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Victor Hugos Geschichte über Ungerechtigkeit, Heldentum und Liebe folgt dem Schicksal von Jean Valjean, einem entflohenen Sträfling, der entschlossen ist, seine kriminelle Vergangenheit hinter sich zu lassen. Doch seine Versuche, ein angesehenes Mitglied der Gemeinschaft zu werden, werden ständig bedroht: durch sein eigenes Gewissen und durch die unerbittlichen Ermittlungen des verbissenen Polizisten Javert. Aber Valjean muss nicht nur für sich selbst frei bleiben, denn er hat geschworen, die kleine Tochter von Fantine zu beschützen, die von der Armut in die Prostitution getrieben wurde. Der Klassiker “Die Elenden” (auch bekannt unter dem französischen Titel “Les Misérables”) liegt hier in der Übertragung ins Deutsche von G. A. Volchert vor. Die Rechtschreibung dieser Erstübertragung wurde überarbeitet und weitestgehend dem heutigen Sprachgebrauch angepasst. Dieses ist der zweite von insgesamt fünf Bänden.
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VICTOR HUGO
DIE ELENDEN
ROMAN
in fünf Bänden
BAND ZWEI
Überarbeitete und modernisierte
Übersetzung nach
G. A. Volchert
Die Elenden wurde im französischen Original (Les Misérables) zuerst veröffentlicht von Lacroix, Verboeckhoven & Cie., Paris 1862.
Diese Ausgabe wurde aufbereitet und herausgegeben von
© apebook Verlag, Essen (Germany)
www.apebook.de
1. Auflage 2022
V 1.0
In einer überarbeiteten und modernisierten Übersetzung nach G. A. Volchert.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.
Band Zwei (eBook)
ISBN 978-3-96130-466-0
Frontispiz: »Die junge Cosette fegt" (1862) von Émile-Antoine Bayard (1837-1891), aus der französischen Erstausgabe (1862).
Buchgestaltung: SKRIPTART, www.skriptart.de
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Inhaltsverzeichnis
An einem schönen Maimorgen des Jahres 1861 wanderte Jemand, – Derjenige, der diese Geschichte erzählt, – von Nivelles in der Richtung nach La Hulpe. Eine Viertelstunde hinter einem Wirtshause, auf dessen Schild! »Zu den vier Winden. Echabeau, Privatcafé« zu lesen war, gelangte er auf der welligen Chaussee in ein kleines Tal, wo rechts vom Wege eine Herberge lag. Hier zog sich seitwärts neben einem Ententeich ein schlecht gepflasterter Pfad, den der Wanderer betrat. Nachdem er daselbst an einer spitzgiebeligen Mauer aus dem 15. Jahrhundert eine Strecke entlang gegangen, sah er ein großes gewölbtes Tor mit geradem Kämpfer, in dem majestätischen Stil Ludwigs XIV., mit einem flachen Rundbild an jeder Seite. Auf der Wiese, die sich vor dem Tor ausdehnte, lagen drei Eggen, durch deren Öffnungen alle möglichen Maiblumen hindurchgewachsen waren.
Der Wanderer bückte sich und betrachtete aufmerksam das untere Ende des Gurtpfeilers, wo ihm eine merkwürdige rundliche Aushöhlung auffiel. In demselben Augenblick öffneten sich auch die beiden Torflügel und eine Bäuerin trat heraus.
»Das ist von einer französischen Kanonenkugel!« bemerkte sie zu dem Fremden. »Und das Loch weiter oben, in der Tür, hat eine Kartätschenkugel gemacht. Die ist nicht durchgegangen.«
Wie heißt dieser Ort?« fragte der Wanderer.
»Hougomont.«
Der Fremde richtete sich wieder auf, warf einen Blick über die Hecken und bemerkte am Horizont, durch die Bäume hindurch, eine Art Hügel und auf diesem Hügel etwas, das aus der Ferne einem Löwen ähnlich sah.
Er stand auf dem Schlachtfeld von Waterloo.
Hougomont war das erste Hindernis, auf das Napoleon, Europas großer Baumfäller, bei Waterloo stieß; der erste Knast, den seine Axt nicht durchhauen konnte.
Ehedem war es ein Schloß, jetzt nur noch ein Gehöft. Hougomont ist für den Altertumskenner eine von Hugo, dem Herrn von Somerel, erbaute Burg.
Der Wanderer stieß die Tür auf und trat in den Hof. Hier sah er eine Mistgrube, Spaten und Karste, einige Karren, einen alten Brunnen mit Traufrinne und eisernem Drehkreuz, ein hüpfendes Füllen, einen Truthahn, eine Kapelle mit einem Türmchen, einen Birnbaum. Dies also war der Hof, dessen Eroberung für Napoleon ein unerreichbares Ideal blieb! Dieser Fleck Erde würde ihm, wenn er ihn hätte bekommen können, zur Weltherrschaft verholfen haben.
Hier bewiesen die Engländer eine bewundernswert Tapferkeit. Hier erwehrten sich die vier Kompagnien der Cooke’schen Garden sieben Stunden lang einer ganzen Armee.
Auf der Karte stellt sich Hougomont als ein unregelmäßiges Rechteck dar, dessen eine Ecke abgestumpft ist. Hier befindet sich das Südtor. Denn Hougomont hat zwei Tore, ein südliches, das Schloßtor, und ein nördliches, das in das Gehöft führt. Gegen diesen Ort also sandte Napoleon seinen Bruder Jérôme; hier trafen die Divisionen Guilleminot, Foy und Bachelu zusammen, fast das ganze Armeekorps Reille wurde hier verwendet und zurückgewiesen; Kellermanns Kanonen richteten nichts aus gegen dies tapfere Stück Mauer und es bedurfte der größten Anstrengungen seitens der Brigade Bauduin, um von Norden in Hougomont einzudringen, während die Brigade Soye im Süden sich nur eines geringen Teils bemächtigen konnte.
Ein Bruchstück des Nordtors hängt noch an der Mauer. Es besteht aus vier Brettern samt den zwei Querhölzern, worauf die Bretter aufgenagelt sind; an diesem Bruchstück sieht man noch die Spuren, die von dem Kampfe beredtes Zeugnis; ablegen. Auch der Türpfosten wies noch lange Zeit nachher Abdrücke von blutigen Händen auf. An dieser Stelle wurde Bauduin getödtet.
Im Jahre 1815 standen auf diesem Hof eine Menge Gebäude, die in der Schlacht als Redouten, Fleschen, Schanzen benutzt wurden. Die Franzosen konnten sie nicht nehmen, nicht behaupten. Von allen Seiten, den Böden, den Kellern, den Fenstern herab beschossen, brachten die Angreifer Faschinen herbei, um die Gebäude in Brand zu stecken, aber ohne Erfolg.
In dem zerfallenen Schloßflügel sieht man durch vergitterte Fenster demolierte Wachtstuben und eine zweistöckige, vom Erdgeschoss bis zum Dach hinauf geborstene Wendeltreppe. Auf den oberen Stufen dieser Treppe belagert, zerstörten die englischen Gardisten die unteren, deren Trümmer, große blaue Fliesen, noch heute zwischen den Brennnesseln liegen.
Auch in der Kapelle haben Franzosen und Engländer sich gemordet. Drinnen sieht es seltsam genug aus. Die Messe ist hier seit dem Gemetzel nicht mehr gelesen worden. Aber der Altar ist stehen geblieben. Vier weiß getünchte Wände, dem Altar gegenüber eine Tür, zwei gewölbte Fensterchen, oben an der Tür ein Krucifix, darüber ein viereckiges mit Heu verstopftes Loch, in einer Ecke ein alter Fensterrahmen: So sieht diese Kapelle jetzt aus. In der Nähe des Altars ist eine Holzstatue der heil. Anna aus dem 15. Jahrhundert angenagelt; der Kopf des Jesuskindes wurde von einer Kanonenkugel abgeschlagen.
Auch durch Feuer ist das Gotteshaus beschädigt worden. Die Franzosen, die sich desselben schon bemächtigt hatten, wurden hinausgetrieben, kehrten aber wieder zurück und warfen Feuer hinein. Das ganze Gebäude brannte wie ein Hochofen, die Tür, die Dielen brannten, nur das hölzerne Christusbild nicht. Zwar die Füße hat das Feuer arg mitgenommen, aber sonst ist es unbeschädigt geblieben. Ein Wunder! sagen die Leute der Umgegend. Ja, aber das Jesuskind, dem der Kopf abgerissen wurde, ist doch nicht so glücklich gewesen, wie das Christusbild!
Die Wände der Kapelle sind mit Inschriften bedeckt. Nahe den Füßen des Christusbildes liest man den Namen Henquinez. Und viele andere: Conde de Rio Maior, Marques y Marquesa de Almagro (Habana). Auch französische Namen mit wütenden Ausrufungszeichen.
An der Tür der Kapelle wurde ein Leichnam aufgelesen, der eine Axt in der Hand hielt. Es war die Leiche des Unterlieutenants Legros.
Tritt man hinaus, so sieht man links einen Brunnen. Auf dem Hofe ist noch ein anderer. Man fragt: »Wozu zwei Brunnen? Warum ist der hier nicht mit Rolle und Eimer versehen?« »Ja, der ist voller Skelette!«
Der Letzte, der Wasser aus diesem Brunnen geschöpft hat, hieß Wilhelm van Kylsom. Er war ein Bauer, der in Hougomont wohnte und die Gärtnerei betrieb. Seine Familie flüchtete sich am 18. Juni 1815 in den Wald, der damals mehrere Tage und Nächte die obdachlose Bevölkerung der Umgegend aufnahm und noch viele Jahre nachher Spulen dieses Aufenthalts, namentlich verkohlte alte Baumstümpfe, aufwies.
Wilhelm van Kylsom dagegen blieb in Hougomont, um »das Schloß zu hüten« und – verkroch sich in einen Keller. Hier entdeckten ihn die Engländer, holten ihn aus seinem Schlupfwinkel heraus und bedeuteten ihm, indem sie mit den flachen Klingen auf ihn losschlugen, dass sie Wasser haben wollten. Dies brachte er ihnen dann aus dem erwähnten Brunnen.
Nach der Schlacht hatte man Eile, die Leichen wegzuschaffen. Denn der Tod verfolgt auch nachher noch den Sieger, indem er die Pest gegen ihn ausschickt. Der Typhus ist eine Ergänzung des Triumphes. Da kam also den Siegern der Brunnen, der sehr tief ist, recht gelegen. Er nahm dreihundert Leichen auf. Waren auch Alle, die hineingeworfen wurden, wirklich schon Leichen? Manche behaupten »Nein!« Die Nacht darauf liehen sich im Brunnen schwache Stimmen, die um Hilfe riefen, vernehmen.
Ein Haus auf dem Gehöft ist noch bewohnt, An der Tür dieses Hauses ist eine kunstvolle Klinke, Diese ergriff der hannoversche Lieutenant Wilda, um sich in das Haus zu flüchten, als plötzlich ein Sappeur ihm die Hand abhieb.
Die Familie, die in diesem Hause wohnt, stammt von dem erwähnten Gärtner Wilhelm van Kylsom, der nun schon längst gestorben ist. Eine Frau in grauen Haaren erzählte mir, als ich mich 1861 dort aufhielt! »Ich war damals drei Jahre alt, Meine Schwester, die größer war als ich, fürchtete sich und weinte. Man trug uns weg, in den Wald, Mich nahm meine Mutter auf den Arm, Alles legte sich platt auf die Erde und horchte. Ich machte den Kanonendonner nach: Bumm! Bumm!«
Durch die eine Tür des Hofes gelangt man in den Garten, einen wahren Schreckensort,
Er besteht aus drei Teilen. In dem einen, dem Blumengarten, der tiefer gelegen ist, fingen sich sechs Voltigeure des ersten Regiments der Chevaux-legers wie Bären in einer Grube, und nahmen den Kampf gegen zwei Kompagnieen Hannoveraner auf, von denen die eine mit Karabinern bewaffnet war. Die Angreifer, zweihundert an der Zahl, legten sich hinter das Steingeländer, das den Blumengarten umgibt, und schossen von oben auf die Sechs hinab, die, nur von den Sträuchern geschützt, sich eine Viertelstunde lang wehrten, ehe sie unterlagen.
Von dem Blumen- zu dem Obstgarten hinauf führen einige Stufen. Hier fielen binnen einer Stunde, auf einem Raum, der nur wenige Quadratklaster misst, fünfzehnhundert Mann, Noch steht die Mauer so verteidigungsfähig wie damals, mit den achtunddreißig Schießscharten, die von den Engländern in verschiedenen Höhen angebracht wurden. Vor der Mauer, nach Süden zu, ist eine hohe Hecke, die sie dem Blick entzieht, und als die Franzosen den Ort stürmten, glaubten sie, sie hätten es nur mit diesem Hindernis zu tun. Plötzlich aber sahen sie die Mauer vor sich, und aus den Schießscharten prasselte ein fürchterliches Kanonen- und Gewehrfeuer auf sie hernieder, so dass der Angriff der Brigade Soye hier scheiterte. So fing Waterloo an.
Dennoch wurde der Baumgarten genommen. Da sie keine Leitern hatten, krallten sich die Franzosen mit den Nägeln ein. Dann wurde Mann gegen Mann unter den Bäumen gekämpft. Alles Gras betaute sich mit Blut. Ein Nassausches Bataillon, siebenhundert Mann stark, wurde da über den Haufen geschossen. Nach außen zu, wo Kellermann das Gemäuer mit zwei Batterien bearbeitete, trägt es die Spuren von Kartätschenkugeln.
Dieser Garten ist im Monat Mai so idyllisch und friedlich wie jeder andere. Hier blühen Maßliebchen, werden Pferde, trocknen Frauen ihre Wäsche, wühlen Maulwürfe ihre Gänge unter der Erde. Aber im Grase liegt ein entwurzelter, noch lebensfähiger Baumstamm. An diesen hat sich damals der Major Blackman angelehnt, um zu sterben. Unter einem andern großen Baum fiel der deutsche General Duplat, ein Sprößling einer französischen Hugenottenfamilie, die durch das Edikt von Nantes heimatlos wurde. Neben diesem Baum steht ein anderer, ein Apfelbaum, dem nach der Schlacht ein Verband aus Stroh und Lehm angelegt wurde, und so wie er erhielten alle andern Bäume mehr oder minder schwere Wunden durch Gewehr- und Kanonenkugeln.
Also Bauduin getötet, Foy verwundet, Brand, Mord, Ströme von französischem, englischem, deutschem Blut, ein Brunnen voll Leichen, das Regiment Nassau und das Regiment Braunschweig vernichtet, Duplat, Blackman getötet, die englische Garde dezimiert, zwanzig Bataillone von den vierzig des Reille’schen Armeekorps niedergemacht, dreitausend Menschen allein in der alten Baracke Hougomont niedergesäbelt, -geschossen; -gestochen und verbrannt, und wozu das alles? Damit jetzt ein Bauer zu einem Fremden sagen kann: »Mein Herr, wenn Sie mir drei Franken geben, zeige ich Ihnen das Schlachtfeld von Waterloo!«
Kehren wir, wie es das Recht des Erzählers ist, in die Vergangenheit zurück, versetzen wir uns in das Jahr 1815 und sogar noch vor die Zeit, wo die in dem ersten Teil dieses Buches erzählte Handlung beginnt.
Hätte es nicht in der Nacht vom 17. auf dem 18. Juni 1815 geregnet, so hätte sich die Zukunft Europas anders gestaltet. Einige wenige Tropfen Wasser haben die Wagschale des Geschicks zu Ungunsten Napoleons geneigt. Damit Austerlitz in Waterloo ausmündete, bedurfte die Vorsehung ein wenig Regen, und eine Wolke, die in einer gewöhnlich heitern Jahreszeit über den Himmel strich, genügte eine Welt zu zertrümmern.
Die Schlacht bei Waterloo hat erst um halb zwölf Uhr Morgens ihren Anfang nehmen können, was Blücher die Zeit gab, zur rechten Stunde hinzuzukommen. Warum nicht früher? Weil der Erdboden aufgeweicht war Man musste warten, bis er wieder etwas fester wurde, und die Artillerie manövrieren konnte.
Napoleon war ursprünglich Artillerieoffizier, und davon blieb zeitlebens etwas an ihm haften. Das Wesen seines gewaltigen Feldherrngenies lag schon in dein Bericht, den er über Abukir verfasste: »Manche von unsern Kanonenkugeln haben je sechs Mann getötet.« Alle seine Schlachtpläne haben die Leistungsfähigkeit der Geschütze zur Voraussetzung. Die Artillerie auf einen gegebenen Punkt wirken zu lassen, darin bestand das Geheimnis seiner Siege. Er überschüttete den schwachen Punkt der feindlichen Schlachtordnung mit Kartätschen, durchbrach die Reihen seiner Gegner, zermalmte, zerstreute sie mit Kanonenschüssen. Eine furchtbare Methode! Im Verein mit dem Genie hat sie fünfzehn Jahre lang diesen gewaltigen Kriegesathleten unbesiegbar gemacht.
Am 18. Juni 1815 verließ er sich um so mehr auf die Artillerie, als er in dieser Hinsicht dem Gegner überlegen war. Wellington verfügte nur über hundertneunundfünfzig Feuerschlünde, Napoleon über zweihundertvierzig.
Wäre der Erdboden trocken gewesen, hätten die Geschütze die erforderliche Manövrirfähigkeit besessen, so konnte die Schlacht um sechs Uhr Morgens anfangen. Sie war dann um zwei Uhr Nachmittags beendet, drei Stunden, ehe die Preußen in den Kampf eingriffen.
Wieviel Schuld an den Verlust der Schlacht muss Napoleon beigemessen werden? Hat hier der Lootse den Schiffbruch veranlasst?
Bedingte damals bei Napoleon der entschiedene Verfall seiner körperlichen Gesundheit zugleich eine Schwächung seiner Geisteskräfte? Hatten die zwanzig Kriegsjahre die Klinge ebenso stark, wie die Scheide, Leib und Seele gleich abgenutzt? Machte sich der Veteran in dem Feldherrn bemerkbar? Kurz, verdunkelte sich sein Genie, wie viele tüchtige Geschichtskenner angenommen haben? Verlor er die Herrschaft über sich selbst und suchte er sich über seinen moralischen Niedergang hinwegzutäuschen? Rechnete er zu sehr auf den Zufall? War er sich, was bei einem Feldherrn gefährlich ist, nicht mehr der Gefahr bewusst? Gibt es bei den großen Männern der materiellen Tat ein Alter, wo ihr Genie seine Sehkraft einbüßt? Den idealen Genies kann das Greisenalter nicht beikommen; die Dantes und die Michelangelos wachsen, je älter sie werden: Ist bei einem Hannibal und einem Bonaparte Altern gleichbedeutend mit Abnehmen? Und war Napoleon als Sechsundvierziger nur noch ein törichter Wagehals?
Wir glauben das nicht.
Sein Schlachtplan war, wie allgemein zugestanden wird, ein Meisterwerk. Gerade auf das Centrum der verbündeten Armeen losgehen, ein Loch in den Feind bohren, ihn in zwei Stücke zerhauen, die brittische Hälfte nach Hai und die preußische nach Tongres hindrängen, Mont-Saint-Jean nehmen, auf Brüssel marschieren, den Deutschen in den Rhein und den Engländer in das Meer werfen, darauf kam es Napoleon an. Nachher wollte er weiter sehen.
Selbstredend maßen wir uns hier nicht an, eine Beschreibung der Schlacht bei Waterloo liefern zu wollen. Ein, für unsere Erzählung wichtiges Ereignis bildet nur eine Scene in dem großen Schlachtendrama. Die Geschichte dieser Schlacht selbst aber wollen wir nicht schreiben, weil sie schon geschrieben ist, einerseits von Napoleon und, von einem andern Standpunkt aus, von einer ganzen Plejade von Historikern, Walter Scott, Lamartine, Vaulabelle, Charras, Quinet, Tiers. Was uns anbetrifft, so lassen wir die Geschichtsschreiber ihren Streit unter sich ausmachen; wir sehen nur von Ferne zu, wandern über das blutgetränkte Gefilde von Waterloo als Neugieriger und halten vielleicht Schein für Wirklichkeit; wir haben nicht das Recht im Namen der Wissenschaft einer Gesamtheit von Tatsachen zu widersprechen, die höchst wahrscheinlich dem Forscher Wahngebilde vorspiegeln, und besitzen weder militärische Praxis, noch theoretische Kenntnisse, um uns ein System zu machen. Unseres Erachtens leitete bei Waterloo ein besondere Verkettung von Zufällen die beiden Feldherren, und wir urteilen, wenn es sich um eine Anklage gegen das geheimnisvolle Schicksal handelt, wie das naive Volk.
Wer sich ein klares Bild von dem Schlachtfeld bei Waterloo machen will, der stelle sich ein aus die Erde gelegtes, lateinisches A vor. Der linke Schenkel bedeutet dann die Landstraße von Nivelles, der rechte, die Straße von Genappe, der Verbindungsstrich ist der Hohlweg zwischen Ohain und Braine-l’Alleud. Die Spitze des A stellt Mont-Saint-Jean vor, wo Wellington stand; an dem linken unteren Ende liegt Hougomont, dort war Reille und Jérôme Bonaparte; das rechte untere Ende ist La Belle-Alliance. Etwas unter dem Punkt, wo der Verbindungsstrich den rechten Schenkel schneidet, liegt La Haie-Sainte. In der Mitte des Querstrichs ist der Punkt, wo das letzte Wort der Schlacht gesprochen wurde. Dort hat man das Denkmal aufgerichtet, einen Löwen, ein unfreiwilliges Symbol des heldenmütigen Widerstandes der kaiserlichen Garde.
Das von den beiden Schenkeln und dem Querstrich gebildete Dreieck ist die Hochebene von Mont-Saint-Jean. Um den Besitz dieser Hochebene drehte sich die ganze Schlacht.
Die Flügel der beiden Armeen dehnten sich rechts und links von den beiden Landstraßen, der von Nivelles und der von Genappe, aus. D’Erlon stand Picton und Reille Hill gegenüber.
Hinter der Spitze des A, also hinter dem Plateau von Mont-Saint-Jean, liegt der Wald von Soignes.
Was die Ebene betrifft, so denke man sich ein welliges Terrain, wo die nächste Erhöhung immer mehr emporsteigt, als die vorhergehende, bis sie hinter Mont-Saint-Jean, in dem Walde, enden.
Beide Generäle hatten die Ebene von Mont-Saint-Jean, die man heutzutage die Ebene von Waterloo nennt, auf’s sorgfältigste studiert, Wellington schon im Jahre vorher, für den Fall einer großen Entscheidungsschlacht. Er hatte sich auch die vorTeilhafteste Seite gewählt; denn am 18. Juni standen die Engländer oben und die Franzosen unten.
Hier ein Bild von Napoleons äußerer Erscheinung zu Pferde, mit dem Fernrohr in der Hand, zu entwerfen, ist fast überflüssig. Man kann ihn nicht mehr zeigen, alle Welt hat ihn schon gesehen. Das ruhige Profil unter dem kleinen Hute, die grüne Uniform mit den weißen Aufschlägen, der Rock, das rote Ordensband, die Lederhose, der Schimmel mit der purpurnen Samtschabracke, dem gekrönten N und den Adlern, die Reitstiefel über den langen seidenen Strümpfen, die silbernen Sporen, der Degen, den er einst bei Marengo getragen; kurz, die ganze Gestalt des letzten Cäsar steht vor dem Geiste Aller Derer, die ihn in den Himmel erheben, und Derer, die ihn verdammen.
Diese Gestalt erschien lange nur in ungetrübtem Glanze, weil der Ruhm der meisten Helden aus einem Gewebe von Sagen besteht, das die Wahrheit verschleiert; aber heutzutage ist dieser Schleier gefallen.
Die Geschichte ist unerbittlich und bringt, eben weil sie das Licht ist, oft Schatten dorthin, wo man bisher nur blendende prahlen sah. Aus einem Menschen macht sie zwei, die einer den andern bekämpfen und richten, der schändliche Despot den ruhmgekrönten Feldherrn. So gewinnen die Völker einen Maßstab, mit dem sie die großen Männer richtig und endgültig beurteilen. Der Brand Babylons mindert Alexanders Größe; Roms Ketten machen Caesar Vorwürfe; Jerusalems Zerstörung ist ein Flecken aus Titus Ehrenschild.
Jedermann kennt das erste Stadium der Schlacht bei Waterloo, mit seinen unaufgeklärten und schwer verständlichen Einzelheiten, die für beide Teile, am meisten aber für die Engländer, eine bedrohliche Gestalt zeigten.
Es hatte die ganze Nacht geregnet; die Wege waren grundlos; alle tieferen Stellen der Ebene waren wie Waschbecken mit Wasser angefüllt; hier und da versenken die Trainfuhrwerke bis an die Achsen im Schlamm, und wenn nicht die Menge Wagen das Getreide niedergedrückt und so die Geleise ausgefüllt, sich eine Unterlage geschaffen hätten, so wäre jedes Vorrücken, namentlich in der Gegend von Papelotte, unmöglich gewesen. Der Kampf begann spät, denn Napoleon, der erst die gesamte Artillerie bei der Hand haben wollte, hatte beschlossen zu warten, bis die Geschütze sich schnell und sicher bewegen könnten. Dazu war aber nötig, dass die Sonne schien und die Erde trocknete. Allein die Sonne, die dem Kaiser bei Austerlitz geleuchtet, ließ sich nicht blicken, und so trat eine verhängnisvolle Verzögerung ein. Als der erste Kanonenschuss gelöst wurde, sah der englische General Colville nach seiner Uhr und konstatierte, dass es fünfunddreißig Minuten nach elf war.
Das Gefecht entbrannte mit großer Heftigkeit, heftiger, als es Napoleon wohl wünschte; auf dem linken Flügel der Franzosen, der Hougomont angriff. Zur selben Zeit drang Napoleon gegen das feindliche Centrum vor, indem er die Brigade Quiot auf La Haie-Sainte stürzte, und Ney rückte mit dem rechten Flügel gegen den linken der Engländer, der sich an Papelotte anlehnte.
Der Angriff auf Hougomont bezweckte eine Täuschung Wellingtons: Er sollte sich nach links ziehen. Der Plan wäre auch gelungen, wenn die vier Kompagnien der englischen Garde und die tapfern Belgier der Division Perponcher nicht erfolgreichen Widerstand geleistet und sich in ihrer Stellung behauptet hätten. So aber konnte Wellington, statt das Gros seiner Armee dorthin zu verschieben, sich mit der Absendung von vier andern Gardekompagnien und einem Bataillon des Regiments Braunschweig als Verstärkung begnügen.
Der Angriff des rechten Flügels auf Papelotte sollte die Entscheidung herbeiführen. Es galt den linken Flügel der Engländer zurückzudrängen, die Straße nach Brüssel zu besetzen, den Preußen den Weg zu verlegen, Mont-Saint-Jean zu erstürmen, Wellington auf Hougomont, von dort auf Braine-l’Alleud und von da auf Hal zurückzutreiben. Abgesehen von einigen Zwischenfällen gelang der Angriff auch. Papelotte und La Haie-Sainte wurden genommen.
Eine beachtenswerte Merkwürdigkeit: Die englische Infanterie, besonders die Brigade Kempt, bestand zum großen Teil aus Rekruten. Diese jungen Menschen hielten sich gut gegen unsere tüchtigen, alten Infanteristen. Unerfahren, wie sie waren, wussten sie sich zu helfen, indem sie als Tirailleure in aufgelöster Ordnung fochten. In einem solchen Kampfe ist aber der Soldat mehr auf sich selbst angewiesen, wird so zu sagen sein eigener General, und die englischen Rekruten bewiesen so etwas wie französische Initiative und Schneidigkeit. Dies nun missfiel Wellington!
Nach der Erstürmung von La Haie-Sainte geriet die Schlacht ins Stocken.
Die Geschichte dieses Tages enthält eine Art Lücke; wie zwischen zwölf und vier Uhr die verschiedenen Teile der beiden Armeeen sich bewegten, lässt sich nicht verfolgen. Dergleichen wirre, unbestimmbare Details, quid obscurum, quid divinum, weist eine jede Schlacht auf. Wie sorgfältig auch die beiden Heerführer am Studiertisch Alles vorausberechnet haben mögen, im Gefecht erleidet ein Plan durch den andern die mannigfaltigsten Abänderungen. Dieser Teil des Schlachtfeldes verschlingt mehr Kämpfer, als jener, wie auch der Erdboden an einer Stelle schwammiger ist und mehr Wasser einsaugt, als an einer andern. Man muss also an einen solchen Punkt mehr Soldaten nachschicken, als man möchte, hat Ausgaben, die nicht vorgesehen waren. Die Schlachtordnung verschiebt sich hier nach vorn, dort nach hinten; das Blut fließt unlogisch; die beiden Fronten wallen hin und her, bilden Buchten und Vorgebirge. Wo die Infanterie war, kommt Artillerie hin; auf die Artillerie folgt Kavallerie; Bataillone zerstieben wie Rauch. Endlich artet auch jede Schlacht früher oder später in ein Handgemenge aus, löst sich in eine Menge Einzelkämpfe auf, die, um mit Napoleon selbst zu reden, eher der Biographie der Regimenter als der Geschichte des Heere angehören. Der Historiker muss also das Recht haben, die Tatsachen kurz zusammenzufassen. Er kann eine Schlacht nur in ihren Hauptumrissen schildern, und kein Erzähler, so gewissenhaft er auch sein mag, vermag alle Vorgänge, aus denen sie sich zusammensetzt, aufzählen, so wenig ein Meteorologe die fortwährenden Gestaltverändrungen einer Wolke feststellen kann.
Dies gilt von allen großen Treffen, besonders aber von der Schlacht bei Waterloo.
Zu einer gewissen Stunde des Nachmittags indessen nahm sie eine konkretere Gestalt an.
Gegen vier Uhr war die Lage der englischen Armee eine recht kritische. Der Prinz von Oranien kommandierte das Centrum, Hill den rechten, Picton den linken Flügel. »Nassau! Braunschweig! Nur nicht rückwärts!« rief der unerschrockne Oranien den Holländern und Belgiern zu; Hill, der schwere Verluste erlitten hatte, lehnte sich jetzt an Wellington an; Picton war gefallen. Eine Kugel hatte ihn in demselben Augenblick niedergestreckt, wo die Engländer die Fahne des 105. französischen Linienregiments eroberten. Wellingtons Schlachtlinie hatte als Stützpunkte Hougomont und La Haie-Sainte; Das erstere hielt sich, aber La Haie-Sainte war nicht mehr im Besitz der Engländer. Von dem deutschen Bataillon, das letzteren Ort verteidigt hatte, waren nur zweiundvierzig Mann übrig; alle Offiziere, mit Ausnahme von fünfen, waren tot oder gefangen. Dreitausend Mann waren in dieser Scheune ums Leben gekommen. Ein Gardesergeant, Englands erster Boxer, der bei seinen Kameraden für unverwundbar galt, ward hier von einem kleinen französischen Trommler getötet. Baring hatte seine Stellung geräumt, Alten war niedergehauen worden. Mehrere Fahnen waren verloren, darunter eine von der Division Alten und eine vom Bataillon Lüneburg, die ein Prinz des Hauses Zweibrücken getragen hatte. Die grauen Schotten existierten nicht mehr; Ponsonby’s schwere Dragoner waren in Stücke gehauen. Diese tapfere Kavallerie wurde von Bro’s Lanzenreitern und Travers’ Kürassieren niedergeworfen; von zwölfhundert Pferden waren nur noch sechshundert übrig geblieben; von den drei Oberstlieutenants lagen zwei an der Erde, Hamilton verwundet, Mater getötet. Ponsonby war, von sieben Lanzenstichen durchbohrt, gefallen, Gordon tot, Marsch gleichfalls. Zwei Divisionen, die fünfte und die sechste, vernichtet.
Allein der Knotenpunkt der feindlichen Stellung, das Centrum, war noch unerschüttert. Wellington verstärkte es noch. Er zog Hill aus Merbe-Braine und Chassé aus Braine-l’ Alleud an sich.
Das Centrum der englischen Armee, das eine konkave Gestalt hatte und eng zusammengedrängt war, hatte eine sehr starke Stellung. Es hielt das Plateau von Mont-Saint-Jean besetzt und hatte hinter sich das Dorf, vorn den Abhang, der damals ziemlich steil war. Es lehnte sich an einen starken Steinbau, an dem die Kanonenkugeln ohnmächtig abprallten. Um das ganze Plateau herum hatten die Engländer stellenweise Lücken in die Hecken gehauen und Kanonen darin aufgepflanzt. Diese mit wahrhaft punischer, aber im Kriege zulässiger Heimtücke ausgeklügelten Fallen waren so gut versteckt, das Haro, den der Kaiser um neun Uhr Morgens zur Rekognoscirung der feindlichen Batterieen ausgesandt hatte, keine Lunte roch und Napoleon meldete, es sei kein Hindernis vorhanden, außer den beiden Verhauen auf der Landstraße von Nivelles und von Genappe. Es war die Zeit, wo das Korn sehr hoch steht, und am Saume des Plateaus lag, versteckt im Getreide, ein mit Karabinern ausgerüstetes Bataillon der Brigade Kempt, das fünfundneunzigste.
Die Stellung des englischen Centrums war also vorzüglich gesichert.
Doch hatte sie auch eine schwache Seite, den Wald von Soignes, der damals bis an das Schlachtfeld reichte, und der von den Teichen Groenendael und Boitsfort durchschnitten war. Bei einem etwaigen Rückzüge hätte in diesem Walde die englische Armee ihren Zusammenhang nicht bewahren können; die Infanterie hätte sich aufgelöst, die Geschütze wären in den Sümpfen stecken geblieben, and eine wilde Flucht das Ende gewesen.
Wellington verstärkte das Centrum mit einer Chasséschen Brigade, die er dem rechten, und einer Winckeschen Brigade, die er dem linken Flügel entnahm, und außerdem mit der Division Clinton. Mit seinen Engländern, dem Halkettschen Regiment, der Mitchellschen Brigade, den Maitlandschen Garden vereinigte er die Braunschweigsche Infanterie, das Nassausche Kontingent, Kielmannsegge’s Hannoveraner und Ompteda’s Deutsche. So hatte er hier sechsundzwanzig Bataillone beisammen. Es wurde, wie Charros bemerkt, der rechte Flügel hinter das Centrum gezogen. An der Stelle, wo heute das sogenannte Museum von Waterloo steht, befand sich eine gewaltige, mit Erdsäcken maskierte Batterie. Außerdem lagen in einer Bodenfalte, Somerset’s Gardedragoner, vierzehnhundert Mann stark. Es war diejenige Hälfte der berühmten englischen Kavallerie, die nach Ponsonby’s Vernichtung übrig geblieben war.
Die Batterie, die, fertig gebaut, fast eine Redoute abgegeben hätte, lag hinter einer niedrigen Gartenmauer, die mit einer starken Erdschicht bekleidet war; Palissaden zu pflanzen hatte es an Zeit gefehlt.
Wellington, der sehr besorgt, aber äußerlich ruhig war, saß den ganzen Tag über auf dem Pferde, vor der alten Mühle von Mont-Saint-Jean, die heute noch steht, unter einer Ulme, die seitdem ein Engländer, ein begeisterter Vandale, für zweihundert Franken gekauft, abgesägt und nach England mitgenommen hat. Wellington bewies hier einen kaltblütigen Heldenmut. Es hagelte Kugeln um ihn. Der Adjutant Gordon wurde an seiner Seite getötet. Da fragte ihn Lord Hill, indem er auf eine eben geplatzte Granate hinwies: »Mylord, welche Instruktionen und Befehle geben Sie uns für den Fall, dass Sie getötet werden?« »Dasselbe zu tun wie ich,« antwortete Wellington. Zu Clinton sagte er lakonisch: »Bis zum letzten Mann ausharren.« Die Schlacht nahm eine gefährliche Wendung, und er feuerte seine alten Waffenbrüder, mit denen er bei Talavera, Vittoria, Salamanca gesiegt hatte, mit dem Zuruf an: »Kinder, Ihr werdet doch nicht weichen? Denkt an das Vaterland!«
Gegen vier Uhr fingen die Engländer an zurückzugehen. Plötzlich sah man auf dem Kamm des Plateaus nur noch Artillerie und Schützen; die von dem französischen Geschützfeuer vertriebenen Regimenter hatten sich in den Talgrund verzogen. – »Der Anfang des Rückzuges!« rief Napoleon.
Obgleich krank und durch eine lokale Beschwerde am Reiten behindert, war Napoleon nie so gut aufgelegt gewesen, wie an jenem Tage. Der Mann, der bei Austerlitz ein düsteres Gesicht gezeigt, lächelte bei Waterloo.
»Lacht Cäsar, so wird Pompejus weinen«, meinten die Soldaten der Legio fulminatrix. Dies Mal brauchte Pompejus nicht zu weinen, aber so viel steht fest, dass der Cäsar lachte.
Am Abend und in der Nacht zuvor, als er im Gewitterregen mit Bertrand die Hügel bei Rossomme rekognoszierte und die Feuer der Engländer von Frischemont bis Braine-l’Alleud den Horizont erleuchten sah, hatte er gemeint, das Schicksal, das er zu diesem Tage auf das Feld von Waterloo bestellt habe, sei pünktlich gewesen, darauf sein Pferd angehalten und die fatalistischen Worte gesprochen: »Wir sind einig.« Er irrte sich. Das Schicksal und er waren nicht mehr einig.
Er hatte keine Minute geschlafen und war die ganze Nacht hindurch so lustig gewesen, dass er in allem Möglichen Anlass fand, die Dinge im rosigsten Lichte zu schauen. So hatte er um halb drei bei dem Gehölz von Hougomont ein Geräusch von Schritten gehört: »Das ist die englische Nachhut«, meinte er, »die will ausreißen. Ich werde die sechstausend Engländer, die in Ostende gelandet sind, abfassen.« Überhaupt war er sehr redselig und hatte seine alte Lebhaftigkeit wiedergewonnen, dieselbe, die er bei seiner Landung in Cannes bewies, als er dem Großmarschall einen enthusiastischen Bauern zeigte mit den Worten: »Sehen Sie, Bertrand, da kommt schon Verstärkung!« In der Nacht vom 17. zum 18. Juni spöttelte er ebenso vergnügt über Wellington: »Das Engländerchen bedarf einer Lektion!«
Aber schon um halb vier zerstob eine Illusion: der Feind, so meldeten zur Rekognoscirung ausgesandte Offiziere, rührte sich nicht. Kein Bivouacfeuer erlosch. Die englische Armee schlief. Tiefes Stillschweigen herrschte auf der Erde, nur im Himmel rumorte es. Um vier Uhr brachten ihm Streifreiter einen Bauer, der einer englischen Kavalleriebrigade als Führer gedient hatte. Um fünf meldeten ihm belgische Überläufer, die englische Armee sei auf die Schlacht vorbereitet. – »Desto besser!« rief Napoleon. »Ich werde sie um so gründlicher verhauen können!«
Am Morgen stieg er an der Biegung des Weges, der nach Planceroit führt, ab, ließ sich aus dem Pachthof von Rossomme einen Küchentisch und einen Stuhl bringen, nahm ein Bund Stroh als Teppich unter seine Füße und entfaltete auf dem Tisch den Plan des Schlachtfeldes, indem er zu Soult sagte: »Ein hübsches Schachbrett!«
In Folge des nächtlichen Regens hatten die Wagen mit den Lebensmitteln nicht am Morgen eintreffen können; der Soldat hatte nicht geschlafen, war durchnäßt und ausgehungert; aber auch das hatte den Kaiser nicht missgestimmt, und er bemerkte vergnügt zu Rey: »Wir haben neunzig Chancen gegen zehn.« Um acht Uhr wurde ihm ein Frühstück angerichtet, bei dem mehrere seiner Generäle zu Gaste waren. Bei Tische wurde erzählt, Wellington sei am zweiten Abend zuvor auf dem Ball der Herzogin von Richmond in Brüssel gewesen und Soult scherzte: »Der Ball ist heute!« Über Ney, der gesagt hatte: »Wellington wird nicht so einfältig sein, Ew. Majestät zu erwarten«, lachte Napoleon. Übrigens war dies seine Art. »Er scherzte gern«, sagt Fleury de Chaboulon. »Er war von Natur sehr lustig«, erzählt Gourgaud. »Er liebte zu spaßen, aber seine Späße waren eher sonderbar, als witzig«, behauptet Benjamin Constant. Auf diesen Charakterzug des Gewaltigen näher einzugehen, verlohnt sich wohl der Mühe. »Alte Brummbären!« titulierte er seine Grenadiere, kniff sie ins Ohr, zupfte sie am Schnurrbart. »Der Kaiser hatte immer einen kleinen Schabernack mit uns vor«, erzählte Einer von ihnen. Als während der verstohlenen Überfahrt von der Insel Elba nach Frankreich die französische Brigg der »Zephyr« dem »Inconstant« begegnete, auf dem sich Napoleon befand, und sich nach Napoleon erkundigte, hatte Napoleon lachend das Sprachrohr ergriffen und selber geantwortet: »Der Kaiser befindet sich wohl.« Wer so scherzt, steht auf vertraulichem Fuße mit dem Schicksal.
Nach diesem Frühstück, wo es sehr lustig herging, sammelte er eine Viertelstunde lang seine Gedanken und diktierte dann zwei Generälen den Schlachtplan.
Um neun Uhr, als die französische Armee staffelförmig aufgestellt in fünf Kolonnen, die Divisionen auf zwei Linien, die Artillerie zwischen den Brigaden, die Musikbanden vorn, mit fliegenden Fahnen und klingendem Spiel sich entfaltet hatte, da rief Napoleon bei dem Anblick des Gewoges von Helmen, Säbeln und Bajonetten: »Herrlich! Herrlich!«
Zwischen neun und halb elf stellte sich die Armee in sechs Linien auf, die, wie Napoleon sich ausdrückte, die Gestalt von sechs V aufwiesen.
In der sichern Erwartung des Sieges hatte er den Sapeuren, die gleich nach der Erstürmung von Mont-Saint-Jean den Ort befestigen sollten, bei ihrem Vorbeimarsch ermutigend zugelächelt. Derselben Stimmung entstammte auch das hochmütige Mitleid, das er beim Anblick der grauen Schotten und ihrer prächtigen Pferde empfand: »Schade!« rief er aus.
Nur stieg er zu Pferde und nahm Stellung vor Rossomme, auf einer schmalen, grasigen Kuppe, rechts von der Landstraße, die von Genappe nach Brüssel führt. Dies war die zweite Stelle, von der aus er den Gang der Schlacht beobachtete. Der dritte Standort, wo er sich um sieben Uhr Abends befand, ein Hügel, der zwischen La Belle-Alliance und La Haie-Sainte gelegen ist, war ein sehr gefährlicher. Um diese Erhöhung fielen Kanonenkugeln nieder, die von dem Pflaster der Chaussee abgeprallt waren. Dicht bei der Stelle, wo die Füße seines Pferdes standen, sind rostige Kugeln und Säbelklingen aufgelesen worden. Vor einigen Jahren grub man auch eine Granate aus, deren Zünder abgebrochen war. An demselben Ort sagte Napoleon zu seinem Führer Lacoste, der, an den Sattel eines Husaren festgebunden, sich hinter ihn zu verstecken suchte, wenn Kugeln geflogen kamen: »Schafskopf! Schämst Du Dich nicht? Willst Du denn durchaus eine Kugel von hinten bekommen?«
Die wellenartigen Erhöhungen der nach verschiedenen Seiten abgedachten Ebenen, wo Napoleon und Wellington sich begegneten, sind, wie allgemein bekannt, nicht mehr so, wie sie am 18. Juni 1815 waren. Um Material zu einem Denkmal herbeizuschaffen, hat man dem Gelände seine ursprüngliche Gestalt genommen, so dass der Historiker sie nicht wiedererkennt. Um das Schlachtfeld zu verherrlichen, hat man es entstellt. Wellington, als er zwei Jahre nachher Waterloo wieder besuchte, rief aus: »Man hat mein Schlachtfeld verändert.« Wo gegenwärtig die große Erdpyramide mit dem Löwen steht, war damals ein Höhenzug, der nach der Landstraße von Nivelles sanft abfiel, aber nach der Chaussee von Genappe sehr steil war. Seitdem aber tausend und abertausend Wagenladungen Erde zur Errichtung des hundert und fünfzig Fuß hohen Denkmalhügels verwendet worden sind, ist die Hochfläche von Mont-Saint-Jean sanft abgedacht, während sie am Tage der Schlacht, besonders nach La-Haie-Sainte hin, sehr schroff abfiel. Hier konnten die englischen Kanoniere nicht den unten im Tal gelegenen Pachthof sehen, der den Mittelpunkt des Kampfes bildete. Am 18. Juni 1815 hatte noch dazu der Regen in dieser Schroffe tiefe Rinnen gewühlt. Endlich zog sich oben, am Rande des Höhenzuges, ein Graben hin, den man aus der Ferne nicht wahrnehmen, noch erraten konnte.
Was war dies für ein Graben? Wir müssen ihn etwas näher beschreiben. Die Dörfer Braine-l’Alleud und Ohain sind in einer Vertiefung gelegen und durch einen etwa sechs Kilometer langen Weg miteinander verbunden. Hie und da windet er sich zwischen zwei Hügeln hindurch, so dass an diesen Stellen tiefe Schluchten entstehen. 1815, wie noch heutzutage, durchschnitt dieser Weg den Kamm des Plateaus von Mont-Saint-Jean zwischen den Chausseen von Genappe und Nivelles; nur dass er heutzutage, seitdem man, behufs Errichtung des Denkmalhügels, seine Böschungen abgetragen hat, auf gleichem Boden mit der Ebene liegt; damals war er ein Hohlweg, der gut versteckt lag und in Folge dieses Umstandes am Tage der Schlacht zu einer fürchterlichen Bedeutung gelangte.
Also Napoleon war guter Dinge am Morgen der Schlacht bei Waterloo.
Er hatte Recht, war doch der von ihm entworfene Schlachtplan vorzüglich.