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Alle drei Romane der bekannten Medicus-Trilogie in einem Band!
Der Medicus
Der Waisenjunge Rob findet bei einem Bader Schutz und wird sein gelehriger Schüler. Nach dem Tod seines Meisters bricht er nach Persien auf, denn dort, im fernen Isfahan, lehrt Avicenna, der berühmteste aller Ärzte. Rob trotzt mutig den Gefahren seiner weiten Reise, Hunger, Pest und den Überfällen religiöser Fanatiker. Unbeirrt folgt er seiner Berufung als Arzt und Heiler.
Der Schamane
Rob J. Cole, der Nachfahre des legendären Medicus, muss auf eine vielversprechende Laufbahn in Schottland verzichten und sucht sein Glück in der Neuen Welt. Er erwirbt im Tal des Mississippi Land – Land, das früher den Indianern vom Stamm der Sauks gehörte. Die Begegnung mit den Indianern wird für ihn entscheidend: Er beginnt, die heilenden Kräfte der Natur einzusetzen, und findet in Makwa-ikwa, der Priesterin und Medizinfrau der Sauks, eine Freundin und Helferin. Doch bald lernen Cole und seine Familie auch die Schattenseiten des jungen Amerika kennen.
Die Erben des Medicus
Als Dr. Roberta J. Cole beschließt, ihre kriselnde Ehe und ihre Karriere in der Bostoner Großklinik hinter sich zu lassen, um Landärztin zu werden, erfährt ihr Leben eine ungeahnte Wende. Inmitten der grünen Hügel von Massachusetts trifft sie auf den Aussteiger David Markus aus New York. Schon bald kommen die beiden Stadtflüchtlinge sich näher. Aber nicht nur David kämpft mit Problemen, vor denen er vergeblich zu fliehen sucht. Auch seine Tochter Sarah steht vor der schwierigsten Entscheidung ihres Lebens – und braucht die Hilfe von Roberta, der Frau, die ihr den Vater wegzunehmen droht.
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Seitenzahl: 2782
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Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
ISBN 978-3-641-28403-9V002
In LiebeNina gewidmet,die mir Lorrainegeschenkt hat
Fürchte Gott und halte seine Gebote;denn das gilt für alle Menschen.DER PREDIGER SALOMO 12.13
Ich danke dir dafür,dass ich wunderbar gemacht bin.PSALM 139.14
… und die Toten,erwecken wird sie Allah.KORAN S. 6.36.
Die Starken bedürfen des Arztes nicht,sondern die Kranken.MATTHÄUS 9.12
Es waren Robs letzte ruhige und geborgene Augenblicke seliger Unschuld, doch in seiner Arglosigkeit hatte er es als ungerecht empfunden, dass er mit seinen Geschwistern zu Hause bleiben musste. Der Frühling hatte gerade erst begonnen, und die Sonne stand tief am Himmel, so dass ihre warmen Strahlen unter die Traufe des Strohdachs drangen. Rob hatte es sich auf den groben Trittsteinen vor der Tür bequem gemacht. Eine Frau suchte sich vorsichtig ihren Weg über die holprige Carpenter’s Street. Die Straße musste dringend instand gesetzt werden, und das galt auch für die meisten der kleinen Arbeiterhäuser. Sie waren achtlos von Handwerkern zusammengezimmert worden, die ansonsten ihr Geld mit dem Bau stabiler Häuser für die Reichen und vom Glück Begünstigten verdienten.
Er war damit beschäftigt, einen Korb Früherbsen zu enthülsen, und versuchte gleichzeitig, seine jüngeren Geschwister im Auge zu behalten, wie er es immer tat, wenn Mam unterwegs war. William Stewart, sechs Jahre alt, und Anne Mary, vier, buddelten neben dem Haus im Dreck und spielten kichernd geheime Spiele. Der achtzehn Monate alte Jonathan Carter lag auf einem Lammfell, schmatzte, machte Bäuerchen und gluckste zufrieden. Der siebenjährige Samuel Edward war Rob entwischt. Irgendwie schaffte es der gerissene Samuel immer, sich zu verdrücken, statt bei der Arbeit zu helfen, und Rob hielt wütend nach ihm Ausschau. Er schlitzte eine grüne Hülse nach der anderen auf und schabte die Erbsen mit dem Daumen aus den wächsernen Samenkapseln, so wie Mam es machte. Auch als er die Frau bemerkte, die direkt auf ihn zukam, unterbrach er seine Arbeit nicht.
Sie trug ein schmutziges Mieder, dessen Stäbchen den Busen hochdrückten, so dass bei manchen ihrer Bewegungen eine rotbemalte Brustwarze zu sehen war; ihr fleischiges Gesicht strotzte vor Schminke. Rob war erst neun Jahre alt, aber als Londoner Kind erkannte er eine Dirne auf den ersten Blick.
»He du. Wohnt hier Nathanael Cole?«
Er musterte sie gereizt; es war nicht das erste Mal, dass eine Hure bei ihnen auftauchte und zu seinem Vater wollte. »Wer will das wissen?«, fragte er barsch. Er war froh, dass sein Pa auf Arbeitssuche war und sie ihn nicht antraf, froh, dass seine Mam unterwegs war, um ihre Stickarbeiten auszuliefern, und ihr so die Peinlichkeit erspart blieb.
»Seine Frau braucht ihn. Sie hat mich hergeschickt.«
»Was soll das heißen, sie braucht ihn?« Die geschickten jungen Hände hatten aufgehört, Erbsen zu enthülsen.
Die Dirne hatte an seinem Ton und Verhalten erkannt, welche Meinung er von ihr hatte, und sah ihn kühl an. »Deine Mutter?«
Er nickte.
»Sie hat schlimme Wehen. Liegt in Egglestans Stall am Puddle Dock. Such lieber deinen Vater und sag ihm Bescheid.« Damit wandte sich die Frau zum Gehen.
Der Junge blickte sich verzweifelt um. »Samuel!«, schrie er, aber der verdammte Samuel war wieder mal Gott weiß wo, und Rob holte William und Anne Mary vom Spielen weg. »Pass auf die Kleinen auf, William«, sagte er. Dann rannte er los.
Für die, auf deren Schwatzhaftigkeit man bauen konnte, war das Jahr des Herrn 1021, in dem Agnes Cole zum achtenmal schwanger war, das Jahr des Satans. Es stand im Zeichen verhängnisvoller Geschehnisse und furchtbarer Naturkatastrophen. Bereits im Herbst des Vorjahres hatten bittere Fröste, die sogar die Flüsse mit Eis überzogen, die Ernte auf den Feldern vernichtet. Es hatte geregnet wie nie zuvor, und als dann Tauwetter einsetzte, trat die Themse über die Ufer und riss Brücken und Häuser mit sich. Sternschnuppen jagten strahlend hell über den stürmischen Winterhimmel, und ein Komet wurde gesichtet. Im Februar erschütterte ein Beben die Erde. Ein Blitz schlug in ein Kruzifix ein, und die Menschen raunten sich zu, dass Christus und seine Heiligen im Schlaf lägen. Man munkelte, dass aus einer Quelle drei Tage lang Blut geflossen sei, und Reisende wussten zu berichten, dass der Teufel sich in Wäldern und an geheimen Orten gezeigt habe.
Agnes hatte ihrem Ältesten gesagt, er solle auf das Geschwätz nichts geben. Aber beklommen hatte sie hinzugefügt, dass Rob sich bekreuzigen müsse, sollte er etwas Ungewöhnliches sehen oder hören.
In diesem Jahr haderten die Menschen mit Gott, denn nach der Missernte herrschten nun schwere Zeiten. Nathanael hatte seit mehr als vier Monaten kein Geld verdient, er lebte vom Talent seiner Frau, feine Stickarbeiten auszuführen.
Als Jungvermählte waren sie und Nathanael ganz krank vor lauter Liebe und voller Hoffnungen für die Zukunft; er hatte vor, als selbstständiger Baumeister reich zu werden. Aber in der Zimmermannszunft waren die Aufstiegsmöglichkeiten rar und von einem Prüfungsausschuss abhängig, der Probebauten so genau in Augenschein nahm, als ob jeder einzelne Bauteil für den König gedacht wäre. Nathanael hatte sechs Jahre als Zimmermannslehrling und doppelt so lange als Geselle gearbeitet. Jetzt wäre die Prüfung zum Zimmermannsmeister fällig, die Voraussetzung zur Selbstständigkeit. Doch um den Meister zu schaffen, brauchte man Kraft und günstige Umstände, und ihm fehlte der Mut, es zu versuchen.
Noch immer drehte sich ihr Leben um die Handwerksgilde, aber nun war selbst von der Londoner Zimmermannszunft keine Hilfe mehr zu erwarten, denn jeden Morgen, wenn Nathanael sich am Zunfthaus meldete, musste er erfahren, dass es keine Arbeit gab. Gemeinsam mit anderen Enttäuschten suchte er Trost in einem Gebräu, das sie Pigment nannten: Einer der Zimmerleute hatte Honig dabei, ein anderer holte ein paar Gewürze hervor, und einen Krug Wein hatte die Zunft immer parat.
Die Zimmermannsfrauen verrieten Agnes, dass oftmals einer der Männer loszog und von irgendwoher eine Frau anschleppte, mit der sich die arbeitslosen und trunkenen Ehemänner nacheinander vergnügten.
Trotz Nathanaels Schwächen konnte sie sich nicht von ihm abwenden, dazu liebte sie die Freuden des Fleisches zu sehr. Er sorgte dafür, dass ihr Bauch immer dick war. Kaum hatte sie ein Kind zur Welt gebracht, machte er ihr gleich wieder eins, und immer, wenn sie kurz vor der Niederkunft war, hielt er sich von zu Hause fern. Ihr Leben gestaltete sich fast genauso trostlos, wie ihr Vater es prophezeit hatte, als sie, schon in anderen Umständen, den jungen Zimmermann heiratete, der nach Watford gekommen war, um beim Bau einer Scheune für ihren Nachbarn mitzuhelfen. Ihr Vater hatte ihre Schulbildung dafür verantwortlich gemacht, denn seiner Ansicht nach führte Bildung bei einer Frau nur zu törichter Lüsternheit.
Ihr Vater besaß ein kleines Gehöft, das ihm Aethelred von Wessex zum Dank für soldatische Dienste übereignet hatte. Er war der Erste in der Familie Kemp, der es zum Freisassen brachte. Walter Kemp hatte seine Tochter zur Schule geschickt, in der Hoffnung, dass sie einen Grundbesitzer zum Mann bekäme, denn für einen Eigentümer großer Ländereien war es von Vorteil, eine Vertrauensperson zu haben, die lesen und rechnen konnte, und warum sollte das nicht die eigene Ehefrau sein? Er war bitter enttäuscht, als er erleben musste, dass sie so weit unter ihrem Stand heiratete. Nicht einmal enterben konnte er sie, der Arme. Nach seinem Tod war sein kleiner Besitz wegen ausstehender Steuerabgaben wieder an die Krone gefallen.
Aber sein Ehrgeiz hatte ihr Leben geprägt. In ihrer Erinnerung waren die fünf Jahre, die sie als Kind in der Klosterschule verbracht hatte, die glücklichste Zeit ihres Lebens gewesen. Die Nonnen hatten scharlachrote Schuhe getragen und weiß-violette Gewänder und Schleier, so zart wie Wolken. Sie hatten ihr Lesen und Schreiben beigebracht und ein bisschen Latein, die Sprache des Katechismus. Sie hatten ihr beigebracht, wie man Kleider zuschnitt und einen unsichtbaren Saum nähte und die kunstvollen Goldstickereien anfertigte, die in Frankreich, wo man sie als »englische Stickereien« bezeichnete, sehr gefragt waren. Von dem »Unfug«, den sie bei den Nonnen gelernt hatte, lebte nun ihre Familie.
An diesem Morgen hatte sie hin und her überlegt, ob sie sich auf den Weg machen sollte, ihre Stickarbeiten auszuliefern. Sie stand kurz vor der Niederkunft, und sie fühlte sich unförmig und schwerfällig, aber die Speisekammer war fast leer. Sie musste zum Billingsgate Market, um dunkles und weißes Mehl zu kaufen, aber dazu brauchte sie das Geld, das ihr der Stickereihändler zahlte, der auf der anderen Seite des Flusses in Southwark wohnte. Mit ihrem kleinen Bündel ging sie langsam über die Thames Street in Richtung London Bridge.
Wie immer herrschte auf der Thames Street ein Gedränge von Packtieren und Schauerleuten, die zwischen den höhlenartigen Lagerhäusern und dem Wald von Schiffsmasten an den Kais Waren hin- und herschleppten. Trotz aller Sorgen war sie Nathanael dankbar, dass er sie von Watford und vom Geschäft ihres Vaters weggeholt hatte.
Wie sehr sie diese Stadt liebte!
»Du Hurensohn. Du kommst auf der Stelle zurück und gibst mir mein Geld. Los, her damit«, schrie eine wütende Frau jemandem zu, den Agnes nicht sehen konnte.
Lachsalven vermischten sich mit Wortfetzen in fremden Sprachen. Flüche klangen wie liebevolle Segenssprüche.
Sie ging an zerlumpten Unfreien vorbei, die Eisenbarren auf Schiffe schleiften. Hunde bellten die bedauernswerten Männer an, die unter ihren grausamen Lasten ächzten, Schweißperlen glänzten auf den kahl geschorenen Schädeln. Sie atmete den Knoblauchgeruch ein, den diese ungewaschenen Körper verströmten, und den Metallgeruch der Eisenbarren und dann einen weit angenehmeren Duft, der von einem Karren kam, auf dem einer Fleischpasteten feilbot. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen, doch sie hatte bloß eine einzige Münze in der Tasche und hungrige Kinder daheim. »Pasteten, sündhaft köstliche Pasteten«, rief der Mann. »Heiß und lecker!«
Die Docks dufteten nach sonnenwarmem Kiefernharz und geteerten Tauen. Agnes hielt eine Hand vor dem Bauch, als sie beim Gehen spürte, wie sich ihr Baby bewegte, das in dem Ozean zwischen ihren Hüften schwamm. An der Ecke sang eine Gruppe von Matrosen aus vollem Halse, begleitet von drei Musikanten, die Querpfeife, Trommel und Harfe spielten. Als Agnes an ihnen vorbeiging, fiel ihr ein Mann auf, der an einem merkwürdigen, mit den Tierkreiszeichen bemalten Wagen lehnte. Der Mann war um die vierzig, sein schütteres Haar war, wie sein Bart, rötlich braun. Er hatte ein sympathisches Gesicht, und er hätte besser ausgesehen als Nathanael, wäre er nur nicht so dick gewesen. Er wirkte frisch und gesund, und sein Bauch wölbte sich genauso prall wie der ihre. Aber seine Dickleibigkeit war nicht abstoßend, sondern sogar entwaffnend und anziehend, verriet sie doch, dass hier ein freundlicher, geselliger Mensch den Freuden des Lebens durchaus zugetan war. Seine blauen Augen schimmerten und strahlten wie sein Lächeln. »Hübsche Frau, wollt Ihr meine Liebste sein?«, fragte er. Überrascht blickte sie sich um, um zu sehen, mit wem er sprach, doch außer ihr war niemand da.
»Ha!« Normalerweise hätte sie ihn keines Blickes gewürdigt, doch sie hatte Humor und mochte Männer mit Humor, und das war einfach zu komisch.
»Wir sind wie füreinander geschaffen. Ich würde für Euch sterben, werte Dame«, rief er ihr feurig hinterher.
»Nicht nötig, mein Herr. Das hat Christus schon getan«, sagte sie. Sie hob den Kopf, straffte die Schultern und wiegte sich verführerisch in den Hüften, während sie ihren unerhört riesigen schwangeren Bauch vor sich herschob und in sein Gelächter einfiel.
Es war lange her, dass ein Mann ihr Komplimente gemacht hatte, wenn auch nur im Scherz, und der alberne Wortwechsel hob ihre Stimmung, während sie weiter die Thames Street entlangging. Sie lächelte noch, als sie sich dem Puddle Dock näherte; da plötzlich setzten die Wehen ein.
»Barmherzige Mutter«, flüsterte sie.
Wieder setzte der Schmerz ein, begann im Unterleib, breitete sich dann aber über ihren ganzen Körper und alle ihre Sinne aus, so dass sie sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Als sie auf das Kopfsteinpflaster niedersank, platzte die Fruchtblase.
»Hilfe!«, rief sie. »Helft mir!«
Sofort lief ein Schwung neugieriger Londoner herbei, und sie sah sich von Beinen umringt. Durch einen Nebel von Schmerzen nahm sie einen Kreis von Gesichtern wahr, die auf sie herabblickten.
Agnes stöhnte.
»He, ihr Saubande«, schimpfte der Fuhrmann. »Lasst der Frau Platz zum Atmen. Und schafft sie von der Straße, damit wir mit unseren Wagen durchkommen. Wir wollen unser täglich Brot verdienen.«
Man trug sie an einen dunklen, kühlen Ort, wo es stark nach Dung roch, und irgendjemand machte sich mit ihrem Bündel Stickereien davon. Ein Huf schlug knallend gegen ein Brett, und es war lautes Wiehern zu hören.
»Was soll das? Ihr könnt sie nicht hier hereinbringen«, sagte eine mürrische Stimme. Sie gehörte einem aufgeregten kleinen Mann mit Schmerbauch und großen Lücken zwischen den Zähnen, und als Agnes seine Stallknechtstiefel und die Mütze sah, erkannte sie Geoff Egglestan und wusste, dass sie in seinem Stall war. Vor über einem Jahr hatte Nathanael hier ein paar neue Verschläge gebaut, und diesen Umstand wollte sie sich zunutze machen.
»Master Egglestan«, sagte sie schwach. »Ich bin Agnes Cole, die Frau des Zimmermanns, der Euch wohlbekannt ist.«
Sie meinte, in seinem Gesicht widerwilliges Erkennen zu lesen, und die verdrossene Einsicht, dass er sie nicht fortschicken konnte.
Hinter ihm drängten sich die Leute mit vor Neugier glänzenden Augen.
Agnes atmete schwer. »Bitte, würde jemand wohl so freundlich sein und meinen Mann holen?«, bat sie.
»Ich kann hier nicht weg«, brummte Egglestan. »Das muss jemand anders machen.«
Niemand rührte sich oder sagte etwas. Sie griff in die Tasche und holte das Geldstück hervor. »Bitte«, sagte sie wieder und hielt es hoch.
»Ich werde meine Christenpflicht erfüllen«, meldete sich sogleich eine Frau, offensichtlich eine Dirne. Ihre Finger schlossen sich wie eine Kralle um die Münze.
Die Schmerzen waren unerträglich, neu und anders. Sie war schnell aufeinanderfolgende Wehen gewohnt; nach den ersten beiden Schwangerschaften waren die Geburten etwas schwierig gewesen, doch mit der Zeit hatte sich die Gebärmutter gedehnt. Vor und nach der Geburt von Anne Mary hatte sie Fehlgeburten gehabt, aber Jonathan und auch das Mädchen waren nach dem Platzen der Fruchtblase mühelos aus ihrem Körper geglitten, wie glatte kleine Samen, die man mit zwei Fingern herausdrückt. Bei fünf Geburten hatte sie nichts Derartiges erlebt.
Liebe Agnes, flehte sie im stummen Gebet. Liebe Agnes, die du den Lämmern beistehst, steh auch mir bei.
Jedes Mal, wenn sie in den Wehen lag, betete sie zu ihrer Namenspatronin, und die heilige Agnes half, doch diesmal war die ganze Welt ein unaufhörlicher Schmerz, und das Kind steckte in ihr wie ein großer Pfropfen.
Schließlich wurde eine vorbeikommende Hebamme auf ihre rauen Schreie aufmerksam, ein altes Weib, das ziemlich betrunken war. Unter Flüchen jagte sie die Gaffer aus dem Stall, und als sie zurückkam, musterte sie Agnes voller Ekel. »Die verdammten Kerle haben dich mitten in die Scheiße gelegt«, murmelte sie. Es gab keinen besseren Platz im Stall. Sie schob Agnes die Röcke bis zur Taille hoch und schnitt die Unterwäsche auf; dann fegte sie den strohigen Dung vor dem weit offenen Schoß mit den Händen beiseite, die sie an ihrer schmutzigen Schürze abwischte.
Aus ihrer Tasche kramte sie ein Fläschchen Schweinefett hervor, das schon vom Blut und den Säften anderer Frauen dunkel gefärbt war. Sie tat sich etwas von dem ranzigen Fett auf die Hände und bewegte sie wie beim Waschen, bis sie gut eingeschmiert waren. Dann schob sie zuerst zwei Finger, dann drei, dann die ganze Hand in die geweitete Öffnung der pressenden Frau, die mittlerweile heulte wie ein Tier.
Rob war zunächst in Richtung Puddle Dock gelaufen. Doch dann wurde ihm klar, dass er ja seinen Vater finden musste, und er lief zur Zimmermannszunft, wie es jedes Kind eines Mitglieds tun würde, wenn es Schwierigkeiten gab.
Die Londoner Zimmermannszunft war am Ende der Carpenter’s Street in einem alten Gebäude aus Flechtwerk untergebracht, einem Fachwerk, dessen Balken mit Weidenruten und Zweigen verflochten und mit einer dicken Schicht Mörtel bedeckt waren, die alle paar Jahre erneuert werden musste. In dem geräumigen Zunfthaus saßen ein Dutzend Männer in Lederwämsen auf den einfachen Stühlen, die wie die Tische von den Mitgliedern des Hausausschusses gezimmert worden waren. Rob erkannte Nachbarn und Männer aus der Zehnschaft seines Vaters, aber Nathanael war nicht dabei.
Die Zunft war für die Londoner Holzarbeiter alles: Arbeitsvermittlung, Krankenhaus, Bestattungsinstitut, gesellschaftlicher Mittelpunkt; sie bot Hilfe bei Arbeitslosigkeit, war Schiedsstelle, vermittelte größere und kleinere Aufträge, setzte sich für die Belange ihrer Mitglieder ein und war moralische Stütze. Diese straff organisierte Gesellschaft bestand aus vier Gruppen von Zimmerleuten, die Hundertschaften genannt wurden. Jede Hundertschaft setzte sich aus zehn Zehnschaften zusammen, die unter sich im kleineren Kreis Versammlungen abhielten, und erst wenn eine Zehnschaft ein Mitglied durch Tod, längere Erkrankung oder Abwanderung verlor, wurde ein neues Mitglied als Zimmermannslehrling in die Zunft aufgenommen, in der Regel anhand einer Warteliste, auf der die Namen von Söhnen der Mitglieder standen. Das Wort des Zunftmeisters galt genauso viel wie das eines Fürsten, und auf diese Autorität, Richard Bukerel, steuerte Rob jetzt zu.
Bukerel ging gebückt, als würde er von der auf seinen Schultern lastenden Verantwortung förmlich niedergedrückt. Alles an ihm wirkte dunkel. Sein Haar war schwarz, seine Augen hatten die Farbe alter Fichtenrinde; die enge Hose, Kittel und Wams waren aus grobem Wollstoff, der in kochendem Wasser unter Zusatz von Walnussschalen gefärbt worden war, und seine Haut hatte die Farbe von gebeiztem Leder, von der Sonne gegerbt beim Bau zahlloser Häuser. Er bewegte sich, dachte und sprach mit Bedacht und hörte Rob aufmerksam zu.
»Nathanael ist nicht hier, mein Junge.«
»Wisst Ihr, wo ich ihn finden kann, Meister Bukerel?«
Bukerel zögerte. »Entschuldige mich, bitte«, sagte er schließlich und ging zu einigen Männern hinüber, die am Nebentisch saßen.
Rob schnappte nur hier und da ein Wort oder einen geflüsterten Satz auf:
»Bei diesem Weibsstück?«, murmelte Bukerel.
Gleich darauf kam der Zunftmeister wieder. »Wir wissen, wo dein Vater ist«, sagte er. »Lauf zu deiner Mutter, mein Junge. Wir holen Nathanael und kommen sofort nach.«
Rob stieß ein paar Dankesworte aus und rannte los.
Ohne eine Verschnaufpause lief er in Richtung Puddle Dock. Er wich Fuhrwerken und Betrunkenen aus und rannte im Zickzack durch dichtes Menschengewühl. Auf halbem Weg sah er seinen Erzfeind Anthony Tite, mit dem er sich im letzten Jahr dreimal schlimm geprügelt hatte. Gemeinsam mit zwei von seinen üblen Freunden piesackte Anthony ein paar Unfreie, die als Schauermänner arbeiteten.
Halt mich jetzt bloß nicht auf, Bürschchen, dachte Rob eiskalt. Riskier’s nur, du Winzling, aber dann zeig ich’s dir.
So wie eines Tages seinem verkommenen Pa.
Er sah, wie Anthony von einem seiner Freunde auf ihn aufmerksam gemacht wurde, doch da war er schon an ihnen vorbei.
Atemlos und mit Seitenstechen erreichte er Egglestans Stall just in dem Augenblick, als eine ihm unbekannte alte Frau ein Neugeborenes wickelte.
Im Stall roch es streng nach Pferdemist und dem Blut seiner Mutter. Mam lag auf dem Boden. Sie hatte die Augen geschlossen, und ihr Gesicht war bleich. Er war erstaunt, wie klein sie war.
»Mam?«
»Bist du der Sohn?«
Er nickte, seine schmale Brust hob und senkte sich.
Die alte Frau räusperte sich und spuckte auf den Boden. »Sie braucht Ruhe«, sagte sie.
Als sein Pa eintraf, würdigte er Rob kaum eines Blickes. Auf einem mit Stroh ausgelegten Karren, den Bukerel von einem Baumeister ausgeliehen hatte, brachten sie Mam zusammen mit dem Neugeborenen nach Hause. Es war ein Junge, der auf den Namen Roger Kemp Cole getauft werden sollte.
Nach jeder Geburt hatte Mam den anderen Kindern das Neugeborene voller Stolz und Übermut gezeigt. Jetzt lag sie einfach nur da und starrte zu dem Strohdach empor.
Schließlich wandte sich Nathanael an die Witwe Hargreaves von nebenan. »Sie kann noch nicht mal das Kind stillen«, sagte er zu ihr.
»Das gibt sich vielleicht wieder«, meinte Della Hargreaves. Sie kannte eine Amme und brachte den Kleinen zu ihr, zu Robs großer Erleichterung. Er hatte schon genug mit seinen anderen vier Geschwistern zu tun. Jonathan Carter war zwar schon aufs Töpfchen gegangen, doch jetzt, da seine Mutter sich nicht um ihn kümmern konnte, schien er es wieder verlernt zu haben.
Sein Pa blieb zu Hause. Rob sprach kaum mit ihm und ging ihm aus dem Weg.
Er vermisste den Unterricht, den Mam ihren Kindern jeden Morgen erteilt hatte, denn bei ihr war das Lernen ein fröhliches Spiel gewesen. Er kannte niemanden, der so viel Wärme und eine so liebevolle Ausgelassenheit besaß, so viel Geduld aufbrachte, wenn man nicht gleich alles verstand.
Rob wies Samuel an, William und Anne Mary vom Haus fernzuhalten. Am Abend weinte Anne Mary, weil sie ein Schlaflied hören wollte. Rob nahm sie in den Arm und nannte sie seine Maid Anne Mary, so ließ sie sich am liebsten nennen. Dann sang er ihr etwas vor von weichen, süßen Kaninchen und flaumigen Vögeln im Nest, trallala, und war froh, dass Anthony Tite das nicht mitbekam. Seine Schwester hatte rundere Wangen und eine zartere Haut als ihre Mutter, obwohl Mam immer behauptete, dass Anne Mary in Aussehen und Wesen ganz nach den Kemps schlug, das ging bis dahin, wie sich im Schlaf ihr Mund entspannte.
Am nächsten Tag sah Mam besser aus, aber Robs Vater meinte, die Farbe ihrer Wangen komme vom Fieber. Sie zitterte, und sie breiteten noch mehr Decken über sie.
Als Rob ihr am dritten Morgen etwas Wasser zu trinken gab, erschrak er über ihr heißes Gesicht. Sie streichelte seine Hand. »Mein Rob«, flüsterte sie. »Schon ein richtiger Mann.« Ihr Atem roch unangenehm, und sie keuchte.
Als er ihre Hand nahm, ging etwas von ihrem Körper aus und drang in sein Bewusstsein. Es war eine Art Gewissheit: Er wusste mit unbeirrbarer Sicherheit, was mit ihr geschehen würde. Er konnte nicht weinen. Er konnte nicht schreien. Die Nackenhaare sträubten sich ihm. Er spürte blankes Entsetzen. Selbst als Erwachsener hätte er nicht damit fertigwerden können, und er war doch noch ein Kind.
In seiner Panik drückte er die Hand seiner Mutter so fest, dass er ihr wehtat. Sein Vater sah es und versetzte ihm einen Schlag auf den Kopf.
Als er am nächsten Morgen aufstand, war seine Mutter tot.
Nathanael Cole saß da und weinte. Das machte seinen Kindern, die noch nicht richtig begriffen hatten, dass ihre Mutter für immer von ihnen gegangen war, Angst. Noch nie hatten sie ihren Vater weinen sehen, und sie drängten sich aneinander, blass und voller Furcht.
Die Zunft kümmerte sich um alles.
Die Frauen kamen. Nicht eine von ihnen war mit Agnes befreundet gewesen, die aufgrund ihrer Schulbildung mit Misstrauen beäugt worden war. Doch jetzt verziehen ihr die Frauen ihre Gelehrsamkeit und bahrten sie auf. Von da an hasste Rob den Geruch von Rosmarin. Wären die Zeiten besser gewesen, hätten sich die Männer am Abend nach der Arbeit eingefunden, aber viele waren arbeitslos und kamen schon früh. Hugh Tite, Anthonys Vater, der genauso aussah wie sein Sohn, kam als Vertreter der Sarghauer, ein ständiger Ausschuss, der Särge für die verstorbenen Mitglieder zimmerte.
Er klopfte Nathanael auf die Schulter. »Ich habe genügend Hartholzkiefernbretter beiseitegelegt. Sind von der Bardwell Tavern letztes Jahr übrig geblieben, schönes Holz, weißt du noch? Wir werden ihr alle Ehre machen.«
Hugh war ein angelernter Handwerker, und Rob hatte seinen Vater oft geringschätzig über ihn sprechen hören, weil er die Werkzeuge nicht gut pflegte, aber jetzt nickte Nathanael bloß teilnahmslos und wandte sich den Getränken zu.
Die Zunft hatte sie reichlich mit allem versorgt, denn ein Begräbnis war die einzige Gelegenheit, bei der man der Trink- und Esslust ungestraft frönen konnte. Neben Apfelwein und Ale gab es süßes Bier und ein Getränk namens Slip, eine Mischung aus Honig und Wasser, die sechs Wochen gegärt hatte. Außerdem gab es Pigment, den Freund und Seelentröster der Zimmerleute, einen nach Maulbeeren schmeckenden Wein, der Morat hieß, und einen würzigen Met, der als Metheglin bekannt war. Zu essen gab es gebratene Wachteln und Rebhühner in Hülle und Fülle, gebackenen und gebratenen Hasen und andere Wildgerichte, geräucherte Heringe, frische Forellen und Schollen sowie viele Laibe Gerstenbrot.
Die Zunft gab bekannt, dass sie zum seligen Andenken an Agnes Cole zwei Pence spenden würde, und stellte Sargträger zur Verfügung, die die Prozession zur Kirche anführten, dazu Totengräber, die das Grab schaufelten. In der St.-Botolphs-Kirche las ein Priester namens Kempton zerstreut die Messe und übergab Mam feierlich in Jesu Arme, und die Zunftmitglieder rezitierten zwei Psalmen für ihre Seele. Sie wurde auf dem Friedhof vor einer kleinen Eibe bestattet. Als sie zum Haus zurückkehrten, hatten die Frauen das Totenmahl zubereitet, und es wurde ausgiebig gegessen und getrunken; dank des Todes ihrer Nachbarin konnten die Gäste sich einmal richtig satt essen. Die Witwe Hargreaves saß bei den Kindern, stopfte sie mit Leckerbissen voll und machte viel Wirbel dabei. Sie drückte sie an ihren schweren, duftenden Busen, wo sie sich wanden und litten. Doch als William übel wurde, war es natürlich wieder Rob, der mit ihm hinters Haus ging und ihm den Kopf hielt, während er würgte und sich erbrach. Anschließend tätschelte Della Hargreaves William den Kopf und sagte, das läge am Kummer; aber Rob wusste, dass sie das Kind mit ihren selbst zubereiteten Speisen überfüttert hatte, und sorgte bis zum Schluss des Mahles dafür, dass die Kinder einen weiten Bogen um den eingelegten Aal der Witwe machten.
Rob verstand zwar, was der Tod bedeutete, dennoch ertappte er sich immer wieder dabei, dass er insgeheim darauf wartete, dass Mam nach Hause kam. Er wäre nicht sonderlich überrascht gewesen, wenn sie plötzlich zur Tür hereinspaziert wäre, mit Lebensmitteln vom Markt oder Geld von dem Stickereihändler in Southwark.
Geschichtsstunde, Rob.
Welche drei germanischen Stämme sind im fünften und sechsten Jahrhundert n. Chr. in England eingefallen?
Die Angeln, die Jüten und die Sachsen, Mam.
Woher kamen sie, mein Schatz?
Aus Germanien und Dänemark. Sie haben die Briten an der Ostküste besiegt und die Königreiche Northumbrien, Mercia und Ostanglien gegründet.
Wieso ist mein Sohn so klug?
Weil er eine kluge Mutter hat?
Genau! Da hast du einen Kuss von deiner klugen Mutter. Und noch einen, weil du einen klugen Vater hast. Deinen klugen Vater darfst du nie vergessen.
Zu seiner großen Überraschung blieb sein Vater zu Hause. Nathanael schien zwar mit den Kindern sprechen zu wollen, aber es gelang ihm nicht. Die meiste Zeit über beschäftigte er sich damit, das Strohdach auszubessern. Einige Wochen nach der Beerdigung, als die Betäubung langsam nachließ und Rob allmählich begriff, wie sehr sich sein Leben verändern würde, fand sein Vater endlich Arbeit.
Am Flussufer von London ist der Lehm braun und tief, ein zäher Schlamm, in dem die sogenannten Schiffbohrwürmer leben. Die Würmer hatten das Holz der Kaianlagen im Laufe von Jahrhunderten durchlöchert und große Zerstörungen angerichtet, so dass einige Ausbesserungsarbeiten erforderlich waren. Die Arbeit war ungemein anstrengend und mit dem Bau schöner Häuser nicht zu vergleichen, doch in seiner Not nahm Nathanael sie dankbar an.
Rob war nun für den Haushalt zuständig, obwohl er ein schlechter Koch war. Häufig brachte Della Hargreaves ihnen etwas zu essen oder kochte eine Mahlzeit, meist dann, wenn Nathanael zu Hause war. Sie achtete darauf, dass sie gut roch und nett und aufmerksam zu den Kindern war. Sie war stämmig, aber nicht unattraktiv, hatte einen frischen Teint, hohe Wangenknochen, ein spitzes Kinn und kleine fleischige Hände, die sie so selten wie möglich zur Arbeit benutzte. Rob hatte schon immer auf seine Geschwister aufgepasst, aber nun war er als Einziger für sie zuständig, und das gefiel weder ihm noch ihnen. Jonathan Carter und Anne Mary weinten ständig. William Stewart aß kaum noch, so dass sein Gesicht zusehends schmaler und seine Augen immer größer wurden. Samuel Edward war frecher denn je und brachte Schimpfworte nach Hause, die er Rob mit solchem Vergnügen an den Kopf warf, dass der Ältere ihm eine Tracht Prügel verpasste, weil er mit seiner Weisheit am Ende war.
Er versuchte, genau das zu tun, was sie seiner Ansicht nach getan hätte.
Wenn das Baby morgens seinen Brei bekommen und die anderen Kinder Gerstenbrot gegessen und etwas getrunken hatten, machte er den Herd unter dem runden Rauchabzugsloch sauber, durch das bei Regen zischend Tropfen ins Feuer fielen. Er brachte die Asche hinters Haus und kehrte die Fußböden. Er staubte die spärlichen Möbel in allen drei Räumen ab. Dreimal die Woche ging er auf den Markt in Billingsgate und kaufte die Lebensmittel ein, die seine Mutter mit nur einem einzigen wöchentlichen Gang zum Markt nach Hause geschafft hatte. Viele der Händler dort kannten ihn. Als er das erste Mal kam, sprachen ihm manche ihr Beileid aus und gaben ihm für die Familie Cole ein kleines Geschenk mit: ein paar Äpfel, ein Stück Käse, einen halben gepökelten Dorsch. Doch schon nach wenigen Wochen hatten sie sich an ihn und er sich an sie gewöhnt, und Rob feilschte mit ihnen härter als Mam, damit sie nicht glaubten, sie könnten ihn übers Ohr hauen, nur weil er ein Kind war. Auf dem Nachhauseweg trödelte er stets, da er keine Lust hatte, sich schon wieder um seine jüngeren Geschwister zu kümmern, die William in der Zwischenzeit beaufsichtigte.
Mam hatte gewollt, dass Samuel in diesem Jahr mit der Schule beginnen sollte. Sie hatte Nathanael überreden können, Rob von den Mönchen von St. Botolph unterrichten zu lassen. Zwei Jahre lang war er täglich in die Klosterschule gegangen, dann musste er zu Hause bleiben, damit Mam mehr Zeit für ihre Stickereien hatte. Jetzt würde keines der Kinder zur Schule gehen, denn ihr Vater, der weder lesen noch schreiben konnte, hielt die Lernerei für Zeitvergeudung. Aber Rob vermisste die Schule. Er ging durch die armselige Siedlung mit den billigen, dicht gedrängten Häusern und konnte sich kaum noch erinnern, dass sein Leben einmal hauptsächlich aus kindischen Spielen und der Angst vor dem Schreckgespenst Anthony Tite bestanden hatte. Anthony und seine Bande ließen ihn vorbei, ohne Jagd auf ihn zu machen, als würde ihm der Tod seiner Mutter eine Art Immunität verleihen.
Eines Abends erklärte sein Vater ihm, dass er seine Sache gut mache. »Du warst schon immer sehr reif für dein Alter«, sagte Nathanael fast missbilligend. Sie sahen einander befangen an, weil sie sich sonst nichts zu sagen hatten. Falls Nathanael in seiner Freizeit zu den Huren ging, so wusste Rob jedenfalls nichts davon. Er nahm es seinem Vater noch immer übel, wenn er daran dachte, wie es seiner Mutter ergangen war, aber er wusste, dass sie ihn dafür bewundert hätte, wie er sich jetzt abrackerte.
Er hätte seine Geschwister bereitwillig der Witwe überlassen, und er beobachtete gespannt, wie Della Hargreaves bei ihnen ein und aus ging, denn aufgrund der anzüglichen Bemerkungen und Scherze vonseiten der Nachbarn wusste er, dass sie gute Aussichten hatte, seine Stiefmutter zu werden. Sie selbst hatte keine Kinder; ihr Mann, der Zimmerer Lanning Hargreaves, war vor fünfzehn Monaten von einem herabfallenden Balken erschlagen worden. Wenn eine Frau starb und kleine Kinder zurückließ, war es üblich, dass der Witwer bald wieder heiratete, und so verwunderte es niemanden, dass Nathanael immer mehr Zeit mit Della allein bei ihr zu Hause verbrachte. Aber solche Zwischenspiele waren von kurzer Dauer, da Nathanael meist todmüde war. Die großen Pfähle für die Molen mussten aus Färbereichenstämmen gehauen und dann bei Ebbe tief in das Flussbett gerammt werden. Nathanael arbeitete bei Wind und Wetter. Wie seine Kumpane zog er sich einen trockenen, rauen Husten zu und kam stets völlig erschöpft nach Hause. Aus der Tiefe des feuchtkalten Themseschlammes förderten sie historische Fundstücke zutage: eine römische Ledersandale mit langen Knöchelriemen, einen zerbrochenen Speer, Tonscherben. Einmal brachte er für Rob einen behauenen Flintstein mit; die messerscharfe Pfeilspitze war in sechs Meter Tiefe gefunden worden.
»Ist das von den Römern?«, fragte Rob begeistert.
Sein Vater zuckte mit den Achseln. »Vielleicht von den Sachsen.« Aber woher die Münze stammte, die einige Tage später gefunden wurde, war offensichtlich. Rob rieb sie lange mit angefeuchteter Asche ab, und auf einer Seite der geschwärzten Scheibe kamen die Worte PRIMA COHORS BRITANNIAE LONDONII zum Vorschein. Das überforderte sein Kirchenlatein. »Vielleicht ist damit die erste Kohorte gemeint, die in London stationiert war«, sagte er. Auf der anderen Seite waren ein Römer hoch zu Ross und die drei Buchstaben IOX zu erkennen.
»Was bedeutet IOX?«, fragte sein Vater.
Rob wusste es nicht. Mam hätte es bestimmt gewusst, aber sonst kannte er keinen, den er hätte fragen können, und so legte er die Münze beiseite.
Sie hatten sich mittlerweile so an Nathanaels Husten gewöhnt, dass sie ihn schon gar nicht mehr wahrnahmen. Doch als Rob eines Morgens den Herd säuberte, hörte er vor dem Haus Geräusche. Er öffnete die Tür und sah Harmon Whitelock aus dem Bautrupp seines Vaters und zwei Unfreie, die er sich von den Schauerleuten ausgeliehen hatte, damit sie Nathanael nach Hause trugen.
Unfreie jagten Rob Angst ein. Ein Mann konnte auf verschiedenerlei Weise seine Freiheit verlieren. Ein Kriegsgefangener konnte der servus eines Kriegers werden, der ihn hätte töten können, ihn aber verschont hatte. Ein freier Mann konnte wegen eines schweren Verbrechens zur Knechtschaft verurteilt werden, oder weil er nicht in der Lage war, seine Schulden oder eine hohe Geldstrafe zu bezahlen. Auch Frau und Kinder sowie künftige Generationen seiner Familie kamen mit ihm in Knechtschaft.
Die Unfreien vor der Tür waren große, kräftige Männer mit kahl geschorenen Köpfen, dem äußeren Zeichen ihrer Knechtschaft; die Lumpen, die sie trugen, stanken fürchterlich. Rob hätte nicht sagen können, ob es Ausländer oder Engländer waren, denn sie sprachen kein Wort, sondern blickten ihn nur stumpf an. Nathanael war nicht gerade klein, aber sie trugen ihn, als wäre er federleicht. Die Unfreien machten Rob noch mehr Angst als das blassfahle, blutleere Gesicht seines Vaters oder die Tatsache, dass Nathanaels Kopf schlaff herabhing, als sie ihn hinlegten.
»Was ist passiert?«
Whitelock zuckte mit den Schultern. »Es ist ein Elend. Die Hälfte von uns hat’s erwischt; wir husten und spucken nur noch. Heute war er so schwach, dass er gleich zusammengebrochen ist, als wir mit der schweren Arbeit anfingen. Ich denke, wenn er ein paar Tage Ruhe kriegt, ist er bald wieder auf den Beinen.«
Am nächsten Morgen konnte Nathanael nicht aufstehen, nicht reden, nur noch krächzen. Della Hargreaves brachte heißen Tee mit Honig und blieb bei ihm. Sie sprachen leise und vertraulich miteinander, und hin und wieder lachte die Frau. Doch als sie am nächsten Morgen kam, hatte Nathanael hohes Fieber und war weder zu Scherzen noch zu Herzlichkeiten aufgelegt, so dass sie bald wieder ging.
Seine Zunge und seine Kehle waren feuerrot, und er verlangte ständig nach Wasser.
In der Nacht hatte er Fieberträume, und einmal schrie er, dass die stinkenden Dänen in ihren Drachenschiffen die Themse heraufkämen. Seine Brust füllte sich mit zähem Schleim, den er nicht loswerden konnte, und das Atmen fiel ihm zunehmend schwerer. Im Morgengrauen eilte Rob nach nebenan, um die Witwe zu holen, doch Della Hargreaves wollte nicht mitkommen. »Sieht aus, als hat er die Mundfäule. Das ist sehr ansteckend«, sagte sie und zog die Tür zu.
Da Rob nicht wusste, an wen er sich sonst wenden sollte, ging er wieder zum Zunfthaus. Richard Bukerel hörte ihm ernst zu und ging dann mit zu ihm nach Hause. Er saß eine ganze Weile am Fußende von Nathanaels Bett, sah das gerötete Gesicht und hörte das tiefe Rasseln, wenn er atmete.
Bukerel hätte es sich einfach machen und einen Priester rufen können; der Geistliche hätte zwar nur Kerzen angezündet und gebetet, aber Bukerel hätte seine Pflicht und Schuldigkeit getan, und niemand hätte ihm einen Vorwurf machen können. Er war als Baumeister einige Jahre erfolgreich gewesen, doch als Vorsitzender der Londoner Zimmermannsgilde musste er über sich hinauswachsen, denn die magere Zunftkasse reichte bei Weitem nicht aus, um die anstehenden Probleme zu lösen. Aber er wusste, was mit dieser Familie geschehen würde, wenn nun auch noch der Vater starb, und so machte er sich eiligst auf den Weg, um auf Kosten der Gilde den Medicus Thomas Ferraton kommen zu lassen.
An diesem Abend bekam Bukerel die scharfe Zunge seiner Frau zu spüren. »Einen Medicus? Ist Nathanael Cole etwa plötzlich etwas Besonderes oder gar adelig geworden? Wenn ein gewöhnlicher Bader ansonsten für jeden einfachen Mann in London gut genug ist, wieso braucht Nathanael Cole dann einen Medicus, der uns ein Vermögen kostet?«
Bukerel konnte sich nur kleinlaut entschuldigen, denn sie hatte Recht. Nur Adelige und reiche Kaufleute nahmen die teuren Dienste eines Medicus in Anspruch. Die kleinen Leute gingen zum Bader, und manchmal zahlte ein Arbeiter einem Baderchirurgen einen halben Penny für einen Aderlass oder sonst eine fragwürdige Behandlung. In Bukerels Augen waren alle Heiler verdammte Quacksalber, die mehr Schaden anrichteten als Gutes bewirkten. Aber er hatte Cole jede erdenkliche Hilfe zukommen lassen wollen und in einem schwachen Augenblick den Medicus geholt und so die schwer verdienten Beiträge ehrlicher Zimmerleute aufs Spiel gesetzt.
Heiter und selbstbewusst war Ferraton ins Haus der Coles getreten, das ermutigende Bild des Wohlstands. Seine enge Hose war elegant geschnitten, und die Aufschläge seines Hemdes waren mit Stickereien verziert, deren Anblick Rob sogleich einen Stich versetzte, da sie ihn an seine Mutter erinnerten. Ferratons wattierter Umhang aus allerfeinster Wolle war mit getrocknetem Blut und Erbrochenem bedeckt, was er stolz für ein ehrenhaftes Zeichen seines Berufsstandes hielt.
Der aus begütertem Haus stammende Ferraton – sein Vater, John Ferraton, war Wollhändler gewesen – war bei einem Medicus namens Paul Willibald in die Lehre gegangen, dessen wohlhabende Familie feine Klingen herstellte und verkaufte. Willibald hatte reiche Leute behandelt, und nach seiner Lehre war Ferraton in dessen Fußstapfen getreten. Der Sohn eines Kaufmanns hatte zwar keine Aussicht, in adelige Kreise zu gelangen, doch seine Kunden waren allesamt wohlhabende Leute, deren Ansichten und Interessen er teilte. Er hätte niemals einen Patienten behandelt, von dem er wusste, dass er zur Arbeiterschicht gehörte, vielmehr war er in dem Glauben gewesen, dass Bukerel im Auftrag eines höheren Herrn zu ihm gekommen war. Er erkannte sofort, dass Nathanael Cole seiner Dienste nicht wert war, aber da er keine Szene machen wollte, beschloss er, die unangenehme Aufgabe so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.
Er befühlte vorsichtig Nathanaels Stirn, sah ihm in die Augen, roch an seinem Atem. »Tja«, sagte er. »Das geht vorbei.«
»Was ist es?«, fragte Bukerel, aber Ferraton gab keine Antwort.
Rob spürte instinktiv, dass der Arzt es nicht wusste.
»Es ist die Halsbräune«, erklärte Ferraton schließlich und deutete auf weiße Eiterbläschen im hochroten Hals des Patienten. »Eine eitrige Entzündung vorübergehender Natur. Mehr nicht.« Er band eine Aderpresse um Nathanaels Arm, stach geübt mit einer Lanzette in die Vene und zapfte ausgiebig Blut ab.
»Und wenn es nicht besser wird?«, fragte Bukerel.
Der Medicus runzelte die Stirn. Er hatte nicht vor, dieses Armeleutehaus ein zweites Mal zu betreten. »Ich lasse ihn vorsichtshalber noch einmal zur Ader«, sagte er und nahm sich den anderen Arm vor. Er ließ ein Fläschchen flüssiges, mit verkohltem Riedgras vermischtes Kalomel da und stellte Bukerel den Besuch, die Aderlässe und die Medizin einzeln in Rechnung.
»Gefährlicher Quacksalber! Du elender Feineleuteschwanz«, brummte Bukerel, während er ihm nachblickte. Der Zunftmeister versprach Rob, eine Frau zu schicken, die sich um seinen Vater kümmern würde.
Totenblass und ermattet lag Nathanael da und rührte sich nicht. Mehrmals hielt er den Jungen für Agnes und wollte seine Hand nehmen. Aber Rob musste daran denken, was während der Krankheit seiner Mutter geschehen war, und riss sich los.
Später schämte er sich und ging wieder ans Bett seines Vaters. Er nahm Nathanaels schwielige Hände, betrachtete die hornigen, abgebrochenen Fingernägel, den tief eingegrabenen Schmutz und die drahtigen schwarzen Haare.
Es war genau wie beim ersten Mal. Er verspürte ein deutliches Schwinden, wie die flackernde Flamme einer Kerze kurz vor dem Erlöschen. Irgendwie wusste er, dass sein Vater im Sterben lag und dass das Ende bald kommen würde. Stummes Entsetzen erfasste ihn, genau wie damals an Mams Sterbebett.
Weil diesmal ein Mitglied der Zunft gestorben war und nicht bloß eine Familienangehörige, bezahlte die Zimmermannszunft das Absingen von fünfzig Psalmen. Zwei Tage nach der Beerdigung zog Della Hargreaves zu ihrem Bruder nach Ramsey. Richard Bukerel nahm Rob zu einem Gespräch beiseite.
»Wenn keine Angehörigen da sind, müssen die Kinder und der Besitz aufgeteilt werden«, sagte der Zunftmeister kurz angebunden. »Die Zunft wird sich um alles kümmern.«
Rob war wie betäubt.
Am Abend versuchte er seinen Geschwistern die Lage zu erklären. Nur Samuel begriff, wovon die Rede war.
»Wir sollen also getrennt werden, nicht?«
»Ja.«
»Jeder von uns wird bei einer anderen Familie leben?«
»Ja.«
In der Nacht kroch jemand zu Rob ins Bett. Er hätte William oder Anne Mary erwartet, aber es war Samuel, der die Arme um ihn schlang und sich an ihm festklammerte, als fürchtete er zu fallen. »Ich will sie wiederhaben, Rob.«
»Ich auch.« Er streichelte die knochige Schulter, der er so viele Schläge versetzt hatte. Eine Zeit lang weinten sie beide.
»Sehen wir uns denn nie wieder?«
Es überlief ihn kalt. »Ach, Samuel, red nicht so einen Unfug! Wir werden bestimmt beide hier in der Gegend wohnen und uns ständig sehen. Wir sind und bleiben Brüder.«
Das tröstete Samuel, und er schlief ein wenig, doch vor Tagesanbruch machte er ins Bett, als wäre er jünger als Jonathan. Am Morgen schämte er sich und konnte Rob nicht in die Augen sehen. Seine Angst war nicht unbegründet, denn er war der erste von ihnen, der fort musste. Die meisten aus der Zehnschaft ihres Vaters waren noch immer arbeitslos. Nur einer von den neun Zimmerleuten war in der Lage und auch bereit, ein Kind aufzunehmen. Und so zog Samuel, und mit ihm Nathanaels Hämmer und Sägen, zu Turner Horne, einem Zimmermannsmeister, der nur sechs Häuser weiter wohnte.
Zwei Tage später kam ein Priester namens Ranald Lovell in Begleitung von Pater Kempton, der für Mam und Dad die Totenmessen gelesen hatte. Pater Lovell sagte, er werde nach Nordengland versetzt und wolle ein Kind mitnehmen. Er nahm sie alle in Augenschein und fand Gefallen an William. Er war ein großer, kräftiger Mann mit hellblondem Haar und grauen Augen, die, so versuchte Rob sich einzureden, freundlich blickten.
Sein blasser, zitternder Bruder brachte nur ein Nicken zustande, als er den beiden Priestern aus dem Haus folgte.
»Dann leb wohl, William!«, sagte Rob.
Er überlegte verzweifelt, ob er nicht vielleicht die beiden Kleinen behalten konnte. Doch er verteilte bereits die kläglichen Essensreste von der Beerdigung seines Vaters, und er war ein realistisch denkender Junge. Jonathan kam mitsamt dem Lederwams und dem Werkzeuggürtel seines Vaters zu einem Schreinergesellen namens Aylwyn, der zu Nathanaels Hundertschaft gehörte. Als Wintress Aylwyn kam, erklärte Rob ihr, dass Jonathan zwar schon aufs Töpfchen gehe, aber noch Windeln brauche, wenn er Angst habe, und sie nahm die vom Waschen zerschlissenen Tücher und das Kind, lächelte kurz und verabschiedete sich mit einem Nicken.
Die Amme behielt den kleinen Roger und bekam Mams Stickmaterial, wie Rob, der die Frau nie gesehen hatte, von Richard Bukerel erfuhr.
Anne Marys Haar musste gewaschen werden. Rob machte das so behutsam, wie er es gelernt hatte, aber trotzdem bekam sie etwas Seife in die Augen, die sich röteten und brannten. Er rieb die Kleine trocken und hielt sie fest, während sie weinte, sog den Duft ihrer frischen braunen Haare ein, die ein wenig so rochen wie die von Mam.
Am nächsten Tag holten der Bäcker Haverhill und seine Frau die besseren Möbelstücke ab, und Anne Mary zog zu ihnen in die Wohnung über ihrem Laden. Rob nahm sie an der Hand und brachte sie zu ihnen. »Leb wohl, Kleines. Ich hab dich lieb, meine Maid Anne Mary«, flüsterte er und nahm sie in die Arme. Aber es sah aus, als gäbe sie ihm die Schuld an allem, was geschehen war; sie wollte ihm nicht Lebewohl sagen.
Jetzt war nur noch Rob übrig und keinerlei Hausrat mehr. Am Abend kam Bukerel zu ihm. Der Zunftmeister hatte getrunken, aber sein Kopf war klar. »Es kann eine Weile dauern, bis wir einen Platz für dich finden. Die Zeiten sind schlecht, niemand hat genug, um einen Jungen durchzufüttern, der den Appetit eines Erwachsenen hat, aber noch nicht arbeiten kann wie ein Mann.« Er brütete schweigend vor sich hin und fuhr dann fort: »Als ich jünger war, haben alle gesagt, wenn wir erst richtig Frieden haben und König Aethelred los sind, den schlimmsten König, der je seine Untertanen ins Verderben geführt hat, dann kommen bessere Zeiten. Und dann kam eine Invasion nach der anderen, Sachsen, Dänen, alle möglichen Piraten. Jetzt haben wir mit König Knut endlich einen starken Monarchen, der uns den Frieden sichert, aber es ist, als hätte sich die Natur gegen uns verschworen. Gewaltige Sommer- und Winterstürme richten uns zugrunde. Seit drei Jahren nichts als Missernten. Die Müller haben kein Korn zum Mahlen, die Seeleute bleiben im Hafen. Keiner baut ein Haus, und die Handwerker haben nichts zu tun. Das sind schwere Zeiten, mein Junge. Aber ich werde dich irgendwo unterbringen, das verspreche ich.«
»Danke, Zunftmeister.«
Bukerels dunkle Augen blickten gequält. »Ich habe dich beobachtet, Robert Cole. Und ich habe einen Jungen gesehen, der für seine Familie gesorgt hat wie ein gestandener Mann. Ich würde dich zu mir nehmen, wenn meine Frau nicht so wäre, wie sie ist.« Er blinzelte verlegen, als er merkte, dass der Alkohol ihm die Zunge stärker gelöst hatte, als ihm lieb war. Schwankend stand er auf. »Ich wünsche dir eine ruhige Nacht, Rob.«
»Eine ruhige Nacht, Zunftmeister.«
Er wurde zum Einsiedler. Das Haus, so gut wie leer, war seine Höhle. Niemand lud ihn zum Essen ein. Die Nachbarn konnten zwar nicht so tun, als gäbe es ihn nicht, aber sie versorgten ihn nur widerwillig. Mistress Haverhill brachte ihm morgens ein vom Vortag übrig gebliebenes Brot aus der Bäckerei, und Mistress Bukerel brachte ihm abends ein kleines Stück Käse, und wenn sie sah, dass seine Augen gerötet waren, hielt sie ihm vor, nur Frauen dürften weinen. Wie früher holte er Wasser vom öffentlichen Brunnen und hielt das Haus sauber, aber da niemand da war, der die stillen und leer geplünderten Räume in Unordnung brachte, hatte er nichts anderes zu tun, als sich Sorgen zu machen und zu träumen.
Manchmal stellte er sich vor, er wäre ein römischer Kundschafter; dann lag er am offenen Fenster hinter Mams Vorhang und lauschte den Geheimnissen der feindlichen Welt. Er hörte Pferdefuhrwerke vorbeifahren, Hunde bellen, Kinder spielen, Vögel singen.
Einmal belauschte er zufällig, wie sich Männer von der Zunft unterhielten. »Rob Cole ist ein echtes Schnäppchen. Jemand sollte ihn sich an Land ziehen«, sagte Bukerel.
Rob lag mit schlechtem Gewissen in seinem Versteck und hörte zu, wie andere über ihn sprachen, als wäre er ein Fremder.
»Jaja, sieh dir an, wie groß er ist. Der wird mal ein richtiges Arbeitstier, wenn er ausgewachsen ist«, sagte Hugh Tite mürrisch.
Und wenn Tite ihn zu sich nahm? Rob malte sich entsetzt aus, wie es wäre, mit Anthony Tite unter einem Dach zu leben. Und so war er nicht gekränkt, als Hugh verächtlich schnaubte. »Es dauert noch drei Jahre, bis er eine Zimmermannslehre machen kann, aber er isst jetzt schon wie ein Scheunendrescher, wo es in London von Männern mit starken Rücken und leeren Bäuchen nur so wimmelt.« Die Männer gingen weiter.
Als er zwei Tage später morgens wieder hinter dem Fenstervorhang stand, musste er bitter dafür büßen, dass er andere heimlich belauschte, denn er hörte ein Gespräch mit an, das Mistress Bukerel mit Mistress Haverhill über das Amt ihres Mannes als Zunftmeister führte.
»Jeder meint, es wäre eine Ehre, Zunftmeister zu sein. Es bringt kein Brot auf meinen Tisch. Ganz im Gegenteil, es bedeutet nur unangenehme Verpflichtungen. Ich bin es leid, meine Lebensmittel mit so einem zu teilen wie diesem großen Faulenzer da drinnen.«
»Was soll denn bloß aus ihm werden?«, seufzte Mistress Haverhill.
»Ich habe Master Bukerel geraten, ihn als Armen zu verkaufen. Selbst in schlechten Zeiten lässt sich mit einem jungen Unfreien ein Preis erzielen, der die Zunft und uns alle für die Unkosten entschädigen würde, in die uns die Familie Cole gestürzt hat.«
Rob stockte der Atem.
Mistress Bukerel rümpfte die Nase. »Der Zunftmeister will nichts davon hören«, sagte sie verbittert. »Ich denke, ich werde ihn doch noch überzeugen können. Aber wenn das noch lange dauert, werden wir wohl kaum unsere Kosten decken können.«
Als die beiden Frauen gingen, stand Rob hinter dem Vorhang wie im Fieber, schweißgebadet und gleichzeitig fröstelnd.
Sein ganzes Leben lang hatte er Unfreie gesehen und es als selbstverständlich erachtet, dass ihr Schicksal nichts mit seinem zu tun hatte, denn er war als freier Engländer geboren.
Er war viel zu jung, um als Schauermann im Hafen zu arbeiten. Aber er wusste, dass junge Unfreie in den Bergwerken eingesetzt wurden, wo sie in Stollen arbeiteten, die für Erwachsene zu eng waren. Er wusste auch, dass Unfreie schlecht gekleidet und ernährt waren und dass man sie oft schon kleiner Verstöße wegen brutal auspeitschte. Und dass Unfreie ihr Leben lang Leibeigene blieben.
Er lag da und weinte. Schließlich nahm er all seinen Mut zusammen und sagte sich, dass Dick Bukerel ihn niemals als Unfreien verkaufen würde, doch er fürchtete, dass Mistress Bukerel das ohne Wissen ihres Mannes von anderen erledigen lassen könnte. So etwas war ihr durchaus zuzutrauen. Und so harrte er in dem stillen, verlassenen Haus seines Schicksals, bis er schließlich beim leisesten Geräusch zusammenfuhr und anfing zu zittern.
Fünf bleierne Tage nach der Beerdigung seines Vaters stand ein Fremder vor der Tür.
»Bist du der junge Cole?«
Er nickte argwöhnisch, mit klopfendem Herzen. »Ich heiße Croft. Mich schickt ein Mann namens Richard Bukerel, den ich in der Bardwell-Taverne beim Bier kennengelernt habe.«
Rob sah einen Mann vor sich, der weder jung noch alt war, mit einem großen, massigen Körper und einem wettergegerbten Gesicht, das von den langen Haaren eines freien Mannes und einem rund geschnittenen, gekräuselten Bart von der gleichen rötlich braunen Farbe umrahmt war.
»Wie lautet dein voller Name?«
»Robert Jeremy Cole, Sir.«
»Alter?«
»Neun Jahre.«
»Ich bin Bader und suche einen Lehrling. Weißt du, was ein Bader ist, kleiner Cole?«
»Seid Ihr so etwas wie ein Arzt?«
Der dicke Mann lächelte. »Das reicht fürs Erste. Bukerel hat mich über deine Lage unterrichtet. Sagt dir mein Gewerbe zu?«
Das war nicht der Fall; auf keinen Fall wollte er so etwas werden wie der Quacksalber, der seinen Vater zu Tode geschröpft hatte. Aber noch weniger wollte er als Unfreier verkauft werden, und so bejahte er die Frage ohne jedes Zögern.
»Keine Scheu vor harter Arbeit?«
»Aber nein, Sir!«
»Das ist gut, denn bei mir musst du schuften wie ein Pferd. Bukerel hat gesagt, du kannst lesen und schreiben und etwas Latein?«
Er zögerte. »Sehr wenig Latein, ehrlich gesagt.«
Der Mann lächelte. »Ich werde es eine Weile mit dir versuchen, Bürschchen. Hast du Sachen zum Mitnehmen?«
Sein kleines Bündel war seit Tagen geschnürt. Ist das die Rettung?, fragte er sich. Draußen kletterten sie in den sonderbarsten Wagen, den er je gesehen hatte. Auf beiden Seiten des Kutschbocks befand sich eine weiße Stange, um die sich ein dicker Stoffstreifen wie eine karmesinrote Schlange wand. Den leuchtendrot gestrichenen Planwagen schmückten, mit sonnengelber Farbe aufgemalt, ein Widder, ein Löwe, eine Waage, ein Steinbock, Fische, ein Schütze, ein Krebs …
Der Apfelschimmel zog an, und sie rollten die Carpenter’s Street hinunter und am Zunfthaus vorbei. Rob saß wie erstarrt, als sie sich langsam einen Weg durch das Menschengetümmel auf der Thames Street bahnten. Immer wieder warf er dem Mann neben sich verstohlene Blicke zu, und was er sah, war ein trotz seiner Fülle recht ansprechendes Gesicht, eine große, gerötete Nase, einen Grützbeutel auf dem linken Augenlid und ein Netz von feinen Fältchen, die von den Winkeln der durchdringenden blauen Augen ausstrahlten.
Der Wagen überquerte die kleine Brücke über den Walbrook und fuhr an Egglestans Stall und an der Stelle vorbei, wo Mam zusammengebrochen war. Dann bogen sie nach rechts ab und rollten polternd über die London Bridge zum Südufer der Themse. Seitlich unterhalb der Brücke lag die Londoner Fähre vertäut, und direkt dahinter erstreckte sich der große Southwark Market, die Anlaufstelle für alle Importwaren. Sie fuhren an Lagerhäusern vorbei, die erst kürzlich wieder aufgebaut worden waren, nachdem die Dänen sie in Brand gesteckt und zerstört hatten. Am Ufer zog sich eine schmale Reihe von Flechtwerkhäusern entlang, die armseligen Behausungen von Fischern, Leichterschiffern und Hafenarbeitern. Für die Händler, die auf dem Markt einkauften, gab es zwei schäbige Kneipen. Und dann säumten zwei Reihen prächtiger Häuser die breite Straße, die Anwesen der reichen Kaufleute Londons, allesamt mit imposanten Gärten und vereinzelt auf Pfähle gestellt, die in den sumpfigen Boden getrieben worden waren. Rob erkannte das Haus des Händlers, an den Mam ihre Stickereien verkauft hatte. Weiter als bis hierhin war er noch nie gekommen.
»Master Croft?«
Der Mann runzelte die Stirn. »Nein, nein. Niemand sagt Croft zu mir. Alle nennen mich Bader, wegen meines Berufs.«
»Ja, Bader«, sagte Rob. Kurz darauf lag Southwark hinter ihnen, und sein Schrecken wuchs, als ihm klar wurde, dass es nun hinausging in die fremde, unbekannte, große, weite Welt.
Vor Einbruch der Dunkelheit schlugen sie auf einem Hügel neben einem Bach ihr Lager auf. Das graue Zugpferd heiße Tatus, sagte der Mann. »Die Kurzform von Incitatus, nach dem Streitross, das Kaiser Caligula so sehr geliebt hat, dass er das Tier zum Priester und Konsul ernannte. Unser Incitatus ist dafür, dass man den armen Kerl kastriert hat, ganz passabel«, sagte der Bader und zeigte Rob, welche Pflege der Wallach brauchte; er rieb ihn mit weichem, trockenem Gras ab und ließ ihn trinken und weiden, erst dann kümmerten sie sich um ihre eigenen Bedürfnisse. Sie befanden sich unter freiem Himmel, ein Stück vom Wald entfernt, und der Bader schickte ihn trockenes Holz für das Lagerfeuer sammeln. Rob musste mehrmals gehen, bis er einen Haufen zusammen hatte. Bald knisterte das Feuer, und beim Kochen stiegen Düfte auf, bei denen ihm die Beine schwach wurden. Der Bader hatte reichlich dick geschnittenen Räucherspeck in einen Eisentopf gegeben. Dann goss er einen großen Teil des ausgelassenen Fettes weg, schnitt eine große Rübe und einige Stangen Lauch zu dem brutzelnden Speck und streute eine Handvoll Maulbeeren und ein paar Kräuter darüber. Schließlich war das pikante Gericht fertig, und es duftete besser als alles, was Rob je gerochen hatte. Der Bader aß gleichmütig, sah zu, wie Rob eine große Portion hinunterschlang, und gab ihm schweigend eine zweite. Ihre Holzschüsseln wischten sie mit großen Stücken Gerstenbrot aus. Unaufgefordert trug Rob Topf und Schüsseln zum Bach und scheuerte sie mit Sand sauber.
Nachdem er das Geschirr verstaut hatte, ging er zu einem Gebüsch in der Nähe, um Wasser zu lassen.
»Jesus Maria, das ist aber ein ungewöhnlicher Zipfel!«, staunte der Bader, der plötzlich hinter ihm stand.
Rob brach vorzeitig ab und steckte sein Glied in die Hose. »Als ich ganz klein war«, sagte er verschämt, »hatte ich … dort … eine Verletzung. Man hat mir gesagt, dass ein Chirurg das Häutchen am Ende weggenommen hat.«
Der Bader starrte ihn verwundert an. »Er hat dir die Vorhaut entfernt. Du bist beschnitten worden wie ein verdammter Heide.«
Der Junge wandte sich ab, völlig verstört. Er war auf der Hut und angespannt. Als vom Wald her kalte Feuchtigkeit herüberzog, schnürte er sein kleines Bündel auf, nahm sein zweites Hemd heraus und zog es sich über das, das er trug.
Der Bader holte zwei Felle aus dem Wagen und warf sie ihm zu. »Wir schlafen im Freien, der Wagen ist voll mit allem möglichen Kram.«
In dem offenen Bündel sah der Bader die Münze schimmern und nahm sie in die Hand. Er fragte nicht, woher sie stammte, und Rob verriet es ihm auch nicht. »Da drauf ist eine Inschrift«, sagte Rob. »Mein Vater und ich … Wir haben angenommen, dass das der Name der ersten römischen Kohorte ist, die nach London gekommen ist.«
Der Bader sah sie sich genau an. »Ja.«
Offensichtlich wusste er einiges über die Römer und, dem Namen nach zu urteilen, den er seinem Pferd gegeben hatte, schätzte er sie auch. Rob hatte plötzlich das ungute Gefühl, dass der Mann seine Münze behalten würde. »Auf der anderen Seite stehen Buchstaben«, sagte er heiser.
Der Bader hielt die Münze näher ans Feuer, um besser lesen zu können. »IOX. IO bedeutet ›hurra‹. X heißt ›zehn‹. Es ist ein römischer Siegesschrei: ›Ein zehnfaches Hurra!‹«
Rob nahm die Münze erleichtert wieder entgegen und bereitete sich sein Lager am Feuer. Die Felle waren ein Schafspelz, den er mit der Fellseite nach oben auf den Boden legte, und ein Bärenfell, mit dem er sich zudeckte. Sie waren alt und rochen stark, aber sie würden ihn warm halten.
Der Bader schlug sein Bett auf der anderen Seite des Lagerfeuers auf und legte Schwert und Messer neben sich, damit er sie gleich zur Hand hatte, um Angreifer abzuwehren oder, wie Rob voller Angst dachte, um einen fliehenden Jungen zu töten. Der Bader hatte das Sachsenhorn abgenommen, das er an einem Riemen um den Hals trug. Er schloss die untere Öffnung mit einem knöchernen Stöpsel, goss aus einer Flasche eine dunkle Flüssigkeit hinein und hielt es Rob hin. »Selbst gebrannt. Nimm einen kräftigen Schluck.«
Rob wollte eigentlich nicht, traute sich aber nicht, das Angebot auszuschlagen. Kinder in den Londoner Armenvierteln hatten keine Angst vor dem schwarzen Mann, aber sie lernten früh, sich vor gewissen Seeleuten und Schauermännern in Acht zu nehmen, die sie hinter verlassene Lagerhäuser locken wollten. Rob kannte einige Kinder, die Süßigkeiten und Münzen von solchen Männern angenommen hatten, und er wusste, was sie dafür tun mussten. Ihm war klar, dass Trunkenheit meist der Auftakt dazu war.
Er versuchte, einen zweiten Schluck abzulehnen, aber der Bader zog ein finsteres Gesicht. »Trink«, befahl er. »Das tut dir gut.«
Erst als er noch zwei kräftige Schlucke genommen hatte und einen schrecklichen Hustenanfall bekam, gab sich der Bader zufrieden. Er holte das Horn zurück auf seine Seite des Feuers und leerte die Flasche und noch eine weitere, ließ schließlich einen gewaltigen Furz entweichen und legte sich nieder. Noch einmal warf er einen Blick auf Rob. »Sei unbesorgt, Kleiner«, sagte er. »Schlaf gut. Von mir hast du nichts zu befürchten.«
Rob war überzeugt, dass dies eine Finte war. Er lag unter dem stinkenden Bärenfell und wartete mit angespanntem Gesäß. In der rechten Hand hielt er seine Münze. Mit der linken Hand umklammerte er einen schweren Stein, obwohl er wusste, dass er dem Bader nicht einmal dann gewachsen wäre, hätte er dessen Waffen besessen, dass er ihm hilflos ausgeliefert war. Aber dann stand schließlich fest, dass der Bader schlief. Der Mann schnarchte entsetzlich.
Der Arzneigeschmack des Schnapses hatte sich in Robs Mund ausgebreitet. Der Alkohol durchströmte seinen Körper, während er sich tief in die Felle kuschelte und den Stein aus der Hand gleiten ließ. Er umklammerte die Münze und stellte sich vor, wie die Römer in Reih und Glied zehnmal nach Helden schrien, die sich von der Welt nicht besiegen lassen würden. Die Sterne über ihm waren groß und weiß und wanderten über den ganzen Himmel, so nah waren sie, dass er am liebsten die Hände nach ihnen ausgestreckt und sie abgepflückt hätte, um daraus ein Halsband für Mam zu machen. Er dachte an seine Familie, an jeden einzelnen.