Die Einsamkeit der Schuldigen - Das Verlies - Nienke Jos - E-Book

Die Einsamkeit der Schuldigen - Das Verlies E-Book

Nienke Jos

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Beschreibung

Ein eindrucksvolles Thriller-Debüt, einzigartig und mit unverkennbarer Sprache: Scheinbar harmlose Begegnungen führen in den Sog einer unaufhaltsamen Katastrophe, die das Leben sieben einander fremder Menschen unheilvoll miteinander verknüpft. Nienke Jos erweist sich als feinfühlige Schöpferin gläserner Seelen, deren Lebenswege sie mit kompromissloser Stringenz an den Abgrund führt. Der Leser wird mitgerissen in ein Labyrinth aus Faszination und Abscheu. Ein psychologisches Meisterwerk.

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Nienke Jos

Die Einsamkeit der Schuldigen

Thriller

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

Lektorat: Claudia Senghaas

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Grigoriy Pil / shutterstock

ISBN 978-3-8392-5946-7

Zitat

Die moralische Hinrichtung

als Vorleistung zur Suppression

erreicht den seelischen Kern nicht im Geringsten.

Er ist das harte Innere in der weichen Frucht.

Ein vakuumiertes Zentrum, das einschließt,

was zu keinem Zeitpunkt verloren geht.

Der Kapitän, der alles antreibt.

 

Prolog – 1988

Er lag im Bett und hatte geschlafen.

Etwas hatte ihn geweckt. Ein Geräusch. Ein Gefühl. Möglicherweise eine Vibration.

Noch nie war er um diese Uhrzeit wach geworden, darüber war er sich sicher.

Er hörte das Blut in seinen Ohren rauschen, mit weit aufgerissenen Augen starrte er in die Dunkelheit.

Er musste sich orientieren.

Er sah die Umrisse seines Dinosauriers, daneben die des Polarjeeps. Fasziniert stellte er fest, dass er die kleine Antenne erkennen konnte.

Es standen Bücher im Regal. Eines von ihnen so groß, dass er es unter die anderen gelegt hatte.

Auf dem Boden davor stand sein Parkhaus. Die Autos parkten kreuz und quer auf dem oberen Deck. Sein roter Ferrari 250 GTO lag auf dem Dach. Ihm war am Abend keine Zeit mehr geblieben, die Autos vernünftig einzuparken.

Er hasste es.

Vielleicht hatte ihn die innere Unruhe darüber geweckt.

Ja. Das konnte gut sein, entschied er.

Seine Augen brannten. Es war so dunkel.

Er bewegte seinen Kopf Richtung Tür. Für gewöhnlich steckte in der Steckdose ein kleines Lämpchen.

War es heruntergefallen? War er davon wach geworden?

Neben dem Papierkorb stand sein Schwert. Er sollte es ab jetzt lieber direkt neben sein Kopfkissen legen, oder besser noch unter die Bettdecke. Dann konnte er seine Hand darauf liegen lassen, solange er schlief.

Allzeit bereit.

Schon wieder das Geräusch.

Dieses Mal konnte er es genau verifizieren. Davon musste er wach geworden sein. Ein dumpfes Poltern. Nicht anhaltend, nur kurz.

Er hielt seinen Atem an. Seine Beine kribbelten, sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. Unter seinen Achseln pikste es, so heiß war ihm mit einem Mal.

War jemand in der Wohnung?

Schliefen seine Eltern und bemerkten es nicht?

Er hatte Angst.

Vielleicht war der Dieb an die Kommode im Flur gestoßen, weil er sie im Dunkeln nicht gesehen hatte?

Nein. Der Eindringling hatte sicher eine Taschenlampe dabei.

Vielleicht war sie ihm heruntergefallen?

Ja. Das konnte gut sein.

Er traute sich, seine Liegeposition zu verändern.

Langsam, um keine verdächtigen Geräusche zu machen, drehte er sich auf die Seite. Er rutschte mit den Füßen voran aus dem Bett, legte sich flach auf den Boden, hielt inne, lauschte.

Sein Herz klopfte hart, und seine Zunge klebte am Gaumen, so trocken war sein Mund.

Wenn alles vorbei war, würde er eine warme Erdbeermilch trinken. Er würde zufrieden zusehen, wie sein Vater einen Löffel mehr hineingeben, dabei geheimnisvoll lächeln würde. Dann würde ihn sein Vater auf die Nase küssen, und gemeinsam würden sie auf das ersehnte, helle Klingeln der Mikrowelle warten.

Er konnte kaum den ersten Schluck abwarten.

Mit seiner Tasse und einem roten Strohhalm wollte er auf dem Schoß seines Vaters sitzen und gekrault werden. Er würde sein Ohr an die weiche Brust legen, dem rhythmischen Herzschlag lauschen. Er würde sich auf die Fingerspitzen seines Vaters konzentrieren, die ihn sanft und kreisend an seinen Schläfen streicheln, ihn beruhigen würden.

Wenn das hier vorbei war, konnte ihm nichts mehr passieren. Er musste nur zu seinen Eltern kommen.

Er traute sich nicht vom Boden aufzustehen, schlängelte sich mit den Ellenbogen und seinen Knien Richtung Tür.

Er war auf dem Weg dorthin mit seiner Hüfte über etwas Kleines, Hartes gerutscht. Er musste seine Lippen heftig zusammenpressen, um kein Geräusch von sich zu geben.

An der Tür angekommen, kniete er sich hin, drückte leise die Türklinke herunter. Er hatte Todesangst, war sicher, dass sie sich so anfühlen musste.

Er öffnete die Tür einen Spalt und lauschte, ohne zu atmen.

Und plötzlich war es wieder da, das dumpfe Poltern.

Entschlossen nahm er allen Mut zusammen, huschte zu seinem Schwert. Er griff es mit beiden Händen, bewegte sich leise zu seiner Zimmertür zurück. Er brauchte einen Plan. Er würde über den Flur schleichen, die Tür zum Schlafzimmer aufreißen. Und dann würde er mit seinem Schwert …

Er vernahm ein helles Klatschen.

Der Impuls loszurennen kam unmittelbar.

Er schoss über den dunklen Flur zur Schlafzimmertür seiner Eltern. Die Tür war angelehnt. Er hielt inne, stellte sich leise neben den Türrahmen. Auf jeden Fall spürte er den Mut, seine Eltern zu retten.

Darüber war er sehr aufgeregt.

Er berührte die Tür mit seiner Schwertspitze, drückte sie wenige Zentimeter auf. Was er dort zu sehen bekam, löste in ihm eine solch heftige Irritation aus, dass er einen Schmerz bis in seine Genitalien spürte. Vor Angst pinkelte er augenblicklich in seine Hose.

Seine Mutter lag gefesselt mit verbundenen Augen auf dem Bett. Ihr Kopf hing über der Bettkante mit überstrecktem Hals herunter, ein fremder Mann schob seinen viel zu großen Penis in ihren Mund, schlug ihr ins Gesicht.

Er entdeckte seinen Vater, der ihre Beine an den Fesseln hielt, sein Becken heftig vor- und zurückschob.

Das dumpfe Geräusch, von dem er wach geworden war, entpuppte sich als das Verschieben des Bettes auf dem Holzboden, immer dann, wenn sein Vater besonders grob in seine Mutter hineinstieß. Der Blick seines Vaters war ihm vollkommen fremd. Er hatte etwas Bedrohliches, etwas Entrücktes in seinen Augen.

Er stand eine Weile regungslos vor der Tür, schaute zu.

Ihm war kalt geworden. Seine nasse Schlafanzughose klebte an den Beinen. Sein Schwert hatte er auf den Boden sinken lassen, seine nackten Füße übereinandergestellt.

Er war nicht in der Lage, sich zu bewegen, konnte seinen Blick nicht abwenden.

Nicht etwa, weil er fasziniert war.

Es war seine Erdbeermilch, um die er sich betrogen fühlte. Es war die geheimnisvolle Intimität, mit der sein Vater einen dritten Löffel hineinrührte, es war das warme Streicheln seiner Fingerkuppen auf der Schläfe, es war der vertraute Herzschlag in seiner starken Brust. Es war das liebevolle Summen seiner Mutter, wenn er abends in den Schlaf gewogen wurde.

Er begann zu zittern.

Auf dem Weg zurück, über den dunklen Flur in sein Zimmer, ließ er sein Schwert neben der Kommode liegen.

Mit seiner nassen Hose legte er sich ins Bett, kauerte sich mit eng angezogenen Beinen zu seinem Krokodil.

Ihm war, als gäbe es keine Erdbeermilch mehr.

Nie wieder. Nirgendwo auf der ganzen Welt.

Prolog – 2018

Das Leben wäre viel primitiver.

Es gäbe genug Zeit, um Zeit zu haben.

Ann würde schlafen. Vor allem würde sie schlafen.

Sie würde dem tanzenden Feuer in ihrer Höhle zuschauen, mit niemandem reden. Ein Leben, in dessen Verlauf sie nur die existenziellen Grundbedürfnisse stillen würde.

Es gäbe keine Überforderung.

Sie würde sich mit keinem auseinandersetzen, sich mit niemandem vergleichen. Sie würde nicht daran verzweifeln, was sie alles tun konnte und nicht schaffte, oder was sie alles schaffen sollte und nicht konnte. Sie würde einfach in einer Wiese liegen, ihr Gesicht in die Sonne strecken. Sie würde nichts denken. Sie würde nichts entscheiden, sich nichts vornehmen. Sie würde nicht scheitern. Sie würde sich nicht unter Druck setzen. Sie würde nichts können und nichts lernen.

Die Vorstellung war gewaltig.

An manchen Tagen. An solchen wie heute.

Sie war spät dran, schlüpfte trotzdem mit Bedacht in ihre Schuhe. Sie zog ihre Jacke an, nahm ihren Schlüssel. Sie ließ die Tür hinter sich zufallen und ging die Treppenstufen hinab.

Ann war nicht der Typ, der unbekümmert hinunterspringen, dabei fröhlich pfeifen würde.

Ann war auch nicht der Typ, der in einer Dreiviertelstunde in einem voll besetzten Gasthaus aufstehen und einen Mann niederstechen würde.

Sie fragte sich, ob es ihr irgendwann gelingen würde, das Grübeln abzustellen. Sie wusste nicht, wann und wie es genau dazu kam, dass sie solchen Attacken ausgesetzt war.

Es gab keinen Auslöser. Es verhielt sich nicht so, dass sie morgens aufwachte und sie eine bestimmte Stimmung heimsuchte. Eher war ihr Grübeln wie eine Lawine, die man kommen hörte, deren Vibrieren am Boden man als unbestimmtes Merkmal identifizierte, mit dem Unterschied, dass Lawinen über einen hereinbrachen, alles mitrissen, schnell und vernichtend. Nach dem anfänglichen Schock konnte man mit dem Wiederaufbau beginnen. Eine Ausnahmesituation, die es möglich machte, neue Kräfte zu entwickeln, eine Legitimation zu haben, um eine neue Lebenssituation zu erschaffen.

Damit hätte sie besser umgehen können.

Aber so war ihr Grübeln nicht.

Ihr Grübeln zog viel sanftere Kreise. Wie Treibsand, in den man immer tiefer hineinsank, ohne es wirklich zu registrieren. Ihr Grübeln war einsam und still.

Sie hatte noch keine richtige Strategie gefunden, dem Zustand zu entkommen, ihn vor sich zu sehen, der Einladung zu widerstehen darin einzutauchen. Sie konnte gar nicht genau festlegen, ob der Treibsand aus Zweifeln und Schuldgefühlen eine Versuchung war oder eine Gefahr.

Und dann immer wieder und ganz unerwartet die Realität. Sie poppte auf wie eine Treibboje, die man unter Wasser gedrückt hatte.

Es dauerte, bis Ann ganz da war, in der echten Welt, die sie umgab. Es dauerte, bis sie wusste, wer sie war, wo sie sich befand: Sie stand auf dem Luisenplatz in Wiesbaden, hatte sich zum Essen verabredet. 13 Uhr.

Sie taxierte das Gastwerk Degenhardt. Der Geruch von frischem Kaffee, Omelett und Parfüm entspannte sie sofort.

Ihre neue Freundin Katina hatte einen Tisch in der hintersten Ecke gewählt.

Voneinander unabhängige Ereignisse waren zufällig in Verbindung gebracht worden.

Wo fing die Kausalität an?

Es war vergebens, darüber nachzudenken.

Sie tat es immer und immer wieder, aber das magische Denken hatte keine unmittelbare Konsequenz. Ihr Leben rückte deswegen nicht ab von seiner Spur.

Vielleicht war es ganz einfach. Ganz einfach zufällig.

Ein Umstand, der ihr Leben gekostet hatte.

Katina war erst seit gestern ihre Freundin.

Katina sah gesund aus. Eine schöne Frau. Stark und selbstbewusst. Eine Frau, die der Kellnerin winkte, eine große Apfelsaftschorle und einen Degi Burger bestellte.

Eine Frau, die den Eindruck erweckte, als habe sie alle vier Jahreszeiten zur gleichen Zeit in sich vereint.

Katina konnte in die Speisekarte schauen und entscheiden, was sie essen wollte. Und dann bestellen. So, als wäre es das Einfachste der Welt.

Katina erzählte von ihrem Leben. Fröhlich, unbekümmert, leicht. Deswegen war sie ihre Freundin. Sie führte ein Leben, das niemals einfach aufgehört hatte. Ann vermutete, dass Katina viele Freunde hatte. Menschen, denen auffiel, wenn sie plötzlich fehlte.

Warum Katina sie zum Essen eingeladen hatte, verstand sie immer noch nicht, aber sie vermutete, dass es gut war.

Katina stellte keine Fragen über ihre Vergangenheit. Wollte nicht wissen, wer sie war. Das beruhigte Ann.

Ann hörte ihr zu. Fast zehn Minuten. Dann setzte sie an, etwas zu sagen, aber sie konnte nicht. Wahrscheinlich war ihre Gesichtsfarbe unnatürlich grau geworden. Möglicherweise erweckte sie den Eindruck, als sei sie erstarrt.

Sie hatte ihn sofort erkannt. Es gab keinen Zweifel:

Der Aal.

Sie schluckte trocken. Der Mann, der sich im Gastwerk Degenhardt umsah, konnte nicht hier sein. Sie musste sich irren.

Die Kellnerin kam an den Tisch. Die Degi Burger rochen nach frischem, herzhaftem Fleisch und gebratenem Speck auf Salat.

Ann stand auf, schob ihren Stuhl zurück. Sie starrte dabei Katina an, ohne mit den Augen zu blinzeln. Sie wendete ihren Blick nicht ab, während sie mit der rechten Hand nach dem scharfen Messer neben ihrem Teller tastete. Sie tat es gezielt und vollkommen bedacht. Eine innere Gewissheit steuerte ihr Handeln, ohne dass sie an der Richtigkeit auch nur einen winzigen Zweifel gehabt hätte.

Katina öffnete den Mund. Sprachlos, verunsichert. Mit wachen Augen sah sie irritiert zu, wie Ann Richtung Tür ging. Der Aal hatte einen freien Tisch entdeckt und setzte sich in Bewegung. Als er sie registrierte, lächelte er unsicher.

Ein Moment vermeintlicher Intimität.

Ann holte aus.

Wie viel Kraft sie einsetzen sollte, wusste sie nicht. Sie stach in seinen Bauch, zog das Messer zurück, stach erneut zu. Erst nach dem dritten Stich gab der Aal einen erstickten Laut von sich.

Sie hörte nicht mehr, was um sie herum geschah. Der gesamte Raum schwankte vor ihren Augen bedrohlich hin und her. In ihren Ohren rauschte es, als würden Tausend tobende Wellen aus dem Meer zu ihr herüberbrechen. Sie hatte jedes Gefühl für ihren Körper verloren. Ihr Mund kräuselte sich zusammen, ihre Hände öffneten sich steif. Sie spürte, wie ihr das Messer aus der Hand glitt. Erst jetzt nahm sie einen flachen Atemzug.

Sie sackte zusammen, starrte auf ihre klebrige Hand.

Der Zufall hatte hier sein Ende gefunden.

Mehr konnte sie nicht tun.

1

Gezweifelt hatte er nie, überlegte er sich.

Eher hatte er keinen einzigen winzigen Gedanken daran verschwendet, eine Frau wirklich gefangen zu halten. Im Gegenteil. Seit jeher empfand er Schuld, weil er Frauen in seinen Fantasien erniedrigte. Damit hatte er zu kämpfen. Zeitlebens. Irgendwann aber hatte er verstanden, dass niemand von seinen Neigungen erfahren musste.

Wütend war er darüber. Über sein Bewusstsein, dass er eine gute Kindheit gehabt hatte. Aufgewachsen in unumstößlicher Festung, das konnte er nicht widerlegen. Niemand hatte ihn verdorben. Ein schuldiger Zustand.

Er hasste seine Intelligenz. Er hasste seine analytische Betrachtungsweise. Sie stand ihm beim Erarbeiten einer Legitimation im Weg. Aber sosehr er sich ärgerte, so unbemerkt hatte sich das Gefühl gewandelt.

Erst war es ein heimlicher Gedanke.

Er hatte dabei bewusst beobachtet, wie er sich implantierte, wie er sich im Innersten seines Kerns ein Nest baute. Er beruhigte sich dabei, zog er doch in keiner Weise in Erwägung, diesen Gedanken wirklich umzusetzen.

So ließ er dem Nestbau seinen Lauf, und mit einem Mal fiel es ihm nicht mehr schwer, den Gedanken zu akzeptieren. Die Absurdität dieser Idee wurde so etwas wie ein Bestandteil seiner Persönlichkeit. Sie saß fest. Vielleicht aus kindlichem Trotz, das traf es wohl am ehesten.

Und dann?

Und dann war es zu spät, noch etwas dagegen zu unternehmen. Es lag nicht mehr in seiner Verantwortung, seine Gefühle zu beeinflussen, sie zu dämmen in ihrer Vehemenz. Dadurch ergab sich eine Distanz, die den Triumph über seine Vernunft ermöglichte. So wachte er mit dem Gedankenspiel auf und schlief damit ein.

Irgendwann wurde die Idee dominant. So dominant, dass sie seinen Alltag beherrschte. Aus der Idee wurde ein konkreter Plan, und aus dem konkreten Plan wurde Schritt für Schritt Realität.

Ein schleichender Prozess.

Erst kümmerte er sich um die harmlosen Dinge, deren Erfüllung sein Plan nach und nach einforderte. Zum Beispiel das Suchen einer geeigneten Lokalität.

Er dachte an eine Höhle. Den Gedanken verwarf er wieder.

Dann kam ihm die Idee einer richtigen Wohnung. Die würde er mieten, aber das schien ihm zu riskant.

In seinem Kopf erschienen Bilder von einem alten, verlassenen Fabrikgebäude, in dem die Frau auf einer alten Matratze in einem Käfig lag.

Er lachte darüber und schämte sich.

Lieber nicht.

Die Frau sollte nicht an Unterkühlung und Krankheit sterben. Er war kein Mörder. Er wollte niemanden umbringen. Erst recht wollte er keine Leiche ficken.

Er stellte sich vor, dass er die Frau in einem Verlies versteckt halten könnte. Unterirdisch. Sie würde ihm dankbar sein, wenn er ihr nach vielen Stunden der dunklen Einsamkeit etwas zu essen gab, sie liebevoll behandelte. Denn das würde er.

Er lief tagelang geeignete Waldstücke ab und fand eine einsame, allein stehende Hütte. Heruntergekommen, baufällig, alt. Kein Jagdbezirk, keine ausgewiesenen Wanderwege.

Den Besitzer der Hütte ausfindig zu machen, gestaltete sich schwierig. Zunächst schrieb er einen Zettel. Mit Computer.

Er laminierte ihn und klebte ihn an die Tür.

Er gestand sich ein, dass er dankbar war. Dankbar für die Erlaubnis, untätig zu warten, bis sich der Besitzer melden würde. Das verschaffte ihm Zeit. Zeit, seinen Plan wieder umzuwerfen. Denn eins hatte er auf jeden Fall:

Angst. Angst, Angst und noch mal Angst.

Aber niemand rief an.

Er ging zur Stadtverwaltung des Ortes, dem das Waldstück zugeordnet war. Die durften und wollten ihm aber keine Auskunft darüber geben, in wessen Besitz die Hütte war. Er wollte schon aufgeben und nach einer anderen Möglichkeit suchen, als sein Handy am 13. August einen entgangenen Anruf von einer fremden Nummer anzeigte. Als er zurückrief, meldete sich eine junge männliche Stimme.

»Ja, bitte?«

»Hallo? Ja, hören Sie mich?«

»Ja, ich höre Sie gut. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich hatte Ihre Nummer auf meinem Display. Haben Sie mich angerufen, weil Sie eine Nachricht an der Tür Ihrer Hütte im Wald gefunden haben?«

Der Mann am anderen Ende der Leitung reagierte zunächst nicht. Er schien mehrere Anrufe am Tag zu erhalten, deren Nummern er nicht kannte. Es dauerte, bis er den Anrufer einsortieren konnte. »Ah. Ja, jetzt verstehe ich. Natürlich, ja. Ich hatte Sie heute Morgen versucht zu erreichen. Den Zettel habe ich gestern Abend gefunden, als ich nach dem Rechten sehen wollte. In welcher Angelegenheit wollen Sie mich sprechen?« Der Mann schien von einer Freisprechanlage in seinem Auto zu telefonieren, das Rauschen im Hintergrund deutete stark darauf hin.

»Ja, ich wollte Sie sprechen.« Er räusperte sich leise. »Wissen Sie, ich kenne Ihre Hütte in dem Waldstück hinter dem Tal. Ich bin auf der Suche nach genau so einem Rückzugsort, um am Wochenende eine Auszeit zu nehmen. Ich bin viel beschäftigt und wohne in der Stadt. Ich wollte Sie fragen, ob Sie die Hütte verkaufen möchten.« Aufgeregt klang er, darüber ärgerte er sich.

»Oh. Diese Frage kommt etwas überraschend für mich. Die Hütte gehörte meinem Vater, und ich war fast zehn Jahre nicht mehr dort. Mein Vater ist vor vielen Jahren gestorben. Ich wohne in München, und ich komme nur selten in meine Heimat. Ich besitze nicht einmal einen Schlüssel.«

»Dass Ihr Vater verstorben ist, tut mir leid.« Er machte eine gewissenhafte Pause. »Wissen Sie, ich würde Ihre Hütte wirklich gerne kaufen.«

»Ich bin unterwegs, verstehen Sie? Wie heißen Sie noch mal?«

»Ich heiße Bernd«, sagte er. Geübt.

»Bernd, verzeihen Sie mir, dass ich im Augenblick nichts dazu sagen kann. Lassen Sie mich darüber nachdenken, ist das in Ordnung für Sie?«

»Ja, das ist natürlich in Ordnung. Ich würde mich wirklich freuen, wenn Sie sich zurückmelden.«

»Okay. Ich melde mich. Danke für Ihre Anfrage. Wirklich. Bis dann.«

»Ich könnte die Hütte auch …« Er war nicht dazu gekommen, den Satz zu Ende zu sprechen.

Der junge Mann hatte aufgelegt, und zu seinem Bedauern rief er nie wieder an.

Er wartete. Es vergingen Wochen.

Wann immer er zur Hütte kam, so gab es nie Anzeichen dafür, dass sich dort irgendjemand aufgehalten hatte.

Am 18. Oktober wechselte er das Schloss der Hütte aus.

Es war das erste Mal, dass er sie überhaupt von innen sah: Die kleinen Fenster hatten Fensterläden, die man verschlossen hatte, so kam Tageslicht nur durch die winzig kleinen Öffnungen, die sich zufällig durch die ungenaue Architektur ergaben. Es roch feucht und modrig.

In der Mitte des Raumes stand ein verblasstes rotes Sofa. In der hintersten Ecke ein Bett mit einer alten Federkernmatratze. Kleine Flickenteppiche lagen an den Seitenwänden verteilt. Vielleicht, damit kalter Wind nicht durch die Lücken zog.

Es hingen einst Bilder an der Wand, die jemand entfernt hatte.

Er machte sich an die Arbeit, reinigte sorgfältig den Boden und die Möbel. Eine Toilette gab es nicht.

Er kaufte neue Teller, Tassen und Gläser. Er besorgte Besteck und Schüsseln, und für den Gasherd einen neuen Topf und eine Pfanne. Eine gewisse Ausstattung an haltbaren Grundnahrungsmitteln, Mülltüten, Küchenrolle und Klopapier räumte er in die gut erhaltenen Schränke, die er zuvor mit ausreichend Spülmittel ausgewaschen hatte. Er kaufte einen großen Teppich und legte ihn mittig auf den Boden.

Wenn es stimmte, was der Mann gesagt hatte, so wusste er mit sehr großer Wahrscheinlichkeit nicht, wie die Hütte von innen aussah, und erst recht würde er nicht erkennen, wenn sich etwas verändert hatte. Er würde nicht einmal merken, dass jemand das Schloss ausgewechselt hatte.

Als seine Vorbereitungen beendet waren, wartete er geduldig auf die Vorfreude.

Die wollte sich nicht einstellen.

Wann immer er zur Hütte fuhr und sich dort aufhielt, kam er sich vor wie ein Verbrecher. Er fühlte sich schuldig. Die Hütte gehörte ihm nicht. Er hatte sie sich ohne Erlaubnis genommen. Mit diesem Umstand sah er seine ersehnte Unabhängigkeit gefährdet. Die erstrebte Eigenständigkeit, die einen wesentlichen Bestandteil seiner gesamten Mission darstellte, wurde durch das starke Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, überschattet. Sein ganz persönliches Projekt, bei dem ihn niemand beeinflussen sollte, geriet plötzlich ins Straucheln.

Er kam zu dem schweren Entschluss, alles wieder rückgängig zu machen. Er brauchte etwas anderes. Einen Ort, der ganz allein ihm gehörte.

Erneut machte er sich auf die Suche, dieses Mal im Internet, und fand sie: Als Jagdhütte genutzt, stand sie unweit eines großen Hotels. Das machte ihn einigermaßen nervös. Weil es aber die einzige weit und breit war, die zum Verkauf stand, bildete er sich ein, dass es von Vorteil war, wenn sie nicht einsam und verlassen stand. Er musste nur aufpassen, dass ihn keiner mit der Frau entdeckte.

Um sie zu kaufen, nahm er einen Kredit auf.

Die Hütte war in einem guten Zustand. Etwa 20 Quadratmeter groß. Gebaut war sie aus Rundholz mit 16 Zentimeter Stammstärke, die Bedachung aus Trapezblech. Sie hatte Fensterläden aus Holz.

Er richtete sie unscheinbar ein. Gerade so, dass es den Eindruck erweckte, als verbringe er hier lediglich ein paar Stunden am Wochenende. Sogar die Polizei würde nichts finden, außer ein Spürhund würde eingesetzt werden, aber davon war erst einmal nicht auszugehen.

Niemand würde ihn verdächtigen. Planmäßig bestand keine Verbindung zu der Stadt, in der die Frau zuletzt gesehen würde, und dem Waldgebiet, in dem seine Hütte stand. Diese beiden Orte würden mehr als 300 Kilometer voneinander entfernt sein.

Seine Blockhütte verfügte über einen separaten Schuppen, der durch eine schmale Tür mit ihr verbunden war. Von außen gab es keinen Zugang. Der kleine Schuppen diente dazu, Brennholz trocken zu lagern und von innen an den Vorrat zu gelangen.

Er hatte den Schuppen ausgeräumt und das Brennholz an die südliche Hauswand gestapelt. Dann kam der schwierigste Teil seiner Mission: Es galt, eine Grube auszuheben.

Das Efeu und die Sträucher, mit denen der Schuppen über die Jahre zugewuchert war, wollte er rückseitig nicht entfernen. So baute er nur den vorderen Teil des Schuppens ab, beschriftete das Rundholz und mietete sich für 90 Euro am Tag einen Minibagger. Die drehbare Hydraulik machte es ihm möglich, den Schaufelarm jeweils um 90 Grad nach rechts und um 45 Grad nach links zu drehen, sodass er entlang der Hauswand eine Grube ausheben konnte.

Er war nervös. Das Anliefern des kleinen Baggers war aufwendig und der Drei-Zylinder-Dieselmotor mit 16 PS laut. Viel zu laut für den stillen Wald.

Er brauchte eine ganze Woche, um zwei Belüftungsrohre zu verlegen und die Grube auszuheben. Ihm kam alles zu auffällig vor. Aber er hatte sich beruhigt. Was war schon dabei, an seiner Hütte zu bauen. Jeder tat so etwas.

Trotzdem stellte er sich vor, wie jemand neugierig vorbeischauen würde.

»Na? Was machst du da? Gräbst du ein Loch?«, würde ihn ein Wanderer fragen. »Hast du einen Schluck Wasser für mich? Meine Flasche ist leer, ich habe noch zwölf Kilometer Fußweg vor mir.«

Er würde nicken und in seine Hütte gehen, um ihm eine Flasche stilles Wasser zu holen. Von innen würde er beobachten, wie der Wanderer in die Grube schaute.

»Möchtest du jemanden vergraben?«, würde er höhnisch fragen.

»Nein!«, würde er antworten. »Ich möchte mir ein Trockenklo bauen. So ein Plumpsklo wie früher, wissen Sie?«

»Bist du verrückt?« Der Wanderer würde seinen Hut abnehmen. Seine Haare wären platt und verschwitzt. Er würde sich kratzen und den Hut wieder aufsetzen. »Und was willst du damit?« Lachen würde er. Ihn auslachen sogar.

»Ein Gewitter zieht auf. Sie sollten sich auf den Weg machen.« Er würde Richtung Westen zeigen.

Der Wanderer würde nicken und kurz winken. Im Weggehen würde er seinen Hut erneut anheben und ihm alles Gute wünschen. Alles Gute für ihn und sein Plumpsklo.

»Und danke fürs Wasser!«, würde er noch rufen.

Wie auch immer.

Er füllte die Grube mit 16/32er Basaltschotter rund 40 Zentimeter hoch. Darauf legte er Lagerhölzer. Die Außenwände und den Boden kleidete er mit Grobspanplatten aus, die er sorgfältig an den Ecken mit Pfosten verschraubte. Er besorgte eine Matratze, die genau hineinpasste. Viel mehr Platz gab es nicht.

An den oberen Rand montierte er einen Holzrahmen mit Tragebalken, die quer über die Grube verliefen. Weitere Grobspanplatten dienten als Decke. Eine kleine Einstiegsluke ermöglichte den Zugang.

Er baute den kleinen Schuppen mit den zuvor beschrifteten Brettern wieder zusammen.

Den Boden, der gleichzeitig die Decke des Verlieses war, tarnte er mit einem grünen Vorzeltteppich. Das Kaminholz legte er wieder zurück an seinen Platz.

Wenn man die Einstiegsluke öffnen wollte, musste man Holz zur Seite tragen, dann ein Vorhängeschloss öffnen.

Niemand, wirklich niemand, konnte hier etwas vermuten!

Eins durfte man nicht vergessen, dachte er, als er in das Verlies schaute. Keiner machte sich Gedanken darum, wie viel Arbeit es war, ein solches Versteck zu bauen, an alles zu denken, sich bloß keine Fehler zu leisten. Aber das konnte einem Kopfzerbrechen und schlaflose Nächte bereiten. Und das ganz nebenbei. Schließlich hatte er eine Arbeit und ein Privatleben.

Er stand lange dort, mit Bier in der Hand, und starrte auf sein Werk. Stolz, bedachtsam, feierlich.

Er schrieb eine Liste. Eine Liste mit allen Komplikationen, mit allen Eventualitäten, mit allen Optionen, die es zu berücksichtigen galt. Er versetzte sich tagelang in die Lage der Frau.

Wie würde sie versuchen zu entkommen?

Würde sie um Hilfe schreien?

Er kam zu dem Entschluss, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als sie in seiner Abwesenheit zu fesseln und ihr den Mund zuzukleben. Umso größer wäre ihre Erleichterung, wenn er sie besuchen kam.

Er würde ihr die Augen verbinden. Sie würde ihn niemals zu Gesicht bekommen. Er überlegte sich, dass er ihr das Sprechen ohne Ausnahme verbieten würde. Er wollte so wenig wie möglich von ihr erfahren. Nicht, dass sie ihm am Ende noch gut zuredete, oder schlimmer noch, ihn beeinflusste. Er wollte keine Beziehung zu ihr aufbauen. Das gab nur Probleme.

Er hatte noch mehr Punkte auf seiner Liste stehen: Was, wenn die Temperaturen unter den Gefrierpunkt fielen, oder ein heißer, trockener Sommer kam?

Wie oft konnte er zu ihr, ohne seine Arbeit zu vernachlässigen?

Es galt, sich Gedanken um die Grundbedürfnisse zu machen. Essen und Trinken, sich erleichtern, sich waschen, sich bewegen.

Er war angestrengt. Eine erholsame Pause wünschte er sich, also wurde er krank. Eine Grippe über einige Wochen. Trotzdem schleppte er sich zur Arbeit. Bis zum Winter hatte er noch Zeit. Besser, es war dunkel, wenn es so weit war.

Und dann irgendwann war es so weit. Der Winter kam. Da nutzte ihm auch keine Grippe mehr was.

Fast konnte er nicht. Ihn überkamen Skrupel. Er war kein Verbrecher. Fantasien zu haben war das eine. Sie wirklich in die Realität umzusetzen, das andere. Das brachte man nicht einfach so fertig. Dazu musste man den Schneid haben, die richtigen Ideen. Und Mut. Sehr vorsichtig musste man vorgehen und bis ins kleinste Detail planen. Dabei durfte einem wirklich kein winziger Fehler unterlaufen.

Verdammte Angst hatte er, wachte nachts schweißgebadet auf, beruhigte sich. Noch war nichts passiert. Noch konnte er zurück. Noch konnte er von seinem Plan abrücken, alles rückgängig machen. Aber bei diesem Gedanken hatte er einmal geweint. Vor Enttäuschung.

Von 7,4 Milliarden Menschen auf der Welt würde es eine geben, die eine geraume Zeit in seinem Verlies zubrachte. Er würde sie nicht quälen, ihr keine Schmerzen zufügen. Freilassen würde er sie wieder.

Philanthropisch bedeutet menschenfreundlich. Damit hatten es andere nicht so. Hatten Frauen gequält, oder schlimmer noch, Kinder missbraucht. Das würde ihm niemals einfallen.

Nur eine Frau. Nicht für immer. Eine Weile. Ihr würde nichts geschehen und niemand würde es erfahren.

Das war das Wichtigste.

Er bereitete sich vor. Es war an der Zeit. Keine Ausreden mehr.

Er fuhr zu seiner Hütte. Dort stand er eine Weile, blieb im Auto sitzen. Dann stieg er aus, ging hinein, verriegelte die Tür sorgfältig. Er horchte, ob er Geräusche vernehmen konnte. Alles war still.

Er zog seine Jacke aus und hängte sie über den großen Sessel, der direkt im Eingangsbereich stand.

Er rieb seine Hände aneinander und machte sich daran, Holz in den Kamin zu legen und dabei aufmerksam den Raum zu betrachten. Natürlich hatte sich seit dem letzten Mal nichts verändert. Das Wichtigste aber war, diesen Umstand stets zu kontrollieren. Als er sicher war, dass alles seine Richtigkeit hatte, entspannte er sich.

Dann setzte er sich auf seinen Sessel, mit einem Tuch in der Hand, und onanierte heftig.

2

Junia, 26 Jahre alt, saß im Aufnahmezimmer 116 in Iraklio auf Kreta und wartete auf den diensthabenden Arzt Dr. Zacharias Nikolaos.

Ihr Verstand ließ keinen Zweifel daran, dass sie kerngesund sein würde, dass ihre Herzrhythmusstörungen mit großer Wahrscheinlichkeit nur vorübergehend waren. Zu intensives Training, eine unentdeckte Myokarditis, überarbeitet, ein Burn-Out-Syndrom. Heimweh.

Sie hatte eine harte Saison hinter sich, die dritte in Folge, überwiegend im anaeroben Trainingsbereich. Sie musste mit Männern mithalten, sich nicht anmerken lassen, dass sie am Limit ihrer Kondition fuhr.

Die schwere Zimmertür öffnete sich, eine kleine Gestalt kam hereingeflogen. Als Dr. Nikolaos nach der Türklinke griff, schob sich sein weißer Ärmel über das Handgelenk, und Junia konnte die tiefschwarze Behaarung an den Armen sehen.

Er begrüßte sie knapp, schaute in die Patientenakte, blätterte zu den dünnen Seiten des ausgedruckten EKGs, die unordentlich und schlampig von einer der Mitarbeiterinnen hineingelegt worden waren.

Das Krankenhaus war veraltet und vollkommen überfüllt.

Peer hatte sie überredet herzufahren. Peer, ihr Kollege. Schön anzusehen, durchtrainiert und groß, und nach der Saison braun gebrannt. Er besaß eine kleine Hütte in der Schweiz. Dahin wollte er dieses Jahr in den Wintermonaten zurückkehren. Dahin. In sein Zuhause.

Unruhig saß Junia auf dem Bett und wartete. Dr. Nikolaos atmete schwer aus.

»Sie haben Extrasystolen.« Er schüttelte den Kopf. »Nicht pathologisch. Sie können Betablocker nehmen, wenn sie Ihnen zu unangenehm sind. Aus medizinischer Sicht sind Sie gesund.« Er schaute auf das Geburtsdatum, als wolle er seine These damit unterstreichen. Er zeigte ihr das EKG und kreiste mit seinem Kuli betroffene Stellen an.

Verschwitzte Achseln unter einem schon lang nicht mehr gewaschenen Kittel, trübe Brillengläser, stumpfes Haar.

Dr. Nikolaos kritzelte Abkürzungen auf die erste Seite.

»Und jetzt?«, fragte Junia.

»Und jetzt gehen Sie damit in Deutschland zu einem Arzt, wenn Ihr Urlaub beendet ist.«

»Kein Urlaub. Ich arbeite hier. Aber nur noch bis Ende November. Dann fliege ich zurück. Nach Deutschland. Nach Hause.«

Er nickte kurz. Die Tür ließ er offen.

Peer hatte vor dem Krankenhaus auf sie gewartet.

Gemeinsam fuhren sie zu einer Taverne und aßen griechischen Salat und Steak. Auf der Rückfahrt sprachen sie wenig.

Sie machten die Anlage winterfest, bereiteten ihre Abreise vor.

Am Abend vor dem Flug drehten sie zusammen eine letzte Runde durch den kleinen Ort.

Agia Galini besaß schmale Gassen mit langen schiefen Treppen, lag direkt am Strand. Junia hatte sich anfangs vorgestellt, wie es wäre, hier wirklich zu wohnen, eines der kleinen Häuschen zu kaufen, die hier standen, aber sie hatte den Gedanken nicht ernsthaft verfolgt. Es war, wie so vieles, nur eine kleine Spielerei.

Fest stand, es würde kein gemeinsames Kreta mit Peer mehr geben. Junia wollte zurück nach Deutschland. Sie freute sich auf den Winter, hatte genug von trockener Sonne und kretischer Meeresluft. Sie wollte einen Ort finden, an dem sie ein echtes Zuhause hatte. Am liebsten für den Rest ihres Lebens.

Sie verabschiedeten sich am Flughafen.

Junia glaubte nicht daran, dass es zu einem Besuch in Peers Hütte kommen würde. Ein Versprechen, damit sich der Abschied nicht endgültig anfühlte. Sie entging der Situation bedrückter Verlegenheit gern.

Ihr Flug ging pünktlich, der Kapitän meldete sich über die Lautsprecher, neben ihr saß eine übergewichtige Frau. Junia schätzte sie auf Anfang 50. Sie roch nach Lakritz und Rosen.

Eine Stewardess brachte kalten Orangensaft und schlechten Kaffee in Plastikbechern. Das pappige Sandwich schenkte Junia der dicken Rosenfrau.

»Danke. Das ist sehr großzügig von Ihnen. Ich bin schon lange unterwegs«, entschuldigte sie sich.

»Wo sind Sie denn losgeflogen?«, fragte Junia. »Heraklion ist doch kein Zwischenstopp, oder doch?«

»Nein, nein«, lachte sie. »Ich komme direkt aus Rethymno. Das ist nicht weit. Ich bin mit dem Linienbus die New National Road gefahren. Sie führt an der Nordküste Kretas entlang und verbindet bis nach Westen die Urlaubsorte miteinander. Aber der Busfahrer hatte eine Herzattacke. Können Sie sich das vorstellen?«

»Oh. Was für ein Zufall. Geht es ihm wieder gut?«

»Ich bin Ärztin.« Sie lächelte stolz. »Ich habe sofort erkannt, was los ist.«

»Was für ein Glück«, nickte Junia anerkennend.

»Ja, und wie.« Die dicke Rosenfrau versuchte ihr die Hand zu reichen, was aber daran scheiterte, dass sie zu kurze Arme und einen viel zu dicken Bauch hatte. »Ich heiße Eva«, lächelte sie verlegen und ließ ihre Hand erfolglos wieder sinken.

Junia nickte freundlich. »Ich bin Junia. Haben Sie hier Ihren Urlaub verbracht?«

»Nein, nein.« Eva lachte erneut. »Ich bin Ärztin.«

»Das erwähnten Sie bereits.«

»Ich habe hier zu tun gehabt. Ich begleite ehemalige Patienten mit Herzinfarkten auf Flügen.«

»Oder in Bussen.«

Es dauerte, bis Eva den Witz verstand. »Ja, Sie haben recht. Ich sollte das in Rechnung stellen, nicht?«, kicherte sie.

»Na, dann bin ich ja in besten Händen, sollte mir während des Fluges etwas passieren«, beendete Junia das Gespräch und lehnte ihren Kopf an das runde kleine Fenster.

Junia hatte viele Fragen, aber keine Antworten.

Menschen, die das Leben einfach kommen ließen. Das konnte sie nicht. Immer veränderte sich alles. Ein abwechslungsreiches Leben. Vielseitig. Aber da fehlte etwas. Vielleicht, weil sie plötzlich erwachsen war. Vielleicht war sie auf dem Weg dahin verloren gegangen. Hatte verpasst anzukommen.

Kein Bett, keine Matratze. Kein Kissen, keine Bettdecke. Keine Kerze auf dem Tisch, kein Kühlschrank, der befüllt war. Kleiderschrank, Besteckschublade, Haustier, ein Schlüsselanhänger. Keine eigene Festnetznummer.

Nur ihren Sport. Durch den Wald fahren. Das Geräusch, sich in die Pedale zu klicken. Den Berg vor sich. Die Hände auf dem Lenker. Die Finger auf dem Hebel der Scheibenbremse, Zeigefinger und Daumen an der Schaltung. Das sanfte Rutschen in ihren verbrauchten Klickpedalen, das leise Klicken, wenn sie schaltete. Ihr eigener Atem und ihr Puls, der Schweiß, der ihr zwischen den Brüsten den Bauch hinunterlief, von ihrer Stirn auf ihren Lenker tropfte. Der angenehme Druck ihres Helms. Schlamm, der an ihre Beine spritzte. Endorphine und Anstrengung. Die heiße Dusche danach, die ihre Haut ganz rot färbte.

Sie döste darüber ein. Um sie herum Menschen, die irgendwo ein Zuhause hatten.

Während sie an der Gepäckausgabe auf ihren Koffer und auf ihr Mountainbike wartete, spürte sie ihr Herz. Das erinnerte sie daran, dass ihre erste Mission in Deutschland das Aufsuchen eines Internisten sein würde. Wenn sie schon selbst durch das Leben stolperte, musste es ihr Herz nicht auch noch tun.

Irgendwo musste sie anfangen, Klarheit zu schaffen. Sie musste ankommen. Irgendwohin. Aber, verdammt noch mal, vor allem nach Hause.

Am liebsten hätte sie geweint.

3

Er hatte sich reichlich vom Buffet genommen. Nudelsalat mit filetierten Orangenscheiben und Walnuss-Pesto, außerdem Rinderfilet mit grünem Pfeffer in milde Paprika eingewickelt. Den Kürbis mit Knoblauch und gerösteten Erdnüssen hatte man ansehnlich in Nestern aus rohem Schinken serviert.

Er hatte sich noch im Stand ein extra großes Stück vom Trüffelkäse in den Mund geschoben, als ihn jemand zur Begrüßung freudig auf die Schulter klopfte, ihm dadurch ein Stück Baguette vom Teller auf den Boden fiel.

Er kam erst gar nicht dazu, es aufzuheben.

»Mensch, Theo. Du bist hier? Wir haben uns ja ewig nicht gesehen. Wie geht es dir?«

Theodor Stein hatte keine Ahnung, wen er vor sich hatte. »Wer sind Sie?«

»Mein Name ist Elenor Moos. Wir haben uns auf einer Fortbildung kennengelernt. Das war … meine Güte. Das ist bestimmt zehn Jahre her. Oder nein. Noch länger. Fast 15 Jahre.«

»Oh. Ist das so?« Theodor hatte keine Lust auf eine Konversation mit Elenor Moos. Er erinnerte sich noch immer nicht. Nicht einmal bei dem Namen klingelte etwas.

»Wie geht es dir? Wo hat es dich hin verschlagen?«, fragte die Frau aufgeregt.

»Entschuldigen Sie mich bitte.« Theodor schob sich an ihr vorbei, durch die Menschenmenge zu seinem Platz, ließ die Fremde stehen, ohne jeden weiteren Kommentar. Er war im Begriff, sich neben seine Frau zurück an den Tisch zu setzen, als er mit Unbehagen feststellte, dass sie in eine Unterhaltung mit Leen Roger vertieft war.

Wenn man Leen Roger zum ersten Mal sah, schaute man automatisch an ihr vorbei. Nicht, weil die Unscheinbarkeit ihrer äußeren Merkmale so bedeutungslos war. Der erste Impuls, wenn man dieser Frau begegnete, war Erstaunen. Der anerzogene Anstand veranlasste einen, schnell etwas anderes zu fixieren, um sich wenige Sekunden zu sammeln. Erst dann hatte man eine Chance, das dargebotene Bild überhaupt zu begreifen. Man war geneigt, Leen Roger entsetzt und peinlich berührt ins Gesicht zu glotzen. Das, was einen so aus der Fassung brachte, war ihre Hässlichkeit: Leen Roger sah aus, als habe man zwei Gesichtshälften willkürlich aneinandergenäht. Nichts passte zusammen.

Wenn man seine Aufmerksamkeit nach dem ersten Schrecken erneut ihrem Gesicht zuwandte, konnte man der anhaltenden Konfrontation standhalten, sofern man sich auf die Inhalte des Gesprächs konzentrierte. Das fiel einem zum Glück nicht schwer. Leen Roger musste ihr äußeres Erscheinungsbild zeitlebens kompensieren, weswegen sie einen messerscharfen Verstand besaß. Ihr überdurchschnittlicher Intellekt verlangte dem Gegenüber in einem Gespräch höchste Konzentration ab.

Offensichtlich fiel es seiner Frau Wiebe nicht schwer, einen gleichberechtigten Dialog mit ihr zu führen und dabei jegliche Abnormalität zu ignorieren.

Er ließ die beiden allein, stellte sich mit seinem Teller in eine ruhige Ecke, um die Gäste zu beobachten.

80 eingeladene Ärzte, Juristen, Pharmaziechefs, Politiker und Verbandsmitglieder.

Er war nicht gerne auf Kongressen. Zu viele Menschen, selbstherrliche Dekadenz, Heuchelei.

Seit ihre drei Kinder erwachsen waren, begleitete ihn seine Frau Wiebe an solchen Abenden. Das machte ihn glücklich.

Wiebe fand, dass er auf seine alten Tage verschroben wurde. Er selbst war der Meinung, dass er schon immer so war. Also nicht verschroben. Höchstens ein bisschen menschenscheu.

Seine Tochter Mea hatte irgendwann vermieden, ihre Freunde mit nach Hause zu bringen, weil er alle verschreckte. Einmal hatte sie sogar das Wort einschüchtern benutzt.

Mea, 23 Jahre alt, studierte in Hamburg Wirtschaftspsychologie. Seine beiden 25 Jahre alten Zwillinge, Joris und Piet, befanden sich beruflich im Ausland. Joris in Singapur und Piet in Melbourne. So war das Haus leer und eigentlich zu groß für Wiebe und ihn.

Er wollte aus Wiesbaden raus. Raus nach Panama. Wiebe hatte er noch nichts davon erzählt.

Er schaute seine Frau an. Sie hatte ihre Augen geschminkt, roten Lippenstift aufgetragen. Ihr Teint abendländisch, ihre Haare tiefschwarz und einige von ihnen ergraut, was sie für ihn noch attraktiver machte.

Ihm kam der vertraute Geruch in den Sinn, den er abends im Bett einsog, wenn er sich von hinten an sie schmiegte, wenn er seinen Arm um sie schlang. Ihr wohliges Seufzen war immer noch ein geschätztes Zeichen, dass sie ihn liebte, fand er.

Richard hatte ihn mal gefragt, warum seine Ehe noch immer funktionierte. Er hatte, ohne wirklich darüber nachzudenken, geantwortet, dass er nicht sagen könne, worin das Geheimnis läge, es gab nur eins, was er mit unumstößlicher Gewissheit immer gewusst hatte: dass er bei ihr richtig war.

Er liebte Wiebe. Immer noch. Für ihn war sie der Leuchtturm, der ihn abends zurück in den Hafen führte.

Als Kind hatte er oft seine Ferien mit seinen Eltern und seinem jüngeren Bruder auf der dänischen Insel Samsø verbracht. Die Insel war nicht sehr groß, höchstens 120 Quadratkilometer mit etwa 4.000 Einwohnern. Sie lag zwischen der jütischen Ostküste und den seeländischen Halbinseln Røsnæs und Fünen. Er hatte wunderschöne Kindheitserinnerungen an die Urlaube dort. Insbesondere der Leuchtturm vor ihrem Ferienhaus löste damals nahezu magische Gefühle in ihm aus.

Irgendwann, da war er schon erwachsen, fand er Fotos bei seinen Eltern, und er wollte nicht wahrhaben, dass der Leuchtturm in Wirklichkeit ein alter Glockenturm war. Seine Enttäuschung war groß, weil er mit dem Foto geheimnisvolle Erinnerungen relativiert hatte. Als kleiner Junge kam ihm der Turm unendlich hoch vor. Allein die Vermutung darüber, dass der Glockenturm mit großer Wahrscheinlichkeit winzig klein war, raubte ihm eine unergründliche Gewissheit, die ansonsten mit ihm gewachsen wäre. Es schien, als wäre damit auch seine kindliche Existenz nicht das, wonach sie sich damals angefühlt hatte. Orte aus der Kindheit aufsuchen: Für viele ein Reiz. Theodor war damit um seine Vergangenheit betrogen worden.

Erst jetzt bemerkte er, dass ihn jemand beobachtete.

Es war Elenor Moos, die weit hinten an einem Tisch saß und ihn entschlossen fixierte. Dabei hatte sie jedes freudige Strahlen verloren. Hastig schaute sie weg, als sich Theodors und ihr Blick zufällig trafen.

Die Veranstaltung nahm ihren Lauf, und Theodor kam nicht umhin, sich mit vielen der anwesenden Gäste zu unterhalten. Es gab interessante Begegnungen und zuweilen auch bedeutende Gespräche.

Auf dem Nachhauseweg waren Wiebe und er müde und erschöpft. Es war noch immer warm, trotz der späten Stunde.

Das Hauseingangslicht schaltete sich durch einen Bewegungsmelder ein und leuchtete ihnen den Weg zur Haustür. Ihr weißer Kater Luzifer huschte aus dem Gebüsch und wartete auf Einlass.

Theodor war immer wieder beeindruckt, dass Luzifers Gehirn scheinbar den Sonnenstand zu bestimmten Tageszeiten registrierte und eine innere biologische Uhr dafür sorgte, dass er zum richtigen Zeitpunkt zurückfand.

Theodor hatte mal gehört, dass sich Katzen mit Hilfe von polarisiertem Licht und magnetischen Feldern orientierten. Nicht einmal Wolken oder Nebel konnten diese Art der Navigation beeinträchtigen.

Wenn sie abends ins Bett gingen und Luzifer den ganzen Tag in seinem Revier unterwegs gewesen war, öffneten sie die Haustür. Das Geräusch des Schlosses und das leise Klicken des Bewegungsmelders reichten aus, damit Luzifer an ihnen vorbei hinein ins Haus lief.

Theodor schaltete die Alarmanlage aus, legte sein Jackett ab. Seiner Frau half er aus der dünnen Strickjacke. Er küsste dabei liebevoll ihren warmen Nacken.

»Wie hat dir der Abend gefallen?«, fragte er.

»Es war schön«, sagte sie. »Ich hatte anregende Unterhaltungen.«

»Du hast dich mit Leen Roger unterhalten. Eine juristische Rasierklinge.«

»Das war sehr bereichernd. Ich interessiere mich für ihre Ansichten. Sie ist zudem äußerst erfolgreich. Das beeindruckt mich.«

»Sie ist erfolgreich, weil sie entschlossen ist. Fanatisch. Sie bewahrt psychisch kranke Verbrecher nicht nur vor dem Gefängnis. Sie erwirkt sogar, dass sie nach Zwangseinweisungen wieder aus der Klinik entlassen werden.«

»Ja, sie erklärte mir, dass die Verletzungen der Menschenrechte unter der Zwangspsychiatrie prinzipiell schon bei der Diagnose durch einen Gutachter beginnen.«

Er schüttelte den Kopf. »Sie findet Formfehler und provoziert sie. Wenn sie irgendwann bei mir vor der Tür steht, weil einer meiner eingewiesenen Patienten von ihr vertreten wird, verstecke ich mich unter meinem Schreibtisch.«

»Sie hat trotzdem eine wichtige Funktion.«

»Vielleicht«, antwortete er. »Aber ich habe meine Skrupel. Wo beginnt und endet das Rechtsverständnis, wenn ein jeder aus seiner psychischen Konstitution heraus Verbrechen begehen kann und Leen Roger eine bedingungslose Legitimation zusammenflechtet, womit der Täter unter geringen Auflagen auf freiem Fuß bleibt?«

»Du magst sie nicht.«

»Das ist nicht richtig.«

»Was dann?«

»Leen Roger ist Juristin.«

»Setzt das voraus, dass sie falschliegt?«

»Sie unterschlägt das Recht des psychisch Erkrankten, eine Chance auf Behandlung oder sogar Heilung zu erhalten.«

»Das siehst du als Psychiater so.«

»Meine Toleranz hat ein Ende, wenn ein psychisch kranker Schwerverbrecher auf freiem Fuß bleibt, weil sie seine Kindheit auseinandernimmt und benutzt und darüber die Schuldfrage in die Waagschale wirft.« Theodors Stimme klang energisch. Fast zitterte sie. Er holte Luft. Tief.

Wiebe stellte sich auf Zehenspitzen und nahm seinen Kopf in ihre Hände. »Sie wird nicht vor deiner Tür stehen. Bestimmt nicht«, lächelte sie.

Im Schlafzimmer war es heiß, und sie deckten sich nur mit einem dünnen Laken zu.

Sie waren fast eingeschlafen, als er sie fragte:

»Sagt dir der Name Elenor Moos etwas?«

Sie überlegte still. »Nein. Nicht, dass ich wüsste. Warum fragst du?«

»Weil sie mich angesprochen hat. Sie nannte mich Theo, und sie war der Meinung, dass wir uns auf einer Fortbildung kennengelernt hätten.«

»Und kann das nicht sein?«, gähnte sie.

»Doch. Sicher.«

Er entschied, dass er es einfach nur vergessen hatte.

4

Er musste vorsichtig vorgehen. Sehr vorsichtig.

Es war dunkel und kalt, der Dezember verregnet. Für ihn zweifellos ein Vorteil. Wenige Menschen waren unterwegs, und er war sicher, dass ihn auch heute niemand verfolgt hatte. Zur Sicherheit schaute er sich um.

Er war eine lange Strecke zu Fuß gelaufen, damit sein Auto keine Verbindung zu seinem Versteck darstellte. Im Wald hätte man sofort seine Reifenspuren entdeckt.

Er trug eine Mütze und einen Kälteschutz, damit ihn niemand erkannte, sollte er jemandem begegnen. Sein Atem ging schwer.

Seine gesamte Zeit hatte er in die Vorbereitung dieses Projekts investiert. Jetzt galt es, die letzten Handgriffe zu tätigen, damit sein Vorhaben funktionieren konnte. Er musste aufpassen wie ein Luchs. Seine Nervosität war kaum auszuhalten. Er spürte sie pausenlos.

Er nahm einen tiefen Atemzug und öffnete seine Jacke. Mit beiden Händen zog er den Kälteschutz aus, nachdem er sich erneut versichert hatte, dass niemand weit und breit zu sehen war. Er horchte in den Wald hinein, hörte, wie der Regen unaufhörlich auf das nasse Laub fiel. Hier und da vernahm er ein Knacken, sonst nichts. Sein Herz klopfte trocken in seiner Brust, er atmete nicht und versuchte im Dunkeln zu erkennen, ob sich irgendetwas bewegte. Tatsächlich raschelte es, etwa 100 Meter weiter, unter einem Strauch direkt vor ihm. Sicher eine Maus, die ängstlich ein Versteck suchte, beruhigte er sich.

Es roch nach Regen und nassem Laub. Er liebte den modrigen Geruch.

Als er sicher war, sich wieder bewegen zu dürfen, ging er weitere fünf Schritte und kniete sich auf den nassen Boden. Aus seiner linken Tasche zog er eine zerknitterte Plastiktüte. Er breitete sie aus, legte sie neben sich auf einen Baumstumpf. Das Knistern der Tüte kam ihm unnatürlich laut vor. Er holte tief Luft. Seine Nervosität würde ihm irgendwann einen Herzinfarkt bescheren, dachte er besorgt. Er legte seine Mütze und den Kälteschutz auf die Tüte.

Jemand packte ihn von hinten. Grob und fest.

Oder nicht?

Er drehte sich um, aber niemand war da. Er war allein.

Allein weit und breit.

Er suchte mit weit aufgerissenen Augen nach dem Draht, unter dem die Öffnung des Verstecks zu finden war. Für einen Moment musste er seine Augen schließen, so sehr brannten sie vor Anspannung.

Endlich entdeckte er die kleine Schlaufe. Niemand, der nicht explizit nach ihr suchte, würde sie finden.

Mit seinen Händen strich er vorsichtig die erste Schicht Blätter zur Seite. Er war schon lange nicht mehr hier gewesen. Die Blätter waren matschig, Erde hatte sich inzwischen durch den vielen Regen daruntergemischt. Endlich fühlte er die harte Oberfläche und tastete sich weiter nach rechts, bis er den kleinen Griff spürte.

Er wartete regungslos.

Er hielt den Griff mit beiden Händen fest. Nach einer Weile zog er vorsichtig daran.

Nichts passierte.

Er zog erneut. Dieses Mal mit mehr Kraft. Er setzte dabei seinen Körper ein. Plötzlich, mit einem Ruck, ließ sich der Deckel öffnen.

Er tastete nach dem Feuerzeug in seiner Innenjacke. Ursprünglich wollte er sich eine kleine Taschenlampe mitnehmen, aber ein Feuerzeug schien ihm unauffälliger, sollte er in eine Kontrolle kommen oder seine Jacke versehentlich irgendwo liegen lassen. Er durfte keinen Fehler machen. Keinen einzigen winzigen Scheißfehler.

Mit dem Feuerzeug leuchtete er in das Innere seines Verstecks. Erleichtert sah er das kleine Täschchen, das er dort deponiert hatte. Fast weckte es liebevolle Gefühle in ihm. Es war aus schwarzem Nylonstoff und hatte einen Reißverschluss. Es war etwa so groß wie ein DIN-A5-Blatt und passte perfekt in die kleine Kiste, die er dort eingegraben hatte.

Er ließ das Feuerzeug zurück in seine Tasche fallen, nahm das kleine Täschchen aus dem Versteck, schob es in seine Innenjacke. Sie zu öffnen war mit seinen Handschuhen umständlich, aber er wollte sie auf keinen Fall ausziehen. Ein bisschen fand er sich paranoid, aber das war besser, als nachlässig zu sein.

Vorsichtig machte er die Kiste wieder zu und versicherte sich, dass keine nassen Blätter hineingefallen waren. Er würde die Kiste vielleicht noch einmal brauchen.

Den Draht hielt er fest und zog ihn nach oben. Mit der anderen Hand brachte er alle zur Seite geschobenen Blätter wieder zurück an ihre ursprüngliche Stelle.

Er stand auf. Seine Beine kribbelten, und der harte Boden hatte ihm auf die Kniescheiben gedrückt. Er war wirklich nicht mehr der Jüngste, dachte er sich. Umso wichtiger, dass er sein Projekt endlich ins Rollen brachte, sonst war es am Ende noch zu spät.

Manchmal stellte er sich so detailreich vor, wie er eine Frau erniedrigte, dass er darüber einschlief. Er lächelte beschämt bei diesem Gedanken. Das würde ihm nicht mehr passieren.

Er nahm leise stöhnend seine Mütze und den Kälteschutz. Die Plastiktüte verstaute er in der Tasche mit dem Feuerzeug. Er begab sich auf demselben Weg zurück durch den stockfinsteren Wald. Wie dunkel es war. Das Knacken der Äste unter seinen Füßen war erschreckend laut. Er ging schnell. Seine Anspannung war kaum zu ertragen. Er glaubte, sein Herz würde bei jedem Schlag in Tausend Fetzen explodieren.

5

Junia war nun vier Wochen aus Kreta zurück.

Sie schrieb Bewerbungen, und weil ihr das Fahrradfahren so fehlte, hatte sie sich zu einem Spinningkurs angemeldet, der jeden Dienstagabend und jeden Samstagmorgen stattfand.

Sie war am Niederrhein in Weeze aufgewachsen.

Ihre Eltern lebten noch immer in dem Haus, in dem sie mit ihren Schwestern groß geworden war. Junia hatte dort ihr altes Kinderzimmer bezogen. Sie hatte sich nicht eingerichtet oder etwas verändert. Sie hatte nicht einmal ihre Kleidung eingeräumt.

Sie stand um 8 Uhr auf und lief ihre alte Joggingstrecke an der Niers entlang, dem kleinen Fluss im Ort. Viele Erinnerungen wurden geweckt, und sie genoss die einsame Ruhe und den melancholischen Nebel, der sich morgens über das flache Land legte. Sie lief an Kuhwiesen vorbei und an ihrem alten Baum, in den sie als Kind kleine Wunschzettel hineingeworfen hatte. Er war mittig gespalten und auseinandergebrochen. Ein tiefes Loch hatte sich damals gebildet, und wenn man etwas hineinwarf, verschwand es für immer und ewig im Innern der Erde.

Der alte Spielplatz, der heute ganz anders aussah, erinnerte sie an Mark, Philip und Verena. Viele Nächte bis zum Morgengrauen mit Alkohol und gestohlenen Fahrrädern.

Wohin gehörte sie wohl?

Wo befand sich ihr fester Platz auf der Welt, zu dem sie abends zurückkehren konnte?

Junia lief heute schneller als sonst, trug keine Handschuhe, hatte die Ärmel über ihre Hände gezogen. Es war kalt, und sie sah ihren Atem grau und rhythmisch aus ihrem Mund strömen. Raureif war auf den Wiesen gefroren und Spinnennetze hingen schneeweiß zwischen Sträuchern und Zäunen.

Sie wollte heute eine größere Runde laufen. Ihre alte Weide besuchen, auf der sie damals, vielleicht war sie sechs, eine geheime Mutprobe mit einem Stier bestanden hatte.

Der Stier hatte allein auf der Weide gestanden, jeden Tag am selben Platz. Junia hatte immer wieder vor dem Zaun gesessen, den Stier entschlossen beobachtet und dann einen Plan gemacht. Sie hatte eine feste Route, wusste genau, wo sie entlangrennen musste. Ein Maulwurfshügel konnte ihr bedrohlich werden, tiefe Erdlöcher ihren Fall bedeuten.

Mit zusammengekniffenen Augen hatte sie das Ziel auf der anderen Seite fokussiert, war zwischen dem Stacheldraht durchgeklettert, hatte tief Luft geholt und war losgerannt. Den Stier im Augenwinkel, das Ziel anvisiert. Seinen Atem würde Junia spätestens ab der Mitte der Wiese im Nacken spüren, damit hatte sie gerechnet.

Sie war gerannt wie eine Leopardin.

Ihre Beine waren muskulös, ihr geflochtenes Zöpfchen, so dünn wie ein Schnürsenkel, war hinter ihr auf und ab geflattert. Sie hatte sich auf die bevorstehende Kurve konzentriert, um an der Tränke vorbeizukommen.

Sie war um ihr Leben gerannt. Mut vorweg, mit dem Willen zu kämpfen. Sie war fast am anderen Ende der Weide angekommen, da hatte sie ihn hinter sich gehört. Er war schwer galoppiert. Er hatte geschnauft, und der warme Atem aus seinen Nüstern hatte ihr Gänsehaut verursacht. Sie war noch schneller gerannt. Sie hatte nasse Erdklumpen durch die Luft wirbeln sehen.

Auf der anderen Seite angekommen, war sie durch den Zaun gehuscht, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie hatte den Stier abrupt bremsen gefühlt, hatte damit gerechnet, dass er sie treffen würde. Mit voller Wucht.

Als sie sich umgedreht hatte, stand er da. Weit hinten auf der Wiese. Genau dort, wo er immer stand. Er hatte nicht einmal seinen Kopf in ihre Richtung gedreht.

Sie war enttäuscht gewesen. Und auch ein bisschen empört.

Heute, 20 Jahre später, schaute sie auf das Neubaugebiet, das die Weide von ihrem Platz verdrängt hatte.

Keine Weide. Kein Stier. Keine Mutprobe.

Wenn ihr Plan aufging, würde sie schon bald nach Sulzberg ziehen und dort ein Erholungs- und Gesundheitszentrum leiten. Das Zentrum war an ein Hotel angegliedert und befand sich noch im Bau. Man suchte eine Führungskraft, die den gesamten Sportbereich aufbauen und leiten würde. Erkundigt hatte sie sich bereits: Das Oberallgäuer Voralpenland war bestens für Mountainbike-Touren geeignet. Bei diesem Gedanken lief sie automatisch schneller.

Sie machte die Runde zügig zu Ende. Dann duschte sie heiß und ausgiebig.

6

Theodor öffnete seine Augen. Neun Uhr, die Bettseite neben ihm leer. Er wartete. Gleich würde seine Frau, in Nachthemd und mit wirren Haaren, zurück ins Schlafzimmer kommen. Sie hatte sich angewöhnt, seinen Mundwinkel zu küssen, mit Tee in der Hand, den sie auf das kleine Nachtschränkchen stellte. Nichts auf dieser Welt konnte diesen wunderbaren Moment ersetzen.

Er seufzte. Solange Wiebe noch nicht hier war, konnte er nachdenken. Vielleicht über seinen Tee.

Niemand kochte ihn so perfekt, wie Wiebe es tat.

Es war schon längst ein Ritual, dass sie unter der Woche um 7 Uhr nebeneinander in der Küche standen, sich gegenseitig ihre Getränke zubereiteten.

Sie hatten das Phänomen der geschmacklichen Präferenz für das jeweils von dem anderen zubereitete Getränk spaßeshalber diskutiert. Wiebe hatte für die Erklärung einen romantischen Ansatz gefunden. Sie war überzeugt, dass es die zelebrierte Hingabe war, die das Getränk für den anderen in seiner Gesamtheit so perfekt werden ließ. Theodor kam aus der Wissenschaft und konnte nicht anders, als die winzig kleinen Abweichungen in der Vorgehensweise als Ursache zu sehen. So wärmte er ihre Tasse auf. Sie wiederum drückte seinen Teebeutel nicht aus, sondern nahm ihn tropfend aus der Tasse und schleuderte ihn in den Müll. Außerdem schüttelte sie seine Sojavanillemilch viel heftiger, als er es tat. Er wiederum kippte den heißen Kaffee aus einer anderen Höhe in die Sahne.

Sie hatten sich geeinigt, dass sie beide recht hatten.

Er hatte eine interessante Beobachtung gemacht: Wenn es am Abend zuvor kleine Dissonanzen zwischen ihnen gab, zum Beispiel einen Streit, korrigierte Wiebe ihren Kaffee am darauffolgenden Morgen, indem sie eine mikroskopisch kleine Menge der Sahne nachschenkte. Er war überzeugt davon, dass es sich bei dieser Geste um einen Seitenhieb handelte, den sie ausschließlich aus Prinzip vollzog. Zu Beginn hatte es ihn tatsächlich getroffen. Seit vielen Jahren aber nahm er ihre Zubereitungskorrektur mit befriedigendem Wohlwollen zur Kenntnis. Er wartete förmlich darauf, wenn sie sich abends gestritten hatten, und es entzückte ihn, seine Vorahnung am nächsten Morgen bestätigt zu sehen. Wenn er dann schief lächelte, wurde sie stur, gelegentlich aber versuchte sie ein Schmunzeln zu unterdrücken, weil sie sich ertappt fühlte.

Sie verbrachten den halben Sonntag mit Kaffee und Tee im Bett. Wiebe legte ihren Kopf auf seine Brust, und er kraulte ihren Rücken, während sie sich unterhielten.

Sie hatte unter ihrem Nachthemd keine Wäsche an. Wenn er ihr das Hemd über ihre gestreckten Arme zog und sie sich auf ihn setzte, umfasste er ihre Hüften und bewegte sich mit ihr auf und ab. Er liebte es, ihr zuzusehen, wie sie mit geschlossenen Augen und Vertrautheit auf ihm ritt, bis sie kam. Er nahm sie anschließend gern von hinten. Der Duft erregten Schweißes führte dann meistens zügig zu seinem Höhepunkt.

Der Sommer war heiß und trocken, am Montag aber regnete es, und Theodor fuhr ausnahmsweise mit dem Auto statt mit dem Fahrrad.

Er erledigte seine morgendliche Runde in der Klinik.

Er leitete sie in der zweiten Generation, hatte sich zuweilen vorwerfen und sogar verunsichern lassen, dass er mit seiner oft unorthodoxen Vorgehensweise seine professionelle Distanz verlor. Er aber war dabei geblieben und hatte längst aufgegeben, sich zu rechtfertigen. Seine Klinik war kein Verwahrungsort, auch wenn dieses Klischee nach außen gern aufrechterhalten wurde. Er tat alles, um das Bild in der Gesellschaft nicht weiter zu nähren.

Er las sorgfältig die Akte seiner ersten Patientin, um sich auf das kommende Gespräch vorzubereiten. Er brauchte die unumstößliche Aufmerksamkeit, ging den gesamten Fall chronologisch durch, von der Kindheit angefangen über die Familiensituation, Schulkarriere und berufliche Entwicklung, bis zur Zwangseinweisung in seine Klinik.

Lonne de Jong war 23 Jahre alt und hatte bereits zwei Selbstmordversuche hinter sich gebracht.

Beide waren gescheitert.

Beim ersten Mal hatte sie selbst den Notarzt alarmiert:

Sie hatte sich halbherzig die Pulsadern aufgeschnitten. Als das Blut aus ihr herausströmte, bekam sie solche Angst, tatsächlich sterben zu können, dass sie, panisch und ungeachtet der Folgen, die 112 rief und bei deren Eintreffen persönlich die Tür öffnete: ihre Handgelenke verbunden mit Küchenhandtüchern, Kühlakku und Klebeband.

Man hatte bei der Einlieferung ins Krankenhaus den Alkoholspiegel im Blut bestimmt und ein Drogenscreening durchgeführt: ohne positives Ergebnis. Es gab keine offensichtlichen Belastungsfaktoren, kein wahnhaftes Erleben als Zeichen einer psychotischen Erkrankung und kein akutes Ereignis. Seine Patientin litt weder unter einer schwerwiegenden Depression, noch gab sie eine unlösbare Situation als Grund für ihre suizidale Absicht an oder die Hoffnung, aus einem für sie unerträglichen Gefühlszustand zu entkommen. Der primäre Grund für den Suizidversuch war nicht der Wunsch zu sterben. Im Gegenteil. Es ging ihr darum zu erfahren, wie das Umfeld auf ihren Versuch reagierte.

Sie war um ihrer Selbstdarstellung wegen eine zwanghafte Lügnerin.

Sie dachte sich zuweilen dramatische Geschichten aus, um im Mittelpunkt zu stehen. Manche von ihnen waren tatsächlich passiert, Lonne aber schmückte die Ereignisse so detailliert aus, dass sie interessant wirkten und alle in Erstaunen versetzten. Als das bloße Erzählen solcher Konstrukte für ihre Selbstdarstellung nicht mehr ausreichte, fing sie an, ihre Lügen zu unterstreichen, indem sie Situationen oder körperliche Folgen tatsächlich inszenierte.

So zuletzt der zweite Suizidversuch, bei dem sie vortäuschte, sich erhängen zu wollen. Sie war dafür auf den Badewannenrand gestiegen und hatte an der Duschstange ein Seil befestigt, dessen Schlinge sie um ihren Hals gewickelt hatte. Jeder normale Mensch hätte wissen können, dass es nicht funktionieren würde, und mit aller Wahrscheinlichkeit Lonne auch, aber es hatte die von ihr gewünschte Aufmerksamkeit zur Folge, denn ihr Bruder hatte sie im Badezimmer mit einer Platzwunde auf dem Boden liegend aufgefunden. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt erfolgreich eine Bewusstlosigkeit vorgetäuscht und damit eine entsprechend dramatische Wirkung erzielt. Die Platzwunde hatte sie sich mit einer Wasserflasche zugefügt, die sie, jeden Schmerz ignorierend, gegen ihre Stirn geschlagen hatte.

Nach einer Nacht im Krankenhaus wurde sie auf eine geschlossene Station verlegt. Zu Theodor.

Sie hatte tagelang kein Wort gesprochen und eine schwere Depression vorgetäuscht. Egal, wie liebevoll man sich ihr zugewandt hatte, war sie ohne Reaktion in ihrem Bett liegen geblieben und hatte an die Decke gestarrt. Sie hatte nichts gegessen und nichts getrunken.

Theodor hatte ihr die Täuschung von Anfang an nicht abgenommen.

Als er ihr freundlich erklärt hatte, dass ihm keine andere Möglichkeit bliebe, als eine medikamentöse Therapie mit heftigen Nebenwirkungen einzuleiten, war sie erstmals aufmerksam geworden. Die Androhung konsequenter Maßnahmen hatte sie in einen nervösen Zustand versetzt. Nach einigen Sitzungen im Gespräch mit Theodor hatte sie offen zugegeben, sich nicht ernsthaft umbringen zu wollen. Der Vorgang, einen Selbstmord vorzutäuschen, war einzig und allein dem Wunsch nach Aufmerksamkeit geschuldet.

Er schloss die Akte. In diesem Moment klopfte es an die Tür. Lonne setzte sich ihm freudig gegenüber.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte Theodor aufrichtig.

»Sie haben mich gefragt, wie es zu all diesen Inszenierungen kommt. Ich weiß jetzt darauf eine Antwort«, verkündete sie stolz und ohne Umschweife. »Es kommt ganz plötzlich. Ich weiß nicht, ob es vielleicht Langeweile ist, die mich so etwas ausdenken lässt, oder einfach nur der Wunsch, dass sich jemand mit mir beschäftigt?«

»Der Wunsch, dass sich jemand mit Ihnen beschäftigt? Physisch oder gedanklich?«

»Beides.« Sie lächelte schief. »Also, wenn es möglich ist«, fügte sie bescheiden hinzu.

»Und wie erreichen Sie das? Planen Sie eine Szenerie bis ins letzte Detail?«