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Als Dr. Roberta J. Cole beschließt, ihre kriselnde Ehe und die Karriere in der Bostoner Großklinik hinter sich zu lassen, um Landärztin zu werden, erfährt ihr Leben eine ungeahnte Wende. Inmitten der grünen Hügel von Massachusetts trifft sie auf den Aussteiger David Markus aus New York. Schon bald kommen die beiden Stadtflüchtlinge sich näher. Aber nicht nur Markus kämpft mit Problemen, vor denen er vergeblich zu fliehen sucht. Auch seine Tochter Sarah steht vor der schwierigsten Entscheidung ihres Lebens – und braucht die Hilfe von Roberta, der Frau, die ihr den Vater wegzunehmen droht …
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Seitenzahl: 550
Dr. Roberta J. Cole führt ein Leben, um das sie viele beneiden: Schnell hat die Ärztin am berühmten Bostoner Lemuel Grace Hospital Karriere gemacht, und nun ist sie sogar für einen leitenden Posten innerhalb der Klinik im Gespräch. Aber Robertas Glück währt nicht lange. Als sie erfährt, daß ihr Mann Tom eine Affäre hat, gerät ihre Ehe in eine schwere Krise. Und den Führungsposten in der Klinik erhält ein Kollege, da ihr nebenberufliches Engagement in einer Abtreibungsklinik nicht mehr opportun erscheint. Nach der Scheidung von Tom beschließt Roberta, ihr Bostoner Leben hinter sich zu lassen und noch mal ganz von vorne anzufangen. Sie verläßt die Stadt, zieht in ihr Landhaus in den grünen Hügeln von Massachusetts und eröffnet eine Praxis.
Zunächst tut sie sich mit dem Leben auf dem Land schwer, zu anders sind die Menschen, die hier leben. Aber da gute Ärzte auf dem Land rar sind, erfährt ihre Praxis bald großen Zuspruch. Und dann trifft sie auf den Aussteiger David Markus aus New York. Der ehemalige Rabbi sucht mit seiner siebzehnjährigen Tochter Sarah auf dem Land Zuflucht vor Alkoholproblemen und bestreitet als Immobilienmakler und Bienenzüchter seinen Lebensunterhalt. Sehr zurückhaltend beobachtet Sarah die Annäherung zwischen ihrem Vater und der neuen Ärztin. Und es wird das Schicksal dieses Mädchens sein, das über Robertas und Davids Zukunft entscheidet. Denn Sarah ist ungewollt schwanger, und Roberta muß sich entscheiden, ob sie ihr hilft…
Noah Gordon, 1926 in Worcester, Massachusetts, geboren, arbeitete lange Jahre als Journalist beim »Boston Herald«, bevor er mit seinem ersten Roman »Der Rabbi« den Durchbruch als Schriftsteller erlebte. Mit »Der Medicus« gelang ihm ein Weltbestseller, der auch in Deutschland viele Monate auf der Bestsellerliste stand. Noah Gordon hat drei erwachsene Kinder und lebt mit seiner Frau auf einer Farm in Massachusetts.
Dieses Buch ist für Lorraine,meine Liebe.Und für unsere Kinder:Michael Gordon;Lise Gordon und Roger Weiss;und Jamie Beth Gordon,die die Wärme unddie Phantasie besaß,die Magie von Herzsteinenzu erkennen.
George Moore, »The Bending of the Bough«
»Ich hatte nie des Geldes wegen eine Praxis; es wäre mir unmöglich gewesen. Aber die eigentlichen Besuche bei den Patienten, zu allen Zeiten und unter allen Bedingungen, das Zurechtkommen mit den intimsten Umständen ihres Lebens, wenn sie auf die Welt kommen, wenn sie sterben, zu sehen, wie sie sterben, zu sehen, wie sie wieder gesund werden, nachdem sie krank waren, das alles hat mich immer fasziniert.«
William Carlos Williams, M. D., »Autobiography«
»Der vertrauliche, beruhigende, herzliche Kontakt mit dem Arzt, der Trost und die Anteilnahme, die langen, entspannten Gespräche … verschwinden allmählich aus der medizinischen Praxis, und dies mag sich einmal als äußerst großer Verlust erweisen … Wenn ich heute Medizinstudent oder eben beginnender Assistenzarzt in einem Krankenhaus wäre, würde ich mir um diesen Aspekt meiner Zukunft mehr Sorgen machen als um alles andere. Ich würde befürchten, daß mir meine eigentliche Arbeit, die Behandlung kranker Menschen, bald weggenommen würde und ich eine ganz andere Aufgabe erhalten würde, nämlich die Überwachung von Maschinen. Ich würde Mittel und Wege suchen, um dies zu verhindern.«
Lewis Thomas, M. D., »The Youngest Science: Notes of a Medicine Watcher«
R. J. wachte auf. Ihr Leben lang würde sie immer wieder mitten in der Nacht die Augen aufschlagen und mit der beklemmenden Gewißheit in die Dunkelheit starren, noch eine überarbeitete Assistenzärztin am Lemuel Grace Hospital in Boston zu sein, die sich während einer Sechsunddreißig-Stunden-Schicht in einem leeren Krankenzimmer ein kurzes Nickerchen erschlichen hat. Sie gähnte, während die Gegenwart in ihr Bewußtsein sickerte und ihr zu ihrer großen Erleichterung dämmerte, daß die Assistenzzeit schon Jahre zurücklag. Aber sie verschloß sich vor der Wirklichkeit, denn die Leuchtzeiger ihres Weckers sagten ihr, daß sie noch zwei Stunden liegenbleiben durfte, und in dieser längst vergangenen Assistenzzeit hatte sie gelernt, jede Minute Schlaf zu nutzen.
Zwei Stunden später wurde sie, bei grauer Morgendämmerung und diesmal ohne Schrecken, wieder wach und schaltete den Wecker aus. Sie wachte immer auf, kurz bevor er klingelte, trotzdem stellte sie ihn regelmäßig am Abend zuvor, für alle Fälle. Aus dem Massageduschkopf trommelte ihr das Wasser fast schmerzhaft auf den Schädel, was so belebend war wie eine zusätzliche Stunde Schlaf. Die Seife glitt über einen Körper, der ein wenig fülliger war, als sie es für erstrebenswert hielt, und sie wünschte sich, sie hätte Zeit zum Joggen, doch die hatte sie nicht.
Während sie sich die halblangen schwarzen, noch immer dichten und kräftigen Haare fönte, begutachtete sie ihr Gesicht. Ihre Haut war glatt und rein, die Nase schmal und etwas lang, der Mund groß und voll. Sinnlich? Groß, voll und seit langem ungeküßt. Sie hatte Ringe unter den Augen.
»Also, was willst du, R. J.?« fragte sie barsch die Frau im Spiegel.
Tom Kendricks auf jeden Fall nicht mehr, sagte sie sich. Da war sie ganz sicher.
Was sie anziehen wollte, hatte sie sich schon vor dem Zubettgehen überlegt, und die Sachen hingen nun an der einen Seite des Schranks: eine Bluse und eine maßgeschneiderte Bundfaltenhose, darunter standen attraktive, aber bequeme Schuhe. Vom Gang aus sah sie durch die offene Tür zu Toms Schlafzimmer, daß der Anzug, den er tags zuvor getragen hatte, noch immer am Boden lag, wie er ihn am Abend hingeworfen hatte. Er war früher aufgestanden als sie und hatte das Haus schon lange verlassen, denn er mußte bereits um sechs Uhr fünfundvierzig mit desinfizierten Händen im Operationssaal sein.
Unten goß sie sich ein Glas Orangensaft ein und zwang sich, es langsam zu trinken. Dann zog sie ihren Mantel an, nahm ihre Aktentasche und ging durch die unbenutzte Küche zur Garage. Der kleine rote BMW war ihre Schwäche, so, wie das herrschaftliche alte Haus die von Tom war. Sie mochte das Schnurren des Motors und die reaktionsfreudige Präzision des Lenkrads.
Während der Nacht hatte es leicht geschneit, aber die Räumkolonnen von Cambridge hatten gute Arbeit geleistet, und nachdem sie den Harvard Square und den JFK Boulevard passiert hatte, kam sie problemlos vorwärts. Sie schaltete das Radio an und hörte Mozart, während sie sich von der Flut des Verkehrs den Memorial Drive hinuntertreiben ließ, dann überquerte sie auf der University Bridge den Charles River zur Bostoner Seite.
Trotz der frühen Morgenstunde war der Personalparkplatz des Krankenhauses schon fast voll besetzt. Sie stellte den BMW neben einer Wand ab, um das Risiko einer Beschädigung durch die nachlässig geöffnete Tür eines Nachbarn zu verringern, und betrat mit raschen Schritten das Gebäude.
Der Wachmann nickte. »Mor’n, Dokta Cole!«
»Hallo, Louie!«
Im Aufzug grüßte sie einige Leute. Im dritten Stock stieg sie aus und ging schnell zu Zimmer 308. Wenn sie morgens zur Arbeit kam, war sie immer sehr hungrig. Sie und Tom aßen höchst selten mittags oder abends zu Hause, und gefrühstückt wurde nie; der Kühlschrank war leer bis auf Saft, Bier und Limonade. Vier Jahre lang war R. J. jeden Morgen in die überfüllte Cafeteria gegangen, aber dann war Tessa Martula ihre Sekretärin geworden und hatte darauf bestanden, für R. J. das zu tun, was sie für einen Mann mit Sicherheit nie getan hätte.
»Ich gehe mir ohnedies meinen Kaffee holen, da wäre es doch unsinnig, wenn ich Ihnen keinen mitbringe!« hatte Tessa gesagt. So zog R. J. jetzt nur einen frischen weißen Mantel an und begann sofort, die Krankengeschichten zu lesen, die auf ihrem Schreibtisch lagen. Sieben Minuten später wurde sie dafür belohnt mit dem Anblick Tessas, die ihr auf einem Tablett ein getoastetes Brötchen mit Frischkäse und starken schwarzen Kaffee brachte.
Während sie ihr Frühstück verdrückte, kam Tessa mit dem Terminkalender zu ihr, und sie gingen ihn gemeinsam durch. »Dr. Ringgold hat angerufen. Er will Sie sehen, bevor Sie mit der Arbeit anfangen.«
Der medizinische Direktor hatte ein Eckbüro im vierten Stock. »Gehen Sie gleich durch, Dr. Cole! Er erwartet Sie«, sagte seine Sekretärin.
Dr. Sidney Ringgold nickte, als sie eintrat, deutete auf einen Stuhl und schloß dann die Tür.
»Max Roseman hatte gestern während der Konferenz über Infektionskrankheiten an der Columbia einen Schlaganfall. Er liegt im New York Hospital.«
»Ach, Sidney, der arme Max! Wie geht es ihm?«
Er zuckte die Achseln. »Er wird’s überleben, aber es könnte ihm bessergehen. Zunächst einmal Lähmung und Gefühlsstörung in der kontralateralen Gesichtshälfte, im Arm und im Bein. Wir werden sehen, was die nächsten Stunden bringen. Jim Jeffers war eben so freundlich, mich aus New York anzurufen. Er meinte, er werde mich auf dem laufenden halten, aber es wird wohl lange dauern, bis Max wieder zum Dienst kommt. Und offen gesagt, bei seinem Alter bezweifle ich, ob er je wieder zurückkommt.«
Plötzlich hellhörig geworden, nickte R. J. Max Roseman war stellvertretender medizinischer Direktor.
»Jemand wie Sie, eine gute Ärztin mit diesem juristischen Hintergrund, würde als Max’ Nachfolgerin dem Fachbereich neue Dimensionen eröffnen.«
Sie hatte nicht den Ehrgeiz, stellvertretender Direktor zu werden, war das doch ein Posten, der trotz großer Verantwortung nur begrenzte Macht bot.
Es war, als hätte Sidney Ringgold ihre Gedanken gelesen. »In drei Jahren bin ich fünfundsechzig, dann schicken sie mich in Pension. Der stellvertretende medizinische Direktor wird bei der Nachfolge gegenüber allen anderen Kandidaten einen enormen Vorteil haben.«
»Sidney, bieten Sie mir den Posten an?«
»Nein, das tue ich nicht, R. J. Ich werde noch mit einigen anderen über die Stelle reden. Aber Sie wären eine aussichtsreiche Kandidatin.«
R. J. nickte. »Das ist fair. Danke, daß Sie es mir gesagt haben.« Sein Blick hielt sie in ihrem Stuhl fest. »Noch etwas anderes«, sagte er. »Ich trage mich schon lange mit dem Gedanken, daß wir einen Publikationsausschuß haben sollten, der unsere Ärzte ermutigt, mehr zu schreiben und zu publizieren. Ich hätte es gern, wenn Sie ihn einrichten und den Vorsitz führen würden.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann wirklich nicht«, erwiderte sie bestimmt. »Ich muß jetzt schon kämpfen, um mit all meinen Terminen zurechtzukommen.« Es stimmte; und er müßte das eigentlich wissen, dachte sie leicht verstimmt. Montags, dienstags, mittwochs und freitags kümmerte sie sich um ihre Patienten hier im Krankenhaus. Dienstag vormittags hielt sie im Massachusetts College auf der anderen Straßenseite einen zweistündigen Kurs über die Vermeidung iatrogener Leiden, also Krankheiten oder Verletzungen, die von einem Arzt oder im Krankenhaus verursacht werden. Mittwoch nachmittags hielt sie an der Medical School eine Vorlesung über die Vermeidung von und das Verhalten bei Kunstfehlerprozessen. Donnerstags führte sie an der Family Planning Clinic in Jamaica Plain Ersttrimester-Abtreibungen durch. Freitag nachmittags arbeitete sie in der PMS-Clinic, einer Ambulanz zur Behandlung des prämenstruellen Syndroms, die wie der Kurs über iatrogene Leiden auf ihr Drängen hin und gegen den Widerstand einiger konservativerer Kollegen ins Leben gerufen worden war.
Ihr und Sidney war klar, daß sie in seiner Schuld stand. Der medizinische Direktor hatte ihre Projekte und ihre Karriere trotz politischer Opposition gefördert. Anfangs hatte er ihre Aktivitäten mit leichtem Argwohn verfolgt – eine Anwältin, die Ärztin geworden war, Expertin für Krankheiten, die durch Fehler von Ärzten und in Krankenhäusern verursacht wurden, jemand, der die Arbeit von Kollegen begutachtete und bewertete und diese oft viel Geld kostete. Am Anfang hatten einige Ärzte sie »Doktor Petze« genannt, doch diesen Spitznamen trug sie mit Stolz. Der medizinische Direktor hatte beobachtet, wie Dr. Petze sich behauptete und vorwärtskam und schließlich zu Dr. Cole wurde, einer Ärztin, die man akzeptierte, weil sie ehrlich und zäh war. Inzwischen waren sowohl ihre Vorlesungen als auch ihre Übungen politisch korrekt, ja Einrichtungen von solchem Ruf, daß Sidney Ringgold viel Lob für sie einstecken konnte.
»Vielleicht könnten Sie bei etwas anderem kürzertreten?« Beide wußten, daß er die Donnerstage in der Family Planning Clinic meinte.
Er beugte sich vor. »Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie das übernehmen würden.«
»Ich werde gründlich darüber nachdenken, Sidney.«
Diesmal schaffte sie es, vom Stuhl aufzustehen. Auf dem Weg hinaus ärgerte sie sich über sich selbst, weil sie merkte, daß sie schon jetzt überlegte, wer wohl die anderen auf seiner Kandidatenliste sein könnten.
Schon vor ihrer Heirat hatte Tom versucht, R. J. zu überreden, die Kombination von Jura und Medizin zur Optimierung ihres Jahreseinkommens auszunutzen. Als sie sich gegen seinen Rat von der Jurisprudenz abwandte und sich ganz auf die Medizin konzentrierte, hatte er sie gedrängt, in einem wohlhabenden Vorort eine Privatpraxis zu eröffnen. Während sie dann über den Kauf des Hauses verhandelten, hatte er über ihr Krankenhausgehalt gemeckert, das fast fünfundzwanzig Prozent niedriger war als der Ertrag, den eine Privatpraxis gebracht hätte.
Für ihre Hochzeitsreise hatten sie sich die Virgin Islands ausgesucht, eine Woche auf einer kleinen Insel in der Nähe von St. Thomas. Schon zwei Tage nach ihrer Rückkehr fingen sie an, sich nach einem Haus umzusehen, und am fünften Tag ihrer Suche führte sie eine Immobilienmaklerin zu einem vornehmen, aber heruntergekommenen Haus an der Brattle Street im Stadtteil Cambridge.
R. J. zeigte nur geringes Interesse. Das Haus war zu groß, zu teuer, zu renovierungsbedürftig, und die Straße war viel zu befahren. »Es wäre verrückt.«
»Nein, nein, nein«, murmelte er. Wie sie sich später erinnerte, sah er an diesem Tag sehr attraktiv aus in seinem wunderbar geschnittenen neuen Anzug und mit den strohblonden Haaren im Designerschnitt. »Es wäre überhaupt nicht verrückt.« Tom Kendricks sah ein stattliches georgianisches Haus an einer anmutigen, geschichtsträchtigen Straße mit ziegelgepflasterten Bürgersteigen, über die Dichter und Philosophen geschritten waren, Männer, von denen man in den Schulbüchern liest. Eine halbe Meile nördlich an dieser Straße stand das herrschaftliche Anwesen, in dem Henry Wadsworth Longfellow gewohnt hatte. Kurz dahinter kam die Divinity School. Tom war bereits »bostonerischer« als Boston selbst, sein Akzent stimmte haargenau, seine Kleidung ließ er sich bei »Brooks Brothers« schneidern. Tatsächlich aber war er ein Farmerjunge aus dem Mittleren Westen, der die Bowling Green University und die Ohio State besucht hatte und den der Gedanke, in der Nachbarschaft von Harvard zu leben, ja beinahe Teil von Harvard zu sein, faszinierte.
Und dieses Haus hatte es ihm angetan: die Backsteinfassade mit Verzierungen aus Vermont-Marmor, die hübschen schlanken Säulen neben den Türen, die geschliffenen Glasscheiben neben und über dem Portal und die zu allem passende Ziegelmauer um das Grundstück.
Erst dachte sie, er mache nur Spaß. Als deutlich wurde, daß er es ernst meinte, war sie entsetzt, und sie versuchte, ihm das Ganze auszureden. »Das wird doch viel zu teuer! Haus und Mauer müssen neu verfugt, Dach und Fundament saniert werden. Und das Maklerbüro gibt unumwunden zu, daß ein neuer Heizkessel benötigt wird. Es ist Unsinn, Tom.«
»Aber ganz im Gegenteil. Das Haus ist wie geschaffen für zwei erfolgreiche Ärzte. Als Ausdruck ihres Selbstbewußtseins.«
Weder er noch sie hatten viel gespart. Da R. J. einen Juraabschluß gemacht hatte, bevor sie das Medizinstudium begann, konnte sie nebenbei etwas Geld verdienen, und zwar so viel, daß sie ihre medizinische Ausbildung abschließen konnte, ohne große Schulden machen zu müssen. Aber Tom hatte bereits Schulden in beängstigender Höhe. Trotzdem argumentierte er hartnäckig, daß sie das Haus kaufen sollten. Er erinnerte sie daran, daß er als Chirurg inzwischen sehr gut verdiente, und beharrte darauf, daß sie sich das Haus leicht würden leisten können, wenn sie ihr geringeres Gehalt zu dem seinen rechneten. Er wiederholte es immer und immer wieder.
Sie waren frisch verheiratet, und sie war noch vernarrt in ihn. Er war als Mensch nicht so gut wie als Liebhaber, aber das wußte sie damals noch nicht, und sie hörte ihm ernst und beeindruckt zu. Schließlich gab sie verwirrt nach.
Sie gaben eine stattliche Summe für die Einrichtung aus, darunter Antiquitäten und Beinaheantiquitäten. Auf Toms Drängen kauften sie einen Stutzflügel, weniger, weil R. J. Klavier spielte, sondern weil er perfekt ins Musikzimmer paßte. Ungefähr einmal im Monat kam R. J.s Vater mit dem Taxi in die Brattle Street und gab dem Fahrer ein großzügiges Trinkgeld, damit er ihm seine sperrige Gambe ins Haus trug. R. J.s Vater war froh, daß sie etabliert war, und sie spielten lange, gefühlvolle Duette. Die Musik überdeckte viele Schrammen, die von Anfang an da waren, und ließ das große Haus weniger leer erscheinen.
Da sie und Tom fast immer außer Haus aßen, hatten sie keine feste Hausangestellte. Eine schweigsame schwarze Frau namens Beatrix Johnson kam montags und donnerstags und hielt das Haus sauber, wobei sie nur selten etwas zerbrach. Ein Gärtnerservice kümmerte sich um Rasen und Bepflanzung. Sie hatten kaum Gäste. Kein Schild an der Mauer ermutigte Patienten, durch das Gartentor zu treten. Der einzige Hinweis auf die Bewohner waren zwei kleine Kupferschildchen, die Tom am rechten Pfosten des hölzernen Türstocks befestigt hatte.
THOMAS ALLEN KENDRICKS,M. D.
UND ROBERTA J. COLE,M. D.
Damals nannte sie ihn noch Tommy.
Nach ihrer Unterredung mit Dr. Ringgold machte sie ihre Morgenvisite.
Leider hatte sie nie mehr als ein oder zwei Patienten auf den Stationen. Sie war Allgemeinärztin mit einem speziellen Interesse für hausärztliche Belange in einem Krankenhaus, das keine allgemeine Abteilung hatte. Das machte sie zu einem Hansdampf in allen Gassen, einem Allroundspieler ohne spezielle Klassifikation. Ihre Tätigkeit für das Krankenhaus und die Medical School war keiner speziellen Abteilung zuzuordnen; so untersuchte sie zwar Schwangere, doch jemand aus der Geburtshilfeabteilung brachte die Babys zur Welt, und ebenso überwies sie ihre Patienten fast immer an einen Chirurgen, einen Gastroenterologen oder an einen anderen der mehr als ein Dutzend Fachärzte. Meistens sah sie den Patienten nie wieder, denn die Nachfolgebehandlung wurde von dem Spezialisten oder dem jeweiligen Hausarzt übernommen, und normalerweise kamen ins Krankenhaus ohnedies nur Patienten mit Problemen, die eine hochentwickelte Technik erforderten.
Früher hatten Oppositionsgeist und das Gefühl, Neuland zu erschließen, ihren Aktivitäten am Lemuel Grace Hospital Würze verliehen, aber inzwischen hatte sie keine rechte Freude mehr an ihrer ärztlichen Arbeit. Sie verschwendete viel zuviel Zeit damit, Versicherungsformulare zu prüfen und auszufüllen – ein spezielles Formular, wenn jemand Sauerstoff brauchte, ein spezielles Formular für dies, ein spezielles Kurzformular für das, in zweifacher, in dreifacher Ausfertigung, und von jeder Versicherungsgesellschaft ein anderes Formular.
Ihre Patientengespräche waren beinahe zwangsläufig unpersönlich und kurz. Gesichtslose Effizienzexperten bei den einzelnen Versicherungsgesellschaften hatten festgelegt, wieviel Zeit und wie viele Besuche den Patienten zustanden, die ohnehin schnell weitergeschickt wurden zu Laboruntersuchungen, zum Röntgen, zum Ultraschall, zur Kernspintomographie, zu all jenen Prozeduren, die den Großteil der diagnostischen Arbeit leisten und den Behandelnden vor Kunstfehlerprozessen schützen.
Oft fragte sie sich, wer diese Patienten eigentlich waren, die bei ihr Hilfe suchten. Welche Umstände in ihrem Leben, die den mehr oder weniger flüchtigen Blicken des Arztes verborgen blieben, führten zu ihrer Krankheit? Was würde aus ihnen werden? Sie hatte weder die Zeit noch die Gelegenheit, ihnen als Menschen zu begegnen, für sie wirklich Ärztin zu sein.
An diesem Abend traf sie sich mit Gwen Gabler in »Alex’s Gymnasium«, einem gehobenen Fitneßstudio am Kenmore Square. Gwen hatte mit R. J. die Medical School besucht und war ihre beste Freundin. Die Unbeschwertheit und das lockere Mundwerk der Gynäkologin an der Family Planning Clinic täuschten darüber hinweg, daß sie mit ihrem Leben nur mühsam zu Rande kam. Sie hatte zwei Kinder, einen Immobilienmakler zum Mann, der geschäftlich in eine Talsohle gerutscht war, dazu einen übervollen Terminkalender, beschädigte Ideale und Depressionen. Sie und R. J. kamen zweimal pro Woche ins »Alex’s«, um sich mit einer langen Aerobic-Session zu bestrafen, törichte Sehnsüchte in der Sauna herauszuschwitzen, sich fruchtlosen Frust im Whirlpool herausmassieren zu lassen, im Foyer ein Glas Wein zu trinken und den ganzen Abend zu plaudern und zu fachsimpeln.
Ihr bevorzugtes Laster war das Taxieren der Männer im Club und die Beurteilung ihrer Attraktivität rein nach dem Äußeren. R. J. fand heraus, daß für ihren Geschmack ein Gesicht den Anflug von Geist verraten mußte, den Hauch von Selbstkritik, während Gwen animalischere Qualitäten bevorzugte. Sie bewunderte den Besitzer des Clubs, einen knackigen Griechen namens Alexander Manakos. Es war leicht für Gwen, von muskulösen, aber seelenvollen Galanen zu träumen und dann heim zu ihrem Phil zu gehen, der kurzsichtig war und übergewichtig, den sie aber sehr schätzte. R. J. ging nach Hause und las sich mit medizinischen Zeitschriften in den Schlaf.
Oberflächlich betrachtet, hatte sich für sie und Tom der amerikanische Traum erfüllt: ein ausgefülltes Berufsleben, das schöne Haus an der Brattle Street und ein Farmhaus in den Berkshire Hills, das sie für höchst seltene freie Wochenenden und Urlaube nutzten. Aber die Ehe war ein Trümmerhaufen. R. J. sagte sich, daß es vielleicht anders gekommen wäre, wenn sie ein Kind hätten. Ironischerweise war die Ärztin, die sich häufig mit der Unfruchtbarkeit anderer Frauen zu beschäftigen hatte, selbst seit Jahren unfruchtbar. Tom hatte eine Spermaanalyse machen lassen, und sie hatte sich einer ganzen Reihe von Tests unterzogen. Aber man fand keinen Grund für die Unfruchtbarkeit, und beide waren schnell wieder voll und ganz von den Verpflichtungen ihres Ärztedaseins in Anspruch genommen. Diese Anforderungen waren so hoch, daß sie sich allmählich auseinanderlebten. Hätte ihre Ehe eine solidere Basis gehabt, hätte sie in den vergangenen Jahren zweifellos daran gedacht, eine künstliche Befruchtung oder eine In-vitro-Fertilisation vornehmen zu lassen oder ein Kind zu adoptieren. Aber inzwischen hatten sie und ihr Gatte das Interesse verloren.
Schon vor langer Zeit waren R. J. zwei Dinge klargeworden: daß sie einen oberflächlichen Mann geheiratet hatte und daß er sie mit anderen Frauen betrog.
R. J. wußte, daß niemand so überrascht war wie Tom selbst, als Elizabeth Sullivan wieder in sein Leben trat. In ihrer Jugend hatten er und Betts zwei Jahre lang in Columbus, Ohio, zusammengelebt. Damals hatte sie noch Elizabeth Bossard geheißen. Nach dem zu urteilen, was R. J. hörte und sah, wenn Tom über sie redete, mußte er sie sehr gerne gehabt haben. Aber sie hatte ihn verlassen, nachdem sie Brian Sullivan kennengelernt hatte.
Sie hatte Brian geheiratet und war in die Niederlande gezogen, nach Den Haag, wo er als Marketingmanager für IBM arbeitete. Einige Jahre später wurde er nach Paris versetzt, und weniger als neun Jahre nach ihrer Heirat erlitt er einen Schlaganfall und starb. Zu diesem Zeitpunkt hatte Elizabeth Sullivan bereits zwei Kriminalromane veröffentlicht und verfügte über eine breite Leserschaft. Ihr Protagonist war ein Computerprogrammierer, der für seine Firma unterwegs war, und jedes Buch spielte in einem anderen Land. Sie reiste, wohin ihre Bücher sie führten, und lebte meistens ein oder zwei Jahre in dem Land, über das sie schrieb.
Tom hatte die Anzeige von Brian Sullivans Tod in der »New York Times« gesehen, Betts einen Beileidsbrief geschrieben und darauf von ihr eine Antwort erhalten. Abgesehen davon, hatte er in all den Jahren nicht einmal eine Postkarte von ihr bekommen und auch nicht sehr viel an sie gedacht, bis sie ihn eines Tages anrief und ihm sagte, daß sie Krebs habe.
»Ich war bei Ärzten in Spanien und Deutschland, und ich weiß, daß die Krankheit in einem fortgeschrittenen Stadium ist. Ich habe beschlossen, nach Hause zu kommen, um mich hier behandeln zu lassen. Der Arzt in Berlin hat jemanden vom Sloan-Kettering in New York vorgeschlagen, aber ich wußte, daß du Arzt in Boston bist, und deshalb bin ich hierhergekommen.«
Tom wußte, was sie damit sagen wollte. Auch Elizabeth’ Ehe war kinderlos geblieben. Mit acht Jahren hatte sie ihren Vater bei einem Unfall verloren, und ihre Mutter war vier Jahre später an dem gleichen Krebs gestorben, an dem Betts jetzt litt. Aufgewachsen war sie bei der fürsorglichen einzigen Schwester ihres Vaters, die jetzt in einem Pflegeheim in Cleveland lebte. Außer Tom Kendricks hatte sie niemanden mehr, an den sie sich wenden konnte.
»Das nimmt mich sehr mit«, sagte er zu R. J.
»Das glaube ich dir gern.«
Das Problem überstieg bei weitem die Fähigkeiten eines Allgemeinchirurgen. Tom und R. J. besprachen sich und zogen alles in Betracht, was sie über Betts’ Fall wußten; es war das erste Mal seit langem, daß es zwischen ihnen zu einem solchen Gedankenaustausch kam. Dann hatte Tom für Elizabeth einen Termin im Dana-Farber Cancer Institute ausgemacht und nach allen Untersuchungen und Tests mit Howard Fisher, dem behandelnden Arzt, gesprochen.
»Das Karzinom hat sich schon stark ausgebreitet«, hatte Fisher gesagt. »Ich habe schon Zurückbildungen bei Patienten erlebt, die in einem schlimmeren Zustand waren als Ihre Freundin, aber Sie werden sicher verstehen, daß ich keine großen Hoffnungen habe.«
»Natürlich verstehe ich das«, hatte Tom erwidert, und der Onkologe hatte einen Therapieplan ausgearbeitet, der Bestrahlung und Chemotherapie verband.
R. J. hatte Elizabeth vom ersten Augenblick an gemocht; sie war eine vollschlanke Frau mit rundem Gesicht, die sich so vorteilhaft kleidete wie eine Europäerin, die es sich aber in ihren mittleren Jahren gestattete, etwas rundlicher zu sein, als es die augenblickliche Mode erlaubte. Sie war nicht bereit aufzugeben, sie war eine Kämpfernatur. R. J. hatte ihr geholfen, eine kleine Eigentumswohnung an der Massachusetts Avenue zu finden, und sie und Tom besuchten die Kranke so oft wie möglich, als Freunde, nicht als Ärzte.
R. J. nahm Betts mit zu einer Aufführung von »Dornröschen« durch das Boston Ballet und zum ersten Herbstkonzert der Sinfoniker, wobei sie weit oben in den Rängen saß und Betts ihren Abonnementsplatz in der Mitte der siebten Parkettreihe überließ.
»Habt ihr nur eine Abonnementskarte?«
»Tom geht nicht ins Theater. Wir haben verschiedene Interessen. Er geht gerne zu Eishockeyspielen und ich nicht«, sagte R. J., und Elizabeth nickte nachdenklich und meinte, Seiji Ozawa habe ihr als Dirigent sehr gut gefallen.
»Warte auf die Boston Pops im nächsten Sommer, die wirst du mögen! Die Leute sitzen an kleinen Tischen und trinken Champagner oder Limonade und hören sich leichtere Sachen an. Sehr gemütlich!«
»Ja, da müssen wir unbedingt hin!« sagte Betts.
Die Boston Pops waren ihr nicht mehr vergönnt. Der Winter hatte erst begonnen, als ihre Krankheit sich ernstlich verschlimmerte; die Wohnung hatte sie nur sieben Wochen lang gebraucht. Im Middlesex Memorial Hospital gab man ihr ein Einzelzimmer auf der VIP-Etage, und die Bestrahlungen wurden intensiviert. Schon sehr bald fielen ihr die Haare aus, und sie verlor Gewicht.
Sie blieb so vernünftig, so ruhig. »Weißt du, daraus könnte man ein interessantes Buch machen«, sagte sie zu R. J. »Aber ich habe nicht die Kraft, es zu schreiben.«
Zwischen den beiden Frauen hatte sich ein herzliches Einvernehmen entwickelt, aber als sie eines Abends zu dritt im Krankenzimmer saßen, war es Tom, an den Betts sich wandte. »Ich will, daß du mir etwas versprichst. Du mußt mir schwören, nicht zuzulassen, daß mein Leiden unnötig verlängert wird.«
»Ich schwöre es«, sagte er, beinahe ein Hochzeitsgelübde.
Elizabeth wollte ihr Testament neu abfassen und eine schriftliche Erklärung abgeben, in der sie verfügte, daß ihr Leben nicht künstlich durch Medikamente oder Apparate verlängert werden solle. Sie bat R. J., ihr einen Anwalt zu besorgen, und R. J. rief Suzanne Lorentz von »Wigoder, Grant & Berlow« an, der Kanzlei, in der sie selbst kurz gearbeitet hatte.
Einige Tage später stand Toms Auto bereits in der Garage, als R. J. abends vom Krankenhaus kam. Sie fand ihn in der Küche am Tisch, wo er ein Bier trank und fernsah.
»Hallo! Hat die Lorentz dich angerufen?« Er schaltete den Fernseher aus.
»Hallo! Suzanne? Nein, ich habe noch nichts von ihr gehört.« »Mich hat sie angerufen. Sie will, daß ich Betts’ medizinisch-juristischer Beistand werde. Aber das kann ich nicht. Ich gehöre offiziell zum Kreis ihrer behandelnden Ärzte, und das würde einen Interessenskonflikt darstellen, nicht?«
»Ja, das würde es.«
»Willst du? Ihr medizinisch-juristischer Beistand werden, meine ich.«
Er hatte zugenommen und sah aus, als würde er nicht genug schlafen. Auf dem Hemd hatte er Kekskrümel. Es machte R. J. traurig, mit ansehen zu müssen, wie ein wichtiger Bestandteil seines Lebens dahinstarb.
»Ja, das wird sich machen lassen.«
»Danke!«
»Nichts zu danken«, sagte sie, ging hinauf in ihr Zimmer und zu Bett.
Max Roseman hatte eine lange Rekonvaleszenz vor sich und deshalb beschlossen, in den Ruhestand zu gehen. R. J. erfuhr dies nicht von Sidney Ringgold, denn von ihm gab es überhaupt keine offizielle Verlautbarung. Aber Tessa kam strahlend mit der Nachricht ins Zimmer. Sie wollte ihre Quelle nicht verraten, doch R. J. hätte wetten mögen, daß Tessa es von Bess Harrison erfahren hatte, Max Rosemans Sekretärin.
»Es heißt, Sie gehören zu denen, die ernsthaft als Dr. Rosemans Nachfolger in Frage kommen«, sagte Tessa. »O Mann! Ich glaube, Sie haben eine echte Chance. Ich glaube, der Posten des stellvertretenden Direktors wäre für Sie die erste Sprosse auf einer langen, langen Leiter. Wollen Sie lieber Dekan der Medical School oder medizinischer Direktor des Krankenhauses werden? Aber egal, wo Sie landen, werden Sie mich dorthin mitnehmen?«
»Vergessen Sie es! Ich werde diese Stelle nicht bekommen. Aber Sie werde ich überallhin mitnehmen. Sie hören so viele Gerüchte. Und Sie holen mir jeden Morgen meinen Kaffee, Sie Dummkopf!«
Es war nur eins von vielen Gerüchten, die durch das Krankenhaus schwirrten. Hin und wieder machte jemand eine schlaue Bemerkung und gab R. J. damit zu verstehen, alle Welt wisse, daß ihr Name auf einer Liste stehe. Sie kam nicht auf die Idee, den Atem anzuhalten. Sie wußte nicht einmal, ob sie die Stelle so interessierte, daß sie sie annehmen würde, falls man sie ihr anbot.
Elizabeth hatte bald so viel Gewicht verloren, daß R. J. für kurze Zeit eine Ahnung davon bekam, wie sie als das schlanke junge Mädchen ausgesehen haben mußte, das Tom geliebt hatte. Ihre Augen wirkten größer, die Haut wurde durchscheinend. R. J. wußte, daß sie auf der Schwelle zur Auszehrung stand.
Zwischen den beiden herrschte eine eigenartige Vertrautheit, eine resignative Einsicht, die sie intimer verband als Schwestern. Teilweise rührte das daher, daß sie Erinnerungen an denselben Geliebten teilten. Dabei versuchte R. J., sich Elizabeth und Tom nicht beim Sex vorzustellen. Hatte er sich im Bett genauso verhalten wie bei ihr? Hatte er Elizabeth’ Po auch so gestreichelt? Ihren Nabel geküßt, wenn er den Höhepunkt hinter sich hatte? Elizabeth, überlegte R. J., muß ganz ähnliche Gedanken haben, wenn sie mich anschaut. Doch war dabei von Eifersucht keine Spur; die beiden waren nur auf eine besondere Weise vertraut miteinander. So todkrank sie war, blieb Elizabeth doch einfühlsam und scharfsinnig.
»Du und Tom, werdet ihr beide euch trennen?« fragte sie eines Abends, als R. J. sie auf dem Nachhauseweg besuchte.
»Ja. Ich glaube, schon sehr bald.«
Elizabeth nickte. »Das tut mir leid«, sagte sie, tröstend trotz ihrer Schwäche; aber ganz offensichtlich war für sie diese Eröffnung nicht überraschend gekommen. R. J. wünschte sich, daß sie sich schon viel früher begegnet wären.
Sie wären wunderbare Freundinnen geworden.
Diese Donnerstage.
In jüngeren Jahren war R. J. politisch ausgesprochen aktiv gewesen, jetzt schien es ihr, als habe sie nur noch die Donnerstage.
Babys waren für sie etwas sehr Wichtiges, und der Gedanke, eine Geburt zu verhindern, bereitete ihr deshalb Unbehagen. Eine Abtreibung war häßlich und schmutzig. Manchmal kam diese Tätigkeit ihren anderen beruflichen Interessen in die Quere, weil einige ihrer Kollegen sie mißbilligten; und aus Angst um seinen Ruf hatte ihr Mann ihr Engagement in dieser Richtung immer gefürchtet und gehaßt.
Aber in Amerika herrschte ein Abtreibungskrieg. Viele Ärzte wurden aus den Kliniken vertrieben, wurden eingeschüchtert von dummen und taktlosen Drohungen der Anti-Abtreibungs-Bewegung. R. J. war der Überzeugung, daß jede Frau das Recht hatte, über ihren Körper selbst zu bestimmen, und deshalb fuhr sie jeden Donnerstagmorgen nach Jamaica Plain und schlich sich durch die Hintertür in die Klinik, um den Demonstranten aus dem Weg zu gehen, den Transparenten, die man vor ihr schwenkte, den Kruzifixen, die man ihr entgegenreckte, dem Blut, mit dem man sie bespritzte, den Föten in Flaschen und den Beleidigungen.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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