftig und praktisch wie sie war, hatte sie sich selbstverständlich über die Erbschaft gefreut. Doch ganz sicher war sie sich nicht, ob die Entscheidung, hierher zu kommen richtig gewesen war.

Während sie darüber nachdachte, schweifte ihr Blick zu der reglosen Gestalt am Horizont. Und obwohl ihre Neugier geweckt war, brachte sie erst einmal den Abwasch zu Ende. Es freute sie, wie die Gläser funkelten… ihr Leben verlief so weit wieder in ruhigen Bahnen, dass sie sich an so einfachen Dingen freuen konnte, sogar das Wechseln der Bettwäsche war ein Vergnügen. Es war doch richtig gewesen, in das Cottage zu ziehen. Der Rückzug aufs Land machte sich bereits positiv bemerkbar.

Wirkte die Gestalt so dunkel, weil sie so weit weg war, oder weil sie schwarz gekleidet war? Es war ungewöhnlich, dass sich Touristen hierher verirrten. Meistens liefen sie an dem Weg vorbei oder hielten ihn, wenn sie ihn sahen, für viel zu steil, sodass sie auf der Straße über den Hügel weiter ins Dorf gingen, wo sie erst im Blue Bull einkehrten und später die alten Drucke und Kupferstiche in Mrs. Morgans Geschenkelädchen studierten. Der grasüberwachsene Weg mit den vielen Jauchepfützen schien den meisten Wanderern nur zu einer Farm zu führen, und die Vorstellung, sich inmitten einer Herde Schafe und einem Rudel Wachhunde wiederzufinden, behagte kaum jemandem.

Und was, wenn sich der Farmer als unfreundlich erweisen sollte?

Der Mann war keiner von den Buckpits, und auch kein Horsefield oder ein Cramer, denn von denen würde keiner so lange Stillstehen. Außerdem trug die Gestalt kein Gewehr über der Schulter.

Also ging Georgina zur Hintertür und schlüpfte in ihre Stiefel. Sie ging durch ihren Gemüsegarten, wobei sie darauf achtete, den Zweigen und Ästen auszuweichen. Ihre Hühner, die in alle Richtungen aufgescheucht davonjagten, würdigte sie keines Blickes. Als sie den Zaun erreichte, hob sie ihren Rock hoch und kletterte hinüber. Sie watete durch ihren eigenen kleinen Bach und drehte sich oben bei dem großen Findling um, um nach Lola zu pfeifen.

Mit flatternden Ohren, das Fell etwas feucht vom Tau, schnappte der Spaniel übermütig nach ein paar Mücken, während er seiner Herrin hinterherjagte.

Irgendetwas stimmte da nicht, der Mann stand schon eine halbe Stunde so da.

Georgina, selbst nicht gerade groß, machte sich daran, den Berg hinaufzusteigen. Den Kopf gebeugt und die Arme vor der Brust verschränkt, stellte sie keine Bedrohung dar. Sie war nichts weiter als eine zierliche Frau in einem langen Rock und einer Kapuzenjacke aus Baumwolle. Durch das Weizenfeld betrachtet sah die Sonne wie eine große, hellgelbe Scheibe aus. Zwischendurch blickte sie auf, um zu sehen, wie weit sie schon gekommen war. Inzwischen machte ihr diese Kletterei nichts mehr aus. Wo auch immer sie hin wollte, ging es bergauf. Und es hatte eine Weile gedauert, bis sie sich nach der langen Zeit in London an diese Hügellandschaft gewöhnt hatte. Anfangs hatte sie selbst bei der geringsten Steigung ständig Halt machen und nach Luft schnappen müssen.

Sie verspürte keine Angst – verglichen mit dem, was später noch kommen sollte –, nur Neugier und den Anflug eines unguten Gefühls. Vielleicht war es ein Reporter, der es geschafft hatte, sie hier aufzutreiben? Um sie bloßzustellen? Sie wieder der Sensationspresse auszuliefern? Aber vielleicht hatte sich der Mann ja nur verlaufen und brauchte Hilfe. Es könnte ein Tramper sein oder ein Künstler, oder jemand vom Landwirtschaftsministerium, der sich um das Wasser kümmern wollte.

Doch insgeheim wusste sie, dass dem nicht so war!

Als sie in die Sonne blinzelte, spürte Georgina, wie ihre gebräunte Haut um die Augen spannte. Einen Moment lang hatte sie das Gefühl, ihr Alter mache sich bemerkbar. Die Gestalt war nur als verschwommener Fleck wahrnehmbar, es hätte auch ein dunkler Baumstumpf sein können, und doch ging von ihr etwas Bedrohliches aus.

Während Lola wie wild umher rannte, weil sie wohl Kaninchen witterte, beschloss Georgie, direkt auf den Fremden zuzugehen und sich freundlich zu erkundigen, was er hier mache.

Nicht mehr.

Als sie den Pfiff hörte, blieb sie stehen. Es war ein leiser Pfiff, zwei Töne, so wie die Matrosen ihren Kapitän begrüßen oder ein Hirte seinem Hund pfeift. Und dann, sie hatte den Blick kurz von ihm abgewandt, um sich durch ein Loch in der baufälligen Mauer zu zwängen, stellte sie fest, dass die Gestalt verschwunden war… Er musste sich im Gestrüpp versteckt haben, einen anderen Unterschlupf gab es hier nicht.

Panik ergriff sie. Der Mann musste sich unglaublich flink bewegt haben.

Ein orangener Lichtstrahl fiel durch ein Loch in der Wolkendecke und wanderte über den Horizont, als ob er Georginas Furcht auf bestechende Weise bloßlegen wollte. Denn in diesem Augenblick spürte sie zum ersten Mal die Gewalt, verdrängte sie aber gleich wieder – O Gott, war sie so sehr an Gewalt gewöhnt, dass sie sie aus 500 Schritt Entfernung riechen konnte? Wahrscheinlich entsprang ihre Reaktion purer Einbildung, und solche Einbildungen können sogar für einen rationalen Menschen lebendig werden, wenn man ganz allein in dieser gottverlassenen Einöde lebt.

Auf dem Heimweg begleiteten sie der Schatten eines Bussards und das Geknatter eines Traktors in der Ferne. Mit hängendem Kopf trottete Lola hinter ihr her – für ihren Geschmack war der Ausflug zu kurz gewesen – und jagte, nach Aufmerksamkeit heischend, an einer Henne vorbei, als sie durch den Garten auf die Stille von Gorse Penn Cottage zuschlenderten.

Es war vorbei. So merkwürdig und scheinbar unbedeutend zugleich war dieser erste Vorfall gewesen. Doch Georgina war die Angelegenheit unter die Haut gegangen. Zum ersten Mal seit der Abreise Isias und Suzies am letzten Wochenende wünschte sie sich, die beiden wären hier. Zu gern hätte sie mit ihnen über die Sache gesprochen. Isla und Suzie waren die letzten Sommergäste gewesen, die versucht hatten, den schrecklichen Moment hinauszuschieben, ab dem Georgina sich an ihr neues Leben gewöhnen und den heranrückenden Winter allein ertragen musste.

***

»Aber ich bin nicht alleine«, hatte sie wieder und wieder beteuert und ihr tapferes Lächeln aufgesetzt, während sie versuchte, sich selbst mit dem Argument zu überzeugen: »Meine Nachbarn sind nicht weit weg, beinahe in Rufnähe, wenn der Wind aus der richtigen Richtung kommt.«

»Nachbarn!«, schnaubte Isla verächtlich und zog die Mundwinkel nach unten. »Du könntest Tür an Tür mit ihnen wohnen, Georgie. Das sind Freaks, von einem anderen Planeten. Nicht gerade die aufregendste Gesellschaft für die langen Abende.«

»Isla, das ist nicht fair. Du solltest eigentlich versuchen mich zu ermutigen.«

»Ich möchte nur wissen, wie du auf die Idee kommst, du könntest dich in irgendeiner Hinsicht auf sie verlassen.«

»Sie sind einigermaßen höflich.«

Und an dieser Stelle lächelte Suzie ebenso ungläubig wie Isla. »Klar, sie brummen ›Guten Morgen‹, wenn sie einem über den Weg laufen und es sich gar nicht vermeiden lässt.«

»Aber das ist doch albern«, schnauzte Georgie zurück. »Sie wollen sich nur nicht aufdrängen. Die Leute hier kümmern sich um ihren eigenen Kram und denken, ich habe es nicht gern, wenn andere ihre Nase in meine Angelegenheiten stecken. Vermutlich halten sie mich für einen Einsiedler wie meinen Bruder, einen Künstler, einen Exzentriker, der nicht gestört werden wollte. Ich wette, Stephen ging auf sie los.« Und sie empfand wieder diese Gereiztheit wie jedes Mal, wenn das Gespräch so ungemütlich intim wurde. »Und was für eine Wahl habe ich schon? Ich habe mir die Suppe selbst eingebrockt, wie meine Mutter zu sagen pflegte.«

Isla hielt ihrem Blick stand, während sie sich ein Dutzend Antworten durch den Kopf gehen ließ, um die geeignete zu finden. Besorgt sagte sie schließlich: »Vor allem hättest du nie hierher ziehen sollen. Vom Regen in die…«

»Du hältst mich wohl für einen kompletten Dummkopf?«

Isla wich ihrem Blick aus und griff nach ihrem Glas. Sie lag auf dem bequemen Sofa neben dem knisternden Kaminfeuer, dessen Flammen sich in den übergroßen Gläsern ihrer Hornbrille spiegelten. »Meiner Meinung nach hast du überreagiert, ja. Meiner Meinung nach bestrafst du dich selbst, wenn du es immer machst. Gott sagte: ›Auf allen seinen Köpfen ist eine Glatze, jeder Bart ist abgeschoren.‹ Und du, meine liebe Georgina, wünschst dir insgeheim eine Glatze.«

Nicht gerade komisch. Georgie wickelte sich – ungewohnt nervös – eine Haarsträhne um ihren Finger und rieb ihre ausgeleierten Socken aneinander, während sie gedankenverloren ins Feuer starrte. Unvermittelt verspürte sie den Drang, sich nach vorne zu beugen und ein paar verrutschte Holzscheite in dem riesigen Feuerplatz geradezurücken. Ein kalter Windstoß fuhr durch den gewaltigen Kamin herunter. Gereizt meinte sie: »Ich hatte damals nicht die Zeit, alles durchzudenken! Verdammt nochmal! Das Haus hier schien mir die ideale Zuflucht, ein friedlicher Hafen in einer feindlichen Welt, aber warum schlage ich mich schon wieder mit diesem ganzen Mist rum? Ihr wisst, wie es war. Um Himmels willen, ihr wisst, wie es mir damals ging.«

»Es war die Hölle«, stimmte Suzie zu. Ihr Haar war kraus wie frisch geschorene Wolle, ihre Haut so glatt wie die einer rotbackigen Porzellanpuppe mit einer kalten, glänzenden Nase. Die Abende waren bereits recht kühl, und Suzie kuschelte sich in ihren weiten, knielangen Fleecepulli. »Eben, aber du hättest dich ja vorübergehend hierher zurückziehen und das Häuschen dann trotzdem verkaufen können. Niemand hätte sich vorgestellt, dass du in Gorse Penn endest, Georgie. Niemand hätte geglaubt, dass du so weit gehen würdest.«

Nein, nicht einmal Georgina selbst. Aber sie hätte sich auch nicht vorstellen können, welcher Albtraum sie hier erwarten würde.

»Würde ich das Cottage zum Kauf anbieten, müsste ich die ganze Zeit hier sein, um es den Interessenten zu zeigen. Und diese fremden Leute wären mir zu viel gewesen. Ich könnte nicht immer schön freundlich lächeln und ständig Theater spielen. Versteh mich doch, Suzie, ich könnte mich unmöglich mit Dingen wie Staubsaugen oder Saubermachen oder Gartenarbeit rumschlagen.«

»Das ist doch lächerlich.« Isla klopfte auf dem Sofa die weichen Kissen zurecht und stopfte sie sich hinter den Rücken. Eine fedrige Aura von Alter und Staub stieg auf und mischte sich in die Atmosphäre. »Darum hätte sich doch der Anwalt gekümmert. Du hattest doch gleich ein Angebot. Das wäre überhaupt kein Problem gewesen, das Cottage als Ferienhaus zu verkaufen, wo es doch mitten in Dartmoor liegt. Ein Vermögen hättest du damit machen können – im Originalzustand, mit den alten Balken, den alten Fenstern, dem Steinboden…«

»Keine Zentralheizung«, unterbrach Georgie sie, die es fröstelte, als sie von dem kleinen Wohnzimmer in die noch kältere, primitivere Küche ging, um Pilze in den Eintopf zu geben. Vielleicht hätte sie die Wände nicht weiß streichen sollen, ein wärmerer Ton hätte Wunder gewirkt. Die Teppiche und die Bilder halfen etwas.

Lola schnarchte so laut an ihrem Platz vor dem Feuer, dass sie sich dadurch selbst aufweckte.

»Wir machen uns nur Sorgen, dass du noch depressiv wirst, dass dir die Einsamkeit zu viel wird und du am Schluss vollkommen daneben bist, wenn du den Winter hier so überstehen willst«, rief Suzie durch die schmale Tür und warf einen bedeutungsschweren Blick Richtung Isla. »Du nimmst deine Umwelt gar nicht mehr richtig wahr. Und es ist ja nicht so, dass es bereits zu spät wäre. Du könntest mit uns zurück nach London kommen, das Haus inserieren und dich auf die Suche nach einem geeigneteren Haus machen.«

Georgie kaute an ihren Fingernägeln und sah den Pilzen beim Kochen zu. Dabei ließ sie den Dampf über ihr Gesicht streichen und sog den Duft des Eintopfes genüsslich ein. Die Wärme und das gut und mit Liebe zubereitete Essen spendeten ihr Trost. Seit sie hier lebte, waren ihre Mahlzeiten saftiger und vielseitiger geworden… Obst und Gemüse, soviel das Herz begehrte… in der engen Küche war es einfacher, mit nur einem Topf zu kochen. Kartoffeln aus dem eigenen Garten und als Nachspeise selbstgemachter Apfelkuchen mit Sahne.

Und doch klang alles, was Isla und Suzie sagten, vernünftig, während jedes Argument, das sie vorbrachte, sofort in sich zusammenfiel. Falls sie aber versuchte, irgendetwas zu beweisen, indem sie sich stur stellte, was, um Himmels willen, war es dann?

Das alles hatte ihr so viel Angst eingejagt, sie so eingeschüchtert. Am schlimmsten jedoch war, mit welcher Leichtigkeit sie in diesen wenigen Monaten vernichtet worden war, am Boden zerstört, ihr Selbstvertrauen hinweggefegt. Das in zweiundvierzig Jahren aufgebaute Selbstvertrauen war von einem Augenblick auf den anderen weg. Bis sie, nach einigen durchweinten Nächten, das Gefühl hatte, Georgina Jefferson hätte seit ihrer Kindheit eine Maske getragen, hinter der sich nichts verbarg. So unbedeutend wie das letzte bisschen Seife, das bald im Abfluss verschwindet.

Hatte sie wirklich geglaubt, sie könne sich selbst finden, wenn sie eine Zeit lang in Einsamkeit lebte, wie ein Einsiedler, mit Lola als einziger Gesellschaft? War es so einfach, wieder groß und stark zu werden?

Ich werde mich betten auf grüne Auen. Sie wollte, dass ihre Seele geheilt würde.

Oh, ich bin stark und stehe mit beiden Beinen fest auf dem Boden…

Das zumindest erklärte sie ihren Freundinnen, als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte. Sie sagten, sie verstünden ihre Motive, wüssten, wie schnell einen solche Angriffe von allen Seiten demoralisieren und zermürben konnten.

»Sogar Leute, die ich für Freunde hielt, wendeten sich von mir ab«, jammerte sie, übermannt von einem Selbstmitleid, das ihr selbst fremd war. »Könnt ihr euch wirklich vorstellen, wie das ist? Leute anzurufen – die Anrufe bringen einen schon in schlechte Stimmung –, so verzweifelt zu sein, die schweißnassen Hände, das Herzklopfen, dieses unerträgliche Bedürfnis nach Zuspruch und dann dieser ruhige Ton, in dem einem erklärt wird, es sei gerade niemand da, man rufe zurück, wenn man genau weiß, dass sie zu Hause sind.« Sie spielte mit Lolas weichen Ohren wie ein Kind mit seinem Kuscheltier. Der Hund schlug ein Auge auf. Es war weich und braun und feucht, floss über von Liebe. »Und als wäre das nicht genug, kreuzigen dich andauernd noch die Zeitungen.«

»Das hätte jedem von uns passieren können.«

»Sag das nicht noch einmal! Ich halte es nicht mehr aus! Es tut mir Leid, es tut mir Leid, ich weiß, es hätte jedem passieren können, Suzie, aber es ist, verflucht noch mal, mir passiert!«

Und Georgie wollte noch brüllen, dass sie Zeit für sich brauchte, um das Kind mit den weisen Augen zu trauern, das unfrisiert in einem körnigen Rahmen auf den Titelblättern geendet hatte. Das Kind, dessen Leben in ihren Händen gelegen war. Das Kind, das sie durch ihre Unfähigkeit verraten und dessen Tod sie verschuldet hatte. Aber dieser Protest war nicht notwendig, weil Isla und Suzie das ohnehin klar war. Als Sozialarbeiterinnen hätte jeder von ihnen nun mal dasselbe passieren können, und es wird immer wieder passieren, alle paar Jahre, und jedes Mal war es wieder genauso schrecklich…

»Was hätte ich tun können« war so eine ausgeleierte Frage, dass sie aufgehört hatte, sie zu stellen, sogar sich selbst. Wenn sie nur die Zeit zurückdrehen könnte. Aber was brachte das alles? Sie hatte gewusst, dass diese unglückselige Wohnung von Gewalt beherrscht wurde. Sie quoll durch diese kalte gelbe Eingangstür mit dem schmalen metallenen Briefschlitz, durch den sie eine Benachrichtigung nach der anderen gestopft hatte, immer wieder, durch den sie so oft gerufen hatte. Ohne Hoffnung auf Erfolg. Abgekämpft. Verängstigt.

Und jetzt, da sie sich in ihrem durchgesessenen Lehnstuhl, der selbst im Spätsommer noch modrig roch, nach vorne beugte, die Hände rang und ihr Gefühlsleben vor ihren Freundinnen ausbreitete – und zugleich spürte, wie sie sich innerlich dagegen sperrte –, hätte sie am liebsten geschrien: Und ich bin dankbar, dass ihr mir die Freundschaft nicht aufgekündigt habt, lieber Gott, merkt ihr das? Denn das hieß, dass ihrer Freundschaft, die einmal auf Gegenseitigkeit beruht hatte, die einmal so ehrlich gewesen war, wie eine Freundschaft nur sein konnte, etwas verloren gegangen war. Auch wenn sie das als Affront aufgefasst und geantwortet hätten: »Das ist absurd.« Ja, dieser innere Widerstand, diese Bitterkeit war da, und daran ließ sich nichts mehr ändern. Und was hätten sie erst davon gehalten, wenn Georgie sie in ihrer angeschwipsten Wohligkeit angebrüllt hätte, wonach ihr gerade war: Diese entsetzliche, teuflische Sache ist niemandem von euch passiert, aber bei Gott, ich wünschte, es wäre so gewesen! Ich säße gern an eurer Stelle und hätte die guten Ratschläge und das Mitgefühl. Ich wünschte, es wäre umgekehrt gewesen.

Sie gab ihnen zu wenig und sie gaben ihr zu viel.

Sie nahm den Gesprächsfaden wieder auf. »Ich wünschte, es wäre zu einer Verhandlung gekommen. Das wäre fairer gewesen, ich wäre ohnehin verurteilt worden.«

Unglücklich. Verzweifelt. Und schuldig.

»Nein, wärst du nicht. Bei den Ermittlungen ging es nie darum, ob du schuldig bist, Georgie. So einfach liegen die Dinge nie. Du hast alles Menschenmögliche unternommen. Du bist keine Hellseherin. Die Ermittlungen ergaben, dass dir nichts vorzuwerfen ist.«

»Nichts vorzuwerfen? Du lieber Gott! Ein Kind wird umgebracht und wir haben uns alle nichts vorzuwerfen? Ich hätte mehr tun können. Man kann immer noch was tun.«

Isla nahm ihre Brille ab und rieb die riesigen runden Gläser an der Armlehne des Sofas, als wolle sie sie polieren und gleichzeitig Georgie mustern. »Du brütest ständig darüber nach, stimmt’s? Kannst nicht aufhören, dich selbst zu bestrafen? Man sieht es dir an. Wir reden ganz normal miteinander und plötzlich sinkst du in dich zusammen, machst zu, dein Gesichtsausdruck verändert sich und du bist ganz woanders.«

Während dieses kurzen Wortwechsels versuchte Georgie mit fest zusammengebissenen Zähnen tapfer zu lächeln. Sie faltete die Hände im Schoß. »Wie zum Teufel soll ich mich davon ablenken? Länger als fünf Minuten habe ich es bislang noch nicht geschafft, nicht daran zu denken. Und nachts quälen mich deshalb Albträume.« Sie konnte es genauso gut zugeben. Ja, ja, diese ständige Selbstbestrafung wegen der winzigsten Details, die ganzen Wenns und Abers und Hätt-ich-nurs, lauter zusätzliche Nadelstiche.

»Was stinkt hier eigentlich so widerlich?« Gott sei Dank ein anderes Thema.

»Da muss eine tote Ratte in der Mauer sein.«

»Gestern Nacht im Bett habe ich schon gedacht, ich hörte etwas scharren. Vielleicht könnte einer deiner Nachbarn, die sich mit so was auskennen, das Vieh vergiften.«

***

Georgie fühlte sich unwohl mit ihren Besuchern, von denen einige Arbeitskollegen waren, einige alte Freunde, manche noch aus der Zeit mit Toby, andere aufgesammelt entlang des rauen Lebensweges. Ein steter Strom an Freunden kam zwischen Juni und September, und so unglaublich es klang, sie war nie länger als achtundvierzig Stunden allein gewesen. Sie brachten Abwechslung in ihr Leben. Aber es war egal, ob sie zusammen am Haus arbeiteten, wie viel Spaß sie dabei hatten, während sie bei Sonnenschein Zäune reparierten, das Strohdach ausbesserten, den steinharten Boden umgruben und den Bach ausräumten. Es war egal, wie fröhlich ihre gemeinsamen Picknicks waren, wie viele Flaschen Wein sie leerten, sie kam nicht darüber hinweg, so sehr sie sich auch bemühte. Die anderen hatten Glück und sie selbst war verflucht. Sie brachten ganze Wagenladungen an Vorräten, arbeiteten mit vollem Einsatz, leisteten ihren Obolus. Doch sie übertrieben es dabei etwas mit ihrer Güte. Ihre Besuche waren Kondolenzbesuche, sollten ihr in der Stunde der Not den Rücken stärken. Sie hätte es nicht anders gemacht, wären die Karten anders verteilt gewesen. Sie dankten ihr für ihre Gastfreundschaft, sie dankten ihr für die Urlaubstage, aber mehr aus Höflichkeit, während Georgie dankbar war. Und dadurch stand etwas Unangenehmes zwischen ihnen, mit dem sie nur schlecht zurechtkam.

Vielleicht war sie überempfindlich, aber mit einem Mal konnte sie verstehen, warum Hilfsbedürftige ihren Wohltätern so ablehnend begegnen. Man kann nur ein gewisses Maß an Unterstützung ertragen, bevor man sich wie ein Krüppel fühlt.

Auf eine perverse Weise hinderten sie diese ständigen Besucher daran zu gesunden. Und dennoch, schon eine Woche nach ihrer Abreise wünschte sie sie sich zurück. Sie fürchtete, den Boden unter den Füßen zu verlieren, hatte Angst, verrückt zu werden.

***

Sie erfuhr von Roger Mace, dass Angela Hopkins tot war. Zu allem Überfluss auch noch über das Telefon, ein sehr privater Anruf. Das Klingeln des Telefons weckte sie auf – in ihrem Kopf schrillten die Alarmglocken –, sie hörte die Nachricht, die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ, in einem warmen, zerknüllten Bett. »Georgie, es tut mir Leid, ich wollte es dir selbst sagen.«

Sie musste es wissen, zusammengekauert hielt sie den Atem an, sie durfte kein Wort überhören. »Wie starb sie?«

»Sie sind sich noch nicht sicher… ein Schlag auf den Kopf…«

»Wann?« Sie klammerte sich an der Decke fest. Der Tod war so nah, sie konnte ihn spüren. Ihre Fesseln waren bleich wie Knochen, so dünn wie die eines Kindes, wie die eines Skeletts.

»Vergangene Nacht.«

»Und Patsy und Carmen?« Sie bemühte sich, ruhig und höflich zu bleiben.

»Natürlich bleibt uns immer der Weg, das Kind durch einen Richter in ein Heim einweisen zu lassen, aber bislang gibt es keinen Hinweis auf Misshandlung.«

»Was geschieht nun?«

»Na ja, ich bin kein Experte, aber der Fall wird vorrangig behandelt werden. Er ist von großem öffentlichem Interesse.«

Ihre Haare fielen nach vorne, verdeckten ihr Gesicht. »Ich komme sofort ins Büro. «

»Nein, Georgie, bleib wo du bist. Dafür ist später noch Zeit genug.«

Eine freundliche Warnung. Ein Vorgeschmack auf die messerscharfe Überwachung. Sie hatte um keine Erklärung gebeten. Und dann war es plötzlich déjà vu, sie hatte die ganze Zeit gewusst, dass dies geschehen würde und was folgen würde. O Gott, lass es bitte nicht wahr sein. Sie hatte es insgeheim die ganze Zeit gewusst und nichts dagegen unternommen. Schuldig wie Ray Hopkins, dieser Schweinehund, dessen Kopf wie ein Geschoss aussah und der hinter der gelben Tür wohnte und Stein und Bein schwor, seine fünfjährige Tochter sei die Treppe hinuntergefallen.

Sie sank zu Boden mit bebenden Lippen, Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie hielt sich mit einer Hand den Mund zu und kniff die Augen zusammen. Der Gedanke schoss ihr durch den Kopf, wenigstens war es schnell vorbei, lieber Gott, zumindest ging es schnell. Jeden weiteren Gedanken an das Kind verbot sie sich, nein, nicht in diesem Augenblick. Sie verdrängte die kleine Angela. Und das war der nächste kleine Verrat.

Als hätte sie sie nicht gekannt.

Kapitel 2

Silbern schimmernd und unglaublich schön, wie eins dieser Viewmaster-Bilder von Heidi, und dank ihres Autoduftbaums nach Vanille riechend – das war Georginas erster Eindruck von Gorse Penn Cottage. Eine kühle Schönheit, scharf, eher wie ein Ton.

Das war im Februar, einem Monat der Tränen, und Angela Hopkins war im Dezember gestorben. Weihnachten war für Georgie ausgefallen, und Silvester ebenfalls. Die Nachricht, dass ihr Bruder Stephen an Leberzirrhose gestorben war, war ein weiterer vernichtender Schlag. Es war vollkommen irrational, aber Georgie war am Boden zerstört. Wieso diese traumatische Wirkung?

Weil sie ihn nicht gekannt hatte.

Eine gesunde Leber war, selbst im Teigmantel, schon schlimm genug. Und seine hatte wohl so ausgesehen wie eine braune Leber in der Auslage des Metzgers im Sommer. Solch eine entsetzliche Geschichte aus einem Anwaltsbrief zu erfahren schien Georgie ein Sinnbild dafür, wie schrecklich steril ihr Leben war.

Was hatte sie mit zweiundvierzig schon vorzuweisen? So dachte sie. Es war ja nicht so, dass Stephen ihr das Cottage eigens vermacht hatte, als freundliche Geste oder aus einer Gefühlsregung heraus. Nein. Er hatte kein Testament gemacht, und da Georgie die einzige Hinterbliebene war, gehörte das Cottage samt Inventar ihr, wenn sie es wollte. So kalt und steril lief das.

Sie heulte und heulte, und es wurde nicht besser.

***

Sie hatte das Gefühl, man habe ihr einen Teil ihrer Persönlichkeit geraubt. Dinge, die man zu lange für sich behält, können als Hysterie wieder aufbrechen. »Ich hab ihn nicht einmal gekannt«, jammerte sie Helen Mace vor, der Frau des Sozialamtsdirektors, als sie in ihrem in Holz und gedeckten Farben gehaltenen viktorianischen Wohnzimmer mit den Laura-Ashley-Tapeten saß. »Stephen war zwanzig Jahre älter als ich und wurde totgeschwiegen. Schwarzes Schaf, du weißt schon.« Georgies Haare klebten tränennass an ihren Wangen. »Ich wuchs auf in dem Glauben, er sei ein Taugenichts, ein Säufer, der von der Welt nichts mehr wissen will und zum Einsiedler geworden ist.« Sie schniefte und wischte sich gegen alle Regeln mit dem Handrücken die Nase. »Er lief von zu Hause weg… mit sechzehn, und sie kappten wohl die Leinen, beziehungsmäßig wie finanziell. Auf alle Fälle machte er keine Anstalten, nach Hause zurückzukehren… Kontakt zu seiner Familie war anscheinend das Letzte, was Stephen wollte, zumindest hieß es das immer. Ich habe oft daran gedacht, ihn zu suchen und ihm einen Brief zu schreiben, aber die Zeit vergeht und es bleibt beim Vorsatz. Ich stellte mir immer vor, ich würde ihn eines Tages ausfindig machen. Vielleicht wusste er ja nicht einmal, dass es mich gibt. Und er war doch mein Bruder«, schluchzte sie, »und nach dem Tod meiner Mutter mein letzter lebender Verwandter.«

Wie sie es hasste, wenn sie sich so aufführte. So hilfsbedürftig. So ohne Kontrolle. So wie die arme Millie Blunt, als man ihr das tote Baby wegnahm. Aber wenigstens stampfte sie nicht mit den Füßen auf. Wenigstens schrie und kreischte sie nicht. Sie war nicht an die Kirchentür gekettet, aber Helen war zweifelsohne vor den Kopf gestoßen.

»Das hat dir gerade noch gefehlt«, tröstete sie die erschöpfte Georgie mit dem rotgefleckten, verweinten Gesicht und den dunklen Ringen unter den Augen mitfühlend. Das war nicht die kompetente Georgie, wie sie sie kannte. »Und es hilft auch nichts zu sagen, was passiert ist, ist passiert, es bringt nichts, ständig zurück zu blicken und sich zu wünschen…«

»Aber es ist noch so eine Scheißgeschichte, oder?« rief Georgie verzweifelt, während sie mit dem Fuß im Takt gegen das Stuhlbein stieß. »Noch so eine Scheißgeschichte, bei der ich mich zu gern anders verhalten hätte, aber man schiebt und schiebt es und plötzlich ist es zu spät.« Doch Worte konnten ihre Verzweiflung nicht ausdrücken.

Die liebe, gute Helen, mit ihrer steifen Solidarität, der an eine russische Babuschkapuppe erinnernden Figur und dem geschraubten Public-school-Akzent. Sogar die Luft schien sich um sie her langsamer zu bewegen, so besonnen und in sich ruhend war die Frau des Direktors, das von Grund auf nüchterne Produkt von Wycombe Abbey. Sie verlor nie die Fassung. Mit zwei Kindern auf dem Schoß konnte sie ein drittes füttern, ein viertes auf den Topf setzen und gleichzeitig noch ein vernünftiges Gespräch führen. Helen war eine Heldin, die man sich gut auf einem Leuchtturm vorstellen konnte, die wie Grace Darling im Sturm hinausruderte, um Schiffbrüchige zu retten. Helen war eine Oase in Georgies dürrer Kummerwüste, zu ihr ging sie, wenn sie Trost brauchte, devot wie ein kniefälliges Kamel mit einer riesigen, zitternden Unterlippe.

»Ob ich ihn mochte oder nicht, ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass ich ihn nicht kannte. Ich habe meinen eigenen Bruder nicht gekannt.« Und die Trostlosigkeit und das Selbstmitleid, die in dieser letzten, lapidaren Bemerkung mitschwangen, gaben ihr den Rest. Sie sank in sich zusammen wie ein Wackelpudding, der zu früh gestürzt wurde. »O Gott, wie ich dieses Gefühl hasse! Vielleicht ist das meine Nemesis, weil mein Leben so leicht war. Vielleicht ist es jetzt soweit und ich werde mit der Wahrheit konfrontiert.«

Helen war nicht die Art von Frau, die sich so mir nichts dir nichts in eine ausweglose Seelenschau hineinziehen ließ. Die Wahrheit war hier nicht das Thema. Hier musste etwas Positiveres her oder dieses Gespräch würde bis zum Morgengrauen dauern und zu keinem Ergebnis führen. Sie schmierte den getoasteten Teekuchen mit Butter und Marmite und reichte ihn Georgie. »Stephen war ein Künstler?« fragte sie nachdenklich.

»Ja, das behaupteten sie zumindest immer.«

Helen zuckte die Achseln. Sie redete nicht lange um den heißen Brei herum. »Dann müssen seine Bilder ja irgendwo sein.«

Kleinlaut wischte sich Georgie die roten Augen. Sie starrte verwirrt auf den Teekuchen. »Ich hab nie welche gesehen.«

Das Thema behagte Helen zusehends, sie spürte Georgies wachsendes Interesse, den besänftigenden Einfluss, den es auf ihren aufgewühlten Geist hatte. »Eigentlich müsstest du etliche davon in diesem Cottage in Devon finden. Es ist vielleicht zu spät, um ihn kennenzulernen, aber möglicherweise hilft es dir, ihn zu verstehen. Seine Bilder könnten dir mehr über ihn verraten, als wenn du ihn persönlich gekannt hättest.«

Sie griff nach diesem Strohhalm. Helens Worte waren wie eine Einladung. Die Arme über Kreuz, die Handflächen gegen die Ellbogen gepresst, trat sie unruhig ans Fenster. »Meinst du wirklich?«

Helen nickte. »Ja, davon bin ich überzeugt. Und du weißt ebenso gut wie ich, Georgie, dass, wenn Stephen ein Alkoholproblem hatte, seine Unfähigkeit mit dir Kontakt aufzunehmen, keine persönlichen Gründe hatte. Es war Teil seiner Krankheit, der arme Teufel. Und indem du seinen Wunsch respektiert hast, hast du auch ihn respektiert.«

Georgie kehrte zu ihrem Stuhl zurück und begann an ihrem Teller zu nesteln. Helen reichte ihr eine Serviette. Der Teekuchen hüpfte hoch. »Sei nicht so verdammt begütigend«, fuhr Georgie sie an. »Ich habe nur deshalb nichts unternommen, weil ich nie dazu kam. Mit Respekt hatte das nichts zu tun.«

»Nur weil du es nicht geplant hast, heißt noch lange nicht, dass es nicht richtig war«, wandte Helen geduldig ein. »Du hast ihn in Ruhe gelassen, und genau das wollte er. Und jetzt ist er tot und du kannst drangehen, ihn zu suchen. Dich auf Entdeckungsreise begeben. Auf eine Pilgerfahrt nach Lourdes.«

»Meinst du, ich soll fahren?« Georgie hatte alle Antriebskraft verloren und brauchte einen leichten Schubs. In ihrem Zustand erschien ihr die Fahrt nach Devon wie die Reise zum Mond.

»Warum fährst du nicht an diesem Wochenende? Wenn du willst, komm ich mit. Roger könnte sich um die Kinder kümmern.«

Aber wenn Georgie fuhr, wollte sie alleine fahren. Sie begann diese Reise als eine Art Exorzismus zu sehen, als irgendwie heilig, und je kühner das Unternehmen, um so besser würde sie sich hinterher fühlen. Zwei endlose Monate lang hatte sie alles darangesetzt, nicht alleine zu sein, die Gedanken, die sich ihr dabei aufdrängten, waren einfach zu schrecklich. Aber so konnte es nicht weitergehen, eine Reise war vielleicht der beste Weg, dass sie sich wieder an ihre eigene Gesellschaft gewöhnte. Die Zeit war so schwer zu füllen. Die Freistellung von der Arbeit bedeutete lange, unausgefüllte Stunden, und die wenigen ausgefüllten waren furchtbar und machten sie fertig. Sie fühlte sich wie ein Gefangener, der auf die Schritte des Folterknechts lauscht. Und diese ließen nie lange auf sich warten. Ständig kam jemand, um weitere Fragen zu stellen, um sich ihre Entschuldigungen anzuhören, sich Notizen zu machen und Kommentare abzugeben, wenn sie wieder und wieder ihre Version der entsetzlichen Geschichte erzählte. Aus der Sensationspresse schlugen ihr die Schlagzeilen entgegen. WIE VIELE KINDER MÜSSEN NOCH STERBEN, BEVOR SICH ETWAS ÄNDERT? und: ZWANZIGTAUSEND PFUND IM JAHR, UM SPÄTER ZURÜCKZURUFEN. EINE KETTE TÖDLICHER ENTSCHEIDUNGEN. Und vor ihrer Wohnung lauerten sie auf sie, ganze Reporterrudel in schwarzen Jacken und Mänteln, mit Mikrophonen, Kameras und glänzenden Augen.

»Mrs. Jefferson, hierher bitte, was denken Sie über…?«

»Werden Sie weiterhin als Sozialarbeiterin tätig sein, wenn Sie entlastet worden sind…?«

»Wieso ignorierten Sie sämtliche Anzeichen und trafen diese fatale Entscheidung, Angela zu Hause zu lassen?«

»Stimmt es, dass Sie keine eigenen Kinder haben?«

Sie ließ die Fragen eisern über sich ergehen.

Anfangs hatte Georgie in ihrer Naivität versucht, ihnen alles zu erklären, obwohl die Gewerkschaft ihr nahegelegt hatte, sich in diesem frühen Ermittlungsstadium jeden Kommentars zu enthalten. Aber sie musste sich einfach gegen die grotesken Vorwürfe wehren, und warum, verflucht noch mal, sollte sie dazu schweigen? Sie sollten ruhig erfahren, wie viele gefährdete Kinder sie zu betreuen hatte, wie groß der Personalmangel war und wie viele Überstunden sie alle einlegen mussten. Man musste ihnen einfach klar machen, welche Atmosphäre nachts in diesem Sozialbau herrschte und was es bedeutete, immer wieder vorbeizuschauen, wenn die Vandalen die Lampen kaputtgemacht hatten, überall die benutzten Spritzen herumlagen und es so unheimlich ruhig war – bis auf das leise Hintergrundrauschen der Fernsehgeräte, dem gelegentlichen Hundegebell, Kindergeschrei oder Fluchen. Sie sollten sich einmal damit auseinandersetzen, was es für ein Kind bedeutete, aus seinem häuslichen Umfeld herausgerissen zu werden, wie sich das auf eine dysfunktionale Familie auswirkt und wie leicht man dabei einen Fehler machen kann. Bevor sie weiter ihre Lügen druckten, wollte sie ihnen verflucht noch mal Bescheid stoßen, dass Ray Hopkins und seine liebe Frau Gail geschickte Lügner waren, denen selbst erfahrene Experten auf den Leim gingen, und dass Gewalt immer Angst macht und schon bei Tageslicht schwer anzugehen ist, ganz zu schweigen in der Dunkelheit.

Gewalt.

Ja, dieses Pack da draußen vor ihrem Fenster verstand etwas von Gewalt.

Sie sprach mit ihnen. Sie setzte sich mit ihren Fragen auseinander. Sie versuchte, ihnen alles zu erklären.

Sie drehten ihr die Worte im Mund um und schleuderten sie ihr wie Steine entgegen. Georgie hatte einmal ein Video gesehen, in dem eine Frau in einem biblischen Land vorkam, die zu Tode gesteinigt werden sollte. Die Grausamkeit dieses Szenarios hatte sie nie vergessen können, sie wünschte sich, diesen Film nie gesehen zu haben. Nicht mehr vor Augen zu haben, wie das Opfer einen Dolch umklammerte, als sie an einem Marktstand vorbeikam, ihn in Mitleid erregender Weise gegen ihre Feinde erhob (wahrscheinlich würde sie sonst gerade einen Fisch fürs Abendessen einkaufen). Diese Geste war so hoffnungslos und so verzweifelt angesichts der Folter, die ihr bevorstand. Weder Dolche noch Worte konnten etwas gegen derart entschlossene Gegner ausrichten.

Sie beschimpften sie als liberalen Öko mit Flower-Power-Flausen.

Aber dem war nicht so. Sie war nicht so.

»Kein Kommentar«, lautete die offizielle Anweisung. »Sie sehen, was passiert. Sagen Sie nicht, wir hätten Sie nicht gewarnt.«

Ein Sündenbock musste her. Jeder konnte sehen, dass Ray Hopkins ein unfähiger, fauler Kerl war. Und es war ja nicht so, dass die Behörden nicht von verschiedenen Seiten darauf hingewiesen worden wären.

»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie oft ich mitten in der Nacht die Notfallnummer angerufen hab«, machte sich eine zahnlose Nachbarin vor den Kameras der Neun-Uhr-Nachrichten wichtig, und um sie herum nickten die Lockenwicklerköpfe. »Kann gar nicht sagen, wie oft.« Aber diese Anrufe waren nicht registriert worden, und als die Polizei sie dazu befragte, schwieg sie.

»Das Land geht vor die Hunde. Zu viele Gutmenschen, wenn sie mich fragen.«

Georgie bekam Briefe von Leuten, von denen sie noch nie gehört hatte. Gemeine Briefe, meistens anonym, und sie hatte Angst, weil diese Fanatiker es geschafft hatten, an ihre Adresse zu kommen. Sie wussten, wo sie lebte, und sie wollten ihren Tod. Sie riefen sie mitten in der Nacht an und flüsterten Gemeinheiten in den Hörer. »Miststück.« »Verbrecherin.« »Kindsmörderin.« »Nutte.«

Und sie wollte ihnen entgegenbrüllen: »Was soll das? Geht es nicht in euren Kopf? Ihr könnt Angela nicht mehr lebendig machen. Ich kann sie nicht mehr lebendig machen!« Aber sie brüllte nicht, sie hörte zu. Und sie verstand, dass dies eine verständliche Reaktion war, der verzweifelte Aufschrei einer bestürzten und zutiefst verstörten Welt. Als könne man nicht unaufgeregter damit umgehen.

Was in der Tat nicht ging.

Die Unterstützung, die sie bekam, reichte nicht aus, sie vor diesen Angriffen abzuschotten. Wie oft man ihr auch versicherte, ihr Verhalten sei korrekt gewesen, es hätte jedem passieren können, wie viele Leute ihr auch erklärten, sie sei die beste Sozialarbeiterin im Team, loyal, ständig am Ball, mit dem Herzen bei der Sache und sehr erfahren, die Tatsache blieb auf schmerzhafte Weise bestehen, die Tatsache, die niemand wegdiskutieren konnte. Die Tatsache, die den nächtlichen Ruhestörern absolut klar war… Ich, Georgina Jefferson, bin verantwortlich für den Tod dieses Kindes.

Allmählich wurde es unerträglich. Georgie wurde unerträglich. Sie konnte sich selbst kaum mehr ertragen.

Sie meinte, fast paranoid, die Menschen würden sich nach ihr umdrehen, wenn sie die Straße entlang ging oder mit der U-Bahn fuhr. Die Vorstellung verfolgte sie, die Fahrer in den anderen Autos würden ihr böse Blicke zuwerfen, während sie an der Ampel stand. Vollkommen verunsichert blickte sie sich ständig um. Stehenzubleiben bedeutete, eine Angriffsfläche zu bieten. Sie war erleichtert, wenn die Ampel umschaltete. Sie war felsenfest davon überzeugt, dass sie in den Geschäften absichtlich langsamer bedient wurde. Ihre Nachbarn wichen ihr aus oder senkten verlegen den Blick, wenn sie ihr begegneten. Und die ganze Zeit über wusste sie, dass das krank war – sie war zwar in den Nachrichten, aber deshalb noch lange nicht berühmt oder berüchtigt – so bekannt war ihr Gesicht nicht. Und dennoch kam es ihr so vor, daran ließ sich nicht rütteln.

Aber weitaus schlimmer war, und das war keine Einbildung, dass einige ihrer Freunde sich von ihr distanzierten, O ja. Natürlich gingen sie dabei nicht plump vor. Es dauerte etwas, bis ihr die Wahrheit dämmerte, bis ihr klar wurde, was vor sich ging.

Andere wiederum kamen freundlicherweise auf sie zu. Das war auch wieder bedrohlich. An Angela Hopkins dachte sie nicht.

Es war ihr, ganz einfach, unmöglich.

Kapitel 3

Georgina Jefferson hatte Angst – wie bedauernswert! Angst davor, diese Fahrt alleine zu machen. Sie wünschte sich, mit dem Rauchen nicht aufgehört zu haben. Und warum hatte sie sich die Mühe gemacht, das Auto zu putzen?

Der Seitenstreifen und der gelegentliche Grünstreifen waren gesäumt mit Resten alten Schnees, unansehnlich wie nicht richtig gegangener Teig. Die Landschaft draußen hatte dieselbe Farbe wie ihre Windschutzscheibe – schmutziggrau. Ihr war ganz klamm zu Mute, als sie diese einsame Reise antrat, von der sie nicht wusste, wohin sie ging – an deren Ende sie niemand mit offenen Armen oder einem Drink empfangen würde, ihr die Zimmer zeigte oder ein Handtuch brächte. Wie die erste Fahrt ins Internat, als Mami sie vollkommen überraschte, als sie einfach sagte: »Geh und such dir Freundinnen, Georgina.« Sich Freundinnen suchen? Wie geht das? Alle anderen hatten eine Freundin. Sie war die einzige, die alleine da stand. War in ihrer frühen Entwicklung etwas falsch gelaufen? Hatte sie nicht gelernt, auf Bestellung Freundschaften zu schließen? Vielleicht stimmte etwas mit ihrem Lächeln nicht? Lag es etwa an den unzähligen Tränen?

Ach, eine beste Freundin. Dafür hätte sie alles gegeben. Sie gab sich Mühe. Damals versuchte sie zu sehr, es allen recht zu machen. Selbst wenn Georgie zur Clique gehörte, hatte sie nie eine richtige Freundin, eine Freundin ganz allein für sich, mit der sie nachts im Bett flüstern und kichern und Geheimnisse austauschen konnte. Sie kam mit allen zurecht, es fiel ihr auf geradezu schockierende Weise leicht. Wie viele Gesichter hatte sie eigentlich? Und welches war ihr richtiges? Vielleicht spürten die anderen Mädchen im Internat, dass irgendetwas mit ihr war, und misstrauten ihr. Oder vielleicht kamen ihr die anderen zu nahe?

Sie fand es nie heraus.

Da war sie nun, allein unterwegs. Und dann dieses merkwürdigste aller Gefühle, als sie in die Raststätte einbog, diesen gespenstischen Vorhof, wo sie anhielt um zu tanken. Sie zuckte zusammen, als sie den eiskalten Einfüllstutzen in die Hand nahm, der schneidende Wind brannte ihr im Gesicht, sogar die Augen trockneten ihr aus, während sie auf die langsam vorrückende Nadel starrte. Die ganze Zeit kniff sie den Mund zusammen, um ja nicht dieses ölgeschwängerte Eis einzuatmen.

Danach die verrückte Wärme im Restaurant, das Klappern der Tabletts und die muffigen Kellnerinnen. Sie sahen aus, als trügen sie Pantoffeln, doch ein Seitenblick, und Georgie konnte sich davon überzeugen, dass dieser Eindruck trog. Wo wohnten sie, diese Wesen von Nirgendwo? So weit das Auge reichte, waren nur Felder und Wiesen zu sehen. Gott verlassen. Seelenlos. Waren das Golems, die unter einem Metallpfosten hervorkrochen, wo sie mit ihren Betonmännern hausten? Was würden diese rechtschaffenen Frauen dazu sagen, dass sie Angst hatte, hier alleine zu sitzen? Würden ihre starren Augenhöhlen schrumpfen und brechen, sobald sie diese Gefährtin auf dem Weg der Leiden erkannten? Oder würden sie einfach von dannen schlurfen und keine Notiz von ihr, einer weiteren Hinterlasserin von klebrigen Verpackungen und Metallfolienaschenbechern, nehmen?

Würden sie interessiert die Augen zusammenkneifen, wenn sie wüssten, wer sie ist?

Sie holte tief Luft, um sich zu sammeln. Es gab keine Warteschlange, aber hier befand sich jeder irgendwie in einer Warteschlange. Niemand konnte einfach umdrehen. Das hier waren Reisende aus Überzeugung. Und diese Speisegenossen, diese sanften, größtenteils in Beige gewandeten Menschen, waren sie tatsächlich identisch mit jenen, die sie noch vor fünf Minuten, verpackt in ihren Stahlkutschen, verfolgt, überholt, gejagt hatten? Wildfremde Leute, die es auf sie abgesehen hatten und auf der nassen, geraden Straße an ihr vorbeirasten und sie verstohlen durch schmutzstarrende, splitterfreie Scheiben mit feindseligen Blicken bedachten?

Für die Straßenkarte war es jetzt noch zu früh. Die konnte sie sich ansehen, wenn sie die Autobahn verließ. Georgie verzog das Gesicht, als sie sich in ihrem Aluminiumstuhl streckte. Sie spürte ihre Muskeln, die zu lange in einer Stellung angespannt gewesen waren. Wie sie so in der Raststätte saß, wurde ihr klar, dass das hier ihre erste positive Handlung seit Angela Hopkins Tod war. Bis jetzt war alles in dessen Bannkreis gestanden. Kein Wunder, dass sie Angst hatte, diesen Bannkreis zu verlassen. In all der Anspannung hatte sie ganz vergessen, dass man sehr wohl die Grenze überschreiten und in das Nichts treten konnte.

Toby war ein bester Freund. Ihr erster. Sie heiratete ihn nach einer Verlobungszeit von sechs Wochen. Sie hatte nicht gewusst, dass eine solche Liebe möglich war.

Das letzte Mal, als sie in Devon gewesen war, war Toby dabei gewesen. Das hieß, sie war seit zehn Jahren nicht mehr hier unten gewesen – unglaublich! Diese Zeit lag lange zurück – die Zeit der Hotels, der normalen Ferien, des Wanderns, der Ausflüge, des Reitens, Angelns und Segelns. Keine Kinder, um die man sich kümmern musste. Sie lächelte, die glänzende weiße Tasse in Händen. Der Plastiklöffel schien sich im Kaffee zu biegen, sah aus wie ein Uri-Geller-Trick. Na ja, damit waren sie ganz gut zurecht gekommen, wenn es auch anfangs nicht leicht war. Sie konnte welche kriegen, aber er konnte keine zeugen, eine ungerechte Kombination. Tiefe Seufzer, bedeutungsschwere Blicke und endlose Versicherungen. Nein, sie wollte sich nicht mit dem Sperma irgendeines Studenten befruchten lassen; nein, sie wollte kein Kind adoptieren; nein, das schmälerte ihre Liebe zu Toby keineswegs oder ihre Achtung für ihn als Mann, und sie hatte auch keine Angst, für den Rest ihres Lebens den Kindern nachzutrauern, die sie nicht bekommen hatte.

Die Kinderlosigkeit bedeutete, dass sie beide ihre Karriere verfolgten und sich mehr um andere kümmerten (Kinder, nicht Karrieren). Taufpatin. Babysitter. Begleiterin in Kindervorstellungen. Weihnachtliche Schnäppchenjägerin bei Hamleys. Das klang, wenn man es so zusammenfasste, vielleicht traurig, bemitleidenswert, aber ganz im Gegenteil, sie und Toby hatten ihr Leben so geliebt. Man konnte losziehen und Geld ausgeben, einfach so, ohne Vorbehalt riesige Pakete anschleppen, lauter Sachen, die einem gefielen.

Mein Gott, mein Gott. Das ganze Spielzeug, das sie in die Wohnung der Hopkins geschleppt hatte. Sie hatte es natürlich nicht bei Hamleys gekauft, es stammte von großzügigen Spendern. (Sie mussten sich durch den Ramsch wühlen, den manche Leute als gut genug für dieses arme Pack betrachteten.) Anne Stubbs Büro war schon lange vor Ende November gesteckt voll, Georgie musste nur hineingehen und die passenden Geschenke aussuchen. Anne war wie geschaffen für diese Aufgabe, ein weiblicher Weihnachtsmann mit silbergrauem Haar und sogar einem Anflug von Flaum am Kinn. Mit geröteten Apfelbäckchen und einem Papierhut auf dem Kopf überwachte sie strahlend die gesamte Weihnachtsprozedur. Dabei bekam sie, die die Spielzeugkampagne mit einem solchen Enthusiasmus organisierte, nie etwas von der Freude mit, die sie gab. Am Ende des Tages hatte sie nur ein leeres Büro, ein paar ausgefranste Bänder, Tragtüten und Schachteln.

So ist das Leben. Herzattacken? Herzattacken waren etwas für alte Männer, die sich auf dem windigen Golfplatz mit dem Ball oder in stundenlangen Sitzungen abquälten, zu viel Gin, zu viele Ablagerungen in den Blutgefäßen, zu viel Stress. An Herzattacken dachte man nicht, für junge Männer in Tobys Alter, die joggten, Squash spielten und an fettarme und ballaststoffreiche Kost glaubten, stand so etwas nicht auf dem Plan. Sie konnte es einfach nicht fassen. Das Leben war so ungerecht. Georgie erstickte beinahe daran. Und daran, dass sie wieder allein, für niemanden mehr der wichtigste Mensch war. Als eine gewisse Zeit verstrichen war, bekam sie von den Leuten (ihrer Mutter) zu hören: »Du bist noch jung. Du kannst noch einmal neu anfangen, mit einem anderen Mann…« Als ob sie, ohne Toby, auch gestorben wäre, sich auf den Scheiterhaufen neben seine Leiche geworfen hätte. Vor allem, da sie keinen Nachwuchs hatten. Nachdem ihr der Lebensinhalt derart abhanden gekommen war, wurde die Arbeit ihr Ein und Alles.

»Warum du mit diesen schrecklichen Menschen arbeitest, werde ich auch nie verstehen.«

»Ich weiß, Mama.« Georgie begegnete ihrem Blick ruhig. »Daher hätte es auch keinen Zweck, wenn du es versuchen würdest.«

Wenn sie auf ihr gemeinsames Leben mit Toby zurückblickte, setzte sie es in Erstaunen, wie jung sie gewesen waren.

Arbeit und Freunde traten in den Vordergrund. Aber im Augenblick arbeitete Georgie nicht, und in der Gegenwart ihrer Freunde fühlte sie sich unwohl. Da lag der Gedanke nahe, wieder einmal, dass sie nicht mehr lebte. Wie Toby, dessen Tod ebensowenig Sinn machte. Vor allem hier, in dieser Raststätte an der Autobahn, wo der Wind den Eisregen gegen die Fensterscheiben peitschte und heißer Schaum aus der verchromten Kakao-Maschine tropfte.

Natürlich, sobald das hier alles vorüber war, wenn sich herausstellte, dass »ihr nichts vorzuwerfen« war, würde man sie wieder in den Schoß der Gemeinschaft aufnehmen. Natürlich würde es nicht mehr so sein wie zuvor, als wäre sie nie weggewesen. Ein Makel würde bleiben. Kein Rauch ohne Feuer. Der Schlamm war aufgewirbelt, und so klar wie früher würde das Wasser nie mehr sein.

»War da nicht etwas, vor ein paar Jahren, irgendeine Tragödie, ich glaube, dabei ging es um…«

Sie musste nicht zurückkehren, wenn sie nicht wollte. Es würde knapp werden, aber mit Tobys Versicherung käme Georgie zurecht, wenn sie sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnte, aus London wegzog, kein Geld mehr für Theater, Urlaubsreisen, Kleidung und Wein ausgab und nicht mehr auswärts essen ging. Hm. Das klang, als sei ihr Leben ein einziger Rummelbesuch, als schwimme sie in Geld. Doch so war es nicht, sie war finanziell gut gestellt, so nannte man das wohl. Aber sie musste nur für sich sorgen und sie arbeitete viel. Für ihren Luxus hatte sie sich schwer ins Zeug gelegt, die meisten Wochenenden durchgeschuftet und häufig Zehn-, Zwölfstundentage eingelegt.

Genau betrachtet bestand ihr ganzer Luxus in einer halb abbezahlten Eigentumswohnung – einem Kabuff in einem Stapel von Kabuffen, einem drei Jahre alten Vauxhall Astra, einem Apple Mac, einem Faxgerät und einem alten Hund namens Lola.

Und diese Wohnung, dieser Ort, an dem sie sich sicher geglaubt hatte und wohin sie abends vor der Welt flüchtete, der ihre Zuflucht in all den Stürmen des Lebens hätte sein sollen, in dieses geliebte Refugium drangen nun Hassbriefe und Drohanrufe. Aber das war nicht alles. Schlimmer noch als diese Übergriffe vollkommen Fremder erschienen ihr die höflichen Einladungen zu Gesprächen und Diskussionen, die Trostbriefe und all die Nichtigkeiten, die zum Tod gehörten. Und die heimtückischen Zeitungen, die vor ihrer Tür lagen.

Ihre Zukunft war unklar. Wie ihre Vergangenheit.

Da war Wut, schreckliche Wut. Sie war wütend auf sich selbst und das System, auf die selbstgerechte Öffentlichkeit und dass Männer wie Ray Hopkins Frauen wie Gail fanden, sie heirateten und Kinder bekamen und sich weigerten, das Kind eines anderen Mannes zu akzeptieren. Sie war zornig, auf diese kindliche Weise zornig, nach vorne geholt und für die ganze Klasse die Schuld aufgehalst zu bekommen. O ja, es hätte jeden treffen können, aber warum trifft es immer mich?

Und warum trifft es immer Angela Hopkins? Das Kind, das sich festklammert und nicht abschütteln lässt?

»Es ist absolut widerlich, dass man kinderlosen Frauen die Obhut über anderer Leute Kinder anvertraut. Das ist doch vollkommen falsch! Nur eine Mutter kann doch die Anzeichen richtig einschätzen!«

O ja, Georgie verfolgte diese Diskussionen im Radio, hörte diesen vernünftigen Stimmen im Vakuum zu, die redeten, als könnten Worte nicht töten. Die Typen in den Frauensendungen, die sie häufig hörte, diese selbstgefälligen Experten, die sie immer so bewundert, deren Ansichten sie respektiert hatte. Sie hatte sie für weise und ihre Meinung für maßgebend gehalten, schließlich waren sie im Radio zu hören, und ihre Kolumnen wurden in den Zeitungen gedruckt. Angewidert von ihrer eigenen Naivität raufte sie sich die Haare, wie blind sie früher diesen Vorbildern gefolgt war. Sie redeten und redeten, um die Zeit zu füllen, den Raum, die Stunde, und kassierten gemeinsam mit ihren Kumpeln an der Tür ihren Scheck.

Sie tuschelten.

Über sie.

Während sie schwieg. Ausgeschlossen wurde. Sich nicht äußern durfte. In ihrer Verteidigungshaltung erstarrte. Ihren Kummer für sich behielt.

Und die Nachmittagshörer machten sich an ihre Telefone und Faxgeräte und geißelten die lieblose Welt, in der Kleinkinder in taghell beleuchteten Einkaufszentren in den Tod gelockt werden konnten, Frauen um Hilfe rufen und Kinder die ganze Nacht durchweinen konnten, ohne dass jemand die Miene verzog.

Es gab keine Gemeinschaft mehr.

Jeder war sich selbst der Nächste.

Frauen sollten zu Hause bleiben und unverheiratete Mütter sollten bestraft werden.

Jemand musste bestraft werden.

Jemand musste leiden.

Wo war Gott? Normalerweise war doch Verlass auf ihn. Die Sühne folgte auf den Fuß. Oder eine Hungersnot.

Gottes Mühlen mahlen langsam.

Und dann dieser Gegensatz, Helen Mace’ unglaubliches Einfühlungsvermögen. »Könntest du uns aushelfen und babysitten, Georgie? Ich habe es überall probiert und niemand hat Zeit, und Roger und ich können schlecht absagen. Es tut mir Leid, wenn ich dich frage, wo du gerade ganz andere Sorgen hast, andererseits könnten wir hinterher noch zusammen essen, und du könntest bei uns übernachten.«

Und ihre eigenen mit voller Absicht vorgetragenen Gemeinheiten: »Trägst du nicht etwas zu dick auf, Helen? Ich geh nicht mit dem Messer auf Leute los. Ich bin keine Mörderin, die Kindern aus dem Weg geht, aus Angst, sie könnte für einen kurzen, entsetzlichen Augenblick die Kontrolle verlieren…«

»Sei ruhig, du paranoide Gans. Du hast dich von den Kindern zurückgezogen, Georgie, und du fehlst ihnen. Das ist alles.«

Auch ihr fehlten sie. So kam es denn zu diesem außergewöhnlichen Abend im chaotischen Wohnzimmer der Maces. Es war hauptsächlich in Kiefer gehalten, an den Wänden hingen die Zeichnungen der Kinder, und hinter dem Kamingitter brannte das Feuer. Rund um sie in ihrem Schaukelstuhl die Kinder in ihren Pyjamas. Sie prusteten in ihre Rekorder, brüllten und kreischten und versuchten einander zu erschrecken. »Guck mal! Guck mal!« Die Kleinen in den Kinderstühlen löffelten ihren Brei. »Guck mal! Guck mal!« Kinder, die in ihre Hefte stempelten und ihr ganze Mahlzeiten aus Knete bereiteten. Voller Vertrauen.

Olly konnte nicht einschlafen. Ihn aus dem Bett holen. Auf den Arm nehmen. Sich mit ihm in den Schaukelstuhl setzen und an seinem Haar riechen. Das Märchenbuch plumpste auf den Boden. Die flaumige Haut reiben, die aus der Pyjamahose hervorlugt, zwischen der Hose und den knautschohrigen Häschenhausschuhen. Fühlt sich ganz kalt an. Ihm den Mund abwischen, wo die Träume überfließen. Seinen Atem auf der Brust spüren. Er geht schneller, flacher als der eigene Atem. Ein feuchtes Gefühl, wo die zwei Körper sich berühren. Ihn schließlich zurück in sein Bett bringen, seine samtweichen, sich an ihren Nacken klammernden Hände lösen.

»Alles okay?« Welchen erstaunlichen Wirbel Erwachsene machen, wenn sie in ein kinderruhiges Haus kommen.

Erwachsene mit dem unbenommenen Recht, hier zu sein.

»Alles in Ordnung?«

Aber es war nicht in Ordnung.

Helen wusste es. Eine ganze Reihe Leute wussten es wohl und wandten sich ab. Georgina Jefferson, die sich das nie eingestehen würde, trauerte das erste Mal um die Kinder, die sie nie gehabt hatte.

***

Doch zurück zu der Autobahnraststätte, in der es nach Kiefern und Lammeintopf roch.