Die enthauptete Frau - Dumas Alexandre - E-Book

Die enthauptete Frau E-Book

Dumas Alexandre

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Beschreibung

Auf Grund der Einladung eines alten Freundes war der 27jährige Alexandre Dumas 1831 zur Jagd in einer Gegend rund um ein kleines Dorf in Frankreich als er einen Mann begegnete, der einen wahnsinnige Ausdruck im Gesicht hatte und angab, seine Frau im Weinkeller mit einem Zweihänderschwert enthauptet hat und das der abgeschlagene Kopf noch mit ihm gesprochen hat. Zur Protokollierung seiner Aussage begab sich der bekannte Schriftsteller in das Haus des Bürgermeisters und wurde zum Verbleib eingeladen. In der Mitte einer illustren Gesellschaft hörte er merkwürdigen und phantastischen Geschichten, die er für uns aufzeichnete, welche von jenen bizarren vierundzwanzig Stunden, die er in einem französischen Dorf verbrachte, berichten.

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Seitenzahl: 319

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Alexandre Dumas

Die enthauptete Frau

Impressum

Texte:             © Copyright by Alexandre Dumas

Umschlag:      © Copyright by Walter Brendel

Übersetzer: © Copyright by Unbekannt

Verlag:

Das historische Buch, Dresden / Brokatbookverlag

Gunter Pirntke

Mühlsdorfer Weg 25

01257 Dresden

[email protected]

 

Inhalt

I. Der wahnsinnige Mörder

II. Der Weinkeller

III. Die Untersuchung

IV. Dumas im Haus der Bürgermeisters

V. Ein Bericht über Tatsachen

VI. Man dringt in eine Liebesgeschichte ein

VII. Die Geschichte geht weiter

VIII. Horrorerscheinungen

IX. Die toten Könige und der Pöbel

X. Der bestohlene Tote

XI. Das Andenken des Toten

XII. Die Erzählung der bleichen Dame

XIII. Schlussbemerkung

I. Der wahnsinnige Mörder

Einige der unwahrscheinlichsten und mysteriösesten Abenteuer in der Welt hatten ihren Anfang in den prosaischen Umständen des Alltäglichen. Und so war es auch mit dem, was nun folgt. Gegen Ende August des Jahres 1831 erhielt ich eine Einladung von einem alten Freund — einem wichtigen Regierungsbeamten, der mit der Verwaltung des Besitzes der Krone zu tun hatte. Er bot mir an, den Beginn der Jagdsaison in diesem Jahr mit ihm und seinem Sohn in Fontenay-aux-Roses zu verbringen.

Zu jener Zeit war ich ein guter Waidmann, und die Wahl der Gegend, in der ich meinen ersten Schuss der Saison abzufeuern beabsichtigte, war natürlich von großer Bedeutung für mich. Früher wohnte ich immer bei dem alten Bauern Mocquet, dem Gutspächter und Freund meines Schwagers, dessen vornehmes Haus ganz in der Nähe des Ortes Morienval stand, keine drei Meilen entfernt von der herrlichen Schlossruine Pierrefonds. Auf seinem Grund und Boden hatte ich zum ersten Mal mit einem Gewehr hantiert, und dort auch hatte ich meinen ersten Hasen geschossen.

Während dieses Jahres allerdings wurde ich dem alten Mocquet untreu, denn gern gab ich der drängenden Überredungskunst meines wohlhabenden Freundes nach. Die Wahrheit ist, dass meine Phantasie angeregt worden war durch eine Landschaftsmalerei, die mir sein Sohn, ein angesehener junger Künstler, geschickt hatte. Auf diesem Bild erschienen die Ländereien um Fontenay regelrecht überfüllt von Hasen, und im Gebüsch schwärmte es nur so von Rebhühnern. Und was konnte attraktiver sein für einen Mann, der seine Büchse liebt?

Aber vielleicht sollte ich doch erklären, dass ich ansonsten nichts über die besagte Gegend wusste. Ich war noch nicht selbst dort gewesen, zumal ich im Grunde ohnehin unschlagbar bin, was die Unkenntnis der Pariser Umgebung angeht. Denn immer, wenn ich die Stadt verlasse, tue ich dies für Reisen über mindestens fünfzehnhundert Meilen. Das mag vielleicht erklären, warum eine meiner so seltenen Besuchsfahrten in die schöne nähere Umgebung mich stets so sehr interessiert, ja, zuweilen unglaublich fasziniert.

Da ich die Einladung nun angenommen hatte, machte ich mich am Einunddreißigsten abends um sechs Uhr auf den Weg, und meine Nase klebte wie üblich wieder am Fenster des Wagens. Schnell passierten wir die Barriere de l'enfer, und, nachdem wir die rue de la Tombe-Issoire links hinter uns gelassen hatten, ging es auf der Straße nach Orleans in gemütlichem Tempo weiter.

Das recht flache Land zwischen den Dörfern des Kleineren und Größeren Montrouge vermittelt, vielleicht aufgrund seiner natürlichen Kälte, eine unheimliche und beklemmende Stimmung. Und diese Stimmung wird noch betont durch die Silhouetten von hier und da hingestreuten seltsam hageren und primitiven kranartigen Aufbauten, die für Steinblöcke verwendet wurden, welche an den abschüssigen Seiten der Steinbrüche, die hier überall anzutreffen sind, in die Höhe gezogen werden, nachdem sie bearbeitet und geschnitten worden sind. Und es ist auch nicht übertrieben, wenn ich sage, dass diese riesigen Maschinen auf den ersten Blick aussehen wie diabolische Folterwerkzeuge, die direkt aus den Tiefen der Hölle emporgestiegen sind.

Beim Einbruch der Nacht (denn das Zwielicht ging immer mehr in Dunkelheit über, während wir diesen offenen Landstrich durchfuhren) nahm die Landschaft — dank der unbeschreiblichen Anzahl dieser sich bewegenden Räder, die sich scharf abhoben gegen das flammende Rot des Abendhimmels — das phantastischste Aussehen an. Sie ähnelte mit frappierender Originaltreue einem jener erschreckenden Gemälde von Goya, auf dem im bedrückenden Schimmer einer feuchten Abenddämmerung die Schatten von Leichenfledderern um den Fuß eines Galgens kriechen.

Die Menschen, die hierzulande wohnen und in den unterirdischen Stollen arbeiten, verfügen über eine ganz eigene Mentalität und Physiognomie. Die Männer, die viele ihrer Arbeitsstunden in der Dunkelheit verbringen, haben ein entsprechend >dunkles< Temperament.

Von >Unfällen< wird hier regelmäßig berichtet: Ein Stützpfeiler hat nachgegeben, ein Tau war morsch, ein Mann ist zu Tode gequetscht worden. Zu ebener Erde nennt man so etwas Pech; aber zehn Meter tiefer weiß jeder, dass es geplante, vorausberechnete Verbrechen sind.

Sie sind auch keine Leute, die man auf Anhieb mag, wenn man ihnen begegnet. Bei Tage haben ihre Augen einen unangenehmen — gar durchtriebenen — Ausdruck, und ihre Stimmen sind abstoßend rau. Was ihre Gesichter angeht, so spüren sie niemals die Frische einer Rasur auf der Haut, außer sonntags. Und ihre schlampige Kleidung besteht für gewöhnlich aus einer verschmutzten Weste, aus der ein Hemdkragen aus billiger grauer Baumwolle ragt, einer groben blauen Hose und einer abgetragenen Lederschürze.

In Zeiten sozialer Unzufriedenheit versäumen es diese Männer selten, sich bemerkbar zu machen. Wenn beispielsweise zu hören ist, wie die Anwohner der Barriere d'Enfer ausrufen: »Seht nur, da kommen die Steinhauer von Montrouge!« dann schütteln die braven Bewohner der benachbarten Straßen ihre Köpfe und verriegeln ihre Türen so fest es nur geht. Das war es also, was ich während jener Stunde des Zwielichtes zwischen Tag und Dunkelheit wahrnahm.

Dann, als es ganz dunkel wurde, setzte ich mich bequem in meinem Sitz zurück, war auf merkwürdige Weise zufrieden und davon überzeugt, dass nicht einer meiner Reisegefährten in der Kutsche bemerkte, was ich gesehen hatte. So ist es mit vielen Dingen — viele schauen, aber wenige sehen jemals wirklich etwas ...

Gegen halb neun kamen wir in Fontenay an. Ein vorzügliches Abendbrot erwartete uns, und anschließend gingen wir einige gemächliche Schritte durch den Garten. Wenn es stimmt, dass Sorrent ein einziger Wald von Orangenbäumen ist, dann ist Fontenay ein ganz erstklassiger Rosenstrauß. Jedes Haus hatte sein Rosenspalier an der Wand, und wenn seine Zweige eine bestimmte Höhe erreicht hatten, breiteten sie sich oben in einem riesigen Fächer aus. Die Luft ist schwer von betäubendem Duft, und wenn eine Brise aufweht, regnet es Rosenblätter — weiße, rosige, gelbe und goldene, ganz so, als feierte das Dorf ein fröhliches und unvergessliches Fest.

Vom tiefer gelegenen Ende des Gartens aus hätten wir, wäre es Tag gewesen, einen weiten und eindrucksvollen Ausblick gehabt. Trotzdem verliehen die bunten und blitzenden Lichter von Sceaux, Bagneux, Chatillon und Montrouge, die weit in der Ferne zu sehen waren, der Nacht eine angenehme Wärme. Ganz hinten in weiter Ferne erstreckte sich ein langes, schmales Band von rötlicher Leuchtkraft über den Horizont, und man meinte ein schwaches, dumpfes, unablässiges Rumpeln zu hören, als atme ein unnatürlicher Leviathan. Das war das pulsierende Leben im weiten und verborgenen Herzen von Paris ...

Um Punkt fünf Uhr am nächsten Morgen machten wir uns, geführt vom Sohn unseres Gastgebers, mit unseren Büchsen auf den Weg. Vom Moment unserer Ankunft an hatte er uns überschüttet mit überzeugenden Versicherungen, dass dies der beste Jagdgrund sei, den wir hätten wählen können, und noch jetzt auf unserem Weg prahlte er damit, wie lohnend die Jagdgründe in seinem Revier doch wären — so sehr, dass

seine Begabung des Beschreibens eigentlich noch eine — bessere — Fortsetzung verdient hätte.

Um Mittag sahen wir ein Kaninchen und zwei Rebhuhn Paare. Das Kaninchen war von meinem rechten Nebenmann verfehlt worden, ein Rebhuhn wurde von meinem linken Nebenmann gestreift, und von den übrigen drei Vögeln erlegte ich zwei. In dieser Zeit hätte ich mit dem alten Mocquet schon drei oder vier Hasen und acht oder noch mehr Pärchen von Rebhühnern ins Haus schicken können!

Nichts mag ich lieber als das Schießen — aber ich verabscheue das ziellose Herumstreunen, besonders im offenen Land. Aus diesem Grunde gab ich vor, ich wolle ein Feld mit Luzerngras inspizieren, das weit links herüber gelegen war — obwohl ich absolut sicher war, nicht das Geringste daran aufzuspüren —, und verließ die Gruppe, um mich zu verdrücken.

Was mich allerdings wirklich interessierte, war der Umriss des Feldes. Es war sehr viel breiter als lang, gekrümmt, sodass das andere Ende überhaupt nicht zu sehen war, und ziemlich in der Mitte formte es sich zu einem Miniaturtal oder einer kleinen Delle, die weiter hinten in der Krümmung der Kurve verschwand.

Es war klar, dass dieses Tal mich vor den Blicken meiner Mit-Jäger bewahren und mir eine schnelle Flucht erleichtern würde. Und meine Vermutung, dass es mich mehr oder weniger direkt zurück zum Hauptweg führen würde, erwies sich als richtig. Denn gerade als es vom Turm der Gemeindekirche eins schlug, erreichte ich die nächste Straße der kleinen Stadt. Der Weg, auf dem ich weiterging, führte an einer Mauer entlang, die ein prächtiges herrschaftliches Haus und seine Anlagen umgab. Plötzlich, gerade als ich die Straßengabelung erreicht hatte, an der die rue de Diane auf die Grande Rue trifft, sah ich einen Mann direkt aus der Richtung der Kirche auf mich zulaufen.

Sein Gesichtsausdruck, sein ganzes Benehmen war so wild, so verstört und unglücklich, dass ich wie angewurzelt stehenblieb und in einem zwangshaften Gefühl der Selbsterhaltung den Hahn meines Gewehrs spannte.

Blass, mit gesträubten Haaren und den Bewegungen eines Irren, mit weit aufgerissenen, hervortretenden Augen, wirr, und mit Händen, von denen Blut tropfte, lief er an mir vorbei — offenbar, dem Himmel sei Dank!, ohne mich gesehen zu haben! Sein Blick war gespannt und doch undeutlich verschwommen; seine Art zu gehen war die eines Menschen, der einen fast senkrechten Berggrat herabsteigt und fast die gesamte Kontrolle über seine Bewegung verloren hat. Und zugleich schien mir sein Atem, der deutlich vernehmbar in seiner Kehle rasselte, eher höchste Angst als höchste Erschöpfung anzuzeigen.

An der Stelle, wo sich die beiden Straßen gabeln, verließ er die Grande Rue und schwenkte ein in die rue de Diane. In dieser Straße befand sich der Torweg zu dem Haus und den dazugehörigen Anlagen und die Mauer, an der ich die letzten sieben oder acht Minuten entlanggegangen war. Der erwähnte Eingang, den ich in diesem Augenblick erspähte, war grün angestrichen und trug die Nummer zwei.

Die Hand des Mannes streckte sich nach der Torglocke und schien sie anfangs gar nicht zu erkennen.

Dann, als der Mann sie sah, läutete er heftig, drehte sich abrupt um und ließ sich auf einen der Steinpfeiler fallen, die dazu dienten, die Säulen des Haupttores gegen Beschädigungen von Wagenrädern zu schützen. So saß er die ganzen nächsten Minuten da, steif wie ein steinernes Standbild, ließ die Arme kraftlos herabhängen und hatte den Kopf auf die Brust gesenkt.

Trotz des Sonnenscheins und des wolkenlosen Himmels war die Atmosphäre in dieser Stunde durchdrungen von Tragik und Angst, und das in solchem Maße, dass ich wie angewurzelt nur einige Meter von dem Fremden entfernt stehenblieb. Hinter ihm versammelte sich auf beiden Seiten der Straße eine Gruppe Einheimischer, zweifellos angelockt von jener unwiderstehlichen Faszination, der ich selber erlegen war. Etwa eine Minute nach dem heftigen Läuten am Tor öffnete sich eine kleine Tür, die in die Mauer beim Haupteingang eingelassen war, und eine etwas beleibte Frau etwa Mitte Vierzig erschien auf der Schwelle.

»Ach, du bist es, Jacquemin!« rief sie und klang ein wenig ungehalten. »— — und was denkst du dir eigentlich . .. da herumzusitzen wie ein Schwachsinniger?«

»Ist der Bürgermeister da?« erwiderte der Mann, und seine Stimme war so rau, dass man das letzte Wort kaum mehr verstehen konnte.

» Ja, er ...«

»Danke, Mere Antoine. Würden Sie wohl so gut sein und hineingehen und ihm sagen, dass ich meine Frau umgebracht habe und dass ich hier bin, um mich zu stellen?«

Mere Antoine stieß einen unterdrückten Schrei aus, dann folgten zwei oder drei ängstliche Ausrufe, die sogleich von all jenen Zuschauern aufgenommen wurden, die nah genug waren, das Geständnis hören zu können.

Ich reagierte meinerseits mit einem kleinen Schritt rückwärts, so dass ich mich gegen den Stamm einer nahen Linde lehnen konnte. Nichts und niemand regte sich, und aus Spannung geborenes, lähmendes Schweigen kroch durch die Straße.

Der Mörder glitt geistesabwesend von seinem Platz auf dem Pfeiler herab, bis er ganz auf dem Boden saß, mit dem Rücken gegen den Stein gelehnt, die Beine steif bis auf die Straße ausgestreckt. Es schien, als wäre ihm mit der Anstrengung der Beichte nun auch der letzte kleine Rest seiner Kraft ausgegangen.

Inzwischen war Mere Antoine verschwunden. Sie hatte die kleine Tür einen Spalt weit offengelassen, und nach weiteren fünf Minuten erschien der Bürgermeister in Begleitung zweier Männer.

Ich habe die Eindrücke der ganzen nächsten Stunden mit solcher Intensität in mich aufgenommen, dass ich mich noch heute an jede noch so winzige Kleinigkeit erinnern kann. Vor allem werde ich nie den Bürgermeister von Fontenay vergessen, einen imposanten Mann von überdurchschnittlicher Statur, wie er dastand und den gebeugten Jacquemin überragte.

Die beiden anderen Männer — auf die ich im Einzelnen noch später zurückkommen werde — blieben still in der schmalen Pforte stehen, und ein Stück weiter weg auf der Straße stand eine Gruppe von Männern zusammen mit einer Frau und einem Kind und starrten herüber — das Kind voller Furcht. Es schrie in den höchsten Tönen, damit es seine Mutter noch fester in die Arme nehmen sollte. Hinter ihnen steckte ein Bäcker den Kopf aus einem Fenster im ersten Stock und rief einem jungen Kerl, der auf dem Gehsteig umherschlenderte, mit lauter Stimme zu:

»Das ist doch Jacquemin, der verrückte Steinhauer, oder?«

Und schließlich stand ganz am Ende der Straße ein Schmied im Eingang zu seiner Werkstatt, und seine bullige Figur zeichnete sich genau ab vor seinem hell leuchtenden Feuer, das ein Junge mit einem Blasebalg in Betrieb hielt ... das war alles, was sich in der Grande Rue abspielte.

Als ich die rue de Diane hinunterschaute, sah ich außer der schon erwähnten Gruppe noch zwei Gendarmen zu Pferde, wie sie zufällig diesen Weg einschlugen.

Noch wussten sie glücklicherweise nichts von der unangenehmen Arbeit, die sie erwartete. In diesem Augenblick schlug es genau viertel vor eins vom Glockenturm der nahen Kirche.

II. Der Weinkeller

Noch waren die letzten Schwingungen der Glocke nicht verhallt, da begann der Bürgermeister zu sprechen.

»Jacquemin«, sagte er mit leicht bombastischem Einschlag, »ich hätte mir gleich denken können, dass Mere Antoine Unfug erzählt oder dich nicht richtig verstanden hat. Denn sie sagt mir, dass deine Frau tot ist und dass du angibst, sie getötet zu haben!«

»Es ist die Wahrheit, Euer Gnaden, es ist die Wahrheit«, entgegnete der Mann. »Sie müssen schnell nach der Polizei schicken!«

Und während er noch diese Worte sprach, versuchte er sich zu erheben und richtete sich dann auf, indem er nach dem oberen Ende des kleinen Steinpfeilers griff.

Doch nach einem kurzen mühsamen Versuch fiel er wieder zurück, als seien seine Beine gebrochen.

»Langsam, langsam! — Du scheinst nicht ganz bei Verstand zu sein, Mann!« protestierte der Bürgermeister.

Doch die einzige Antwort, die er von Jacquemin erhielt, war ein monotones, schwerfälliges und stumpfes Murmeln: »Sehen Sie doch . .. meine Hände!«

Und mit diesen Worten hob er langsam zwei halbgeballte Fäuste, die buchstäblich in Blut getaucht waren, sodass sie aussahen wie die Krallen eines Raubvogels. Der linke Arm war bis über das Handgelenk rot von Blut, und der rechte leuchtete bis zum Ellenbogen hinauf blutrot. Außerdem rann eine Spur frischen Blutes den rechten Daumen hinab und tropfte regelmäßig in den Staub des Weges. Es kam aus einer Wunde, die aussah wie ein Biss, und die dem Mann von seinem Opfer im Todeskampf beigebracht worden sein konnte.

Inzwischen waren nun auch die beiden Gendarmen herbeigekommen, mit ihren Pferden zehn Schritte vor dem wahnsinnigen Steinhauer stehengeblieben und schauten in höchstem Maße erstaunt auf ihn herab.

Der Bürgermeister gab ihnen ein Zeichen. Sie stiegen von ihren Pferden und warfen die Zügel einem jungen Burschen zu, der eine Uniformmütze trug.

Dann gingen sie hinüber zu Jacquemin und hoben ihn hoch, indem sie ihm unter die Achseln griffen. Er zeigte keinerlei Widerstand, denn all seine Energie konzentrierte sich darauf, seinem Verstand zur Abwehr jeglicher konkreter Gedanken zu verhelfen.

In diesem Moment erschienen der Polizeichef und ein Arzt, denen eine Nachricht überbracht worden war, dass ihre Anwesenheit unerlässlich sei.

»Vielen Dank, dass Sie gekommen sind, Dr. Robert — vielen Dank, Monsieur Cousin«, sagte der Bürgermeister. »Und was ist hier nun los?« fragte der Doktor in seltsamerweise entspanntem und fast familiärem Umgangston, der sich auf groteske Weise von der allgemeinen Stimmung abhob. »Da soll irgendwer einen Mord begangen haben, sagte man mir.« Und dann wiederholte er noch einmal seine Frage.

»Na nun, alter Freund«, fuhr der Arzt fort, »ist da irgendetwas dran an der Geschichte, dass du deine Frau getötet hättest?«

Doch die Lippen des Steinhauers blieben fest zusammengepresst. Darum wandte sich Dr. Robert nun dem Polizeichef zu. »Er mag sich ja selbst bezichtigt haben«, sagte er, »aber als Mediziner habe ich doch noch die Hoffnung, dass es sich dabei nur um eine vorübergehende Selbsttäuschung handelt, die von einem hässlichen Unfall oder Zufall herrühren kann. Sowas passiert schon mal ...«

»Jacquemin«, befahl nun der Polizeichef. »Antworte mir auf der Stelle! Ist es wahr, dass du deine Frau umgebracht hast?«

Doch als Antwort wieder nur das gleiche stumpfe Schweigen.

»Na wenn schon. Wir können das ja selbst sehr leicht herausfinden«, bemerkte der Arzt. »Er wohnt in der Impasse des Sergens, nicht?« Und er drehte sich zu den beiden Gendarmen um, die ihm bestätigend zunickten.

»Das wär's dann also, Herr Bürgermeister. Dann werden wir eben zu ihm nach Hause gehen!«

»Ich will nicht, ich will da nicht hin!« heulte plötzlich Jacquemin auf, der seine Sprache wiedergefunden zu haben schien und sich aus dem festen Zugriff des Schutzmannes mit einer so unerwarteten und heftigen Drehung befreite, dass er ohne weiteres hundert Meter weiter hätte sein können, bevor irgendjemand begriffen hätte, was vorgefallen war, wenn er die Absicht zu fliehen gehabt hätte.

»Und warum willst du da nicht hingehen, guter Mann?«

»Wozu denn noch, wenn ich doch schon alles gestanden habe? Wenn ich nochmal wiederhole, hier, vor euch allen, dass ich meine Frau umgebracht habe — dass ich sie

mit dem großen Zweihänderschwert getötet habe — das ich voriges Jahr vom Musee d'Artillerie bekommen habe? . . . Werft mich doch ins Gefängnis. Jetzt sofort! Bitte, werft mich doch gleich ins Gefängnis!«

Der Doktor und Monsieur Ledru sahen sich an, und der Polizeichef, der auch hoffte, dass es sich bei Jacquemin nur um einen Fall von Halluzination handelte, sagte leise:

»Aber, aber. Mein guter Freund. Wir müssen schließlich erst einmal herausfinden, was eigentlich vorgefallen ist. Und außerdem ist deine Anwesenheit eine wichtige Hilfe für die Polizei.«

»Was soll denn das! Was kann ich denen denn schon helfen?« fragte Jacquemin. »Die finden sie im Keller, und zwar ohne mich. Was können die denn von mir wollen, außer mich in eine Zelle zu sperren?«

»Es tut mir leid, aber es ist unumgänglich«, rief der Polizeichef.

»Mein Gott! Mein Gott!« schluchzte der entsetzte Steinbrucharbeiter auf; man sah ihm seine furchtbare Angst deutlich an. »Mein Gott! — Wenn ich das gewusst hätte, dann — —«

» Ja? Was dann? « wollte Monsieur Cousin wissen. »Dann hätte ich mich gleich mit umgebracht!«

Monsieur Ledrus Gesichtsausdruck veränderte sich merklich, als er den Polizisten fragend ansah. Dann sagte er, wieder zu dem Mörder gewandt, mit leiser, fast freundlicher Stimme: »Na, komm schon, Jacquemin; hab keine Angst — erzähl mir einfach alles, was du weißt.«

» Ja, Monsieur Ledru, Ihnen werde ich alles sagen, alles, was Sie nur wollen, aber bitte, bitte, nehmen Sie mich nicht wieder mit dahin zurück, bitte nicht mehr nach Hause!«

»Wie soll ich das bloß verstehen? Wenn du den Mut gehabt hast, einen Mord zu begehen, warum hast du dann solche Angst, dir dein Opfer noch einmal anzusehen?

Es kommt mir fast so vor, als gäbe es da noch etwas, was du uns nicht zu sagen wagst!«

»Wo- woher wissen Sie? Ja, da ist noch etwas. Etwas ganz Entsetzliches, etwas, das noch niemand gehört hat . . .«

»Na, raus mit der Sprache!«

»Ich kann nicht! Sie würden es mir doch nicht glauben. Sie würden doch nur denken, dass es das Gefasel eines Durchgedrehten wär ... und dann würden Sie mich ja doch nur in eine Anstalt stecken.«

»Nein, aber nein. Das wollen wir doch gar nicht. Wenn du uns jetzt sagst, was wirklich passiert ist, werden wir es bestimmt nicht tun . . .«

Und mit dem Grinsen und dem widerspenstigen Blick eines geisteskranken, ungezogenen Kindes beugte der Steinhauer sich dicht zu Monsieur Ledrus Ohr hinüber und flüsterte: »Ja, ich sag's Ihnen, aber nur Ihnen!«

Die beiden Gendarmen wollten ihn zurückhalten, aber der Bürgermeister gab ihnen schnell ein Zeichen, ihn wieder loszulassen. Für ihn bestand darin keinerlei Risiko, denn auch wenn der Gefangene fliehen wollte, wäre das wegen der Menschenmenge kaum möglich gewesen. In der Tat blockierte halb Fontenay die rue de Diane und die Grande Rue.

Darum durfte Jacquemin dort bleiben, wo er war — ein paar Zentimeter vor Monsieur Ledrus Ohr.

»Glauben Sie, Herr Bürgermeister«, fragte er mit vor mühsamer Beherrschung bebender Stimme, »glauben Sie, dass ein menschlicher Kopf noch sprechen kann, wenn er schon vom Körper abgetrennt ist?«

Mit ungläubig schrillem Falsetton schnaufte der Bürgermeister und wurde im selben Augenblick merklich blasser.

»Das glauben Sie doch auch, oder?« wiederholte der Gefangene mit fast wahnsinniger Eindringlichkeit.

Monsieur Ledru fand mit einiger Anstrengung seine Fassung wieder, räusperte sich und sagte: »Ja, ich glaube schon ...«

»Er sprach — er sprach ganz deutlich«, fuhr der unglückliche Mann fort und beugte sich noch näher hinüber.

»Er . . . was?«

»Er sprach — der Kopf —, Jeannes Kopf hat mit mir gesprochen!«

»Weißt du eigentlich, was du da sagst?«

»Aber natürlich weiß ich das! Ich sage Ihnen, seine Augen waren offen, seine Lippen bewegten sich; er sah mich direkt an — er sah mich an und sagte dann ein Wort: >Feigling<!«

Jacquemins Gesicht war schrecklich anzusehen, als er dieses Geheimnis von sich gab, das zwar nur für das Ohr des Bürgermeisters bestimmt war, aber auf irgendeine Weise doch unter die Menge gelangte.

»Eine schöne Geschichte mit 'nem langen Bart!« rief der Doktor und lachte lauthals. »Also gesprochen hat er, soso! — Der Kopf deiner Frau, der hat also gesprochen, nachdem du ihn abgeschnitten hast?«

Der Steinhauer fuhr wild herum, um Robert ansehen zu können.

»Aber ich sag's Ihnen doch: Er hat gesprochen — er hat gesprochen, wirklich!«

»Was erst recht ein Grund ist, dass wir zusammen zum Tatort gehen«, rief der Polizeichef. »— — Gendarmen! Begleitet den Gefangenen!«

Aber Jacquemin stieß einen gellenden Schrei aus und begann zu wüten wie ein gefangenes Tier.

»Nicht dahin!« flehte er, »— — Ihr könnt mich foltern, Ihr könnt mich hängen, Ihr könnt mich in Stücke schlagen! Ihr könnt mit mir machen, was Ihr wollt, aber bitte, nehmt mich nicht dahin mit!«

»Ruhig, Mann, ruhig«, sagte Monsieur Ledru.

»Wenn du diese schreckliche Tat wirklich begangen hast, dann wird dein Besuch dir als Buße angerechnet. Und außerdem«, fügte er behutsam hinzu, »ist jeder Widerstand völlig zwecklos. Wenn du nicht freiwillig mitkommst, werden sie mit Gewalt dafür sorgen.«

»Dann komme ich mit«, sagte Jacquemin bestürzt. »Aber — versprechen Sie mir eins, Herr Bürgermeister.«

»Und was?«

»Versprechen Sie mir, daß Sie ganz dicht bei mir bleiben, solange wir im Keller sind?«

»Aber selbstverständlich.«

Das Gesicht des Gefangenen war eine einzige Maske aus Qual und Schmerz. Zwei Tränen liefen über seine rußigen Wangen, als er flehte: »Und Sie erlauben mir, dass ich dann Ihre Hand halte?«

»Gewiss doch, Jacquemin, gewiss!«

»Na, dann wollen wir gehen ...« Er zog ein rot und weiß gepunktetes Taschentuch aus seiner Tasche und wischte sich die Augen und dann die Stirn, die schweißbedeckt war.

So also machte sich die kleine Prozession auf den Weg zu dem Haus in der Impasse des Sergens. Den Anfang machten der Polizeichef und der Doktor, dann folgte — dicht dahinter — der Gefangene, flankiert von den Gendarmen. Hinter ihm ging der Bürgermeister zusammen mit den beiden Männern, die mit ihm zusammen an der Pforte erschienen waren. Die Menge, unter der auch ich mich befand, folgte dem Zug und murmelte beim Gehen wie ein mächtiger, unterdrückter Strom.

Nach ein paar Minuten hatten wir die Impasse des Sergens erreicht, eine schmale Straße, die in die linke Seite der Grande Rue mündete. Sie führte in einer Schleife bergab und endete an einem gewaltigen verfallenen zweiflügeligen Holztor, an dessen einer Seite sich eine kleine Tür oder Pforte befand, die nur noch an einer einzigen, arg strapazierten Angel hing. Dahinter befand sich ein Hof und ein weißgetünchtes Haus aus dicken Steinen.

Alles machte eigentlich einen höchst friedlichen Eindruck. Eine Heckenrose rankte sich an einer der Wände empor, und auf einer steinernen Bank in der Nähe räkelte sich in der Sonne ein großer gelber Kater. Aber als er die Menge kommen sah, bekam er Angst und sprang schnell durch eine offene Tür in einen Keller.

Als er am Haus angekommen war, blieb Jacquemin wie angewurzelt stehen. Auch die Gendarmen konnten ihn trotz größter Kraftanstrengung nicht dazu bewegen, weiterzugehen.

»Herr Bürgermeister«, sagte er, »Herr Bürgermeister. Sie haben mir doch versprochen, ganz dicht bei mir zu bleiben.«

»Aber ja doch, ich komme ja schon«, erwiderte der Bürgermeister.

»Reichen Sie mir doch bitte Ihren Arm«, sagte der Steinhauer und schwankte, als würde er sogleich in Ohnmacht fallen.

Monsieur Ledru bat die Gendarmen, ihn loszulassen, reichte ihm seinen Arm und sagte: »Ich übernehme für ihn die Verantwortung.«

Für diesen Zeitraum jedenfalls schien es, als hätte er seine Würde als Chefmagistrat des Landkreises völlig beiseitegelassen, um nur noch der verantwortungsbewusste

Beschützer eines gestandenen Mörders zu sein.

Der Arzt und der Polizeichef betraten zusammen das Haus, gefolgt von Monsieur Ledru und Jacquemin, denen ihrerseits die Gendarmen und drei oder vier ausgesuchte Personen folgten, darunter auch ich, was dem Umstand zu verdanken war, dass ich einer der ersten gewesen war, die den Gefangenen unmittelbar nach der Tat gesehen hatten. Dann wurden die Tore geschlossen, um die schwatzende, spekulierende und gestikulierende Menge zurückzuhalten.

Auf den ersten Blick machte das Haus keineswegs den Eindruck, als wäre hier jene schockierende Tragödie geschehen, die eben erst ihren Abschluss gefunden hatte. Alles war ordentlich, sauber und an seinem Platz — das Bett zum Beispiel, mit seinen makellos grünen Tüchern, und darüber das Kruzifix aus schwarzem Holz mit einem kleinen vertrockneten Buchsbaumzweig, der noch vom letzten Palmsonntag übriggeblieben war. Auf dem Kaminsims standen eine Gipsfigur des Jesuskindes und zwei Kerzenständer aus der Zeit Ludwig XIV., von denen Teile des Silberbelags nicht

mehr zu erkennen waren. Die Wände waren weiß und geschmückt mit farbigen schwarzgerahmten Drucken, die die vier Himmelsrichtungen der Erde symbolisierten.

In der Mitte des Raumes befand sich ein zum Abendbrot gedeckter Tisch; ein großer Topf kochte leise über dem offenen Feuer; eine Kuckucksuhr schlug gerade halb zwei, und in einem offenstehenden Schrank sah man Brot und andere Dinge, die man zum täglichen Leben benötigt.

»Also«, rief der Arzt in seiner gewohnt spaßigen Art aus, »ich hab jedenfalls bisher noch nichts Ungewöhnliches entdeckt!«

»Gehen Sie durch die rechte Tür«, keuchte Jacquemin mit harter, trockener Stimme.

Die Gruppe folgte der Richtung und fand sich wieder in einer Art großen Speisekammer, in deren einer Ecke eine offene Falltür zu sehen war. Durch die Öffnung drang gedämpftes, flackerndes Licht, als würde ein leichter Wind eine Flamme bewegen.

»Da unten!« stammelte der wahnsinnige Gefangene, fasste den Arm von Monsieur Ledru fest mit einer Hand und wies mit der anderen auf die offene Falltür.

»Ah«, murmelte der Doktor mit dem dümmlichen Grinsen eines Mannes, der die Wahrheit nicht begreifen kann, »es scheint, Madame Jacquemin trinkt gerne mal einen!«

»Halten Sie Ihr loses Maul!« schrie der Steinhauer ihn an. Sein Gesicht war aschfahl und seine Stirn schweißnass. »Respektieren Sie gefälligst die Toten, wie sich das gehört!«

Der Tonfall in der Stimme des Arbeiters wischte im Nu das Lächeln aus Roberts Gesicht. Dann, als er die Stufen hinabstieg, stieß sein Fuß an irgendetwas, und er blieb stehen. Er bückte sich und nahm ein schweres breites Schwert vom Boden auf. Das war jene Waffe, die Jacquemin sich im Juli aus der Waffenabteilung des Musee d'Artillerie angeeignet hatte. Die Klinge war noch rot von frischem Blut. Der Polizeichef nahm es dem Arzt ab.

»Erkennen Sie diese Waffe?« fragte er den Gefangenen.

»Jawohl«, erwiderte Jacquemin in einfacher Offenheit und fügte hinzu: »Kommen Sie doch. Gehen wir hinunter und bringen es hinter uns.«

In der schon beschriebenen Reihenfolge gelangte die kleine Gruppe nun in die Tiefen des Kellers selbst. Als ich die unteren Stufen erreicht hatte, hatten sich meine Augen schon an den Halbdämmer des nur unzulänglich erleuchteten Gewölbes gewöhnt, und was sich ihnen dort unten bot, war bestimmt der entsetzlichste Anblick, den sie je zu ertragen gehabt hatten.

Das erste, was meine Aufmerksamkeit erregte, war ein kopfloser, blutiger Leichnam, der gleich hinter dem Weinfass lag. Der Hahn des Fasses war nicht ganz geschlossen, sodass ein ununterbrochener schmaler Strom von Wein den festgetretenen Boden des Kellers durchtränkte, um schließlich hinter einem Holzstapel zu verschwinden.

Der Leichnam, der auf dem Rücken lag, war verkrümmt und von der Hüfte aufwärts seitlich verdreht.

Die weiten Röcke waren seitlich emporgerutscht, und man konnte die angewinkelten, auf irgend eine Weise >schief< wirkenden Beine erkennen.

Es schien offenbar, dass das Opfer getötet worden war, als es vor dem Fass kniete, um eine Flasche abzufüllen, und diese war der Frau aus den Händen geglitten und lag nun, noch heil, neben ihr. Die ganze obere Hälfte ihres Körpers lag in einer tiefen Lache geronnenen Blutes.

Daneben, unfassbar unnatürlich und schief auf einem Sack mit Gips — der aufrecht an der Wand lehnte — lag das Haupt einer Frau. Das Antlitz war zur Hälfte verdeckt von wirrem Haar. Der Sack selbst war durchtränkt von einer langen Blutspur, die aus dem geborstenen Hals fast einen halben Meter weit auf dem Boden entlanggeflossen war.

Der Arzt und Monsieur Cousin gingen behutsam um den kopflosen Rumpf herum und blieben dann mit dem Rücken zur Wand stehen, um die Flucht von Steinstufen in Augenschein zu nehmen, an deren einer Seite kein Geländer existierte. Auf halbem Wege zur anderen Kellerwand befanden sich Monsieur Ledrus beiden Freunde. Am Treppenabsatz stand Jacquemin, der nicht dazu zu bewegen war, die letzte Stufe zu

Verlassen, während gleich hinter ihm ich und die anderen standen, denen der Zutritt ebenfalls gestattet worden war.

Die ganze schreckliche Szenerie wurde erleuchtet von dem müden Geflacker eines Talglichts, das oben auf dem Weinfass festgewachst stand. Es schien mir eine schier endlose Zeit quälenden Schweigens gewesen zu sein, als endlich die Stimme des Polizeichefs zu vernehmen war:

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir einen Tisch und einen Stuhl zu bringen? Es bleibt uns nichts anderes übrig, als einen offiziellen Bericht zu verfassen.«

III. Die Untersuchung

Die gewünschten Möbelstücke waren alsbald in den Keller heruntergebracht. Dann, nach einigen Manipulationen, stand der Tisch stabil auf der unebenen Oberfläche des erdigen Bodens. Eine Lampe war in der Nähe aufgestellt worden, denn die blakende Flamme der Kerze gab nicht genug Licht und hätte keine gründliche Arbeit ermöglicht. Federhalter, Tinte und Papier waren sogleich zur Hand, denn der auf unangenehme

Weise dienstbeflissene Monsieur Cousin hatte all das bei sich gehabt.

Dann folgten einige Minuten der Stille, in der als einziges Geräusch nur das Kratzen einer Feder über Dienstpapier zu hören war. Eine Zeile folgte der nächsten mit einer Geschwindigkeit, zu der nur ein Mann befähigt sein konnte, der offizielle Formulare mit der Präzision eines Automaten auszufüllen gewohnt ist. Die Atmosphäre war so ernst und gespannt, dass sich niemand zu rühren wagte.

Als er fertig war, hob der Polizeichef seinen Kopf, blickte wortlos im Keller umher und wollte dann mit abstoßend hoher Stimme wissen:

»Wer von den Anwesenden wäre bereit, sich als Zeuge zur Verfügung zu stellen?«

»Diese beiden Herren sind gewiss dazu bereit«, antwortete Monsieur Ledru, räusperte sich und zeigte auf seine Begleiter, die beide nahe bei dem Tisch standen.

»Sehr gut!« rief der Gesetzeshüter aus, als er sich langsam und bedächtig mir zuwandte und mich mit einem Blick ansah, der so fragend wie durchdringend war:

»Sie sind dann der Nächste, Monsieur«, krächzte er, »— — das heißt, wenn es Ihnen nichts ausmacht, dass Ihr Name in einem Polizeibericht erscheint.«

»Nein, es macht mir nichts aus«, entgegnete ich.

»Würden Sie dann freundlicherweise vortreten?«

Ich muss gestehen, dass sich in mir doch ein gewisser Gesinnungswandel einstellte bei der Aussicht, mich dem Leichnam nähern zu müssen, denn von dort aus, wo ich bisher stand, blieben die unangenehmen Einzelheiten, wenn auch nicht völlig verdeckt, so doch im Zwielicht des dämmrigen Lichtes, das einen freundlicheren Schleier über das große Schrecknis der Wirklichkeit zu breiten schien.

»Ist das wirklich notwendig?« wollte ich wissen.

»Was ist notwendig?«

»Dass ich näher zu Ihnen komme!«

»Nein, nein, ich glaube, nicht unbedingt. Sie können gern dort stehenbleiben, wo Sie jetzt sind. «

Ich nickte dankbar. Dann wandte sich der Polizeichef dem nächst ihm stehenden Freund von Monsieur Ledru zu.

»Ihr Nachname, Vorname, Alter, Stand, Beruf und Adresse«, sagte er und rasselte seine Fragen herunter mit jener Sicherheit, die regelmäßiger Praxis entspringt.

» Jean-Louis Alliette«, entgegnete der Mann.»Schriftsteller, auch bekannt unter dem Pseudonym Etteilla. Wohnhaft in der rue de l'Ancienne-Comedie Nummer zwanzig in Paris.«

»Sie haben Ihr Alter vergessen«, rief Cousin.

»Möchten Sie mein richtiges Alter wissen oder lieber das, was allgemein dafür gehalten wird?«

»Ich möchte Ihr Alter, mehr nicht! Ein Mensch kann ja wohl nicht zwei verschiedene Alter haben, oder?«

Alliette zögerte einen Augenblick. »Tatsache ist, Monsieur, dass es da eine Reihe von Leuten gibt — Cagliostro zum Beispiel, der Comte de Saint-Germain und der ewige Jude, den manche unter dem Namen Cartaphilus kennen —, die — —«

»Wollen Sie vielleicht damit sagen, dass Sie Cagliostro sind — oder der Comte de Saint-Germain oder der ewige Jude?« rief Monsieur Cousin aus und runzelte die Stirn. Ihm gefiel es nicht, dass er womöglich zum Objekt unangebrachter Spaßmacherei gemacht werden könnte.

»Nein, gewiss nicht. Aber — —«

»Fünfundsiebzig. Schreiben Sie fünfundsiebzig«, unterbrach ihn Monsieur Ledru.

»Gut!« murmelte der Beamte mit dem präzisen Gehirn und tat genau wie ihm geheißen.

»Und Sie, Monsieur«, fuhr er fort und fasste Ledrus anderen Freund fest ins Auge.

»Pierre- Joseph Moulle, einundsechzig Jahre alt, Geistlicher in der Gemeinde zu Saint-Sulpice, wohnhaft in der rue Servandoni Nummer elf«, kam die Antwort mit sanfter und feiner Stimme.

»Und Sie, Monsieur?« fragte Cousin und wandte sich mir zu.

»Alexandre Dumas, Romancier und Dramatiker, Alter siebenundzwanzig, Wohnort rue de l'universite Nummer einundzwanzig in Paris«, erwiderte ich.

Monsieur Ledru sah zu mir herüber und nickte mir gleichsam erkennend und mit freundlichem Lächeln zu. Ich antwortete auf gleiche Weise und so formvollendet, wie es die gegenwärtige Situation eben erlaubte. Niemand von uns sprach ein überflüssiges Wort.

»So ist's schon besser!« gab der Polizeichef zu verstehen. »Nun lassen Sie uns noch einmal dieses Blatt durchsehen, ob es so auch in Ordnung ist. Vielleicht wünschen Sie ja noch irgendwelche Ergänzungen . . .

Und mit monotoner, affektierter Stimme, die diese Art von Leuten häufig haben, hob er an, laut vorzulesen: »Am heutigen Tage, dem zweiten September des Jahres achtzehnhunderteinunddreißig und aufgrund gebührlicher Inkenntnissetzung, dass in der Gemeinde zu Fontenay-aux-Roses ein Mord verübet worden sei an der Person der Marie-Jeanne Ducoudray durch einen gewissen Pierre Jacquemin, welcher ist der Gatte der Verblichenen, wird beurkundet, dass erwähnter Mörder ohne Verzug bei der Residentz des Monsieur Ledru, Buerger-Meister selbiger Stadt Fontenay-aux-Roses, vorstellig geworden ...«

Und so fuhr die Stimme fort und fort, um dann gnädig mit diesen Worten zu schließen:

»Woher nach wir mit dem Kreutz-Verhör fortgefahren, als ist weiter unten ausgeführt.«

»Ist das so korrekt, Messieurs? « fragte Monsieur Cousin mit völlig veränderter, selbstzufriedener Stimme.

Einer nach dem anderen äußerten wir die Überzeugung, dass er es hätte nicht besser machen können.

»Ausgezeichnet! Und nun ist fortzufahren mit der formalen Befragung des Angeklagten.«

Und er wandte sein Gesicht dem Gefangenen zu, der die ganze Zeit während der Verlesung schwer atmete wie bei einem asthmatischen Anfall.

»Gefangener«, sagte er, »Ihren Familiennamen, Ihren oder Ihre Vornamen, Ihr Alter, Ihre Adresse und Ihre Beschäftigung ...«

»Wie lange muss ich das denn noch mitmachen?« fragte Jacquemin mit einer Stimme, die nur allzu deutlich seine totale Erschöpfung ausdrückte.

»Na los. Ich wünsche, dass Sie mir antworten! Ihren Namen und Ihr Alter!«

»Pierre Jacquemin, vierunddreißig Jahre.«

»Und Ihre Adresse?«

»Himmelherrgottsacker! Das wissen Sie doch! — Sie sind doch hier!«

Unterdrücktes Kichern war zu hören, und mehr als nur einer unter den Anwesenden musste mit dem Lachen kämpfen.

»Sie wollen wohl sehr witzig sein, wie? Das Gesetz verlangt, dass Sie antworten!«

»Das Haus am Ende des Impasse des Sergens.«

»Und was arbeiten Sie?«

»Ich bin im Steinbruch.«

»Sie geben zu, den Mord ausgeführt zu haben?«

»Ja, natürlich tu ich das!«

»Und was war Ihr Motiv und was die Umstände, unter denen Sie ihn begingen?«

Jacquemin sah irritiert und abwesend aus. »Das Motiv«, murmelte er, »das brauche ich Ihnen nicht zu sagen — das ist ein Geheimnis zwischen meiner Frau und mir . ..«

»Aber auch ein Geheimnis hat ein Motiv.«

»Ein Motiv? Ich habe es nicht nötig, Ihnen mein Motiv zu nennen. Aber die Umstände gern ...«

»Ja, sehr gut. Und?«

»Es war so. Sie wissen, dass ich unter Tage arbeite in den Steinbrüchen. Und in den Stollen ist es sehr dunkel. Und in dieser Dunkelheit, da kann es oft vorkommen, dass ein Mann denkt, er müsste gegen einen Freund irgend einen Groll haben ... und es verzehrt sein Herz, wie da ein niederträchtiger Gedanke nach dem anderen in seinen Kopf kommt ...«

»Aha! Sie wollen also zugeben, dass Sie das Verbrechen vorsätzlich begangen haben?«

»Ich gebe alles zu ... nur lassen Sie es genug sein!«

»Weiter!«

»Und einer dieser üblen Gedanken, die sich in meinem Kopf breitmachten, war der, Jeanne zu töten. Er hat mich über einen Monat lang gequält. Aber während mein Kopf sagte >tu's<, sagte mein Herz unablässig >tu's nicht!<. Bis dann eines Nachmittags einer meiner Arbeitskollegen irgendetwas sagte, was das Fass zum Überlaufen brachte.«

»Was hat der denn gesagt?«

»-- Das ist eine Sache, die weder Sie noch irgendjemand sonst interessiert! Aber heute Morgen sagte ich zu Jeanne, ich wolle nicht zur Arbeit gehen. Ich sagte ihr, ich hätte die Absicht, einen Tag blau zu machen und mit Freunden Boule zu spielen, und bat sie, sie möge das Essen zu ein Uhr fertig haben. Sie protestierte, aber das änderte nichts an meinen Vorstellungen.

Schließlich ging sie aber doch los und machte das Essen, aber anstatt zum Boule zu gehen, nahm ich das Schwert, das Sie da haben und machte es am Schleifstein scharf.