Die Eloquenz der Sardine - Bill François - E-Book

Die Eloquenz der Sardine E-Book

Bill François

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Beschreibung

«Die einzigen Tiere, denen ich auf gar keinen Fall begegnen wollte, waren Fische.» Eine Sardine, strahlend und zerbrechlich, befreite Bill François einst als Kind von seiner Angst vor den Fischen und dem offenen Meer. «Sie bat mich, sie zu begleiten, und hob an, mir ihre Geschichte zu erzählen.» Seither ist er nie wieder vollständig auf festen Boden zurückgekehrt. Seither lauscht er den Wundergeschichten der blauen Welt, die er uns in seinem betörenden Buch weitergibt.

Die Meeresbewohner sind keineswegs stumm. Ihre Sprache ist im Gegenteil so vielfältig wie unsere Sinne. Bill François lässt uns die unterseeischen Klänge hören,wo sich das Echo der Eisberge mit den Gesängen der Wale und dem Chor der Fische mischt. Er lehrt uns die Sprache der Farben und Düfte unter Wasser und erzählt vom Atlantischen Lachs, der noch in den Gewässern Grönlands den bretonischen Bach riecht, in dem er geboren wurde. Mit einer Gang von Streetfishern steigt er in den Bauch von Paris hinab, um dessen aquatische Bewohner zu treffen. Ein begnadeter Erzähler, lässt uns Bill François am gesellschaftlichen Leben der Meereswesen teilhaben, berichtet von der Kindheit der Fische, von der Fähigkeit der Buckelwale, ihr Wissen weiterzugeben, und vom Geschlechtswechsel bei den Meerjunkern. Während die Meereswelt durch den Menschen zahllosen Gefahren ausgesetzt ist, vermittelt er uns das Glück, das ein freundschaftlicher Austausch mit ihr uns finden lässt.

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BILL FRANÇOIS

Die Eloquenz der Sardine

Unglaubliche Geschichten aus der Welt der Flüsse und Meere

Aus dem Französischen von Frank Sievers

C.H.BECK

Zum Buch

Eine Sardine, strahlend und zerbrechlich, befreite Bill François einst als Kind von seiner Angst vor den Fischen und dem offenen Meer. «Sie bat mich, sie zu begleiten, und hob an, mir ihre Geschichte zu erzählen.» Seither ist er nie wieder vollständig auf festen Boden zurückgekehrt. Seither lauscht er den Wundergeschichten der blauen Welt, die er uns in seinem betörenden Buch weitergibt.

Denn die Sprache der Meeresbewohner ist so vielfältig wie unsere Sinne. Bill François lässt uns die unterseeischen Klänge hören, wo sich das Echo der Eisberge mit den Gesängen der Wale und dem Chor der Fische mischt. Er lehrt uns die Sprache der Farben und Düfte unter Wasser und erzählt vom Atlantischen Lachs, der noch in den Gewässern Grönlands den bretonischen Bach riecht, in dem er geboren wurde. Mit einer Gang von Streetfishern steigt er in den Bauch von Paris hinab, um dessen aquatische Bewohner zu treffen. Ein begnadeter Erzähler, lässt uns Bill François am gesellschaftlichen Leben der Meereswesen teilhaben, berichtet von der Kindheit der Fische, von der Fähigkeit der Buckelwale, ihr Wissen weiterzugeben, und vom Geschlechtswechsel bei den Meerjunkern. Während die Meereswelt durch den Menschen zahllosen Gefahren ausgesetzt ist, vermittelt er uns das Glück, das ein freundschaftlicher Austausch mit ihr uns finden lässt.

Über den Autor

Bill François hat Physik an der École normale supérieure studiert und forscht über die Hydrodynamik aquatischer Organismen. Daneben hat er Kurzgeschichten geschrieben und den Rednerwettbewerb «Le Grand Oral» von France 2 gewonnen. Beide Welten, die der Wissenschaft und die des Wortes, verbindet er in seiner Leidenschaft für die Flüsse und Meere und die Lebewesen, die sie bevölkern.

Inhalt

Vorher

Fragen Sie die Fische

Eine Welt ohne Stille

Wie die Sardinen in der Büchse

Kleiner Fisch, ganz groß

Muscheln, Austern und Garnelen

Empfehlungen des Tages

Bitte … zeichne mir einen Fisch

Aal unter Asphalt

Seeschlangen

Das Meer ist dein Spiegel

Unter-Wasser-Dialoge

Thun Sie etwas Gutes

Das Ende vom Fischschwanz

Epilog

Literaturhinweise zu diesem Buch finden Sie unter www.chbeck.de/Eloquenz-der-Sardine.

Für meine Mutter, die mir das Glück geschenkt hat, mit Worten Welten zu erschaffen

Für Mickey Taylor, der mir die Poesie der wilden Flüsse in Bilder übersetzt hat

Für die Fische des Mittelmeers, für alle anderen Fische und für all jene, die sie gern entdecken möchten

Für Sie, die Sie die Geschichten der Fische weitergeben

Vorher

Der Felsen war sehr hoch, weshalb ich meine Strandlatschen auszog, um beim Klettern nicht auszurutschen. Barfuß zu gehen fand ich ohnehin angenehmer: Meine Sandalen Marke «Méduse» mit ihren durchscheinenden Plastikriemen und den rostigen Schnallen bereiteten meinen Füßen mehr Qualen als eine Qualle. Außerdem verlangsamten sie im Wasser jeden meiner Schritte. Da waren mir die schroffen Felskanten viel lieber, auch wenn meine Knöchel für den Rest der Ferien mit wasserfesten Pflastern mit Disney-Figuren vollgeklebt waren.

Ich musste bis ganz nach oben. Dieser Felsvorsprung markierte das Ende des Sandstrands, auf dem die Erwachsenen, in ihre Urlaubslektüre vertieft, schliefen. Vor ihm erwartete mich das unbarmherzige «Ferienheft» zum Lernen; dahinter erstreckte sich die wilde Küste. Vom Gipfel hatte ich einen Blick über die gesamte Bucht, sah selbst die Lachen und Rinnen zwischen den Steinen. Mit jeder Welle kam und ging das Meer, einem langsamen Atmen gleich, und wenn es einatmete, wurde das Wasser glatt und durchsichtig, so dass ich sehen konnte, was sich in ihm verbarg. Der ideale Moment, um all die im Meer lebenden Wesen zu beobachten. Ich liebte es, nach ihnen zu suchen, sie beim Einatmen des Meeres zu erspähen und sie mit dem Kescher zu fangen. Aufregend fand ich sie alle: die Strandkrabben mit der Algenperücke, die durchscheinenden Garnelen, die blasenspuckenden Strandschnecken, selbst die scharlachroten Seeanemonen, die ich nicht anzufassen wagte, weil mir die Erwachsenen gesagt hatten, dass sie pieken. Die einzigen Tiere, denen ich auf gar keinen Fall begegnen wollte, waren Fische. Sie lebten weit draußen vor den Felsen, wo ich nicht mehr stehen konnte. Sie machten mir Angst. Meine Eltern brachten manchmal welche vom Markt mit nach Hause, und ich erschrak, wenn ich ihre großen runden Augen sah oder die beiden Spalte am Hinterkopf, mit denen sie aussahen, als hätte man sie geköpft. Aus Angst vor den Fischen wagte ich mich nie über die Lachen und Felsen hinaus. Das offene blaue Meer, das dahinter zu erahnen war, weckte in mir eine tiefe Furcht.

Als das Meer gerade wieder einatmete, sah ich hoch oben vom Felsen am Rande der Wellen etwas aufblitzen. Ein Leuchten, das meinen Blick magisch anzog, vielleicht ein kleiner Schatz, ein Stück Perlmutt oder ein verlorener Gegenstand. Das musste ich mir ansehen. Über die scharfkantigen Felsen stolpernd kam ich dem schimmernden Etwas näher und näher. Und ich sah meine erste Sardine.

Damals wusste ich weder, dass es eine Sardine war, noch, dass man sie nur selten so nah an der Küste antraf. Normalerweise leben Sardinen auf offener See. Diese hier hatte sich offenbar verirrt, vielleicht von Thunfischen an die Küste gejagt, was aber ähnlich selten vorkam, weil es nicht mehr viele Thunfische im Mittelmeer gab. Haben Sie schon einmal eine lebende Sardine gesehen? Nur wenige Leute wissen, wie schön sie aussieht. Die Sardine glänzte silbern und hatte einen schwarzen Rücken, über den sich wie eine Girlande eine elektrisierend blaue Linie zog. An den Seiten funkelte ein breiter goldener Streifen. Die Sardine war zugleich strahlend und zerbrechlich, wie eins dieser Spielzeuge aus Weißblech, auf die ich im Laden immer gleich zurannte, die ich aber immer nur «mit den Augen» berühren durfte. An der Art und Weise, wie sie auf der Seite liegend dahintrieb, von den Wellen drangsaliert, ahnte ich schon, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Auch schien meine Gegenwart sie nicht zu beunruhigen, während sonst die kleinste Garnele die Flucht ergriff, sobald sie auch nur meine Schritte im Wasser spürte.

Ich hob die Sardine vorsichtig mit dem Kescher hoch und betrachtete ungläubig dieses staunenerregende Geschenk des Meeres, das sich nun in meinem Plastikeimer drehte. Die Sardine starrte mich aus ihrem schwarz-weißen Auge an; sie schien mir irgendetwas sagen zu wollen. Mir jedenfalls bedeutete ihr Schweigen, dass sie mir gern gewisse Geheimnisse anvertrauen würde – über das Leben in der blauen Welt, in der man nicht mehr stehen kann, über ihren seltsamen Alltag als Sardine. Ihr Dasein und ihre Art, das Universum wahrzunehmen, machten mich neugierig. Ich fragte mich, durch welche Landschaften und mit welchen anderen Wesen sie normalerweise schwamm und ob sie manchmal mit anderen Sardinen sprach. Plötzlich machte mir das tiefe Wasser keine Angst mehr; plötzlich lockten mich seine stillen Geheimnisse.

Damals ahnte ich noch nicht, dass mich seit dieser ersten Begegnung mit einer Sardine die Begeisterung für die Mysterien des Meeres nicht mehr loslassen würde. Dass sie mich immer weiter hinaus aufs offene Meer tragen würde, wo ich ein unterseeisches Universum entdecken sollte, dessen fesselnde Bewohner ganz und gar nicht schweigsam waren, sondern mir alle, wie sie da waren, ihre Geschichten erzählten.

Aber wie kommunizieren diese Wesen? Mit welchen Sinnen spüren sie die Welt? Ähneln ihr Leben und ihre Gefühle den unseren? Diese Rätsel wollte ich lösen, deshalb bin ich Wissenschaftler geworden. Meine zwei Forschungsgebiete, die Hydrodynamik und die Biomechanik, haben mir einen neuen Blick auf die Meereswelt sowie viele wunderbare Antworten geschenkt – und noch mehr neue Fragen.

Seitdem schwimme, fahre und tauche ich bei Tag und bei Nacht, um diese faszinierenden Lebewesen zu beobachten. Als ich mich damals aus Angst vor den Fischen nicht weiter hinauswagte, als meine Medusensandalen mich trugen, wusste ich nicht, dass ich später meine Arbeitstage damit verbringen würde, die Fische zu studieren, und meine Freizeit, ihnen nachzureisen. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal dem Gesang der Buckelwale lauschen, im Mittelmeer Pottwale besuchen oder Albatrosse zählen oder mit Mantarochen spielen würde … oder dass ich mitten in der Stadt, gleich bei mir um die Ecke, noch viel außergewöhnlicheren Fischen begegnen sollte.

Wasserwärts habe ich auch Menschen getroffen, die ihr Schicksal ans Meer geknüpft haben: Wissenschaftler, die seine Geheimnisse erhellen, Fischer, die in Harmonie mit ihm leben, Ehrenamtliche, die ihre Zeit dafür opfern, es zu schützen. Ich habe mich ihren Unternehmungen angeschlossen, um die unterseeische Welt besser zu verstehen und zu ihrem Schutz beizutragen, aber auch um meinen eigenen Platz in diesem Ökosystem wiederzufinden und einen freundschaftlichen Austausch mit dem Meer zu erlernen. Diese Menschen haben mir beigebracht, wie man die Signale der Delfine liest, wie man Thunfische fängt und sich an Seerobben heranpirscht. Und ich habe von ihnen viele Geschichten erfahren, die von Menschen geschrieben oder erzählt wurden, von der Wissenschaft oder dem Zauber der Legenden beschienen und durch Entdeckungen oder die Poesie der mündlichen Überlieferung gewürzt sind.

Was habe ich aus all diesen Geschichten gelernt?

Ich habe gelernt, dass uns die Meereswelt nicht nur ihre atemberaubende Schönheit schenkt, sondern auch eine ganz besondere Art von Wissen, vor allem über uns selbst.

Mir haben die Meeresbewohner insbesondere das Sprechen beigebracht. Die Art und Weise, wie sie kommunizieren, ein jeder Fisch in seiner Fasson, und wie sie trotz der scheinbaren Stille des Meeres Erzählungen erschaffen, hat mich die Kunst der Rede gelehrt. Dass mir diese erstaunlich redseligen Wesen ihre Geschichten anvertrauten, hat mich dazu angeregt, diese Geschichten weiterzuerzählen. Dank der Fische durfte ich Erzählungen entdecken, die ich mit diesem Buch an Sie weitergeben möchte.

Wir werden gemeinsam in die Tiefen des Ozeans und der Geschichte tauchen, in die Welt der Wissenschaft und die Welt der Legenden. Ich werde Sie mit der Geheimgesellschaft der Sardellenschwärme bekannt machen und mit Ihnen den Gesprächen der Wale lauschen. Auch werden wir einige außergewöhnliche Charaktere kennenlernen, etwa den Aal Åle, der hundertfünfzig Jahre lang in einem Brunnen gelebt hat, oder den Schiffshalter, der sich mit den Aborigines in Australien angefreundet hat. Wir werden uns den Gesang der Jakobsmuscheln und die antike Saga der Wellhornschnecken anhören, die wirklich einmalig ist. Wir werden die neusten Entdeckungen der Wissenschaft, etwa zur Immunität der Korallen oder dem Geschlechtswechsel bei Meerjunkern, unter die Lupe nehmen und uns von den alten Legenden der Seeleute in den Schlaf wiegen lassen – die oft glaubwürdiger sind als die unglaubliche Realität.

Ich hoffe, Sie werden aus der Lektüre dieses Buches auftauchen wie ich nach meinem ersten Schnorchelgang im Meer: mit dem Kopf voller Geschichten und der Lust, sie weiterzuerzählen. Und ich hoffe, Sie werden Ihren Strandurlaub oder Ihren Aquazoobesuch fortan anders erleben und Ihren Goldfisch, Ihre Meeresfrüchteplatte oder Ihr Thunfisch-Sandwich mit anderen Augen sehen.

Die Sardine warf sich in meinem Eimer hin und her und prallte gegen die blauen und rosa Seesternchen, mit denen er verziert war. Offenbar wollte sie mir sagen, dass sie gern wieder ins Meer zurück würde. Also brachte ich sie an die Stelle, an der sich die Bucht zum Meer hin öffnete und das Wasser ruhiger und tiefer war. Einen Balancierkünstler mimend, damit der Eimer nicht umkippte, kletterte ich über die Felsen bis zu einem kleinen Strand, wo ich die Sardine geschützt vor den Brandungswellen ins Wasser ließ.

Während sie sich anfangs noch zögerlich ins offene Meer hinauswagte, bedeutete sie mir, ihr zu folgen. Sie bat mich, sie zu begleiten, und hob an, mir ihre Geschichte zu erzählen.

Wie sie das gemacht hat? Dieses Geheimnis werde ich für mich behalten. Alles, was ich in diesem Buch schreibe, ist wahr, die penibel überprüften Forschungsergebnisse und die Zitate aus alten Büchern ebenso wie meine persönlichen Anekdoten und Beobachtungen, die viele Zeugen bestätigen können. Alle meine Quellen sind zuverlässig und wahrheitsgetreu. Aber dass die Sardine ansetzte, mir ihre Geschichte zu erzählen, das müssen Sie mir bitte einfach glauben.

Die Sache ist lange her, meine Erinnerung getrübt. Doch haben nicht viele schöne Geschichten einen seltsamen Anfang? Folgen wir also einfach der Sardine, wie ich es als Kind getan habe. Hören wir uns ihre Erzählungen an, die meine Sicht auf die Welt des Meeres und auf unsere eigene Welt verändert haben.

Als ich an diesem Tag vom Strand heimkehrte, verbrachte ich den Abend damit, in den Koffern in der Garage nach einer Tauchermaske und einem Schnorchel zu suchen. Ich hatte ein bisschen Angst, dass ich durch den Schnorchel Wasser schlucken oder die Maske nicht dicht halten würde, weil sie zu groß war. Als ich mir die Brille vors Gesicht drückte, wusste ich jedenfalls nicht, dass ich an der Schwelle zu einer neuen Welt stand und nie wieder vollständig auf festen Boden zurückkehren würde.

Fragen Sie die Fische

Wo wir ins Meer tauchen, um zu verstehen, was die Fische im Wasser empfinden.

Wo wir uns fragen, ob unsere Vorfahren womöglich unter Wasser das Sprechen gelernt haben.

Wo wir erfahren, dass Farben und Düfte im Meer eine eigene Sprache sind.

Wo wir entdecken, dass die Untertitel des stillen Ozeans in unsichtbaren Welten gelesen werden.

Das Schwierigste ist, die Schultern unterzutauchen. Solange mir das Wasser nur bis zu den Waden oder bis zur Hüfte geht, bin ich im Grunde noch an Land; ich kann mich an der Wärme der Sonne festhalten. Doch wenn die Schultern untertauchen, erschauere ich unweigerlich. Ich werfe mich in die feindliche Kälte und werde von ihr umhüllt. Ich stürze mich ins Wasser.

Als ich zum ersten Mal ins Meer tauchte, entriss mir die schauderhafte Kälte einen seltsamen Schrei. Da mein Gesicht von einer Tauchermaske bedeckt war, entfuhr meinem Mund nur ein raues Trompeten, das im Schnorchel steckenblieb. Mein gleichsam prähistorisches Brummen war der eigensinnige Ausdruck jenes «Ist das kalt!», das ich in dieser so schlichten wie überraschenden Situation dachte. Den Plastikschlauch im Mund, eine Plexiglasscheibe vor Augen, offenbarte sich mir urplötzlich, klar und neu, eine ansonsten verschwommene, unter den Spiegelungen der Wasserfläche verborgene Welt. Hatte man die Grenze einmal überschritten, wurde man von diesem unwirtlichen, nunmehr durchsichtigen Element sanft getragen. Ich flog, ich sah, ich atmete. Nur sprechen konnte ich nicht. Im Schnorchel wurde meine Stimme zu reinem Atmen, und die ausgestoßenen Worte verwandelten sich in dem Schlauch in animalische Rufe. Es war, als hätte ich einen stillschweigenden Pakt mit den Elementen geschlossen. Was ich dabei gewann: Ich konnte sehen, was das Meer normalerweise verbarg, ich konnte seinen Klängen lauschen und mich in der Schwerelosigkeit des Wassers wiegen. Aber ich verlor die Möglichkeit, mich mit Worten mitzuteilen.

Es war ein seltsames Gefühl, zwischen der Eroberung eines neuen Universums und der Rückkehr in den Urzustand, zu den fernen Anfängen des Menschen, als er noch keine Sprache besaß.

Wasser ist für den Menschen feindlich und einladend zugleich. Wir haben Angst, uns hineinzuwerfen, sind aber wie dafür gemacht. Unser Organismus ist erstaunlich gut darauf eingestellt, unter Wasser zu tauchen. Ein paar Spritzer kaltes Wasser ins Gesicht genügen, um den Tauchreflex auszulösen, der unseren Herzschlag prompt um fast zwanzig Prozent verlangsamt, um uns auf den Atemstillstand vorzubereiten.

Der menschliche Körper besitzt diverse Eigenschaften, die ihm unter Wasser von Vorteil sind, zu viele, als dass es purer Zufall sein kann. Deshalb haben manche Anthropologen die Hypothese aufgestellt, unsere Vorfahren hätten sich anders entwickelt als die Affen und seien zu Menschen geworden, weil sie ins Wasser gegangen seien.

Wie sonst ließe sich erklären, dass wir kein Fell mehr haben, aber dafür eine bei Primaten einzigartige subkutane Fettschicht sowie Millionen riesiger Talgdrüsen, die unsere Haut fetten, ungleich mehr als jedes andere Landtier? Diese rätselhaften und scheinbar nutzlosen Fähigkeiten unseres Körpers, die uns vom Affen unterscheiden, könnten der Anpassung an ein Leben im Wasser gedient haben. Unsere Haut ist wie bei den Meeressäugetieren glatt, das Talgdrüsenfett macht sie undurchlässig, und unsere Fettpolster schützen uns vor Kälte. Und noch etwas ist merkwürdig: Ein neugeborenes Menschenbaby besitzt bereits den Reflex, unter Wasser den Atem anzuhalten, und kann auf dem Rücken schwimmen, während ein junger Schimpanse untergehen und ertrinken würde. Als sich unsere Art vor zwei Millionen Jahren von den künftigen Schimpansen trennte, mussten unsere Vorfahren, um in der trockenen Savanne zu überleben, offenbar am Meer oder in den Sümpfen nach Nahrung suchen. So haben sie sich womöglich aufgerichtet, um tiefer im Wasser stehen zu können. Und beim Untertauchen auf der Suche nach Wurzeln, Seerosenstängeln oder Muscheln lernten sie, ihren Atem zu kontrollieren, so dass im Laufe der Evolution der Kehlkopf absank und sich Stimmbänder herausbildeten. Somit hätten wir durch das Eintauchen ins Wasser die beiden wichtigsten Fähigkeiten in unserer Evolution erlangt: die Zweibeinigkeit und die Sprache.

Wie glaubhaft ist diese Hypothese? Als sie sich in den 1960er Jahren verbreitete, provozierte sie Skepsis und Widerspruch. Dass es in unserer Evolution ein «fehlendes Bindeglied» gegeben haben könnte, ein Tier, das ausschließlich unter Wasser lebte, ist wohl eine übertriebene und auch nicht belegbare Behauptung. Aber aktuelle Untersuchungen afrikanischer Fossilien legen nahe, dass Gewässer vor eineinhalb bis zweieinhalb Millionen Jahren im Süden Afrikas eine wichtige Rolle in der Evolution des Menschen gespielt haben. Um in der Trockenzeit zu überleben, mussten die Tiere in den Oasen nach Nahrung suchen, weshalb die Anpassung ans Wasser für sie unerlässlich war. Das könnte dazu geführt haben, dass die ersten Menschen den Schutz der Wälder verließen, um sich aufs offene Land vorzuwagen und den Rest der Welt zu erobern.

Wir sind von den Bäumen gestiegen, aber das Meer haben wir nie wirklich erobert. Fragen Sie die Fische: Was wir unter Wasser sehen, ist beileibe nicht alles. Denn nur zu sehen ist längst nicht genug.

Schon bei meinen allerersten Tauchgängen auf den felsigen Meeresgrund des Mittelmeers entdeckte ich staunend das vielfältige Leben unter Wasser. Ich sah die Grellen und Geißbrassen unter Gischt und Felsen stehen und war fasziniert von diesem Schauspiel. Wie auf einer Bühne erblickte ich Bilder voller Licht und Bewegung und hörte das geheimnisvolle Brausen und Sprudeln. Dabei glaubte ich, das Schauspiel in seiner Gänze zu erleben. In Wahrheit aber sah ich nur einen Ausschnitt davon. Ich sah einen Stummfilm ohne Untertitel. Und wusste nicht, dass sich hinter den Bildern mannigfache Dialoge verbargen.

Zum Beispiel gibt es Untertitel, die in der Sprache der Düfte verfasst sind. Im Meer sind die Düfte eine eigene Sprache. Das Wasser ist voller Gerüche, die wir Menschen nicht riechen können. Wenn wir untertauchen, halten wir uns meist die Nase zu – oder die Tauchermaske macht das für uns, was ihr einen klaren Vorteil gegenüber der Taucherbrille verschafft. Denn Wasser zu schlucken, vor allem durch die Nase, ist unangenehm. Andererseits kann unsere Nase dann die Gerüche des Meeres nicht mehr wahrnehmen.

Dabei führen die Fluten unzählige Geruchsmoleküle mit sich. Die Fische können sie riechen, sie wohnen in einer Galaxie aus Düften. Fische können im Wasser feinste Nuancen unterscheiden und noch weit entfernte und schwache Gerüche erkennen. Mancher Geruch brennt sich uns ins Gedächtnis ein: ein bestimmter Ort, alte Bücher, eine Jahreszeit, eine Person. Und wenn wir ihn erneut riechen, kehren unauslöschliche Erinnerungen zurück. Das Gedächtnis der Fische ist voller solcher Erinnerungen.

Der Atlantische Lachs riecht noch in den Gewässern Grönlands den bretonischen Bach, in dem er geboren wurde, und schwimmt dessen Geruch entgegen, bis er wieder an der Mündung anlangt. Die Erinnerung indes ist jahrealt; da war der Lachs noch ein Jungfisch und stieg sommers an die Wasseroberfläche, um seine Schwimmblase zu füllen und die Abenddüfte in sich einzusaugen. Eine winzige Konzentration an Geruchsmolekülen, nur ein paar Tropfen im Ozean kommen aus diesem einen Bach und verschwimmen mit immensen Mengen von Tropfen aus unzähligen anderen Bächen und Flüssen. Aber der Lachs erkennt und findet sie immer wieder.

Außerdem rufen die Gerüche so starke Gefühle hervor, dass die Fische sie benutzen, um miteinander zu sprechen. Wo unser Auge nur Fische im Wasser schwimmen sieht, ist deren Umgebung voll von den unsichtbaren Verwirbelungen ihrer Gefühlsdüfte, der Pheromone, die ihre Stimmungen wiedergeben. Des Geruchs von Stress, von Liebe, von Hunger … Alle diese Düfte richten sich an einen Adressaten, werden aber bisweilen auch von Nasen gerochen, für die sie nicht gedacht sind. So warnt der Angstgeruch eines kleinen Fisches seine Artgenossen vor der Gefahr, wirkt aber auch auf Raubfische appetitanregend. Die Jungfernfische, in Korallenriffs lebende farbenfrohe Tiere, kehren diesen Schwachpunkt in ihrer Kommunikation in einen Vorteil um. Wird einer von ihnen von einem Raubfisch verletzt und gefangen, so stößt er noch mehr Alarmmoleküle aus – um noch mehr Raubfische anzulocken! Und während sich die Räuber um ihre Beute zoffen, nutzt der Jungfernfisch die Verwirrung und ergreift die Flucht.

Wer den Meeresgrund mit Maske und Schnorchel erkundet, ist wie an den Himmel geheftet. Er entdeckt ein neues Universum, indem er es überfliegt. Je weiter er sich vom Ufer entfernt, umso tiefer wird das Wasser. Und je tiefer das Wasser, umso blauer wird es, bis schließlich zum fernen Grund hin alle Farben in einem einzigen Tintenton zusammenfließen. Dieses Blau wiederum verschleiert eine weitere Art von unsichtbaren Untertiteln des Meeresschauspiels: seine unsichtbaren Farben.

Das Wasser lässt die Farben verschwinden. Das von der Sonne kommende Licht enthält anfangs noch alle Wellenlängen der Farben. Doch je tiefer es ins Meer dringt, auf umso mehr Wassermoleküle trifft es, die die Farben absorbieren. Wassermoleküle gieren nach Farbe; zuerst schlucken sie die «warmen» Farben mit der größten Wellenlänge: Rot, Orange und Gelb … In fünf Metern Tiefe gibt es schon kein Rot mehr: Alles, was rot war, zerfließt zu Blau, die wahre Farbe ist nicht mehr zu erkennen. Während das Licht weiter nach unten dringt, verliert es nach fünfzehn Metern seine gelbe Farbe und nach dreißig Metern alles Grün. Schließlich bleibt nur noch Blau. Ab sechzig Metern Tiefe ist das Meer in unseren Augen eintönig azurn. Dann verschwindet sogar das Blau, und wir sinken in die Finsternis der Tiefsee: Bei vierhundert Metern gibt es kein von der Sonne kommendes Licht mehr. Die Dunkelheit wird nur noch von lumineszierenden Lebewesen erhellt. Aber der Lichtstrahl, der ins Wasser taucht, enthält noch eine andere, unsichtbare Strahlung: die Ultraviolettstrahlung. Es sind Farben von sehr kurzer Wellenlänge, «blauer als blau», die unser Auge nicht wahrnehmen kann, weil seine Linse sie blockiert. Fische dagegen können diese Farben sehen; ihre Welt wird davon erleuchtet, wo wir Menschen nur noch Blau erblicken. Manche Landschaften und Tiere erscheinen uns unter Wasser fad; würden wir sie aber mit einem Gerät beobachten, das Ultraviolettstrahlung erkennen kann, wir würden freudestrahlend ihre bunten Muster und ihre unzähligen farbigen Flecken und Streifen bewundern.

Im Meer ist die Farbe eine eigene Sprache. Zahlreiche Arten können, um sich zu verständigen, auf Kommando schneller als ein Chamäleon die Farbe wechseln. Betrachtet man die Haut eines Fisches unter der Lupe, so sieht man verschiedenfarbige winzige Punkte. Das sind die Chromatophoren, pigmentierte Zellen, die der Fisch, sooft er will, ausdehnen und wieder schrumpfen lassen kann. Indem er nur bestimmte Chromatophoren ausdehnt, kann er selbst entscheiden, welche Färbung er hat, so als würde er sich seine Pixel selbst zusammenstellen. Und er kann sogar über das Muster entscheiden. All diese Signale verwendet er, um sich mitzuteilen und mit anderen Fischen zu sprechen. Die Kommunikation ist derart subtil, dass sie für uns großenteils noch ein Geheimnis ist. Denn die Farbe übermittelt nicht nur Informationen, sondern auch Lügen. Es gibt die wahrhaftigen Farben, etwa die Augenfarbe der Lachse, mit denen diese ihren Gemütszustand mitteilen, aber es gibt auch die Augenflecken der Goldmaid: Sie lügen, da sie die Augen von Raubfischen imitieren. Und es gibt die polarisierten Signale der Fangschreckenkrebse, die nur sie selbst entschlüsseln können und die auf ihrem Panzer wie 3D-Filme für 3D-Brillen mit Polarisatoren codiert sind.