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Victor Hugos Geschichte über Ungerechtigkeit, Heldentum und Liebe folgt dem Schicksal von Jean Valjean, einem entflohenen Sträfling, der entschlossen ist, seine kriminelle Vergangenheit hinter sich zu lassen. Doch seine Versuche, ein angesehenes Mitglied der Gemeinschaft zu werden, werden ständig bedroht: durch sein eigenes Gewissen und durch die unerbittlichen Ermittlungen des verbissenen Polizisten Javert. Aber Valjean muss nicht nur für sich selbst frei bleiben, denn er hat geschworen, die kleine Tochter von Fantine zu beschützen, die von der Armut in die Prostitution getrieben wurde. Der Klassiker “Die Elenden” (auch bekannt unter dem französischen Titel “Les Misérables”) liegt hier in der Übertragung ins Deutsche von G. A. Volchert vor. Die Rechtschreibung dieser Erstübertragung wurde überarbeitet und weitestgehend dem heutigen Sprachgebrauch angepasst. Dieses ist der fünfte von insgesamt fünf Bänden.
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VICTOR HUGO
DIE ELENDEN
ROMAN
in fünf Bänden
BAND FÜNF
Überarbeitete und modernisierte
Übersetzung nach
G. A. Volchert
Die Elenden wurde im französischen Original (Les Misérables) zuerst veröffentlicht von Lacroix, Verboeckhoven & Cie., Paris 1862.
Diese Ausgabe wurde aufbereitet und herausgegeben von
© apebook Verlag, Essen (Germany)
www.apebook.de
1. Auflage 2022
V 1.0
In einer überarbeiteten und modernisierten Übersetzung nach G. A. Volchert.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.
Band Fünf (eBook)
ISBN 978-3-96130-469-1
Frontispiz: »Die junge Cosette fegt" (1862) von Émile-Antoine Bayard (1837-1891), aus der französischen Erstausgabe (1862).
Buchgestaltung: SKRIPTART, www.skriptart.de
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So lange kraft der Gesetze und Sitten eine soziale Verdammnis existiert, die auf künstlichem Wege, inmitten einer hoch entwickelten Zivilisation, Höllen schafft und noch ein von Menschen gewolltes Fatum zu dem Schicksal, das von Gott kommt, hinzufügt; so lange die drei Probleme des Jahrhunderts, die Entartung des Mannes durch das Proletariat, die Entsittlichung des Weibes infolge materieller Not und die Verwahrlosung des Kindes, nicht gelöst sind; so lange in gewissen Regionen eine soziale Erstickung möglich sein wird, oder in andern Worten und unter einem allgemeineren Gesichtspunkt betrachtet, so lange auf der Erde Unwissenheit und Elend bestehen werden, dürften Bücher wie dieses nicht unnütz und unnötig sein.
Inhaltsverzeichnis
DIE ELENDEN. Band Fünf
Frontispiz
Impressum
Motto
Band Fünf: Valjean
Erstes Buch. Eine Schlacht zwischen vier Wänden
Zweites Buch. Das Innere des Leviathan
Drittes Buch. In den Regionen des Kots
Viertes Buch. Javert gerät aus seinem Geleise
Fünftes Buch. Enkel und Großvater
Sechstes Buch. Eine schlaflose Nacht
Siebentes Buch. Der letzte Tropfen des Kelches
Achtes Buch. Es nachtet schwärzer
Neuntes Buch. Durch Nacht zum Licht
Nachtrag
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Zu guter Letzt
Die beiden denkwürdigsten Barrikaden, die der Beobachter der socialen Kämpfe anführen kann, gehören nicht der Zeit an, in der sich die Handlung dieses Buches abspielt. Diese beiden Schanzen, die in verschiedner Hinsicht Symbole einer furchtbaren Periode waren, entstanden während der Junirevolution des Jahres 1848, des größten Straßenkampfes, den die Geschichte gesehen hat.
Es kommt hier und da vor, dass den Prinzipien, ja sogar der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, ja sogar dem allgemeinen Stimmrecht, der Herrschaft Aller zum Trotze der ewig verzweifelte Teil der Nation, das Gesindel in seiner Angst, seiner Pein, seinem Elend, seiner Unwissenheit zu den Waffen greift, dass der Pöbel dem Volk eine Schlacht liefert, sich gegen das gemeinsame Recht auflehnt.
Dergleichen Ereignisse stimmen den Menschenfreund schwermütig, denn auch diesem verrückten Beginnen liegt ein gewisses Maß Recht zu Grunde und die Schimpfworte Lumpe, Gesindel, Ochlokratie, Pöbel, konstatieren leider eher ein Verschulden der herrschenden, als der leidenden Stände, eher der Bevorrechtigten, als der Enterbten.
Was uns persönlich betrifft, so sprechen wir diese Worte nie ohne ein Gefühl des Mitleids und der Achtung aus. Denn wenn die Philosophie den ihnen entsprechenden Tatsachen auf den Grund geht, so findet sie oft recht viel Großes und Erhabnes neben Gemeinheit und Elend. Athen hatte eine ochlokratische Regierung; die Geusen haben Holland unabhängig gemacht; der Pöbel hat mehr als ein Mal Rom gerettet und Gesindel folgte Jesus Christus nach.
Es gibt keinen Denker, der nicht bisweilen dem gemeinen Volk den Zoll seiner Bewundrung dargebracht hätte.
An das Gesindel dachte zweifellos der heilige Hieronymus, an die armen Leute, an die Landstreicher, an die Elenden, aus denen die Apostel und Märtyrer hervorgegangen sind, als er Fex urbis, lex orbis sagte.
Die Erbittrung der Leidenden, ihre widersinnigen, gewalttätigen Auflehnungen gegen die Prinzipien, die ihnen das Leben geben, ihre Angriffe auf das Recht sind Staatsstreiche des Volkes und müssen zurückgewiesen werden. Der rechtschaffne Mann setzt zu diesem Zweck sein Leben ein und bekämpft die aufrührerischen Massen, eben weil er sie liebt. Aber während er ihnen Widerstand entgegensetzt, fühlt er, dass sie zu entschuldigen sind. Es ist dies eine der wenigen Lagen, wo man seine Schuldigkeit tut, aber mit Widerstreben, mit blutendem Herzen.
Die Junirevolution des Jahres 1848 ist eine eigenartige Tatsache, deren Unterbringung und Charakterisirung der Philosophie der Geschichte schwer fällt. Alle Bezeichnungen, die wir oben gebraucht haben, müssen aus dem Spiel gelassen werden, wenn es sich um diesen außergewöhnlichen Aufruhr handelt, wo die Arbeit in ihrer heiligen Angst ihr Recht forderte. Das Gebot der Pflicht erheischte, dass man ihn unterdrückte, denn er griff die Republik an. Aber was war diese Junirevolte? Eine Empörung des Volkes gegen das Volk.
Wo das Thema nicht aus den Augen verloren wird, findet keine Abschweifung statt. Es sei uns also gestattet, die Aufmerksamkeit des Lesers auf jene beiden, oben erwähnten Barrikaden zu lenken, die ein wesentliches Merkmal des Juni-Aufruhrs bilden.
Die eine lag an dem Eingang zu der Vorstadt Saint Antoine, die andre bezweckte die Verteidigung der Vorstadt des Temple. Sie wird Denen, vor deren Augen sie unter dem blauen Junihimmel aus der Erde emporwuchsen, für immer unvergeßlich sein.
Die Barrikade Saint-Antoine war ein ungeheurer Bau; drei Stockwerke hoch, maß sie siebenhundert Fuß in der Breite. Sie versperrte von einer Ecke bis zur andern, die weite Mündung der Vorstadt, also drei Straßen, die hier ausliefen. Voller Ungleichheiten, Einschnitte und Auszackungen, durch kleinere Schanzen verstärkt, mit Vorragungen versehen, an zwei große Häusergruppen gelehnt, erhob sie sich wie ein Cyklopenbau im Hintergrunde des Platzes, der durch die Erstürmung der Bastille berühmt geworden ist. Hinter dieser Mutterbarrikade ragten neunzehn andre solche Verschanzungen zum Himmel empor. Bei ihrem bloßen Anblick ahnte man, dass in dieser Vorstadt das Elend seinen höchsten Gipfelpunkt erreicht hatte, denjenigen, wo es in eine Katastrophe umschlägt. – Woraus wurde diese Barrikade erbaut? Aus den Bestandteilen dreier sechsstöckiger Häuser, die eigens zu diesem Zwecke zerstört wurden, sagen Manche. Nein, meinen Andre, ein Wunder von Mut und Ingrimm war das Material, aus dem sie emporwuchs. Sie war, wie alle Werke des Hasses, aus Trümmern aufgebaut. Man konnte fragen: Wer hat das gebaut? Aber man konnte die Frage auch so stellen: Wer hat diese Ruine geschaffen? Es war die Improvisation einer Gährung des Volksgeistes. Hurrah! Die Tür da, das Gitter, die Marquise, das Gesims, das Kohlenbecken, der zersprungene Topf! Gebt, schmeißt alles her! Zerhaut, zerreißt, zerbrecht, demoliert Alles! Da wurden Pflastersteine, Bausteine, Balken, Eisenstangen, Lumpen, Fliesen, zerbrochne Stühle, Kohlstrünke, Lappen und – Verwünschungen requiriert! Es war großartig und war auch erbärmlich, eine Parodie des Chaos durch das Tohuwabohu, ein Gemenge von gewaltigen Massen und Winzigkeiten, Quadersteinen und zerbrochnen Näpfen, eine unheimliche Verbrüderung aller Arten von Trümmern. Sisyphusse hatten hier ihre Felsen und Hiob seine Scherben beigesteuert. Kurz, etwas Grausiges. War es doch die Akropolis der Hungerleider. Umgestürzte Fuhrwerke hingen an der Böschung herab; ein großer Rollwagen lag quer hingestreckt mit der Achse nach oben; einen Omnibus hatte man mit den Händen hinaufgezogen, als hätte man den Ulk zu dem Schrecken hinzufügen wollen und die Deichsel so gerichtet, als sollten eben Pferde vorgespannt werden.
Diese aufeinander getürmten Trümmer waren passende Sinnbilder aller vorangegangnen Revolutionen; hier lag 1793 auf 1789, der 9. Thermidor auf dem 10. August, der 18. Brumaire auf dem 24. Januar, 1848 auf 1830. Auch die Stelle war gut gewählt und die Barrikade war es wert, auf dem Platze zu stehen, wo einst die Bastille zerstört worden war.
Diese Barrikade also wurde, wie gesagt, im Namen der Revolution gegen die Revolution errichtet. Diesem Werk des Zufalls, der Unordnung, der Verwirrung, des Missverständnisses, des Unbekannten, stand gegenüber die konstituierende Versammlung, die Herrschaft des Volkes, das allgemeine Stimmrecht, die Nation, die Republik; sie repräsentierte die Carmagnole und forderte die Marseillaise heraus.
Eine törichte, aber heldenmütige Herausfordrung, denn die alte Vorstadt Saint-Antoine ist eine Pflanzstätte von Helden.
An dieser gewaltigen Barrikade, die der Vorstadt vorgelagert war, scheiterte die Strategik von Generälen, die in Afrika mit Auszeichnung gefochten hatten. Mit ihren Vertiefungen, Lücken, Buckeln und Spitzen, machte sie gleichsam Grimassen, womit sie die Angreifer verhöhnte. Die Kugeln und Bomben verschwanden darin wirkungslos, wie in einem Abgrund; sie schlugen höchstens Löcher. Wer kann auch ein Chaos zerstören? Und Regimenter, die an die furchtbarsten Kämpfe gewöhnt waren, betrachteten bedenklich diese Bestie von Berg, die sich wie ein wilder Eber wehrte.
Zwei Kilometer davon bemerkte man, wenn man von der Ecke der Rue du Temple, – da wo sie auf die Place du Château d’ Eau mündet, – die Strasse, die nach Belleville hinaufführt, entlangblickte, in der Ferne, jenseit des Kanals, eine seltsame, zwei Stockwerke hohe Mauer, die gleichsam einen Bindestrich zwischen der rechten und linken Häuserreihe bildete. Es war, als hätte die Straße ihre höchste Mauer von beiden Seiten aus zusammengeklappt um ihren Zugang zu verschließen. Diese Mauer bestand aus Pflastersteinen und war gerade, nach allen Regeln der Kunst mit Winkelmaß und Senklot gebaut. Allerdings ohne Cement, aber das tat, wie bei gewissen römischen Mauerwerken, der strengen Architektur des Baues keinen Abbruch. Ihrer Höhe entsprach ihre Stärke, und oben war sie genau so breit wie unten. In gleichen Zwischenräumen hatte man auf ihrer grauen Oberfläche, kaum sichtbare Schießscharten angebracht, die schwarzen Fäden ähnelten. Die Straße schien, so weit das Auge reichte, menschenleer, alle Fenster und Türen waren geschlossen. Am Ende erhob sich diese Barrikade, welche die Straße in eine Sackgasse verwandelte, auf der vollständige Stille herrschte. Man sah und hörte keinen Menschen. Ein Grabesschweigen.
Die mächtige Junisonne übergoß dieses Schreckensding mit ihren blendenden Strahlen.
Dies war die Barrikade der Vorstadt des Temple.
Stand man davor und betrachtete sie, so war es auch dem Mutigsten unmöglich, vor diesem geheimnisvollen Phänomen nicht nachdenklich zu werden. Der Baumeister dieser Barrikade, sagte man sich, ist ein Geometer oder ein Geist. Man dämpfte die Stimme, wenn man das erblickte.
Von Zeit zu Zeit, wenn Jemand – ein Soldat, Offizier oder Volksvertreter, es wagte über den Damm zu gehen, hörte man ein scharfes, schwaches Pfeifen und der Betreffende stürzte tot oder verwundet hin. Entkam er aber unverletzt, so schlug eine Kugel in einen Fensterladen oder in die Mauer eines Hauses. Manchmal war es eine Kartätschenkugel. Denn die Verteidiger der Barrikade hatten aus zwei gußeisernen Gasleitungsröhren, die an dem einen Ende mit Werg und Ofenerde verstopft wurden, zwei kleine Kanonen verfertigt. Pulververschwendung gab es nicht. Fast jeder Schuss traf. Es lagen einige Leichen auf der Straße und man sah hier und da Blutlachen. Ich erinnere mich eines weißen Schmetterlings, der in der Straße hin und her flatterte. Der Sommer entsagt seinen Rechten nicht.
In der Umgegend waren in den Torwegen eine Menge Verwundeter untergebracht. Die unsichtbare Bemannung der Barrikade duldete Niemanden auf der Straße.
Hinter die gewölbte Brücke, – die am Anfang der Vorstadt über den Kanal führt, – konzentriert, beobachteten die Soldaten der Angriffskolonne mit ernster Aufmerksamkeit den düstern, schweigsamen Bau, der den Tod um sich verbreitete. Einige krochen auf allen Vieren die Brücke hinauf, indem sie darauf achteten, dass ihre Tschakos nicht hinüberragten.
Der tapfre Oberst Monteynard bewunderte schaudernd diese Barrikade. – »Wie das gebaut ist!« sagte er zu einem Abgeordneten. »Nicht ein Stein, der einen andern überragt. Das ist so glatt wie Porzellan.« – In demselben Augenblick zerbrach aber auch schon eine Kugel das Kreuz der Ehrenlegion, das er auf der Brust trug, und er stürzte zu Boden.
»Die feigen Schufte!« hieß es. »Sie lassen sich nicht sehen; sie verkriechen sich!« – Aber diese Barrikade, die nur achtzig Mann Besatzung hatte, hielt sich drei Tage lang gegen zehntausend Angreifer. Am vierten Tage machte man es wie in Zaatscha und Constantine, man bahnte sich Wege in dem Innern der Häuser, indem man die Wände durchbrach, stieg auf die Dächer und eroberte so die Barrikade. Keinem einzigen von den »Feiglingen« fiel es ein, sein Heil in der Flucht zu suchen; Alle wurden getötet, mit Ausnahme des Anführers, Barthélemy, auf den wir weiterhin zurückkommen werden.
Die beiden Bollwerke waren von zwei Leuten, die der Vorstadt Saint-Antoine von Cournet die des Temple von Barthélemy entworfen worden. Jede entsprach, ihrer Art nach, dem Character des Erbauers.
Cournet war ein Mann von hoher Statur, mit breiten Schultern, rotem Gesicht, fürchterlichen Fäusten, kühnem Herzen, biedern Sinn, aufrichtigem und schrecklichem Blick; unerschrocken, energisch, jähzornig; gemütvoll im Umgang mit Freunden und furchtbar in der Schlacht. Krieg und Kampf waren sein Lebenselement, in dem er sich wohl fühlte und vergnügt war. Man merkte es diesem ehemaligen Marineoffizier an, dass er mit den Stürmen des Ozeans Bekanntschaft gemacht hatte und durch sie gestählt worden war. Abgesehen vom Genie hatte Cournet einige Ähnlichkeit mit Danton, der seinerseits wieder abgesehen von der Göttlichkeit, dem Herkules glich.
Barthélemy, ein schmächtiger, blasser, schweigsamer Mann hatte als junger Mensch das tragische Geschick gehabt, dass er von einem Schutzmann geohrfeigt und, als er aus Rache seinem Beleidiger auflauerte und ihn tötete, im Alter von siebzehn Jahren zum Zuchthaus verurteilt wurde.
Späterhin als Beide in London in der Verbannung lebten, wollte es ein böses Geschick, dass Barthélemy Cournet im Duell tötete. Einige Zeit nachher wurde er wegen eines Abenteuers, in dem die Liebe eine Rolle spielte und wo die französische Justiz mildernde Umstände zugebilligt hätte, zum Tode durch den Strang verurteilt. Der traurige Gesellschaftsbau ist so eingerichtet, dass in Folge materieller Entbehrung und moralischer Vernachlässigung, der Unglückliche, der einen scharfen, ja vielleicht genialen Verstand hatte, in Frankreich mit dem Zuchthaus anfing und in England mit dem Galgen endete. Barthélemy pflanzte immer nur eine, die schwarze, Fahne auf.
Sechzehn Jahre zählen in der Erziehung eines Volkes; deshalb wusste es im Juni l848 viel besser Bescheid in der schaurigen Technik des Straßenkrieges als im Jahre 1832. Daher war die Barrikade in der Rue de la Chanvrerie nur eine Skizze, nur ein Kind gegen die im vorigen Kapitel beschriebnen Kolossalbauten; aber für jene Zeit war sie doch furchtbar genug.
Unter der Leitung Enjolra’s, denn Marius bekümmerte sich um nichts mehr, machte man sich die Nacht zu Nutze. Die Barrikade wurde nicht nur repariert, sondern sogar verstärkt, um zwei Fuß erhöht, mit eisernen Stangen, die wie eingelegte Lanzen hervorragten, gespickt, nach außen hin mittels allerlei Schutt und Abraum schwerer erklimmbar, nach innen durch Mauerwerk fester gemacht.
Desgleichen stellte man die innere, steinerne Treppe wieder her.
Ferner wurde die Gaststube aufgeräumt, die Küche als Ambulanz eingerichtet, die Verwundeten vollständig verbunden, das an der Erde und auf den Tischen verstreute Pulver aufgelesen, Kugeln gegossen, Patronen fabriziert, Charpie gezupft, die herrenlosen Waffen verteilt, das Innre der Redoute gesäubert, die Trümmer aufgenommen, die Leichen fortgetragen.
Die Toten legte man in der Rue Mondétour, die man noch immer beherrschte, auf einen Haufen. Das Pflaster ist an dieser Stelle noch lange Zeit nachher rot gewesen. Unter den Getöteten befanden sich auch vier Nationalgardisten, deren Uniformen Enjolras bei Seite legen ließ.
Er hatte seinen Leuten den Rat gegeben, zwei Stunden zu schlafen. Ein Rat von Enjolras war so gut wie ein Befehl. Aber nur Drei oder Vier befolgten ihn. Feuilly benutzte diese Zeit, um an der Außenwand des Hauses, das der Schänke gegenüberlag, mit einem Nagel eine Inschrift einzukratzen, die noch 1848 da zu lesen war: »Vivant die Völker!«
Die drei Frauen benutzten die nächtliche Frist um ganz zu verschwinden, so dass die Insurgenten sich nun ungenierter fühlten. Die Ärmsten hatten nämlich Mittel und Wege gefunden, sich in ein Nachbarhaus zu flüchten.
Von den Verwundeten konnten und wollten die meisten noch weiter kämpfen. Es lagen in der Küche auf Matratzen und Stroh ihrer Fünf, die schwer verletzt waren, darunter zwei Municipalgardisten. Diese Letzteren wurden zuerst verbunden.
In der Gaststube ließ man nur die Leiche Mabeuf’s unter ihrem schwarzen Tuche und den an den Pfahl gebundnen Javert.
»Das hier ist der Totensaal!« meinte Enjolras.
Bei dem schwachen Schein des Talglichts, womit der niedrige Saal erleuchtet war, bildete im Hintergrunde der Schatten des aufrechtstehenden Javert mit dem der liegenden Leiche eine Art Kreuz.
Die Deichsel des Omnibus war, obgleich durch die Kugeln verstümmelt, doch noch solide genug, dass man eine Fahne wieder daran befestigen konnte.
Enjolras, der die für einen Befehlshaber notwendige Tugend besaß, stets, was er sagte, auch zu tun, band den durchlöcherten, blutigen Rock des getöteten Greises an die Fahnenstange.
Eine Mahlzeit zu halten, lag nicht mehr im Bereiche der Möglichkeit. Es war weder Brot noch Fleisch vorhanden. Die fünfzig Menschen, die das Wirtshaus seit sechzehn Stunden besetzt hielten, hatten schnell mit den geringen Vorräten, die sich im Hause befanden, aufgeräumt. Hat doch eine jede Barrikade, die sich einige Zeit gegen ihre Angreifer hält, ein ähnliches Schicksal wie ein Floß, auf dem Schiffbrüchige, fern vom Lande und aller menschlichen Hilfe bar, von den Wellen des Ozeans hin und her getrieben werden. Unsere Barrikadenkämpfer mussten sich also die Lust zum Essen vergehen lassen. So ging es auch bei der Kirche Saint-Merry zu. Als dort Jeanne von ihren Leuten um Brot angegangen wurde, rief sie: »Was? Essen wollt Ihr noch? Es ist drei Uhr. Um vier Uhr ist es mit uns Allen schon vorbei!«
Da man nichts mehr besaß, um den Hunger zu stillen, wollte Enjolras auch nicht, dass zu trinken geschenkt wurde. Er genehmigte keinen Wein und verabfolgte nur geringe Rationen Branntwein.
Im Keller waren fünfzehn hermetisch versiegelte Flaschen gefunden worden, und Combeferre meinte: Das ist alter Wein, der stammt von der Zeit her, wo Vater Hucheloup einen Kramladen hatte. – »Dann muss es eine gute Sorte sein,« sagte Laigle. »Ein Glück, dass Grantaire schläft, sonst würde man Mühe und Not haben, die Flaschen vor ihm zu retten.« – Enjolras belegte trotz allgemeinen Widerspruchs die fünfzehn Flaschen mit Beschlag und ließ sie, damit Niemand sie anrühre, unter den Tisch stellen, aus dem Vater Mabeuf’s Leiche lag, wodurch sie gewissermaßen heilig und unverletzlich wurden.
Gegen zwei Uhr Morgens wurde eine Zählung vorgenommen. Es waren ihrer noch siebenunddreißig kampffähige Männer.
Bald darauf graute der Morgen. Vorher war die Fackel, die man wieder in ihrem steinernen Behälter untergebracht hatte, schon ausgelöscht worden. Das Innere der Barrikade, gleichsam eine Art auf offener Straße angelegter Hof, erschien in Dunkelheit getaucht und erinnerte, so weit man ihn bei dem ersten, schwachen Dämmerlicht überschauen konnte, an das Deck eines entmasteten Schiffes, auf dem sich schwarze Gestalten herumbewegen. Über dieser dunklen Tiefe zeichneten sich die Stockwerke der stillen Häuser fahl, ganz oben die Schornsteine, etwas heller ab. Die Farbe des Himmels war jene hübsche, unentschiedne Schattirung, die halb weiß, halb blau ist. Schon zwitscherten vergnügt die Vögel in der Luft. Das hohe Haus, das hinter der Barrikade lag und seine Front dem Osten zukehrte, war mit einem rosigen Schimmer überleuchtet. Oben an der Luke des dritten Stockwerks spielte der Wind mit den grauen Haaren des erschossenen Portiers.
»Ich freue mich,« bemerkte Courfeyrac zu Feuilly, »dass die Fackel ausgelöscht ist. Mit ihrem zittrigen Licht sah sie aus, als fürchte sie sich, und glich der Weisheit der Philosophen, die sich auch nur deshalb so klug geberden, weil sie ihre Angst vor den Mächtigen bemänteln wollen.«
Die Morgenröte weckt nicht bloß die Vögel, sondern auch den Witz der Menschen und so ergingen sich auch alsbald unsere Barrikadenkämpfer in heiterem Geplauder.
Joly, als er eine Katze in einer Dachrinne erblickte, bekam eine Anwandlung von Philosophie.
»Die Katze ist eine Verbesserung der Schöpfung,« dozierte er. »Als Gott nämlich die Maus geschaffen hatte, sagte er: »Donnerwetter, das war ein Schnitzer!« und schuf die Katze. Also Maus plus Katze stellen eine verbesserte Auflage der Schöpfung dar.«
Combeferre sprach zu einem Publikum von Studenten und Arbeitern über diejenigen, die schon in dem Kampfe gefallen waren, über Jean Prouvaire, Bahorel, Mabeuf, ja sogar über Le Cabuc und demzufolge auch über Enjolras’s herbe Prinzipienstrenge.
»Harmodius und Aristogiton, Brutus, Chaereas, Stephanus, Cromwell, Charlotte Corday, Sand haben alle nach ihrer Tat einen Augenblick der Beklemmung und Unsicherheit gehabt. Unser Mut ist so schwach und das Leben ein so großes Geheimnis, dass bei der Ermordung eines Mitbürgers, bei einem Morde, der die Befreiung des Staates von einem Tyrannen bezweckte, – wenn überhaupt der Freiheit auf eine solche Weise gedient werden kann – die Reue darüber, dass man einen Nebenmenschen getötet hat, die Freude, der Menschheit genützt zu haben, bei Weitem überwiegt.«
Und wenige Minuten nachher – denn der Fluss der Unterhaltung gleicht dem Mäander – verglich Combeferre, gelegentlich einer Beziehung auf ein Gedicht Jean Prouvaire’s, die Übersetzer von Virgils Georgica mit einander, besonders mit Hinsicht auf die Stellen, wo von den Zeichen und Wundern die Rede ist, die sich bei Caesars Tod ereigneten. Und der Name Cäsar brachte das Gespräch wieder auf Brutus zurück.
»Caesar,« behauptete Combeferre, »ist mit Recht getötet worden. Wenn Cicero streng über ihn urteilte, so war dies durchaus in der Ordnung, Eine derartige Strenge darf nicht als Schmähsucht betrachtet werden. Wenn Zoilus auf Homer, Maevius auf Virgil, Bisé auf Molière, Pope auf Shakespeare, Fréron auf Voltaire schimpft, so betätigte sich darin, nach einem alten Gesetz, nur Hass und Neid; das Genie fordert die Beleidigung heraus; große Männer werden immer mehr oder weniger angekläfft. Aber zwischen einem Zoilus und einem Cicero ist ein Unterschied. Cicero bedient sich, um der Menschheit zu ihrem Recht zu verhelfen, des Gedankens, so wie Brutus des Schwertes. Letztere Art Gerechtigkeit zu üben, tadele ich, aber das Altertum billigte sie. Cäsar verfuhr, indem er unbefugter Weise den Rubicon überschritt, über Würden und Ämter, die nur das Volk zu vergeben hatte, verfügte, vor dem Senat nicht von seinem Sitze aufstand –, wie ein König und beinah wie ein Tyrann, regia ac poene tyrannica, wie Eutrop sich ausdrückt. Allerdings war Cäsar ein großer Mann; aber das ändert nichts an der Sache. Oder es ändert sehr viel: Die Lehre, die man aus seinem Untergang ziehen muss, ist eine desto eindringlichere, wirksamere. Seine dreiundzwanzig Wunden rühren mich weniger, als der Speichel, den man Christus ins Gesicht spie. Cäsar wurde von Senatoren erdolcht, Jesus von Gesindel geohrfeigt. Eben weil er ein. Gott war, musste Jesus Christus mehr Schmach erdulden.«
Laigle stand auf einem Haufen Pflastersteine und phantasierte:
»O Kydathenaion, o Myrrhinos, o Probalinthos, o Grazien der Aiantis! Wäre es mir doch vergönnt, die Verse Homers wie ein Helene aus Laurion aussprechen zu können!«
Währenddem ging Enjolras aus eine Rekognoscirung aus. Zu diesem Zwecke schlich er sich durch die Ruelle Mondétour hindurch.
Die Insurgenten waren voller Hoffnung. Sie hatten den nächtlichen Angriff zurückgewiesen und dieser Erfolg bewirkte, dass sie dem Kampfe, der ihnen bevorstand, fast mit Geringschätzung entgegen sahen. Sie zweifelten ebenso wenig an ihrer persönlichen Rettung als an dem Siege ihrer Sache. Namentlich rechneten sie mit Sicherheit darauf, dass sie Hilfe bekommen würden. Mit jener Hoffnungsfreudigkeit, die dem Franzosen im Kriege so große Kraft verleiht, prophezeiten sie sich in sichrem Tone die denkbar günstigsten Ereignisse und teilten schon den kommenden Tag in drei Phasen: Um sechs Uhr Morgens würde ein Regiment Soldaten, die man mit Erfolg »bearbeitet« habe, zu ihnen übergehen; um zwölf Uhr Mittags würde ganz Paris sich erheben und gegen Sonnenuntergang würde die Revolution gesiegt haben.
Dazu kam, dass die Sturmglocke der Kirche Saint-Merry die ganze Nacht hindurch nicht geschwiegen hatte und sich noch immer vernehmen ließ: ein Beweis, dass die andre Barrikade, die größere, wo Jeanne befehligte, sich noch nicht ergeben hatte.
Da kam Enjolras von seinem Ausflug wieder zurück. Er hörte, die Arme auf der Brust verschränkt, eine Hand auf dem Munde, dem vertrauensseligen Geplauder seiner Kameraden zu und sprach dann, ohne dass sich auf seinem frischen, rosigen Gesicht im Glanz des Frühlichtes eine Spur von Furcht und Erregung wahrnehmen ließ, folgende Worte.
»Die ganze Armee, die in Paris ist, wird tun, was man ihr befehlen wird. Ein Drittel dieser Armee ist bestimmt, auf Euch loszugehen. Außerdem noch die Bürgerwehr. Ich habe die Tschakos des fünften Linienregiments und die Fahnen der sechsten Legion erkannt. Der Angriff wird in einer Stunde erfolgen. Was das Volk anbetrifft, so hat es gestern Lebenszeichen gegeben; heute verhält es sich still. Also nichts zu erwarten, nichts zu hoffen, Ihr seid im Stich gelassen.«
Diese Worte fielen auf die Illusionen der Barrikadenkämpfer, wie Gewitterregen auf einen Schwarm Bienen und Alles verstummte. Es trat eine Stille ein, in der man die Fittiche des Todes hätte rauschen hören können.
Aber dieses Stillschweigen dauerte nicht lange.
Aus dem dunkelsten Hintergrunde rief Jemand:
»Nun gut. So wollen mir die Barrikade zwanzig Fuß hoch machen und uns Alle unter den Trümmern begraben lassen. Mögen dann unsre Leichen gegen die Tyrannei protestieren. Wenn das Volk die Republikaner verlässt, so lasst uns beweisen, dass die Republikaner das Volk nicht im Stich lassen.«
Diese Rede stellte klar, was aller individuellen Ängstlichkeit zum Trotz ein Jeder von ihnen dachte. Sie wurde mit begeistertem Beifall beantwortet.
Man hat den Namen des Redners nie erfahren. Er war vielleicht irgend ein bescheidner Arbeiter, ein Unbekannter, ein vergessener Held, jener große Namenlose, den man bei allen geschichtlichen Krisen und socialen Umwälzungen beteiligt findet, der in einem gegebnen Augenblick das richtige Wort in der richtigen Weise sagt und der spurlos verschwindet, nachdem er eine Minute, eine Sekunde lang im Namen des Volkes und Gottes gesprochen hat.
Diese unbeugsame Entschlossenheit schwebte am 6. Juni l832 so zu sagen in der Luft. Denn ungefähr in derselben Stunde riefen, wie dies nachher geschichtlich und von den Gerichten festgestellt wurde, die Verteidiger der Barrikade Saint-Merry: »Ob man uns zu Hilfe kommt oder nicht, ist uns gleichgültig. Wir werden uns verteidigen, bis der Letzte von uns gefallen ist.«
Wie man sieht, standen die beiden Barrikaden, räumlich getrennt, wie sie waren, doch mit einander in Verbindung.
»Vivat der Tod! Wir bleiben Alle!« tönte es aus Aller Munde, als der unbekannte Redner schwieg.
»Wozu Alle?« fragte Enjolras.
»Alle! Alle!«
Enjolras entgegnete:
»Die Stellung ist gut, die Barrikade ist stark. Dreißig Mann sind genug. Weshalb vierzig opfern?«
Sie erwiderten:
»Es wird Keiner weggehen wollen.«
»Bürger, rief Enjolras, und seine Stimme klang beinah zornig, »die Republik hat nicht so viel treue Anhänger, dass sie sich unnütze Opfer gestatten dürfte. Dem Ruhm um des Ruhmes willen nachjagen, hieße Kraft vergeuden. Wenn die Pflicht verlangt, dass ein Teil von uns sich in Sicherheit bringt, so muss dieser Pflicht wie jeder andern Folge geleistet werden.«
Enjolras hatte als unbeugsamer Prinzipienmensch, ein Ansehen bei seinen Gesinnungsgenossen, wie es nur das Absolute verleihen kann. Trotzdem murrten aber dies Mal seine Leute.
Unfähig, seinen Rechten als Befehlshaber das Geringste zu vergeben, beharrte Enjolras bei seinem Entschlusse.
»Mögen Diejenigen,« rief er in schneidendem Ton, »die sich fürchten, nur zu Dreißig zu sein, es sagen!«
Das Gemurr nahm zu.
»Ist bald gesagt, gehen,« rief Einer. »Wir sind von allen Seiten umzingelt.«
»In der Richtung der Markthalle nicht,« erwiderte Enjolras. Die Rue Mondétour ist frei und durch die Rue des Prêcheurs kann man nach dem Markt des Innocents gelangen.«
»Ja,« entgegnete ein Andrer, »aber da wird man angehalten. Sieht die Wache einen Mann mit einem Kittel und einer Mütze, so fragt sie: »Wo kommst Du her? Wahrscheinlich von einer Barrikade. Zeig’ mal Deine Hände her. Da haben wir’s; Du riechst nach Pulver.« Schwapp wird man füsilliert.«
Enjolras berührte, ohne eine Antwort zu geben, Combeferre’s Schulter und Beide begaben sich in den Saal des Erdgeschosses.
Gleich darauf kamen sie wieder zum Vorschein. Enjolras trug in den beiden Händen die vier Uniformen, die er hatte aufheben lassen. Ihm folgte Combeferre mit dem Lederzeug und den Tschakos.
»Wenn man solch eine Uniform trägt,« sagte Enjolras, kann man durch die ganze Armee und Bürgerwehr unbeachtet hindurch kommen. Mit dem, was wir hier haben, können sich vorläufig vier Mann in Sicherheit bringen.«
Damit warf er die vier Uniformen auf die Erde. Aber keine Bewegung gab sich im Kreise seiner standhaften Hörer kund. Da ergriff Combeferre das Wort:
»Hört mal, Kinder,« sagte er, »Ihr müßt in dieser Sache Euer gutes Herz ein Wort mitreden lassen. Ihr vergeßt die Frauen und die Kinder. Also in den Tod wollt Ihr Euch stürzen? Ich auch! Aber ich will dabei nicht Gespenster von Frauen vor Augen haben, die voll Verzweiflung die Hände ringen. Sterbt, wenn es sein muss, aber lasst nicht Andre umkommen, wenn Ihr’s verhindern könnt. Eine Selbstaufopfrung, wie Ihr sie vorhabt, ist etwas Großartiges, aber sie muss sich innerhalb enger Grenzen halten; denn wenn Ihr Eure Augehörigen mit hineinreißt, wird sie zum Mord. Denkt an die kleinen Blondköpfe und an die weißen Haare daheim. Merkt auf! So eben erzählte nur Enjolras, er habe nicht weit von hier an einem Fenster im fünften Stock die zittrigen Umrisse eines greisen Frauenkopfes gesehen. Wer weiß, vielleicht die Mutter von Einem unter Euch, die angstvoll die Nacht durchwacht und auf ihren Sohn wartet. Wenn er unter Euch ist, so gehe er hin und sage: Mutter, da bin ich! Um das Übrige mache er sich keine Sorgen: Was hier getan werden muss, können die Andern ohne ihn zu Wege bringen. Wenn man seine Anverwandten mit seiner Hände Arbeit ernährt, hat man nicht das Recht sich zu opfern. So was nennt man seine Familie im Stich lassen. Vor allen Dingen aber die, welche Töchter oder Schwestern haben, wo denken die hin, dass sie ihr Leben aufs Spiel setzen wollen? Ihr wisst doch wohl, welch ein schreckliches Loos der jungen Mädchen harrt, die nach Eurem Untergang allein in der Welt da stehen. Mit Euren Schattenhänden werdet Ihr sie, wenn sie sich feil bieten, dem Käufer nicht entreißen! Wendet mir nicht ein, Eure Töchter wären zu sittsam, um so tief sinken zu können. Alle die unglücklichen Dirnen, die Ihr je auf der Straße habt herumirren sehen, sind auch einmal engelrein, sind Ausbünde von Lieblichkeit, Anmut und Schönheit, sind frischer als Fliederblüten im Monat Mai gewesen. Überliefert nicht, indem Ihr das Volk der Willkür des Königtums entreißen wollt, Eure Töchter der Willkür der erbarmungslosen Polizei. Geht, Ihr, die Ihr Familienangehörige habt! Ich weiß sehr wohl, dass Mut dazu gehört; aber je schwerer es Euch fällt, desto größer ist auch Euer Verdienst. Ihr sagt: »Ich habe nun einmal ein Gewehr, stehe hinter der Barrikade und werde bleiben, mag kommen, was da will. Liege ich erst in der Erde, so ist aller Jammer für mich vorbei.« Ja wohl, für Euch. Aber malt Euch einmal recht deutlich aus, welches das Schicksal Eurer Hinterbliebnen sein wird! Ich wünschte, Ihr wäret dabei gewesen, als eines Tages in meiner Gegenwart die Leiche eines elternlosen, verwahrlosten Kindes in der Anatomie seziert wurde! Die Statistik hat festgestellt, dass die Sterblichkeit dieser bejammernswerten Wesen fünfundfünfzig Procent beträgt. Also, wie gesagt, es handelt sich um das Schicksal von Frauen, Müttern, Kindern, jungen Mädchen. Wer spricht denn von Euch? Das weiß man ja, dass Ihr tapfre Männer seid, alle Donnerwetter, ja! – dass es Euch Freude macht, dass Ihr Euern Ruhm darin sucht, das Leben für die große Sache hinzugeben und der Menschheit zu nützen. Sei es darum! Aber ihr seid nicht allein auf der Welt. Es gibt noch andere Wesen, an die ihr denken müßt. Ihr dürft nicht selbstsüchtig handeln.«
Aber alle ließen mit düstrer Miene den Kopf hängen.
In was für Widersprüche verfällt das Menschenherz bei seinen herrlichsten Handlungen! Combeferre, der seine Freunde an ihre Mütter erinnerte, vergaß die seine und war fest entschlossen, dem Tode nicht aus dem Wege zu gehen. Er handelte »selbstsüchtig.«
Währenddem war Marius von Hunger und Fieber gepeinigt, aller Hoffnung bar, aufgeregt durch die heftigsten Gefühle und in der Ahnung des nahen Endes mehr und mehr in jene traumhafte Stumpfheit versunken, die dem freiwilligen Untergange vorangeht.
An ihm hätte ein Physiologe mit Vorteil die Zunahme jenes, der Wissenschaft bekannten, fieberhaften Gemütszustandes verfolgen können, der sich zum Kummer, wie die Wollust zum Vergnügen verhält. Denn auch die Verzweiflung ist einer höchsten Steigerung, gleichfalls einer Ekstase fähig, und so weit war es jetzt mit Marius gekommen. Ihm war angesichts der Vorgänge, die sich um ihn abspielten, nicht anders, wie einem unbeteiligten Zuschauer zu Mute; alles schien in weiter Ferne vor ihm zu liegen; nur das Ganze erkannte er, die Einzelheiten konnte er nicht unterscheiden. Er sah die Gestalten umwoben von einem Flimmerlicht und die Stimmen tönten seinem Ohr, als kämen sie aus einem tiefen Schacht.
So gleichgültig nun ihn auch alles ließ, – der edle Wettkampf, der sich zwischen seinen Gefährten entsponnen hatte, war so ergreifend, dass er aus seinem Seelenschlummer geweckt wurde. Wollte er sich von seinem Entschluss zu sterben durch nichts ablenken lassen, so blieb es ihm doch unverwehrt, Andre von demselben Verderben zu bewahren.
»Enjolras und Combeferre,« begann er mit lauter Stimme, haben Recht. Keine unnützen Opfer! Ich pflichte ihnen bei und bin dafür, dass wir uns beeilen. Was Combeferre gesagt hat, muss den Ausschlag geben. Mögen Diejenigen unter Euch, die eine Mutter, Schwestern, Weib und Kind haben, vortreten!«
Niemand rührte sich.
»Die Verheirateten und Familienernährer vor!« wiederholte Marius.
Er erfreute sich eines großen Ansehens bei seinen Kameraden. Denn wenn Enjolras ihr Oberhaupt war, so war Marius der Retter der Barrikade.
»Ich befehle es!« rief Enjolras.
»Ich bitt’ Euch, Leute!« sagte Marius.
Da endlich begannen die wackern Männer nachzugeben, indem sie sich gegenseitig denunzierten. – »Sie haben Recht,« sagte ein langer Mann zu einem Älteren, »Du bist Familienvater. Geh Du.« »Bewahre, antwortete Dieser, »Du hast zwei Schwestern zu ernähren. Rette Du Dich.« – So wetteiferten sie, um sich nicht den Klauen des Todes entreißen zu lassen.
»Macht es kurz,« mahnte Courfeyrac, »in einer Viertelstunde ist es zu spät.«
»Wir sind Republikaner,« erinnerte Enjolras, »und müssen das allgemeine Stimmrecht walten lassen. Bezeichnet selber Diejenigen, die gehen sollen.«
Dieser Aufforderung wurde Folge geleistet. Nach Verlauf einiger Minuten waren Fünf einstimmig ausgewählt und mussten vortreten.
»Es sind ihrer Fünf und wir haben nur vier Uniformen!« rief Marius.
»Gut. Dann muss Einer zurückbleiben.«
Und wieder begann der edle Streit, wer zurückbleiben sollte und wer die besten Gründe erdenken konnte, Andre wegzuschicken.
»Beeilt Euch,« mahnte Courfeyrac abermals.
Da wandten sich plötzlich Einige an Marius und riefen:
»Bezeichnen Sie denjenigen, der hier bleiben soll!«
»Ja wohl!« sagten die Fünf. »Wählen Sie Einen. Wir wollen Ihnen folgen.«
Marius hatte geglaubt, er sei keiner neuen Empfindung mehr zugänglich. Bei dem Gedanken aber, er solle einen Menschen dem Tode weihen, strömte ihm alles Blut nach dem Herzen. Hätte er noch bleicher werden können, als er schon war, jetzt wäre es geschehen.
Er trat auf die Fünf zu, die ihm mit einer thermopylischen Begeistrungsflamme in den Augen lächelnd ansahen.
»Mich! Mich!« bat Jeder.
In ratloser Verlegenheit zählte sie Marius und blickte dann auf die Uniformen, ohne eine Entscheidung treffen zu können.
Da fiel, als käme sie vom Himmel herab, eine fünfte Uniform auf die vier andern.
Der fünfte Mann war gerettet.
Marius hob die Augen auf und sah Fauchelevent vor sich.
Sei es, dass er sich gut erkundigt hatte, sei es, dass eine richtige Ahnung oder der Zufall ihn führte, Jean Valjean war durch die Rue Mondétour gekommen, ohne, dank seiner Bürgerwehruniform, angehalten zu werden.
Was die von den Verteidigern der Barrikade in der Rue Mondétour aufgestellte Schildwache betrifft, so hatte sie sich gesagt, um einen Nationalgardisten brauche sie nicht Lärm zu schlagen. Wahrscheinlich wollte der Mann zu den Revolutionären übergehen und jedenfalls begab er sich in ihre Gewalt. Die Lage war eine viel zu ernste, als dass die Schildwache ihre Pflicht und ihren Posten hätte verlassen sollen.
In dem Augenblick, als Jean Valjean herankam, hatte ihn Niemand bemerkt, da Aller Augen auf die fünf Ausgeschiednen und die vier Uniformen geheftet waren. Er hatte also alles mit angesehen und gehört, und dann stillschweigend seine Uniform ausgezogen.
Eine unbeschreibliche Aufregung bemächtigte sich jetzt Aller, nun sie ihn erblickten.
»Wer ist der Mann?« fragte Laigle.
»Einer, der Andre rettet,« antwortete Combeferre.
»Ich kenne ihn!« sagte Marius feierlich.
Diese Bürgschaft genügte Allen.
Enjolras trat an Jean Valjean heran.
»Seien Sie willkommen. Dass wir dem Tode geweiht sind, wissen Sie ja wohl?«
Statt aller Antwort, half Jean Valjean dem Insurgenten, dem er das Leben rettete, die Uniform anlegen.
Der Lage, in der sich Alle zu dieser furchtbaren Stunde und an diesem unentrinnbaren Orte befanden, entsprach in vollkommenster Weise die düstre Schwermut Enjolras’s.
Der junge Mann war in seinem ganzen Wesen von den Ideen der Revolution durchdrungen; aber dieses Wesen war ein unvollständiges, soweit das Absolute unvollständig sein kann. Er ähnelte zu sehr Saint Just und nicht genug Anacharsis Cloots. Allein in der Gesellschaft der Freunde des A B C hatte sein Geist sich schließlich doch von den Anschauungen Combeferre’s magnetisieren lassen, so dass er sich den Ideen des Fortschritts zugänglicher zeigte und als letzte und herrlichste Evolution die Umbildung der großen, französischen in eine die ganze Menschheit umfassende Republik zuließ. Was aber die Mittel betrifft, die zur Erreichung dieses hohen Ziels erforderlich wären, so meinte er, da eine Gewaltlage gegeben sei, müßte auch mit Gewalt vorgegangen werden; wich also in diesem Punkte nicht von seinen ursprünglichen Grundsätzen ab und blieb nach wie vor ein begeisterter Verehrer der furchtbaren Heldenzeit der Revolution, ein entschiedner Anhänger der Ideen des Schreckenjahres 1793.
Jetzt stand Enjolras auf der Barrikadentreppe, einen Ellbogen auf den Lauf seines Karabiners gelehnt. Er war in tiefes Sinnen verloren und aus seinen Augen sprühte das Feuer einer schwärmerischen Begeisterung. Plötzlich richtete er das Haupt empor; seine blonden Haare wallten zurück, wie die des Erzengels auf dem Sternenwagen, und er rief: »Bürger, könnt Ihr Euch die Zukunft ausmalen? Die Straßen voller Licht, grüne Zweige an den Türen; die Völker verbrüdert; die Menschen gerecht; die Vergangenheit voller Liebe für die Gegenwart; Denker, die auf den Bahnen der Wissenschaft dahin wandeln dürfen; völlige Gleichheit aller Gläubigen; der Himmel als Gegenstand der Religion und Gott alleiniger Priester; kein Hass mehr; brüderliche Beziehungen zwischen dem Arbeiter und dem Gelehrten; Arbeit und gleiches Recht für Alle; der öffentliche Leumund als einzig Strafe und einzige Belohnung; kein Blutvergießen, keine Kriege mehr! Den Stoff beherrschen ist der erste Kulturfortschritt, das Ideal verwirklichen der zweite. Bedenket, was der Fortschritt schon alles zu Wege gebracht hat. Ehedem sahen die Menschen der Urzeit mit Schrecken die Hydra aus dem Meer schnaufen, den Drachen Feuer speien, den Greif, das Ungeheuer der Luft, das Adlersfittiche und Tigerklauen hatte, dahinschweben; alles Ungetüme, die dem Menschen überlegen waren. Aber dem Verstande ist es gelungen, die Unholde zu überwältigen. Jetzt besitzen wir eine gebändigte Hydra, nämlich das Dampfschiff; einen Drachen, die Lokomotive; bald werden wir den Greif bändigen, der sich der Luftballon nennt. An dem Tage, wo dies Prometheuswerk zu Stande gebracht sein wird, wo er die dreifache, alte Chimaera an seinen Wagen spannt, wird er herrschen über das Wasser, das Feuer und die Luft, wird er für die übrigen Lebewesen das sein, was die Götter einstmals für ihn waren. Mut also und vorwärts! Freunde, welchem Ziele eilen wir zu? Einer Gesellschaftsordnung, wo die Wissenschaft die Regierung ausüben, wo die Macht der Verhältnisse und der Dinge die einzige Gewalt sein, das Naturgesetz seine Anerkennung ich selber erzwingen, die Verstöße gegen seine Gebote selber strafen wird. Keine Fiktionen, keine Schmarotzer mehr! Die Wirklichkeit der Wahrheit untertan machen, das ist das Ziel, auf das zugesteuert werden muss. Die Civilisation wird ihre Sitzungen in dem ersten Lande Europas und später im Centrum der Kontinente halten, wird ein großes Parlament der Intelligenz berufen. Ähnliches hat die Welt ja schon gesehen. Versammelten sich doch die Amphittyonen zweimal im Jahre, einmal in Delphi, der Stadt der Götter, das andre Mal in den Thermopylen, denen der Untergang einer Heldenschaar die Weihe erteilte. So wird auch Europa, so wird der Erdball seine Amphittyonen haben. Und diese herrliche Zukunft trägt Frankreich in seinem Schoße! Sie ist das Kind, dessen Mutter das neunzehnte Jahrhundert sein wird. Was Griechenland begonnen hat, ist wert von Frankreich der Vollendung zugeführt zu werden. Höre, was ich Dir sagen will, Dir Feuilly, dem wackern Arbeiter, dem Manne des Volkes, dem Manne der Völker. Ich achte Dich hoch! Ja, Du siehst die Zukunft klar voraus; ja, Du hast Recht. Du hattest weder Vater noch Mutter: Da adoptiertest Du als Mutter die Menschheit und als Vater das Recht. Du wirst hier untergehen, in andern Worten den Sieg erringen. Denn was uns auch heute widerfahren wird, ob wir unterliegen, ob wir siegen, wir bahnen einer Revolution die Wege. Wie Feuersbrünste ganze Städte erhellen können, so bringen auch Revolutionen der ganzen Menschheit Licht. Und worin wird diese unsre Revolution bestehen? Ich sagte es Euch schon, in dem Siege der Wahrheit. Vom politischen Gesichtspunkt aus betrachtet, darf nur ein Prinzip Geltung behalten, die freie Selbstbestimmung der Menschen, die »Freiheit.« Da, wo zwei solcher freier Gewalten sich verbünden, beginnt der Staat. Aber ein solcher Bund bedeutet keinen Verzicht. Jede solche freie Macht tritt einen Teil ihrer selbst ab, um ein gemeinsames Recht zu schaffen. Dieser Teil ist für Alle gleich groß, und darin, dass er überall gleich ist, besteht die »Gleichheit.« Das gemeinsame Recht aber ist nichts Andres, als der Schutz, den Alle dem Einzelnen gewähren, das, was man Brüderlichkeit nennt. Der Durchschnittspunkt aller verbündeten Gewalten heißt die Gesellschaft. Da aber in diesem Punkt eine Verbindung stattfindet, so gibt es auch ein Bindemittel, das die Gesellschaft zusammenhält, einen gesellschaftlichen Vertrag. Doch noch eins über das Wort Gleichheit, das man richtig verstehen muss; denn wenn die Freiheit der Giebel des Gesellschaftsbaues ist, so stellt die Gleichheit sein Fundament dar. Gleichheit bezweckt keine gleich hohe Vegetation, verlangt nicht, dass der Grashalm groß und die Eiche klein sei, dass Jeder die freie Entfaltung jedes Nachbars, auf den er neidisch ist, verhindern könne. Nein! Es sollen nur alle Fähigkeiten gleiche rechtliche Ansprüche auf freie Betätigung; alle Stimmen dasselbe Gewicht, ein jeder religiöse Glaube dieselben Rechte haben. Die Gleichheit hat ein Organ, den unentgeltlichen und obligatorischen Schulunterricht. Mit dem Recht lesen und schreiben zu lernen muss man anfangen. Alle Kinder sollen zum Besuch der Volksschule verpflichtet, der höhere Unterricht soll Allen erlaubt und ermöglicht werden so laute das Gesetz. Denn nur bei gleichem Schulunterricht ist bürgerliche Gleichheit möglich. Ja, Licht! mehr Licht! Alles kommt vom Lichte und zum Licht kehrt Alles zurück. Freunde, das neunzehnte Jahrhundert ist groß, aber das zwanzigste wird glücklich sein. Dann wird die Geschichte nicht mehr auf denselben Bahnen wandeln, wie ehedem. Keine Eroberungen mehr, wie heutzutage, keine Staatsstreiche, kein Wetteifer zwischen bewaffneten Nationen, keine Unterbrechung der Civilisation in Folge einer Prinzenheirat, eines Familienereignisses bei einer Herrscherdynastie, einer von Diplomaten angeordneten Teilung eines Landes, eines Kampfes zweier Religionen. Dann werden alle Hungersnöte verschwinden, sowie alle Arten von Ausbeutung, die Prostitution, das Elend als Folge der Arbeitslosigkeit, das Schaffott, das Schwert und aller Raub, der im Walde der Ereignisse dem arglosen Wandrer auflauert. Ja, man könnte fast behaupten, dass es alsdann überhaupt keine Ereignisse mehr geben kann, weil man eben glücklich sein wird. Die Menschheit wird ihrem Bewegungsgesetz folgen, wie der Erdball dem seinigen, ungehindert, mit gleicher Harmonie; die Seele wird um die Wahrheit kreisen, wie ein Planet um die Sonne. Allerdings. liebe Freunde, die Stunde, die wir gegenwärtig durchleben, ist voller Trübsal, aber nur um diesen schrecklichen Preis kann die Zukunft erkauft werden. Doch glaubt mir, die Menschheit wird erlöst, getröstet, beglückt werden: Diese Versichrung geben wir ihr von unsrer Barrikade herab. Wo sollte denn auch anders der Schrei der Liebe erschallen, wenn nicht auf dem Opferaltar? Geliebte Brüder, hier ist der Sammelpunkt Derer, die denken und Derer, die Not und Kummer erdulden. Nicht aus Steinen, Balken und Eisen besteht diese Barrikade; nein, sie besteht aus zwei Stücken, dem Elend und dem Ideal. Hier schleppt sich das Elend her, um zu sterben, und hier legt die Idee die Unsterblichkeit nieder. Wer also hier stirbt, Freunde, steigt in ein Grab, in das die Morgenröte einer schönern Zukunft hineinstrahlt.«
Hier unterbrach Enjolras seine Rede, ohne doch gerade zu schweigen; denn er bewegte die Lippen, als spräche er mit sich selber, weshalb Alle ihn aufmerksam ansahen und auf die Fortsetzung warteten, Niemand rief ihm Beifall zu, aber sie unterhielten sich leise mit einander und noch lange nachher zitterten seine Worte in ihren Herzen nach, wie Blätter beim Hauch des Windes.
Berichten wir jetzt, was in Marius Seele vorging.
Da er, wie gesagt, sich schon nicht mehr als dieser Welt angehörig betrachtete und ihn alles gleichgiltig ließ, fragte er nicht, wie, warum, zu welchem Zweck Fauchelevent nach der Barrikade gekommen sei. Hat doch die Verzweiflung die Eigentümlichkeit, dass man Andre mit denselben Augen betrachtet, wie sich selbst, und so kam es auch Marius ganz natürlich vor, dass alle Welt mit ihm zugleich zu Grunde gehen wollte.
Nur dass er freilich Cosettens mit wehem Herzen gedachte.
Übrigens redete Fauchelevent ihn nicht an, sah nicht einmal nach ihm hin und schien, als Marius sagte: »Ich kenne ihn!« nichts zu hören, ein Verhalten, das ihm sehr gelegen kam, ja ihm geradezu Vergnügen machte, wenn solch ein Wort zur Bezeichnung eines solchen Gefühls in Marius Lage am Platze ist. Es war ihm stets schlechterdings unmöglich gewesen, den rätselhaften Mann, der ihm trotz seines zweideutigen Wesens imponierte, anzureden. Überdies war es lange her, seitdem er ihm begegnet war, was ihm angesichts seiner Schüchternheit und Zurückhaltung die Sache noch schwieriger machte.
Die fünf Ausgeschiednen entfernten sich durch die Rue Mondétour. Einer von ihnen weinte, während er davonging. Ehe sie schieden, umarmten sie noch diejenigen, die zurückblieben.
Als diese dem Leben wiedergegebnen Männer fort waren, dachte Enjolras an den zum Tode Verurteilten und trat in den Saal, wo Javert an dem Pfahl seinen Gedanken nachhing.
»Wünschst Du irgend etwas?« fragte ihn Enjolras.
»Wann werdet Ihr mich umbringen?«
»Warte. Vorläufig haben wir unsre Patronen zu etwas Andrem nötiger.«
»Dann geben Sie mir etwas zu trinken!«
Enjolras hielt ihm selber ein Glas Wasser hin und half ihm, da Javert nicht allein trinken konnte.
»Ist das Alles?« hub Enjolras wieder an.
»Das Stehen ist recht unbequem an diesem Pfahl. Es ist nicht sehr rücksichtsvoll von Euch, dass Ihr mich die ganze Nacht in dieser qualvollen Stellung gelassen habt. Bindet mich, wie Ihr wollt, aber Ihr könnt mich doch so gut wie Den da – er bezeichnete mit einer Bewegung des Kopfes den toten Mabeuf – auf einen Tisch legen.«
Hinten im Saal stand, wie man sich erinnern wird, ein langer, großer Tisch, auf dem die Barrikadenkämpfer Kugeln gegossen und Patronen verfertigt hatten. Da diese Arbeit vollendet war, so konnte man jetzt anders über ihn verfügen.
Auf Enjolras’s Befehl banden vier Mann Javert von dem Pfahl los, während ein Fünfter ihm die Spitze seines Bajonnetts auf die Brust hielt. Doch machten sie ihm die Hände nicht frei und fesselten ihm die Beine mit einem dünnen und festen Peitschenstrick, so dass er kurze Schritte machen konnte, wie ein Delinquent, der das Schaffot besteigen soll, ließen ihn bis zu dem Tisch gehen, streckten ihn darauf aus und banden ihn daran fest.
Um ganz sicher zu gehen, schlangen sie ihm, außer dem Strick, der ihm um den Leib ging, noch einen andern um den Hals, dessen zwei Hälften sich in der Magengegend kreuzten, zwischen die Beine hindurchgingen und an den Händen endeten. Während Javert so gebunden wurde, erschien Jemand auf der Türschwelle und sah mit besondrer Aufmerksamkeit zu. Javert bemerkte den Schatten, den der Mann warf, drehte den Kopf nach ihm hin und erkannte Jean Valjean. Voller Selbstbeherrschung machte er nicht einmal eine unwillkürliche Bewegung, senkte stolz die Augenlider und sagte nur: »War auch nicht anders zu erwarten!«
Es wurde jetzt rasch hell. Aber kein Fenster, keine Tür öffnete sich. Die Morgenröte brachte nicht das gewohnte Leben in die Straßen. Das der Barrikade entgegengesetzte Ende der Rue de la Chanvrerie war von den Truppen geräumt worden, wie wir schon erzählt haben, und es herrschte daselbst, wie in der Rue Saint-Denis, eine unheimliche Stille und Öde.
Wenn man aber auch nichts sah, so hörte man desto mehr. In einer gewissen Entfernung ging offenbar was vor, das auf die Herankunft des kritischen Augenblicks deutete. Auch kamen wieder, wie am Abend zuvor, die Schildwachen zurück, alle auf einmal.
Die Barrikade war jetzt weit stärker als beim ersten Angriff. Nach dem Weggang der Fünf hatte man sie abermals erhöht.
Auf den Rat der Schildwache, die nach der Markthalle hin ausgesandt worden, fasste Enjolras, aus Furcht umgangen zu werden, einen gewichtigen Entschluss. Er ließ das bisher freigebliebne Ende der Rue Mondétour durch eine dritte Barrikade versperren, behufs deren Errichtung das Pflaster noch eine Strecke weiter aufgerissen wurde. Auf diese Weise bestand die Verschanzung aus drei Stücken und schien uneinnehmbar. Dafür konnte man freilich desto leichter darin eingeschlossen werden. – »Eine Festung, aber auch eine Mausefalle!« meinte Courfeyrac. Endlich ließ Enjolras noch unweit der Wirtshaustür etwa dreißig überschüssige Pflastersteine aufhäufen.
Dann trat in der Gegend, woher der Angriff kommen musste, ein so tiefes Stillschweigen ein, dass Enjolras seinen Leuten befahl, Posto zum Kampfe zu fassen, nachdem er Jedem eine Ration Branntwein hatte verabfolgen lassen.
Nichts ist interessanter zu beobachten, als ein Trupp Barrikadenkämpfer, der sich auf einen feindlichen Sturm vorbereitet. Jeder wählt sich einen Platz wie in einem Theater, lehnt sich mit dem Rücken irgendwo an, stützt die Ellbogen auf, legt das Gewehr an. Manche machen sich eine Art Loge aus Pflastersteinen zurecht. Hier ist eine Mauerecke hinderlich und man geht weg; dort eine Hervorragung, die eine gute Deckung bietet, und man stellt sich dahinter auf. Die Linkhände sind sehr geschätzt, weil sie Plätze, die für die Andern unbequem sind, einnehmen können. Viele richten sich darauf ein, dass sie sitzend kämpfen können; sie wollen im Kampfe und Tode ihre Bequemlichkeit nicht missen. So ließ sich in der fürchterlichen Junirevolution 1848 ein Insurgent, der ein vorzüglicher Schütze war und auf einem Dach stand, einen Voltairesessel bringen, von dem aus er auf die Soldaten schoss, bis eine Kartätschenkugel ihn traf.
Sobald der Anführer das Zeichen gegeben hat, dass sich Alles bereit halten soll, hören alle zwecklosen Bewegungen, alle Spaltungen, Absonderungen, Zusammenrottungen auf; alle Geisteskräfte werden in der Erwartung der Dinge, die kommen werden, auf’s Äußerste angespannt. Herrscht vor der Gefahr das Chaos, so waltet nachher eine stramme Disciplin.
Sobald Enjolras seinen doppelläufigen Karabiner zur Hand genommen und sich an seinen Platz hinter eine Art Zinne gestellt hatte, trat allgemeines Schweigen ein. Dann ließ sich ein vielfaches Knacken vernehmen, das von den Gewehrhähnen kam.
Im Übrigen war die Haltung der Kämpfer eine stolzere und zuversichtlichere als je, denn der Entschluss, das höchste Opfer zu bringen, kräftigt die Seelen und wenn unsere Helden keine Hoffnung mehr hatten, so besaßen sie dafür in der Verzweiflung eine andere, die letzte Waffe, die bisweilen den Sieg verleiht, wie Virgil behauptet. Wer sich in den Nachen des Todes flüchtet, entgeht vielleicht dem Schiffbruch und ein Sargdeckel kann Rettung bringen.
Wie am Abend zuvor war die allgemeine Aufmerksamkeit auf das Ende der Straße gerichtet oder richtiger gesagt, geheftet.
Sie brauchten nicht lange zu warten. Es regte sich in der Gegend der Kirche Saint-Leu, aber es kam in anderer Weise als das erste Mal heran. Ein Geklirr von Ketten, ein dumpfes Getöse verkündete, dass eine schwerfällige Masse, ein gefährliches Todeswerkzeug herannahte. Die alten friedfertigen Straßen, die nur auf den nutzbringenden Verkehr der Interessen und Ideen berechnet waren, erbebten vor der gewaltigen Kriegsmaschine.
Alle blickten mit der äußersten Anstrengung ihrer Augen nach der Gegend hin, bis eine Kanone erschien.
Sie wurde von den Artilleristen geschoben und war schussbereit. Die Protze war abgenommen. Zwei Mann hielten die Lafette, vier drehten die Räder; Andere folgten mit dem Pulverkasten. Man sah den Rauch der Lunte.
»Feuer!« kommandierte Enjolras.
Eine fürchterliche Salve krachte, eine Rauchwolke stieg empor und verdeckte die Kanone und ihre Bedienung; als sie sich aber verzogen hatte, sah man die Artilleristen ihr Geschütz ruhig, regelrecht, ohne Überstürzung, der Barrikade gegenüber in Stellung bringen. Keiner war getroffen worden. Dann begann der Geschützführer, ernst wie ein Astronom, der sein Fernrohr zurecht rückt, auf das Bodenstück zu drücken, um den Schuss höher zu richten.
»Ein Bravo den Kanonieren!« rief Laigle und Alle klatschten in die Hände.
Einen Augenblick später stand das Geschütz in der Mitte der Straße zu beiden Seiten des Rinnsteins abgeprotzt und schussgerecht vor der Barrikade.
»So! Nun kann’s losgehn!« rief Courfeyrac. »Nach den kleinen Knattrern der große Brummer. Die Armee streckt jetzt ihre größte Tatze nach der Barrikade aus und will sie tüchtig rütteln. Das Gewehrfeuer ist bloß ein kleines Vorspiel. Der wahre Tanz beginnt erst mit der Kanonenmusik.«
»Ein Achtpfünder,« erläuterte Combeferre, »ein neues Modell aus Bronce. Diese Art Geschütze platzt leicht, wenn man das richtige Verhältnis des Zinnes zum Kupfer, zehn zu neunzig, nur im Geringsten überschreitet. Das Zinn macht das Metall zu weich Es kommt dann vor, dass am Zündloch Höhlungen entstehen. Um dieser Gefahr vorzubeugen und die Ladung forcieren zu können, müßte man vielleicht auf ein Verfahren des vierzehnten Jahrhunderts zurückgreifen, das ganze Kanonenrohr mit stählernen, ungelöteten Reifen umgeben. Einstweilen hilft man sich, so gut es geht, indem man nämlich das Zündloch mittelst des Stückvisitirers untersucht. Aber es gibt ein besseres Mittel, Gribeauvals beweglichen Stern.«
Im sechzehnten Jahrhundert,« bemerkte Laigle, hatte man gezogene Kanonen.«