Die einzige Zeugin - Tove Alsterdal - E-Book
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Die einzige Zeugin E-Book

Tove Alsterdal

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Beschreibung

Beckomberga, Stockholm: Hier lag einst eine der größten psychiatrischen Anstalten Europas. Inzwischen ist auf dem Gelände eine exklusive Wohngegend entstanden. Hierhin zieht auch Svante Levander mit seiner neuen Liebe. Als er auf dem Heimweg hinterrücks ermordet wird, fällt der Verdacht auf seine Ex-Frau. Sie wird verhaftet. Aber ist sie schuldig? Nur eine Person könnte bezeugen, was wirklich vorgefallen ist: eine Frau, die in unmittelbarer Nähe saß und bettelte. Doch die ist spurlos verschwunden.

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Danksagung

Über dieses Buch

Beckomberga, Stockholm: Hier lag einst eine der größten psychiatrischen Anstalten Europas. Inzwischen ist auf dem Gelände eine exklusive Wohngegend entstanden. Hierhin zieht auch Svante Levander mit seiner neuen Liebe. Als er auf dem Heimweg hinterrücks ermordet wird, fällt der Verdacht auf seine Ex-Frau. Sie wird verhaftet. Aber ist sie schuldig? Nur eine Person könnte bezeugen, was wirklich vorgefallen ist: eine Frau, die in unmittelbarer Nähe saß und bettelte. Doch die ist spurlos verschwunden.

Über die Autorin

Tove Alsterdal, 1960 in Malmö geboren, lebt heute in Stockholm. Sie hat als Journalistin sowie als Autorin für Theater und Film gearbeitet. Seit 2009 veröffentlicht sie mit großem Erfolg Kriminalromane. TÖDLICHE HOFFNUNG war ihr Debüt, das Leser und Kritiker gleichermaßen begeisterte. Auch ihr zweiter Krimi, TÖDLICHES SCHWEIGEN, war in Schweden ein Bestseller. All ihre Romane sind Stand-Alones, und sie zeichnen sich durch mitreißende Milieuschilderungen, beeindruckende Schauplätze und spannende Kriminalfälle aus. DIE VERSCHWUNDENEN VON JAKOBSBERG, ihr dritter Kriminalroman, wurde von der Swedish Crime Academy als »Bester schwedischer Krimi des Jahres 2014« ausgezeichnet. Ihre Krimis erscheinen mittlerweile in zwanzig Ländern.

TOVEALSTERDAL

Die einzige Zeugin

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen vonHanna Granz

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © Tove Alsterdal 2016 by Agreement with Grand Agency

Titel der schwedischen Originalausgabe: »Vänd dig inte om«

Originalverlag: Lind & Co

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Anja Lademacher, Bonn

Umschlaggestaltung: U1berlin / Patrizia Di Stefano

Titelillustration: © effzett-photo / Fritz Zander

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-7411-7

www.luebbe.de

www.lesejury.de

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Damit die kulturelle Vielfalt erhalten und für die Leser bezahlbar bleibt, gibt es die gesetzliche Buchpreisbindung. Ob im Internet, in der Großbuchhandlung, beim lokalen Buchhändler, im Dorf oder in der Großstadt – überall bekommen Sie Ihre verlagsneuen Bücher zum selben Preis.

PrologBECKOMBERGAMitte der 1990er-Jahre

Die Dämmerung folgte ihr ins Haus hinein. Kein Radio war zu hören, keine Schreie. Sie hatte nicht gewusst, dass Stille so groß sein konnte.

Wie in einer Stadt nach einer Atombombenexplosion, dachte sie, wenn nur noch die Häuser übrig sind und von ihrer ehemaligen Existenz zeugen.

Geblieben waren der Uringestank sowie der Geruch nach alten Aschenbechern. So ohne Weiteres ließen sich die Spuren menschlichen Lebens dann doch nicht auslöschen. Sie konnte das Schlurfen der Pantoffeln noch hören, das unruhige Trippeln auf dem pissgelben Linoleum. In den Fluren nahm sie die Schatten derer wahr, die um Gnade gebettelt hatten oder um die nächste Zigarette. Wäre jetzt ein Teller auf sie zugeflogen oder Exkremente, sie hätte sich lediglich geduckt, ohne sich weiter darüber zu wundern, ein Reflex, der auch nach so vielen Jahren noch tief im Nervensystem verwurzelt war. Wedelnde Arme, Köpfe, die gegen Wände schlugen, wild zappelnde Beine, die festgeschnallt werden mussten, Hände, die ins Haar griffen und es mitsamt den Wurzeln ausrissen, das Grundrauschen ängstlichen Wimmerns und zwanghaften Brabbelns, die ganze eingesperrte Wut. Brennen muss es, brennen, Sünder und Teufelsficker, Schwanzrubbler und Hurenböcke, du, der du uns vergiftest, das ist der Tod, der Tod, alles wird brennen und in der Hölle schmoren, die Duschen sind verstrahlt, die Wände sind verstrahlt, die Sozialtherapie ist verstrahlt, Jesus sieht mich, glotzt mich nicht die ganze Zeit so an, verfluchte Kotfresser, Flachwichser und Spione, fick meine Fotze, du Teufelsmörder …

In einem der Räume entdeckte sie einen vergessenen Putzwagen. Kein chronischer Alkoholiker würde je wieder hier hereinschleichen, um Reinigungsmittel zu trinken. Ein Gurt an einem verlassenen Bett. Sie holte ihr Schlüsselbund heraus, obwohl es nun keine Rolle mehr spielte. Das vertraute Gewicht in ihrer Hand, plumpe Metallstifte, um Gurte und Fenster zu öffnen, all die Schlüssel, die den Unterschied zwischen einem gesunden Menschen und einem kranken definierten. Sie fragte sich, ob es ihr gelingen würde, sich an das Neue zu gewöhnen. Vielleicht hatten das Unergründliche und die Verzweiflung an diesem Ort sie geprägt, so als wäre es die Normalität oder zumindest der Platz, an den sie gehörte.

Es kratzte am Fenster. Schabte und schrammte über die Scheibe. Ulla drehte sich um, doch da war nichts. Einbildung, dachte sie, oder vielleicht ein Geräusch aus der Vergangenheit.

Etwas Bleiches huschte draußen vorüber. Sie trat näher, auf alles gefasst, aber ohne Angst. Es gab Gespenstergeschichten, die von alters her überliefert wurden, über die Seelen der Verdammten, die durch die unterirdischen Gänge Beckombergas irrten. Doch sie selbst hatte natürlich noch nie eine getroffen. Wenn jemand sich abends um diese Zeit im Park der ehemaligen Anstalt aufhielt, so war dies selbstverständlich ein Mensch, und mit Menschen konnte sie umgehen, auch mit denjenigen, die von anderen als gefährlich oder unmenschlich betrachtet wurden, denn sie wusste, dass es nur graduelle Unterschiede gab beim Mysterium namens Mensch.

Jetzt konnte sie das Gesicht hinter der bruchsicheren Scheibe klar erkennen. Augen, die sie anstarrten, ein Körper, der niemals stillstand, Hektik und Nervosität, strähniges Haar. Der Mann mochte um die vierzig sein, so etwas ließ sich schwer einschätzen an einem Ort wie diesem, an dem Menschen bereits im Alter von zwanzig Jahren alt sein und ihre Erinnerung verlieren konnten oder auf ewig Kinder blieben. Um seinen Hals leuchtete es weiß, trug er einen Patientenkittel? Oder eine Personaluniform?

Ulla versuchte, beruhigend auf ihn einzureden, was er natürlich nicht hören konnte. Aber so machte sie es, sie redete mit den Menschen, egal in welcher Situation und wer immer sie sein mochten. Der Mann bewegte den Mund. Schrie oder kaute er, oder wollte er ihr tatsächlich etwas Böses? Sie bekam den schwersten Teil des Schlüsselbunds zu fassen, den, der immer Löcher in die Taschen riss, und öffnete das Fenster.

Der Mann machte einen Satz und stolperte. Dann rannte er Richtung Medizinisches Zentrum davon, vornübergebeugt und in langen Sätzen.

»Warten Sie, kann ich Ihnen helfen?«, rief sie ihm hinterher. »Ich bin Schwester Ulla, Ulla Andersson, brauchen Sie irgendetwas?«

Kurz tauchte die dunkle Gestalt noch einmal im Lichtkegel einer Laterne auf, dann war sie fort. Ulla konnte gerade noch ein paar flatternde braune Hosenbeine erkennen. Es war eindeutig Patientenkleidung. Einen Moment blieb sie stehen, während die Dunkelheit sich blau herabsenkte.

Es würde bestimmt noch kälter werden heute Nacht.

Sie nahm ihre letzten persönlichen Dinge aus dem Spind und sah nach, ob auch keine Medikamente oder Wertsachen von Patienten vergessen worden waren. Einige Packungen Decentan und Hibernal. Eine Brille, eine Uhr. Das ist alles, dachte sie, und kurz kam ihr der Gedanke, das Bild mit dem blauen Vogel mitgehen zu lassen, als Andenken. So viele Jahre hatte es hier im Eingangsbereich gehangen, dass sie es nur noch selten richtig wahrgenommen hatte.

Es fühlte sich falsch an, es einfach herunterzunehmen, es gehörte dorthin. Und sie wusste auch nicht genau, ob sie sich an alles erinnern wollte.

Auf dem Weg nach draußen öffnete sie die Tür zur Spülküche. Hier war der Geruch nach Urinbeuteln und Pfannen bereits verschwunden, alles war ein letztes Mal sterilisiert worden. Ulla überprüfte, ob auch hier keines der hochgiftigen Reinigungsmittel mehr herumstand. Mit so etwas hatte eine Hilfsschwester in Malmö in den Siebzigerjahren vierundzwanzig demenzkranke alte Leute vergiftet.

Von der Spülküche aus führte eine weitere Tür in den Hinterhof. Ulla ließ Dunkelheit und Frühlingsluft herein und merkte plötzlich, dass sie fror.

Hier hatten die Pfleger oft auf der Treppe gesessen und geraucht und sich unterhalten. Manchmal hatten sie die Tür auch als Abkürzung benutzt, um schneller mit den Patienten nach draußen zu gelangen, hatten im Sommer Tisch und Stühle hinausgestellt, um hier mit ihnen Kaffee zu trinken. Sie spähte in die Dunkelheit und die versteckten Winkel zwischen den Häusern, um nachzusehen, ob der Mann wieder aufgetaucht war. Er war ihr bekannt vorgekommen. Nicht von einer ihrer eigenen Stationen, aber die Patienten, die schon lange in Beckomberga waren, erkannte sie meist dennoch.

Ein Bild entstand vor ihren Augen, von einem Schiff mit schwarzen Segeln, das aus der Vergangenheit auftaucht, getragen von jahrhundertealten Fluten. Das Schiff der Narren, beladen mit den Wahnsinnigen und Verlorenen, mit den Landstreichern und Unglückseligen, die in den Städten keinen Platz haben, dazu verurteilt sind, in Häfen anzulegen, wo man sie nicht an Land gehen lässt. Eine ewige Reise durch Nacht und Vergessen, begleitet von Schreien aus tiefen Wellentälern: Jesus, Jesus, brennen wird es, brennen …

Sie zog die Hoftür hinter sich zu, allerdings nicht ganz. Einen Spaltbreit ließ sie sie offen.

Dann ging sie zum letzten Mal davon.

Eva Levander-Olofsson war sich gar nicht bewusst gewesen, wie sehr sich die Grenzen in ihrem Innern verschoben hatten, bis sie eines Abends spät im August von einem der asphaltierten Fußwege in das Wäldchen hinter seinem Haus abbog.

Es brannte Licht, im vierten Reihenhaus.

Im Schutze eines Felsblocks blieb sie stehen. Noch waren die frisch gepflanzten Bäume dicht belaubt, sodass sie sie vollständig verbargen. Der Abend war rasch hereingebrochen, wie so oft im Spätsommer, doch die Wärme hielt sich noch. Sie sah rosa Löwenmäulchen und Stockrosen in den Beeten, die letzten Blüten, ehe der Herbst hereinbrach.

Im Haus war keine Menschenseele zu sehen, doch in einem der Schlafzimmer im oberen Stockwerk brannte Licht, es war das einzige Zimmer, in dem schon Vorhänge angebracht waren. Von der Küche her huschte ein Schatten an der Wohnzimmerwand entlang. Sie waren also zu Hause. Von Bauzeichnungen wusste Eva, wie die Zimmer angeordnet waren. Diese Reihenhäuser gehörten zu den exklusivsten, die in der Gegend errichtet worden waren, aus grauem Ziegel, leicht britischer Stil, mit gebrochenem Dach und großen Fenstern, die mehr preisgaben, als man im Grunde genommen wissen wollte.

Ein weißes Ecksofa sowie ein Tisch aus Marmor und Eiche, eine riesige Deckenlampe, die frei in dem beinahe sieben Meter hohen Raum zu schweben schien. Auf dem Fensterbrett standen weiße Orchideen, aufgestellt in etwas steifer Eleganz, seht her, hier wohnen wir! Ihr erschien das Ganze entweder sehr schick oder sehr gewollt, und ihr wurde ein wenig schwindlig, als sie begriff, dass sie tatsächlich hier stand und es betrachtete.

In den Nachbarhäusern sah sie ähnliche Pflanzen, als gäbe es eine Vereinbarung, ausgerechnet Orchideen ins Fenster zu stellen. Lichtflimmern, Farben und laute Musik strömten über die Wiese, im Nachbarhaus saß ein Junge vor dem Fernseher, in einem anderen trat eine junge Frau ans Fenster. Eva zog sich wieder hinter den Stein zurück. Ob man von drinnen sehen konnte, wer sich in dem Wäldchen verbarg? Eine Gestalt in Sportkleidung, die nicht hierhergehörte, ein Gesicht, ein Albtraum? Vermutlich sah die Frau nur ihr eigenes Spiegelbild in der Scheibe, zumindest schien sie nicht zu reagieren. Es war so hell dort drinnen, so verdammt weiß gestrichen, alles von Spots und Lämpchen erleuchtet, dass keiner merken würde, wenn die Welt draußen unterginge, dort, wo Eva zwischen Baumstämmen und uralten Felsblöcken stand, versteckt in einem Wäldchen aus jungen Pflanzentrieben.

Sie lehnte sich gegen den rauen Stein und roch Moos und Verwesung. Zu ihren Füßen lagen, halb im Boden versunken, Bierdosen und Plastikmüll. Von einer der Terrassen wehte Grillgeruch herüber, dort gab man sich noch immer sommerlichen Vergnügungen hin.

Geh nach Hause, sagte sie zu sich selbst, lass es hinter dir, verarbeite es, tu, was die anderen dir sagen, auch wenn du weißt, dass sie unrecht haben, dass niemand mit Sicherheit sagen kann, was genau in einem anderen Menschen vorgeht. Und vielleicht muss man Liebe ja auch nicht immer verstehen, sondern einfach versuchen, in ihr zu verweilen.

Das war ein Wort, das ständig wiederkehrte, verweilen.

Der Mond verschwand hinter den Wolken. Dann nahm sie auf der Treppe eine Bewegung wahr.

Svante trug seine Zimmermannshose, das war das Erste, was sie sah. Dieselbe, die er immer anhatte, mit Farbflecken aus einer anderen Zeit, Flecken, die beim Waschen niemals herausgegangen waren. Sie hatten die Wände im Schlafzimmer damals zartgrün gestrichen.

Seine Hände auf dem geschwungenen Geländer, die Schultern verspannt. Er müsste Sport machen, dachte Eva, oder zur Massage gehen. Es war eher ein Gefühl als eine Wahrnehmung, etwas, das man sieht, wenn der Körper eines anderen Menschen als physische Erinnerung im eigenen fortlebt.

Sie spürte noch immer, wie sich seine Haut unter ihren Händen anfühlte. Die ein wenig raue, feste Oberfläche und die Muskeln darunter. Die Verspannung in seinen Schultern, wenn sie sie massierte, die Linie, wo sein Hals weicher wurde.

Eva schluckte, als sie sah, wie er das Messer aus der Scheide an seinem Gürtel zog. Ein Lederfutteral, der Schaft aus gemasertem Birkenholz – nichts, was man aus dieser Entfernung hätte erkennen können, doch sie wusste es auch so. Sie selbst hatte es ihm einst zu Weihnachten geschenkt.

An den Wänden entlang stapelten sich flache braune Kartons, ein Zeichen, dass es noch nicht zu spät war. Auch ein paar Umzugskisten standen herum, möglicherweise enthielten sie seine geliebten Schallplatten oder die vielen Bücher über Bunker und die Schlachten des Zweiten Weltkriegs, vielleicht aber auch Sachen von seiner Freundin, die bald die Zimmer füllen würden und bald – dies konnte jeden Tag geschehen – die Illusion von einem Zuhause perfekt machen würden.

Svante schlitzte eines der länglichen Pakete auf und legte es auf den Boden. Ein weiteres Bücherregal. Er las die Anleitung und drehte die Spanplatten hin und her, so etwas hatte er noch nie gut gekonnt, auch wenn er es selbst nicht zugegeben hätte. Einfache handwerkliche Tätigkeiten langweilten ihn, er mochte es nicht, Anweisungen zu befolgen. Lieber entwarf er große Visionen, als zusammenzusetzen, was andere sich ausgedacht hatten. Eva erinnerte sich, wie sie immer wieder verlorene Schrauben hatte suchen müssen. Am Ende hatte Svante Ikea jedes Mal verflucht, weil sie nie die richtigen Sachen schickten, und dann hatte Eva die Schrauben doch noch entdeckt, eingewickelt in Plastikfolie in irgendeiner Ecke.

Sie sah Bruchstücke dessen, was einst ihres gewesen war: ein abstraktes Gemälde über dem Flurtisch, das in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer in Vasastan gehangen hatte, seine Hände. Den Sessel, den sie zusammen in einem Antiquitätenladen am Odenplan gekauft hatten. Inzwischen war er weiß bezogen. Nach der Scheidung hatte sie ihn Svante überlassen, Eva hing nicht an den Dingen, er hatte alles bekommen, was er wollte. Sie war großzügig gewesen, um ihm zu zeigen, dass sie nicht wütend auf ihn war, obwohl sie manchmal am liebsten wild um sich geschlagen hätte, vielleicht auch, um ihre Schuld abzutragen, weil sie es gewesen war, die sich von ihm hatte trennen müssen. Wenn es nach seinem Umzug genauso aussah wie zuvor, würde er den Unterschied vielleicht nicht so sehr spüren, würde er aufhören, ihr die Schuld zu geben, würde seine Verbitterung schneller nachlassen. Behalte, was du brauchst, hatte sie gesagt, Dinge sind für mich nicht wichtig.

Und nun stand dort ihr alter Sessel in seinem neuen Kleid.

Svante erhob sich und ging in die Küche. Sie wusste, dass die beiden sich dort treffen würden und aus zwei Schatten einer werden würde.

Obwohl es noch immer sommerlich warm war und eine beinahe tropische Luftfeuchtigkeit herrschte, wurde ihr kalt, weil sie sich nicht bewegte. Der Rücken tat ihr weh. Wieder dachte sie, dass sie gehen sollte, doch irgendetwas war mit diesem Regal. Vielleicht war es das Letzte, das noch fehlte, das es endgültig machen würde.

Svante kehrte zurück, eine Schüssel in der Hand, in die er alle Schrauben und Dübel hineinschüttete. Eva meinte, Müdigkeit in seinen Bewegungen zu erkennen, zugleich aber auch einen Eifer, als wollte er rasch fertig werden, obwohl ihm die Energie dazu fehlte. Er war ja inzwischen auch nicht mehr der Jüngste. Eva fragte sich, ob ihn das beschäftigte. Ob seine Anspannung vielleicht daher rührte, dass er den Ansprüchen einer wesentlich jüngeren Partnerin genügen musste, die im Übrigen gerade im Durchgang zum Wohnzimmer erschien, in einem grünen, flatternden Kleid, das ihre schlanke Figur betonte. Jannike hieß sie. Der Nachname tat anscheinend nichts zur Sache. Das Haar trug sie betont nachlässig hochgebunden, an den richtigen Stellen hatten sich ein paar Strähnen gelöst.

Natürlich konnte Eva nicht hören, was sie sagten. Sie war Zuschauerin in einem Stummfilm mit verhaltenen Bewegungen, vager Mimik, deren Bedeutung sie nur erahnen konnte. Waren das Lächeln und die Hand, die sachte über Svantes Arm strich, tatsächlich Jannikes Art, ihm ihre Liebe zu bekunden? Oder dienten sie nur dazu, ihn zu manipulieren?

Glaubte er wirklich selbst daran?

Die Seitenwände des Regals standen, ebenso das Oberteil und der Sockel. Svante stand auf und sah auf die Uhr. Er fischte eine Snus-Dose aus seiner Brusttasche. Schüttelte sie und verzog das Gesicht, sagte etwas, das nicht zu hören war, doch Eva verstand es trotzdem. Es war eine einfache Scharade, die möglicherweise alles ändern konnte.

Er steckte das Messer zurück in die Scheide und ging in den Flur, Richtung Haustür. Jannike suchte die Kartons zusammen und drückte ihm eine Papiertüte voll Müll in die Hand, dann küsste sie ihn auf die Wange.

Zum Glück nur auf die Wange.

Doch dann küsste Svante sie richtig, und Eva wandte sich ab.

Es war beinahe still im Park. Von Ferne Verkehrslärm, das Motorengeräusch eines Flugzeuges im Anflug auf Bromma. Musik irgendwo aus einem geöffneten Fenster. Sie würde es hören, wenn Svante den Motor anließ. Er nahm immer den Audi, selbst wenn er nur hundert Meter weit gehen musste, doch es war nichts zu hören. Stattdessen sah sie, wie er an einer der Häuserreihen entlangging. Eva versteckte sich erneut hinter dem Felsen, bis er an ihr vorbeigegangen war.

Dann setzte sie ihre Kapuze auf und folgte ihm in einigem Abstand.

Ein Taxi fuhr vorbei, jemand stand auf seiner Terrasse und rauchte. Weiter weg sah sie ein paar Mädchen, die auf dem Fußweg Skateboard fuhren. Die neuen Häuser hatten sich nach und nach in den Park hineingefressen und verdrängt, was dort einmal gewesen war. Schaukeltiere und ein Sandkasten standen vor einem der alten Gebäude, das jetzt als Kindertagesstätte diente, hier und da erhoben sich ein paar Hochhäuser mit verglasten Balkonen. Lediglich im Herzen von Beckomberga war die Geschichte so monumental, dass sie sich nicht im Handumdrehen verdrängen ließ: vier gewaltige Ziegelbauten, die in den 1930er-Jahren als eine der größten psychiatrischen Anstalten Europas errichtet worden war: ein Flügel für die Männer, einer für die Frauen, die Fassaden einander zugewandt, abweisend und uneinnehmbar. Und auch hier entstanden Wohnungen, die bereits für viele Millionen verkauft worden waren. Vor den Toren standen Baubaracken, und das Haus mit dem Uhrenturm, das Klockhuset, war bereits bewohnt. Abends und nachts jedoch herrschte hier ein unbestimmtes Dunkel.

Eva erinnerte sich an den Schauer, der sie früher immer ergriffen hatte, wenn sie an den Fassaden hinaufsah. Als Jugendliche hatten sie und ihre Clique die Mopeds an der Mauer abgestellt und waren hinübergeklettert. Sie erinnerte sich an alte Männer, denen der Kautabaksaft aus den Mundwinkeln lief, und an eine Frau, die vulgäre Schimpfwörter ausstieß und sich dabei unablässig vor die Brust schlug. Teilweise waren die Patienten hier seit den 30er-Jahren eingesperrt gewesen. In den Vororten ringsum kursierten Geschichten, düstere Märchen von Irren, die ausgebrochen waren, von Königen und Staatsministern, die dort heimlich behandelt wurden, und von unglücklichen Künstlern und Dichtern, die in den Mauern Beckombergas schrieben und starben, denn vielleicht war ja die Kunst ein Teil des Irrsinns, den die Menschen niemals begreifen würden.

Sie wusste nicht, ob es der Wahrheit entsprach. Aber jetzt war ja ohnehin alles fort.

Entlang des Fußwegs, den Svante nahm, waren nur noch die neuen Reihenhäuser zu sehen, die hier gelb gestrichen waren. Eva folgte ihm vorsichtig durch einen Garten mit alten Apfelbäumen, dann verließen sie das Gelände. Dort, wo einst ein hoher Zaun gestanden hatte, war jetzt nur noch ein niedriges Gatter.

Svante blieb bei den Müllcontainern stehen und sie hörte, wie er energisch die Kartons zertrat, anschließend das Splittern von Glas, als er das Leergut entsorgte.

Wenn er sich jetzt umdreht und in meine Richtung geht, bleibe ich einfach stehen, dachte Eva. Dann kann er mir nicht entkommen und ich ihm auch nicht.

Erinnerst du dich noch, was du bei unserer ersten Begegnung gesagt hast, Svante, darüber, was ein Mensch in sich verbirgt? Über das, was andere sehen, und das, was nicht einmal wir selbst von uns wissen?

Weiter vorne sah Eva erneut seinen Rücken, ach ja, er wollte ja Kautabak kaufen.

Der Fußweg schlängelt sich zwischen mehreren Wohnhäusern hindurch. Vor hundert Jahren hatte sie dort einmal geschlafen, in einer Wohnung wie ein Tortenstück, mit wem hatte sie jedoch längst vergessen.

Drüben an der Straße hatte ein Thai-Imbiss gerade zugemacht, der Geruch nach Kokos und Curry hing noch in der Luft. Auf der anderen Seite des Spångavägen, an der Kreuzung zum Bällstavägen, lag ein ICA-Markt, der noch einige Minuten geöffnet hatte. Dorthin schien Svante unterwegs zu sein.

Ich weiß, dass es nicht leicht ist. Vielleicht ist es das Schwierigste überhaupt, das mit der Liebe und dem Selbstbetrug.

Spätsommerliche Wehmut in der Luft, ein Geruch nach kommendem Regen. Sie würden sich wie zufällig begegnen, wenn er aus dem Laden kam.

Eva überquerte die Straße und ging so langsam sie konnte. Am Eingang blieb sie stehen. Dort saß eine Frau und bettelte. Zusammengerollt und eingehüllt in Decken und Röcke, mit einem Becher und einem kleinen Schild in der Hand.

»Grüß Sie, grüß Sie, vielen Dank!«

Man war nicht verpflichtet, Almosen zu geben. Vielleicht machte man damit sogar alles nur noch schlimmer, Eva vermochte gerade nicht darüber nachzudenken.

»Grüß Sie, Kronen, vielen Dank, tschüss, tschüss.«

Die Frau erhob sich und hielt ihr das Foto ihrer Kinder hin. Eva mochte es nicht, wenn sie sich so aufdrängten. Es war eine Sache, wenn sie auf dem Boden saßen, dann konnte man sich entscheiden, ob man zu ihnen herabblickte oder nicht, ob man Geld geben wollte oder nicht. Manchmal tat sie es, manchmal gab sie ihnen lieber ein Butterbrot oder einen alten Regenschirm, warum auch nicht? Doch es gab immer mehr Bettler auf den Straßen.

Eva zeigte demonstrativ ihre leeren Hände.

»Ich habe kein Bargeld«, murmelte sie. »No money.«

Das war gelogen, sie hatte einen Hunderter in der Hosentasche. Aber sollte man nicht aus freien Stücken etwas geben? Drinnen stand Svante bereits an der Kasse, sein Korb war voll. Es war beinahe elf Uhr, die letzten Kunden gingen zu ihren Autos.

»Hej, hej, Mama, grüß Sie, vielen Dank.«

»Was soll das!« Eva hatte nicht darüber nachgedacht, es geschah einfach so. Ihre Hand schnellte vor und traf die Frau beinahe im Gesicht, sie war plötzlich so wütend.

»Mama, Mama, vielen Dank.«

Es schien nicht zu genügen. Unermüdlich zeigte die Frau auf ihren Mund und hielt das Foto ihrer Kinder hoch. Eva hielt nach Svante Ausschau, doch die Bettlerin war im Weg, ihr Schal und ihre Hände waren überall.

»Please, Kronen, vielen Dank.«

»Hören Sie, ich habe kein Geld!«

Eva riss ihr das Foto aus der Hand, auf dem ein Junge und ein Mädchen zu sehen waren. Sie warf es fort. Der Wind griff danach und wehte es in einem weiten Bogen über den Bällstavägen. Im selben Augenblick nahm sie eine Veränderung in der Atmosphäre wahr, ein Laut wie ein Einatmen, als die Tür sich öffnete.

»Eva? Was machst du denn hier?«

Und dann ging einfach alles schief. Vielleicht lag es daran, dass die Bettlerin danebenstand oder dass ihr die Situation entglitt. Plötzlich konnte sie nicht mehr sagen, was sie eigentlich sagen wollte. Nur sinnloses Gestammel kam aus ihrem Mund, Sätze, die sie nicht zu Ende bringen konnte, weil er sie so seltsam ansah. Es war derselbe Blick, der sie einst schwach gemacht und in dem sie sich zugleich unendlich geborgen gefühlt hatte. Ein blasses Graubraun, wie die Rinde eines Baumes.

»Spionierst du mir nach?«, fragte er. »Bist du bescheuert?«

Als ob sie ihm etwas Böses wollte, dabei war das sicher das Letzte, was ihr in den Sinn gekommen wäre.

Er war schon auf dem Weg zum Fußgängerübergang.

»Svante! Warte …«

Dass sie gezwungen war, hinter ihm herzurennen.

»Es muss doch möglich sein, miteinander zu reden. Bitte, Svante, warte …«

Er drehte sich nicht um, schaute nur nach rechts und links, obwohl weit und breit kein Auto zu sehen war, und redete in den lauen Abend hinein.

»Wir haben nichts zu besprechen. Fahr nach Hause, und zwar jetzt sofort, hau ab, ein für alle Mal.«

Eva fasste ihn am Arm. Sie wusste doch, dass er es nicht so meinte. Irgendetwas stimmte nicht mit seinem Tonfall. Natürlich hörte sie, was er sagte, und spürte die Kälte, mit der er es tat, sie war ja nicht taub, doch es gab da einen Unterton, eine Gefühlsschwingung, die sie direkt ins Herz traf, etwas Zartes, das gerade zerbrach. Er sagte das, weil er es sagen musste, nicht weil er so fühlte. In all den Jahren, in denen sie zusammen gewesen waren, hatte Eva gelernt, ihn zu lesen.

Sie hörte die Bettlerin rufen, jetzt sprach sie Rumänisch oder was für eine Sprache es auch immer sein mochte, ein Hintergrundrauschen giftiger Silben, vielleicht auch Schimpfwörter, die umhertanzten wie Insekten.

»Ich habe so viel nachgedacht«, sagte Eva, »und ich weiß, dass es auch meine Schuld war, es tut mir so leid.«

»Hör auf jetzt«, erwiderte Svante. »Das bringt doch nichts mehr.«

»Ich möchte nur, dass du noch einmal darüber nachdenkst, bevor …«

Er schüttelte ihre Hand ab und ging einfach weiter. Eva spürte, wie Wut in ihr aufstieg. Das war so typisch! Ihr den Rücken zuzukehren, war so respektlos, nie blieb er lange genug, um zu hören, was sie ihm zu sagen hatte.

Bei den runden Häusern holte sie ihn ein. Dort stand eine Teppichstange, die wahrscheinlich niemand mehr benutzte, und das Licht der Straßenlaternen reichte nicht bis hierhin.

»Wenigstens über Filip müssen wir doch sprechen können«, sagte sie. »Es betrifft schließlich auch ihn.«

»Und deshalb verfolgst du mich, um mit mir über Filip zu reden?«

Wenigstens blieb er endlich stehen. Irgendetwas war mit seinem Gesicht und seinem Blick, aber sie konnte es im Dunkeln nicht richtig erkennen. Er war anders als sonst. Er hatte sich schon immer über Kleinigkeiten aufgeregt, doch das hier war anders. Ein unergründliches Gefühl, das aus seinem tiefsten Innern kam, zu dem sie niemals vorgedrungen war.

»Ich verfolge dich nicht«, sagte sie. »Ich wollte fürs Frühstück einkaufen. Ich konnte doch nicht wissen, dass du …«

»Dann geh doch endlich einkaufen, verdammt noch mal!«

»Es spielt doch keine Rolle, dass ich einkaufen wollte, deswegen bin ich doch nicht …«

Ein Auto fuhr vorbei und beleuchtete ihre Gesichter, und für einen kurzen Moment meinte sie den jungen Svante wiederzuerkennen. Er schaute überall hin, nur nicht auf sie.

»Mensch, Eva … was kapierst du nicht? Ich will dich nie wieder sehen, verstanden? Geh weg, hau einfach ab!«

Die Schatten schlossen sich um sie, dort, wo sie standen, wurde es Nacht. Eva meinte, seine Trauer in ihrem eigenen Körper zu spüren, Trauer darüber, dass sie hier enden mussten. Ein rascher Wind kam auf, von nirgendwo. Und dann ein Schmerz, ein rein physischer. Sie begriff nicht, woher er kam und warum. Etwas traf sie am Kopf, es zuckte wie ein Blitz bis in ihren Nacken hinunter. Die Häuser wankten vor ihren Augen und die Teppichstange drehte sich um hundertachtzig Grad, sie schien plötzlich über ihr zu schweben, etwas Hartes prallte auf den Boden. Die Zeit blieb stehen. Halt mich, dachte sie.

Ein Gesicht umkreiste sie. War es seines? Dann riss der Himmel entzwei.

Nachts ist es wieder stockdunkel, Gott sei Dank und gelobt sei der Herr.

Er muss nicht mehr schneller laufen als die Wärter. Es eilt nicht auf die unheimliche Art. Er kann sich bewegen, wo Menschen sind, muss nur aufpassen, sich verborgen zu halten. Genau weiß er nicht, wer die Wärter sind und wer all die anderen Leute, doch dass sie da sind wie die Wölfe, ist ihm bewusst. Sie lauern auf die unglücklichen Seelen, auf die unschuldigen Kinder und sperren sie ein, und sie werden ihre Steine werfen wie auf Paulus – aber nicht auf ihn. Er ist nur einer, der nachts umhergeht. Sie werden ihn nicht erkennen. Auch sieht er heute keine Wölfe und keine Eule, die durch die Dämmerung fliegt. Lange hat er sich gefragt, ob sie wohl schlafen, doch niemand hat es ihm beantworten können.

Ha, ha, ha, du Idiot, sie überwachen dich, jede verdammte Stunde des Tages, da kannst du sicher sein!

Und dennoch sieht er sie nicht. Er sieht nur Häuser und Laternen und Kleider, die auf der Wäscheleine flattern, und er kennt die Gerüche, ja, das tut er – wie ein Wolf. Den Geruch von Fleisch und Brot und allem, was man gerne essen möchte. Er erkennt auch den Geruch des Regens, kurz bevor er beginnt. Dann will er hinaus, um sich zu duschen.

Äpfel sind auf die Wiese gefallen.

Du musst wachsam sein, wo du auch bist, hatte sie gesagt.

Sie sehen dich überall, hatte ein anderer gesagt.

Du bist einer, der sich ihnen entzieht, darum wollen sie dich brechen. Wenn sie ihre Krallen erst in dich geschlagen haben, entkommst du ihnen nicht mehr. Du weißt, was sie mit Jesus getan haben.

Ja, ja, ja, er weiß, wie es sich anfühlt, wenn sie einem Nägel in die Handflächen schlagen. Vor langer Zeit hat er es selbst einmal probiert, allerdings nur mit einem Stock.

Sicherer kann niemand sein, hatte sie damals für ihn gesungen.

Vielleicht verstecken sich die Wärter vor dem Regen. Sie sehen ihn jedenfalls nicht. Er geht zu weit und er schmeckt Blut in dieser Nacht. Nur ganz wenig, auf einer Fingerspitze.

Und die Toten singen nicht mehr, zumindest kann er sie nicht mehr hören.

»Eva, hören Sie mich?«

Allmählich verblassten die Bilder der Verwüstung. Im Traum war sie suchend zwischen Wrackteilen und Asche umhergewandert, dennoch hatte sie sich geborgen gefühlt. Sie hatte schon so oft von diesem Ort geträumt, dass sie wusste, dass es nur ein Traum war. Weder der Rauch noch die ausgebrannten Autos konnten ihr etwas anhaben, es brannte hier schon so lange.

»Eva, Sie müssen jetzt aufwachen.«

Sie roch Desinfektionsmittel. Die Neonröhre an der Decke war nicht eingeschaltet, dennoch war es unerträglich hell. Der Himmel draußen vor dem Fenster war grau. Es sah aus, als hätte es geregnet, inzwischen aber wieder aufgehört.

»Ich darf Sie nicht länger schlafen lassen.«

Neben ihrem Bett stand eine Krankenschwester, Sawalee stand auf ihrem Namensschild. Oder Salawee. Eva hatte den Namen schon wieder vergessen, als die Frau sich umdrehte und den Tropf abstellte.

»Wie lange habe ich geschlafen?«

»Es ist halb zehn. Der Arzt kommt gleich.«

Ihr Kopf war verbunden und sie trug ein Krankenhausnachthemd. Nur dunkel konnte sie sich daran erinnern, wie man es ihr in der Nacht angezogen und anschließend den Blutdruck gemessen hatte. Unter ihren Fingernägeln war Erde gewesen oder vielleicht auch Blut.

Eva ließ sich ins Kissen zurücksinken und hörte, wie die Schwester hinausging. Die Decke war weiß. Vor ihren Augen tanzten bunte Flecken. Ihr Kopf war verbunden, tat aber nicht weh, also hatte man ihr wahrscheinlich ein Schmerzmittel gegeben. Vielleicht über den Tropf, dachte sie und drehte den Kopf, stellte sich vor, wie ein Mittel in ihre Venen gepumpt wurde, sodass sie nichts mehr empfand. Als würde sie in dickem Schaum baden. Die Angst war weit weg, es gab sie nicht mehr, nicht einmal, wenn sie die Augen schloss und sich den Nachthimmel über sich vorstellte.

Geweckt hatte sie der Regen, ein kühles Klopfen auf ihrem Gesicht. Sie lag auf dem Asphalt, wusste aber nicht, warum und wie lange schon. Anscheinend aber lange genug, dass sich eine Wasserpfütze unter ihrer Wange gebildet hatte. Es roch intensiv nach Kot, und der Schmerz in ihrem Kopf ließ nichts Gutes ahnen. Bevor sie versuchte, sich aufzurappeln, tastete sie vorsichtig nach ihrem Kopf und dann weiter die Halswirbelsäule hinunter, um das Ausmaß ihrer Verletzungen einschätzen zu können. An ihrer Hand klebte Blut. Hatte Svante ihr wirklich all diese schlimmen Dinge an den Kopf geworfen? Vergessen, hatte sie gedacht, das ist das Einzige, was du jetzt noch tun kannst.

Die Tür zum Flur war nur angelehnt, davor unterhielten sich Menschen mit gedämpfter Stimme.

»Sie ist mit dem Krankenwagen gegen 03:35 eingetroffen und wurde um 06:20 zur Überwachung hierher verlegt …«

»… wenn Sie uns Bescheid geben könnten, wann wir sie befragen dürfen.«

»… eine ordentliche Gehirnerschütterung, möglicherweise steht sie auch unter Schock, Blutdruck fünfundneunzig zu sechzig …«

»… sobald Sie meinen, dass es geht.«

Eva versuchte aufzustehen. Ihr war ein wenig übel, das war alles. Sie befand sich in einem Einzelzimmer, also würde es ihr erspart bleiben, andere Patienten um sich zu haben. Hellblaue Wände und eine blassgelbe Wolldecke, verwaschene Schweden-Farben. Eva hüllte sich in die Decke und legte sich wieder hin.

Ein Teil von ihr wollte einfach dort bleiben, im Nachthemd des Krankenhauses und mit einem Plastikarmband, das darüber Auskunft gab, wer sie war, und regelmäßigem Essen, das ihr auf dem Tablett serviert werden würde.

Sich einer höheren Macht überlassen, die wusste, wie man das anstellte: weiterzuleben.

Der Arzt und sein Gefolge betraten das Zimmer. Ihre Werte sahen offenbar gut aus. Schon am nächsten Tag könne sie entlassen werden. Sie solle sich noch ausruhen und es ruhig angehen lassen, ansonsten könne sie weitermachen wie bisher.

Wie bisher?

»Die Polizei wartet draußen«, sagte er noch. »Sie würden Sie gerne sobald wie möglich verhören, aber letztendlich entscheide ich, wann es möglich ist.«

War es schon möglich? War sie dazu bereit?

Sie trank einen Schluck Wasser.

»Ist schon in Ordnung«, sagte sie. »Es geht mir gut. Ich kann ihre Fragen beantworten.«

»Und Sie haben niemanden gesehen und nichts gehört, als Sie aufgewacht sind?«

Die Polizistin hatte einen blonden Kurzhaarschnitt und strahlte Selbstbewusstsein aus. Eva Flyckt hieß sie. Sie lachten, als sie sich vorstellten, Eva, Eva, ja, ich heiße auch Eva. Es stellte eine Art Vertrauensbasis zwischen ihnen her, einen dünnen Faden, der sie verband.

»Nein, ich habe nichts gesehen. Nur Dunkelheit und den Rinnstein … Ich wusste nicht, dass noch jemand da war … ich dachte, ich wäre allein. Es war so still.«

Eva hatte es sich schlimmer vorgestellt, erzählen zu müssen, was passiert war. Sie fühlte sich im Gegenteil sogar eher erleichtert. Die vergangene Nacht bekam dadurch eine Art Struktur: Erst war dies geschehen, dann das. Fakten und Zeitangaben. Die Ereignisse wurden zu einem Tathergang mit Opfer und Täter, einer Geschichte mit Anfang und Ende, auch wenn sie nicht wusste, was genau passiert war.

»Es herrschte völlige Leere, keine Träume oder so … Ich weiß nicht, wie lange ich ohnmächtig war. Meine Kleider waren nass, und wo ich lag, hatten sich Pfützen gebildet … es hatte ja noch nicht geregnet. Also davor, meine ich.«

Sollte sie etwas über den Geruch sagen?

Die beiden Polizisten waren in Zivil gekleidet, der Mann hatte ihr geholfen, das Kopfteil zu verstellen, sodass Eva im Bett sitzen konnte. Seinen Namen hatte sie nicht mitbekommen, doch er hatte blaue Augen und einen athletischen Körper. Unter anderen Umständen hätte sie sich gefragt, ob er wohl verheiratet war. Sein Dialekt verriet, dass er aus Dalarna kam.

»Nehmen Sie sich alle Zeit, die Sie brauchen«, sagte er. »Es ist wichtig, dass Sie nichts erzwingen, sondern lediglich versuchen, sich genau zu erinnern.«

»Ich habe vor allem überlegt, wie ich dort wegkomme«, sagte Eva. »Es war schließlich mitten in der Nacht, ich war durchnässt und blutete … es floss nicht mehr, also das Blut, es war eher … klebrig. Ich habe mir die Jacke ausgezogen und um den Kopf geknotet, und dann bin ich erst mal auf die Knie. Es stank …«

Ein Aufnahmegerät auf dem Nachttisch registrierte, was sie sagte.

»Wonach stank es?«

»Nach Kot, ja, es roch nach Kot.« Eva schaute zum Fenster hinaus, die Wolken schienen sich allmählich aufzulösen. In dieser Nacht hatte sie an nichts anderes denken können, als dass sie aufstehen und von dort wegmusste, weg von dem Gestank, von dem sie annahm, er käme von ihr selbst. Nichts konnte erniedrigender sein, als so aufzuwachen: geschlagen, verlassen und mit vollgeschissener Hose.

»Ich dachte, es käme von irgendeinem Hundebesitzer, der hinter sich … ich meine, hinter seinem Hund nicht sauber gemacht hatte.«

»Und dann sind Sie also Richtung Spångavägen gegangen?«

»Ich dachte, dort gäbe es vielleicht einen Nachtbus.«

Geschlagen. Verlassen. Mit vollgeschissener Hose. Die Worte hatten in ihrem Kopf widergehallt, als sie aufgestanden und langsam davongegangen war. Sie wollte nicht darüber nachdenken, dass Svante sie tatsächlich geschlagen und dann einfach liegen gelassen hatte. Es war nicht nachvollziehbar. Er musste unter Druck gestanden haben, es entsprach so gar nicht seiner Art.

Eva presste die Fingerspitzen an ihre Schläfen und versuchte, sich zu konzentrieren.

»Eine Katze«, sagte sie. »Aus den Büschen kam eine Katze … ich dachte erst, es wäre jemand …«

»Jemand?«

Erneut schloss Eva die Augen. Allmählich kehrten die Kopfschmerzen zurück.

Hatte sie eine Gestalt gesehen, einen Menschen? Sie konnte sich nicht erinnern. Eine schwache Lampe über einer Haustür, der Himmel, der schwarzgrau und schwer herabhing. Schatten, die sich zu bewegen schienen, Zweige im Wind. Die Kette einer Schaukel, die sachte schwang, quietschte. In den runden Häusern waren alle Fenster dunkel, lediglich ein Nachtlicht brannte, niemand sah sie.

Im Schein einer Straßenlaterne war sie stehen geblieben.

»Ich wollte nachsehen, wie viel Uhr es war. Dort war es wenigstens etwas heller. Außerdem war mir schwindlig. Und dann merkte ich, dass ich sie nicht mehr am Handgelenk hatte, ich musste sie verloren haben …«

Sie konnte nicht weitersprechen und sank auf das Kissen zurück.

Bitte, hätte sie gerne gesagt, habe ich das nicht alles heute Nacht schon erzählt? Steht es nicht irgendwo, auf diesem iPad, Eva Flyckt, auf dem Sie die ganze Zeit herumtippen und nachschauen, was ich den Polizisten erzählt habe, als sie kamen? Haben sie es nicht in ihrem Bericht festgehalten, während ich hier gelegen und geschlafen habe? Warum konnten sie nicht einfach den Bericht lesen und sie schlafen lassen?

»Könnte ich bitte ein Glas Wasser bekommen?«

Der Polizist sprang auf und füllte ihr Glas am Wasserhahn. Eva bildete sich ein, dass er Lars heißen müsste, vielleicht aber auch Peter. Sie trank ganz langsam. Das Glas war leer.

»Und deshalb sind Sie dann noch einmal zurück, um nach Ihrer Uhr zu suchen?«

»Ich war ja erst ungefähr fünfzig Meter gegangen, und sie war ziemlich wertvoll, ich hatte sie von …« Eva schaute weg. Wie dumm, davon anzufangen. Als würde es eine Rolle spielen, dass sie sie von Svante bekommen hatte, einfach so, an einem ganz gewöhnlichen Januar-Tag vor etwa acht, neun Jahren. Er hatte sie überraschen wollen und sie hatte sich geschämt, weil sie sich nicht freuen konnte. Die Uhr war einfach viel zu teuer gewesen, und sie hatte sich nie so eine Uhr gewünscht.

»Ich habe im Rinnstein gesucht und in den Pfützen, aber da war sie nicht, und dann habe ich auf der Wiese direkt bei den Sträuchern weitergesucht …«

Dieser Gestank. Er war von dort gekommen, nicht von ihr. Mittlerweile hatten ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt. Sie sah zertretene Blumen und eine Flasche, die jemand ins Gebüsch geworfen hatte. Vielleicht hatte sie deshalb genauer hingesehen oder weil sie plötzlich das Gefühl gehabt hatte, dort wäre etwas Beunruhigendes, etwas, das dort nicht hingehörte, das ihr Angst machte. Etwas Helles blinkte zwischen den Sträuchern. Ein paar Zweige waren abgebrochen. Dann sah sie die Hand. Es sah aus, als läge sie alleine dort, weggeworfen, abgetrennt von dem Körper, zu dem sie gehört hatte. Sie hörte jemanden scharf einatmen und ein unterdrücktes Geräusch und bekam auch davor Angst, stellte dann aber fest, dass sie es selbst gewesen war, und im selben Moment entdeckte sie die Füße, die unter den Zweigen hervorragten, merkwürdig, dass sie die nicht gleich gesehen hatte. Wahrscheinlich war es die Schuhgröße, die ihr sagte, dass es ein Mann sein musste. Vorsichtig bog sie ein paar Äste zur Seite, und dann sah sie die Hose. Die Farbflecken darauf. Das Hemd, das eigentlich zu schick war, um darin Möbel zusammenzuschrauben. Und jetzt hatte es einen schwarzen Fleck, von der Brust bis hinunter zum Bauch.

»Svante«, flüsterte sie. »Svante?«

Sein Mund war leicht geöffnet, als wolle er den Regen trinken. Vom Hals erkannte sie nur etwas Dunkles, das mit der Erde verschmolz, auf der er lag.

»Svante?«

Eva fiel neben ihm auf die Knie. Tastete nach seinem Handgelenk, fand jedoch keinen Puls. Der Fleck auf dem Hemd war Blut, das begriff sie jetzt, dennoch beugte sie sich mit ihrem Ohr zu seinem Mund hinunter, um seinen Atem einzufangen, nur einen einzigen Zug, wie einen sachten Windhauch oder ein Schmetterlingsflattern. Lieber, guter Gott, nur einen einzigen Atemzug!

Sie nahm seine Hand.

Sie war weich. Noch nicht kalt. Sie spürte, wie die Muskeln allmählich steif wurden. Wenn sie seine Hand zwischen ihren Händen hielt, würde die Wärme länger bleiben, und die Zeit würde stillstehen.

»Ihr Notruf erreichte uns um 02:41«, sagte der Polizist. »Das macht drei Stunden und etwa fünfzig Minuten von dem Zeitpunkt an, zu dem seine Waren an der ICA-Kasse registriert wurden.«

»Ich habe mich nicht getraut, ihn allein dort liegen zu lassen … Ich konnte nicht.«

»Wie lange schätzen Sie, dass Sie bei der Leiche gesessen haben, ehe Sie zur Straße gegangen sind?«

»Ich weiß es nicht. Es hatte jedenfalls aufgehört zu regnen. Und es fühlte sich an, als wäre es kälter geworden … Er war so kalt, als ich von ihm wegging.«

Das Gefühl, dass es eilte, drohende Gefahr, dass niemand anderes ihn finden durfte. Zwischen den Häusern war es immer noch menschenleer, doch auf der Straße sah sie die Lichter einzelner vorbeifahrender Autos. Ein Motorrad heulte auf. Als sich erneut Scheinwerfer vom Spångavägen näherten, rannte sie auf die Fahrbahn und winkte und rief: »Stehen bleiben, bitte, bleiben Sie stehen, helfen Sie mir.« Das Auto fuhr vorbei, ohne langsamer zu werden, eher schien es zu beschleunigen. Eva schrie ihm hinterher: »Du verdammtes Schwein!« Sie ließ die Arme sinken und sah, wie die Rücklichter hinter der nächsten Kurve verschwanden. Ihr fiel ein, dass Svante sein Handy dabeihaben könnte, doch sie brachte es nicht über sich, zurückzugehen und seine Taschen zu durchwühlen. Dann erneut Motorengeräusche. Vielleicht ging der Fahrer ein wenig vom Gas, vielleicht konnte er sie ein wenig genauer erkennen, bevor auch er beschleunigte und verschwand. Für einen kurzen Moment sah sie sich selbst in den vorbeisausenden Scheiben, bleich und aufgelöst. Was dachten sie wohl, was sie wäre, eine Säuferin, eine Irre, ein Kunstobjekt?

Weitere Fahrzeuge kamen nicht. Auch keine nächtlichen Passanten. An der Bushaltestelle gab es eine Bank, auf der man sich niederlassen konnte. Noch immer hatte sie keine Ahnung, wie spät es war, doch irgendwann kam der Nachtbus. Fauchend öffneten sich die Türen. Sie erinnerte sich, dass der Fahrer Abraham hieß. Bei den Fundsachen im Bus fand er ein Halstuch, das sie sich statt der durchnässten Jacke um den Kopf wickeln konnte. Er lieh ihr sein Handy, und dann durfte sie sich auf einem der Sitze ausruhen, obwohl sie nass und schmutzig war und der Bus sich verspäten würde.

»Als Sie den Notruf wählten, haben Sie angegeben, Svante Levanders Frau zu sein.«

»Ja, das war ich ja auch, bis wir uns vor drei Jahren scheiden ließen. Das habe ich doch schon gesagt.«

Eva sah die Polizisten verwirrt an. Was spielte es für eine Rolle, was sie genau gesagt hatte? Das Wichtigste war doch, dass es ihr am Ende gelungen war anzurufen. Es war schließlich weiß Gott nicht leicht gewesen.

»Laut den Aufzeichnungen haben Sie gesagt: ›Ich bin seine Frau.‹ Nicht war, sondern bin.«

»Ach so. Daran erinnere ich mich nicht.«

Draußen zwischen den Wolken schien jetzt hier und da das Blau des Himmels durch, ein Blechdach reflektierte die Sonnenstrahlen. Wie konnten sie von ihr erwarten, dass sie sich an dies oder jenes einzelne Wort erinnerte?

»Wahrscheinlich war es mir zu mühsam, erst lang und breit zu erklären, dass wir geschieden sind«, sagte Eva. »In dem Moment erschien es mir einfach nicht wichtig.«

»Und was hatten Sie für ein Verhältnis zu Ihrem Ex-Mann?«

»Das übliche, würde ich sagen … Wir trafen uns nicht regelmäßig, aber wir waren Freunde, er war wie ein Vater für meinen Sohn … Ist das wichtig?«

Die Augen der Polizistin sahen durch das dünne Nachthemd hindurch. In der Nacht hatte man Evas nasse Sachen mitgenommen. Sie müssten analysiert werden, hatte man ihr gesagt, das sei reine Routine. Eva wollte sie ohnehin nie wiedersehen.

»Warum waren Sie überhaupt vor Ort?«

»Ich habe einen Abendspaziergang gemacht, und dann fiel mir ein, dass ich noch etwas einkaufen musste. Es war schon fast elf, ich hätte es nicht mehr bis nach Hause in Kälvesta geschafft.«

Es fühlte sich nicht einmal mehr wie eine Lüge an, denn sie hatte es sich schon zurechtgelegt, als sie draußen vor dem Geschäft auf Svante gewartet hatte. Es war eher eine Ausrede.

Eva Flyckt schaute auf ihr iPad.

»Eine Joggingrunde, haben Sie dem Kollegen heute Nacht gesagt.«

Heute Nacht? Es war so ein Durcheinander gewesen, als die uniformierten Polizisten endlich aus dem Auto gestiegen waren und das Blaulicht über die Straße fegte. Ein Krankenwagen und eine Decke, in die sie sich einhüllen konnte, endlich ein kleines bisschen Wärme.

»Ja, es war wohl irgendwie beides«, sagte Eva. »Ich nehme mir oft vor zu joggen, und dann wird es doch nur ein rascher Spaziergang.«

Der männliche Polizist ergriff das Wort. Sein Dalarna-Dialekt ließ ihn freundlicher klingen, weniger hart als seine Kollegin.

»Ist Ihnen an Svante irgendetwas aufgefallen, als Sie sich trafen?«, fragte er. »Wirkte er irgendwie nervös oder unruhig?«

Eva dachte nach oder gab sich zumindest den Anschein.

»Ich glaube nicht«, sagte sie dann. »Er war eigentlich wie immer. Ein bisschen müde vielleicht, aber es war ja auch schon spät.«

»Hatte er Streit mit jemandem? Gibt es jemanden, der ihm hätte schaden wollen oder Ihnen, vielleicht Ihnen beiden?«

»Nein, wieso?« Auf diesen Gedanken war sie noch gar nicht gekommen. Sie stellte sich den Unbekannten eher als einen Wahnsinnigen vor, einen Mann ohne Gesicht. »Svante ist Consultant … war Consultant. Er war ein ganz gewöhnlicher Mann. Und ich habe keine Feinde, wer sollte das auch sein? Haben Sie irgendwelche Spuren von ihm, vom Täter?«

»Sie haben angegeben, Sie hätten nicht gesehen, wer Sie niedergeschlagen hat.«

»Nein, er muss von hinten gekommen sein, das habe ich doch schon gesagt.«

»Woher wissen Sie dann, dass es ein Mann war?« Jetzt mischte die Polizistin sich wieder ein, sie wechselten sich ab, es war wie ein Tanz.

»Ich bin wahrscheinlich einfach davon ausgegangen«, sagte Eva. »Denkt man das nicht meistens in solchen Fällen?«

Die Polizisten wechselten einen kurzen Blick. Dann fragten sie Eva, ob sie aufstehen könne, und baten sie, ihnen zu zeigen, wo sie gestanden hatte und wo Svante, in dem Augenblick, als der Schlag kam. Eva war vollkommen verwirrt. Erst hatten sie sie gebeten, alles genau der Reihe nach zu erzählen, und jetzt war es ein ständiges Hin und Her.

Dann fiel ihr ein, dass Svante die Person gesehen haben musste, die hinter ihr aufgetaucht war. Vielleicht hatte er aber auch gerade in diesem Augenblick nicht hingeschaut. Oder war es das gewesen, was sie in seinem Blick gesehen hatte?

»Worüber haben Sie gesprochen, Sie und Ihr Ex-Mann, unmittelbar bevor es passierte?«

»Ich habe ihn gefragt, ob er etwas von Filip gehört hätte. Svante sagte, sie seien gerade dabei, sich in ihrem Haus einzurichten, er und seine neue Freundin.« Eva versuchte, überzeugend auszusehen. »Aber das habe ich wahrscheinlich auch Ihren Kollegen heute Nacht schon erzählt, oder?«

»Wir beenden das Verhör hier«, sagte Eva Flyckt und schaltete das Tonbandgerät aus. »Ich muss den Staatsanwalt anrufen.«

Ihre Stimme hatte plötzlich eine Schärfe, die Eva zuvor nicht wahrgenommen hatte. Auch der Polizist erhob sich.

»Könnten Sie bitte die Schwestern fragen, ob sie mir einen Kaffee bringen können?«, rief sie ihnen hinterher.

Es war schön, einen Moment in Ruhe gelassen zu werden. Sie hatte getan, was sie konnte, das rief sie sich immer wieder ins Bewusstsein. Jetzt lag es bei ihnen. Die Polizei würde sich schon darum kümmern.

Und sie hörten offenbar auf sie, denn kurze Zeit später kam eine Hilfsschwester mit einem Tablett herein. Viereckiges, belegtes Knäckebrot zum Kaffee sowie zwei kleine Kekse. Zum ersten Mal an diesem Tag konnte Eva etwas zu sich nehmen, ohne das Gefühl, sich gleich wieder übergeben zu müssen. Sie war unglaublich müde. Er ist tot, dachte sie, und hörte Svantes Stimme, als wäre er im selben Zimmer, dieses kurze Lachen, das so schnell wieder verging. Doch als sie versuchte, ihn sich lebend vorzustellen, spürte sie nur noch die Kälte, kurz bevor sie seine Hand losgelassen hatte.

Dann dachte sie an Filip und wie sie ihm das beibringen sollte. Er musste es von ihr erfahren und von niemand anderem.

Die Polizisten ließen sich Zeit, vielleicht brauchten auch sie eine Kaffeepause. Eva drückte auf die Klingel und die Schwester mit dem Namen Sawalee tauchte wieder auf.

»Dürfte ich mal telefonieren?«, fragte Eva. »Ich würde gerne meinen Sohn anrufen, er weiß noch gar nicht, was passiert ist.«

»Natürlich, das geht bestimmt. Soll ich Ihnen das Telefon bringen oder wollen Sie aufstehen?«

»Ich würde gerne aufstehen«, sagte Eva.

»Dann bringe ich Ihnen schnell noch etwas zum Anziehen«, sagte Sawalee und lächelte freundlich. »So können Sie ja nicht herumlaufen.«

Eva sah an sich herunter, das Nachthemd und die riesige Unterhose. Die Schwester ließ einen Duft nach Jasmin zurück, eine leise Ahnung davon, dass das Leben weitergehen konnte. Vielleicht nicht sofort, aber später. Eva musste es nur schaffen, aus dem Bett zu kommen und mit Filip zu reden, das war jetzt das Allerwichtigste. Aus irgendeinem Grund ließ Sawalee mit den Kleidern auf sich warten. Eva wühlte im Schrank neben ihrem Bett und fand ein Paar Kniestrümpfe sowie einen hässlichen, geblümten Bademantel.

Sie würde Filip bitten, nach Hause zu kommen und wenigstens die erste Zeit bei ihr zu wohnen, sie mussten jetzt zusammenhalten.

Vor der Tür warteten die Polizisten auf sie.

»Ich bin gleich wieder zurück, dann können wir mit dem Verhör fortfahren«, sagte Eva. »Ich muss nur schnell meinen Sohn anrufen.«

»Wir werden Sie nicht weiter verhören, bevor Sie Gelegenheit hatten, einen Anwalt zu kontaktieren.«

»Entschuldigen Sie«, sagte Eva, »aber ich habe mir Ihren Namen nicht gemerkt.«

»Peder«, sagte er. »Peder Karberg.«

»Das ist schon in Ordnung, Peder«, sagte Eva und ging weiter. »Ich brauche keinen Anwalt. Aber ich muss jetzt wirklich versuchen, meinen Sohn zu erreichen.«

Eine Hand griff nach ihrem Arm.

»Tut mir leid«, sagte Peder Karberg, »keine Telefonate. Wir werden das überwachen, bis Sie aus dem Krankenhaus entlassen werden.«

»Sie verstehen mich nicht … Ich muss ihm doch sagen, was passiert ist.«

Eva Flyckt stellte sich ihr in den Weg.

»Wir müssen Sie festnehmen«, sagte sie. »Sie stehen unter dem Verdacht, Svante Levander ermordet zu haben.«

»Ich gehe«, rief Emil vom Flur aus. Dann fiel polternd etwas zu Boden.

Niklas Ekeby und seine Frau sahen sich über den Tisch hinweg an. Niklas hatte gerade die neuesten Nachrichten über den Mord an ihrem Nachbarn weggeklickt – es hatte eine Festnahme gegeben, doch nicht einmal die dubiosesten Internetseiten verrieten, um wen es sich dabei handelte. Jetzt saß er vor der Onlineausgabe des Guardian und las einen Artikel über einen weiteren missglückten Versuch von Friedensverhandlungen in Syrien.

In Sandras Augen spiegelte sich seine eigene Furcht.

»Sei zum Abendessen wieder hier«, rief sie Emil mit einem aufgesetzten Lächeln hinterher, »wir essen um sechs.« Als wäre Lächeln etwas, das sie tun musste, ein Teil der Darstellung in dem Stück, das man »Wieder zur Normalität zurückkehren« nennen könnte.

Niklas stand auf und folgte seinem Sohn zur Haustür.

»Wo willst du denn hin?«

»Raus.« Emil schlüpfte in seine Nikes, ohne die Schnürsenkel zu öffnen. Er trug sie lose, um sich nicht jedes Mal die Mühe machen zu müssen, sie zubinden oder den Schuhlöffel benutzen zu müssen, der gerade zu Boden gefallen war. So etwas passierte immer, wenn Emil in der Nähe war, die Dinge fielen wie von selbst herunter und gingen kaputt.

»Ihr sagt doch immer, ich soll rausgehen.«

»Ja, natürlich sollst du das. Es ist ja auch schönes Wetter. Triffst du dich mit Wille und Melvin?«

»Vielleicht.« Emil schlug die Tür hinter sich zu und Niklas hob einen Fahrradhelm auf, der ebenfalls zu Boden gefallen war.

»Ist es dazu nicht noch ein bisschen früh?«, fragte er, als er in die Küche zurückkehrte.

»Wir können ihn nicht für immer drinnen festhalten.«

»Ich meinte eher für einsilbige Antworten, wenn wir ihn etwas fragen. Ich dachte, das käme erst mit der Pubertät, dieses ›Wo gehst du hin?‹, ›Raus‹.«

»Sei doch froh, dass wir ihn überhaupt nach draußen lassen können«, sagte Sandra und blickte der schlaksigen Gestalt ihres Sohnes hinterher, der um die Ecke des letzten Reihenhauses verschwand.

Ihre Stimme hatte einen vorwurfsvollen Unterton, zumindest kam es Niklas so vor. Immer wieder schien sie ihm unter die Nase reiben zu müssen, dass nicht sie es gewesen war, die hierher hatte ziehen wollen. Im Gegenteil, Sandra hatte sich zunächst nicht vorstellen können, an einem Ort zu leben, wo man früher Menschen eingesperrt hatte. Allein der Name Beckomberga verursachte ihr Unwohlsein. Die Vorteile der durchdachten Grundrisse und der gediegenen Materialien hatte sie zuerst nicht sehen wollen, auch nicht den dicht belaubten Park und das Idyllische der Anlage. Sie hatte diesen Ort ausschließlich mit Angst und Wahn verbunden, mit erzwungenen Langzeit-Bädern und Lobotomie, ganz zu schweigen von der Elektroschocktherapie. Manche Patienten seien schließlich ihr ganzes Leben hier eingesperrt gewesen, das müsse doch irgendwelche Spuren hinterlassen haben, hatte sie gesagt. So starke Energien könnten doch nicht einfach verschwinden? Aber schließlich hatte sie sich von der Architektur und von Niklas’ rationalen Argumenten überzeugen lassen.

Niklas strich seiner Frau über das Haar. Das Gefühl von Sicherheit würde schon wieder zurückkehren, es war nur eine Frage der Zeit. Man durfte nicht zulassen, dass die Angst die Oberhand gewann. Es war alles eine Frage der Perspektive. In seinem Beruf hatte er im Laufe der Jahre so vieles gesehen, etwa die Massengräber von Srebrenica. Er war über die Totenfelder Kambodschas gegangen, wo Skelettteile aus der Erde ragten, und war bei den Versöhnungsgesprächen in einem Volksgericht in Ruanda dabei gewesen.

Das Leben ging weiter, selbst dort.

»Ich räume gleich ein bisschen auf und mache die Wäsche«, sagte er, »ich will nur vorher kurz nach oben gehen und meine E-Mails lesen.«

Es war wichtig geworden, immer zu sagen, wo im Haus man sich gerade befand.

»Ich wollte Chicken Tikka Masala zum Abendessen machen«, rief sie ihm hinterher.

Niklas drehte eine Runde durchs Wohnzimmer und hob Emils Spiele auf, die rund um den Fernseher auf dem Boden lagen, sowie Lovas Kleider auf dem Sofa. Sandra hatte ihre Tochter in die Stadt gefahren, wo sie bei einer ehemaligen Kindergartenfreundin übernachten wollte. Und Lova war so glücklich gewesen, sie besuchen zu dürfen. Niklas ertappte sich dabei, die Struktur zu vermissen, die das Leben in der Stadt vorgegeben hatte. Man brachte und holte seine Kinder von und zur Schule oder den Freunden und wusste immer genau, wo sie waren.

Es war eine wunderbare Vorstellung gewesen, in eine Gartenstadt zu ziehen, wo die Kinder herumlaufen und im Wald Buden bauen konnten – bis jemand weniger als einen Kilometer von ihnen entfernt erschlagen worden war. Noch dazu ihr direkter Nachbar.

Er war sogar in der Küche des Opfers gewesen und hatte versucht, sich für die Schrankaufteilung zu begeistern, Levander hatte ihn zu einem Whisky eingeladen. Was man eben so machte unter Nachbarn, eine Bohrmaschine hatte er sich auch ausgeliehen. Die lag immer noch im Flurschrank, und so lächerlich das auch in diesem Zusammenhang sein mochte, hatte er das Gefühl, dass es dadurch eine Verbindung zum Nachbarhaus gab, dass er den Bewohnern dort etwas schuldig war.

Das Schlimmste war jedoch hoffentlich vorüber. Die Tage, in denen sie in dem Glauben hatten leben müssen, ein Verrückter ginge um und erstäche wahllos Menschen. Das war das Schlimmste gewesen, weil es dann jeden treffen konnte und damit auch die eigenen Kinder. Die Bilder, die er vor Augen gehabt hatte, wollte er nie wieder sehen müssen. Sie hatten die Kinder im Haus behalten, waren eng beisammengeblieben und hatten alle gemeinsam das Auto genommen, wenn einer von ihnen irgendwohin musste. Nichts würde mehr sein wie zuvor. Doch jetzt war wenigstens der Täter gefasst. Noch nicht angeklagt und verurteilt natürlich, aber zumindest verhaftet. Niklas sah keinen Grund, an der Kompetenz der Polizei zu zweifeln.

Den Medien zufolge war es jemand, den das Opfer gekannt hatte, also war es auch kein spontaner Überfall gewesen. Niklas schämte sich ein wenig dafür, dass ihn das erleichterte.

Bald würden sie wieder zur Normalität übergehen können.

»Wir müssen den Kindern zeigen, dass wir uns sicher fühlen«, hatte Sandra von Anfang an gesagt. »Wenn sie merken, dass wir Angst haben, wird alles nur noch schlimmer.«

Er hatte sich gefragt, ob sie das im Internet gelesen hatte, weil die Frauen in der Gegend in irgendeiner Facebook-Gruppe einen Link geteilt hatten: »Wie verhalte ich mich, wenn mein Nachbar ermordet wird – zehn Tipps«. Aber natürlich hatte sie recht gehabt. Doch ihm fiel es so schwer, an einfache Lösungen zu glauben, seinen Kindern wie im Film zu sagen: »Alles wird gut«, obwohl jeder wusste, dass das Leben verdammt viel komplizierter war.

Zum Glück hatte er noch Resturlaub, sodass er ein paar Tage ganz bei seiner Familie bleiben konnte, allerdings hatte er Rufbereitschaft. Er setzte sich an seinen Schreibtisch oben im Schlafzimmer und checkte seine E-Mails. Dann überflog er den Programmentwurf für eine Konferenz zur Stärkung weiblicher Perspektiven in der Friedens- und Sicherheitsarbeit und notierte ein paar Änderungen am Rand. Da er im Außenministerium arbeitete, konnte er immer behaupten, er müsse zu den dortigen Bürozeiten mit New York kommunizieren. Es war eine Art Schutzbehauptung für ihn geworden. Ein ganz legaler Grund, um nach dem Abendessen die Tür hinter sich zuziehen zu können, wenn die Kinder so lange herumalberten, dass er sie schließlich anbrüllte. Dann konnte er den Schuldgefühlen entgehen, wenn er merkte, dass er Emil so das Gefühl gab, seinen Ansprüchen nie genügen zu können.

Niklas blickte die Straße hinunter: eine Illusion von Frieden. Die Polizei war abgezogen. Die Übertragungswagen, die die Einfahrten blockiert hatten, waren ebenfalls fort sowie die endlosen Ströme Neugieriger, die rein zufällig hier vorbeigekommen waren. Es war vollkommen still, ruhiger als je zuvor. Die Menschen hatten sich angewöhnt, in ihren Häusern zu bleiben, es würde wohl noch eine Weile dauern, bis sie die Fahrräder wieder herausholten und das Aufprallen von Bällen auf dem Asphalt zu hören war. Von oben sah es aus wie das Modell einer Reihenhaussiedlung oder wie eines dieser künstlichen 3D-Bilder im Prospekt, von denen er so begeistert gewesen war. Der einzige Unterschied war, dass die Gärten auf den Werbebildern grüner gewesen waren und Bäume den Grundstücken Schatten gespendet hatten. In Wirklichkeit gab es nur ein paar kümmerliche Stämmchen, von denen er sich fragte, ob sie jemals Früchte tragen würden, zarte Pflanzen und frisch gesäter Rasen, der eingehen würde, wenn es einen harten Winter gab.

Er hatte den intensiven Geruch nach Farbe gemocht, als sie hier eingezogen waren, dieses Gefühl, der erste Bewohner des Hauses zu sein.