Die Erinnerung des Blutes - Sylvester Mahrs - E-Book

Die Erinnerung des Blutes E-Book

Sylvester Mahrs

0,0

Beschreibung

Lars' Kindheit gestaltet sich schwierig. Er ist häufig krank, verträgt kaum Lebensmittel und neigt dazu, sehr schnell einen Sonnenbrand zu entwickeln. Wenn er nachts in seinem Bett liegt, wird er von Alpträumen geplagt. Manchmal hört er in seinen Träumen aber auch eine weibliche Stimme, die ihn tröstet und ihm vorsingt. Jene Stimme lockt Lars in ein altes, verfallenes Haus im Wald. Dort erfährt er, warum es ihm in seinem Leben so schlecht ergeht und auch was er tun muss, damit er von diesen Leiden nicht mehr heimgesucht wird. Schritt für Schritt betritt er nun eine Welt der Dunkelheit, des Mordens und der Grausamkeit. Bald schon muss er eine Entscheidung treffen, die weit mehr verdammen könnte, als nur seine eigene Seele...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 624

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Ihre Augen waren ausgekratzt. Die Verstümmelung war mit solcher Brutalität ausgeführt worden, dass nur noch schwarzrötliches Grind von dem übrig war, was einmal ihre Augäpfel gewesen sein mussten. Getrocknetes Blut, gemischt mit verschwommenem Ruß verlief über ihr Gesicht. Das, was den Anblick jedoch am meisten verstörend machte, war ihr Mund: Er verlief riesig und umrandet von dünnen schwarzen Lippen bis dahin, wo bei einem Menschen der Wangenknochen aufhörte. Ihr breites Grinsen offenbarte zwei Reihen spitzer Zähne. Wie das Gebiss eines Haifisches, schoss es Lars durch den Kopf.

Autor

Sylvester Mahrs wurde 1989 in Erlangen geboren. Nach einer praktischen Tätigkeit im Gesundheitswesen studierte er Volkswirtschaftslehre und Ethik. Heute lebt und arbeitet er in Nürnberg.

Für alle, die sich in dieser Welt nicht Zuhause fühlen können.

Für die Freaks, die Outsider und die Looser.

Für die Gebrochenen, die Kaputten und die Zurückgezogenen.

Inhaltsverzeichnis

Der Klang ihrer Stimme

1

2

3

4

Die Familie Largaretta

1

2

3

Ein Zuhause ohne Schmerz

1

2

3

4

5

6

Die Geschichte der Largaretta

1

2

3

Lars‘ erste Menschenjagd

1

2

3

4

Visionen Suche in der Anderswelt

1

2

Das Theater der Alpträume

1

2

3

4

Der rote Ritter

1

2

3

4

5

Stirb Lämmlein stirb

1

2

3

4

5

6

Das Consilium Noctis

1

2

3

4

5

6

7

Der schwarze See

1

2

3

4

Brennendes Blut und dröhnende Schatten

1

2

3

4

5

6

7

Würdig in den Augen von Ankh

1

2

3

4

5

6

7

8

9

Willkommen in der Wiege der Schmerzen

1

2

3

4

5

6

Vampire tun sehr böse Dinge

1

2

3

4

5

Eine Seele mit bleibenden Schäden

1

2

3

Die Hexe mit dem roten Haar

1

2

3

4

5

6

Der Klang ihrer Stimme

1

Als Junge war Lars oft krank und immer, wenn er im Bett lag um sich aus zu kurieren, da hörte er eine weibliche, liebevolle Stimme wie aus großer Ferne zu sich sprechen. Sie beruhigte ihn, tröstete ihn und versprach ihm, dass er eines Tages nie wieder krank sein würde. Sanft sprach dieses unbekannte Wesen auf ihn ein und es war beinahe so, als könnte er die Wärme, welche in dieser Stimme lag, körperlich fühlen. Diese Begebenheit machte auch die schlimmsten Bauchkrämpfe, Schüttelfrostanfälle und Übelkeitsattacken zumindest erträglich.

Lars musste ungefähr acht Jahre alt gewesen sein, als er diese Stimme das erste Mal hörte. Wie so oft lag er in seinem Bett und wurde von Fieber geplagt. Da hörte er auf einmal, zunächst sehr leise, aber dann nach und nach lauter werdend, eine liebliche Stimme singen. Es war ein Lied, das wahrscheinlich jedes Kind schon einmal gehört hat:

»Twinkle twinkle little star, how I wonder what you are...« Nach und nach wurde die Stimme lauter und war so klarer zu hören. Es war der schönste Gesang, dem Lars je gelauscht hatte. In keinem Moment hätte er auch nur daran denken können, Furcht zu empfinden – und wieso auch? Die fremde Stimme klang alles andere als bedrohlich. Im Gegenteil: Sie war so sanft und weich, dass sie nur von einem Engel selbst herstammen konnte. – Wie sehr er sich mit diesem kindlichen Vergleich irren sollte, wurde ihm erst viel später klar. In jenem Augenblick, da er dieses Lied zum ersten Mal, in dieser lieblichsten aller Formen, zu hören bekam fühlte er sich, trotz seiner Erkrankung, so geborgen wie noch nie zuvor. Kurz darauf schlief er, getragen von den Klängen jenes vermeintlichen Engels ein und träumte von den Sternen. Er blieb noch fünf weitere Tage in seinem Bett liegen und jede Nacht sang diese fremde Frau ihn wieder in den Schlaf.

Bald darauf musste er wieder in die Schule zurück. Jene glich für ihn einer verfluchten Strafanstalt, welche Grund für die meisten seiner Verletzungen war. Natürlich handelte es sich nicht wirklich um eine Strafanstalt, sondern um eine ganz normale Regelschule, aber für einen »Outsider«, einen »Loser«, ein »Opfer« lässt sich zwischen diesen Dingen kein nennenswerter Unterschied feststellen. Er war nun einmal bei den meisten seiner Klassenkameraden nicht gerade sehr beliebt – und das ließen sie ihn auch spüren. Tag für Tag. Egal was Lars tat, oder auch nicht tat, was er sagte, oder verschwieg, sie fanden immer einen Grund um ihn zu hänseln. Kinder können nun einmal grausam sein und die Meisten kommen irgendwann einmal in die Position des Verlierers – zumindest hatte man ihm das einmal zum Trost gesagt. Man bräuchte nur einen großen Bruder, der einen nicht mag oder eine besonders fiese Nachhilfelehrerin. Letztere Beispiele sind Lars allerdings glücklicherweise erspart geblieben. Er war ein Einzelkind, dass trotz seiner häufigen Fehltage gut in der Schule blieb und in einer gesunden Ehe der Eltern aufwuchs. Damals trafen ihn die Hänseleien der Anderen dennoch hart. Sich alleine gegen eine ganze Horde zur Wehr zu setzen fiel Lars schwer. Dazu kam auch noch, dass er nicht sonderlich sportlich war und so blieb auch jeglicher Fluchtversuch aussichtslos. Das Einzige was er tun konnte war abzuwarten bis es vorbeigehen würde und zu hoffen, dass dies sehr bald der Fall sein möge.

Eines Tages lauerten ihm die Jungen auf dem Heimweg auf, um sich daran zu rächen, dass sie tags zuvor von einer Lehrerin für ihre Tyrannei an ihm gerügt wurden. Dieses Treffen sollte nicht so bald vorbei gehen – so sehr Lars auch darauf hoffte.

Mit blutender Lippe, Nase und einigen anderen Blessuren schleppte er sich nach Hause. Seine Eltern waren beide noch bei ihren jeweiligen Arbeitsstellen und so blieb ihm Zeit die Wunden ungesehen zu versorgen. Sie ganz zu kaschieren gelang ihm zwar nicht, aber es reichte dennoch aus um den Eltern weiß zu machen, dass es Sportverletzungen seien. Sie hätten heute in der Schule Bockspringen gehabt, tischte er seiner besorgten Mutter beim Abendessen auf, und er wäre mit viel zu viel Anlauf auf das Trampolin gesprungen, sodass er beim Aufkommen gestürzt sei. Lars verbrachte den restlichen Abend in seinem Zimmer und ging zeitig zu Bett. Sein Selbstwertgefühl war am Boden zerstört und er konnte nicht verhindern, dass ihm die Tränen übers Gesicht liefen. In jener Nacht hörte er wieder diesen wunderbaren Gesang:

»…up above the world so high, like a diamond in the sky... « Sie sang bis in seinen Traum hinein – und es war ein sonderbarer Traum den er hatte: Er war von Schatten umgeben. Trotz dieser vielleicht furchteinflößenden Atmosphäre fühlte er aber keine Angst. Im Gegenteil: ihm war es als würde ihn die Dunkelheit beschützen – ihn verstecken. Da hörte er plötzlich aus einigen Metern hinter ihm die Stimme jener trostspendenden Frau: »Du musst dich gegen sie wehren«, forderte sie ihn sanft sprechend auf.

»Aber«, entgegnete Lars ohne sich umzudrehen, »sie sind doch viel mehr und stärker als ich. «

»Hast du nicht eine Waffe, die du benutzen kannst? «, fragte sie in völlig unschuldig klingendem Tonfall. Tatsächlich hatte Lars etwas in der Art: Sein Vater hatte ihm ein Messer zum Geburtstag geschenkt. Es war ein kleines, rotes Schweizer Taschenmesser.

»Und wenn sie auch eines haben, oder es mir wegnehmen?« fragte er zögerlich.

»Dann werde ich dir helfen«, gab sie sanft zurück und der Traum verblasste noch bevor er eine weitere Frage stellen konnte.

Gleich am nächsten Morgen verstaute Lars das Messer in seiner rechten Hosentasche und schmuggelte es hinaus. In der Schule erwarteten ihn bereits seine Peiniger. Seine Faust lag fest um die Waffe geschlossen. Den roten Plastikgriff in seiner Hand zu spüren gab ihm Mut. Er hatte sich vor einiger Zeit beim Schnitzen geschnitten und wusste somit wozu das Messer in der Lage war. Dieses Mal würden sie an seiner Stelle bluten! Voller Wut schritt er auf die Jungen zu und wartete nur darauf, dass sie ihn aufzuhalten versuchten – aber es geschah nichts. Anstelle davon, dass sie zu Schlägen ausholten, kommentierten sie sein Erscheinen nur mit einer Beleidigung. Der Grund dafür war einfach: Sie befanden sich in direkter Sichtlinie der Lehrerin.

Lars kam eine weitere volle Woche aus, in der er eine erneute Konfrontation mit den Jungen umgehen konnte – dann aber lauerten sie ihm wieder auf. Sie warfen ihre üblichen Beleidigungen nach ihm und er ließ es über sich ergehen – bis einer von ihnen ihn schuppste. Blitzschnell zog er das Messer aus der Hosentasche und klappte es auf. Erschrocken wichen seine Widersacher zurück und sahen ihn entsetzt an. Allerdings nur für einen Moment, dann lachten sie und ihr Anführer fragte spöttisch: »Was willst du denn mit dem Messer?«

»Ich werde euch damit verletzen, wenn ihr mich angreift«, gab Lars etwas eingeschüchtert zurück. Wieder lachten sie:

»Ich glaube nicht, dass du das tust«, spottete der Junge, »wirf das Messer weg, dann lassen wir dich auch gehen.« Lars musste kein Hellseher sein um zu wissen, dass das gelogen war.

»Nein«, antwortete er mit schon etwas festerer Stimme, »ich werde mich gegen euch wehren!«

»Ich werde mich gegen euch wehren«, äffte ihn der Anführer nach und erntete Gejohle von seinen Freunden. Bei all dem Durcheinander war Lars nicht aufgefallen, wie sich einer der Jungen von der Gruppe entfernte hatte, um sich dann von hinten an ihn heran zu schleichen. Erst als er seine Arme packte fiel es ihm auf.

»Ich hab ihn«, schrie der Junge triumphierend, »macht ihn alle!« Panisch versuchte sich Lars los zu reißen – und kurz bevor ihm der Anführer den ersten Schlag verpassen konnte, gelang es ihm. Lars entwand sich mit einem Ruck aus dem Griff des Jungen. Von dem Schwung vorwärts getragen stolperte er auf den Angreifer zu – und das Messer glitt in dessen linke Schulter. Voller Überraschung musste Lars feststellen, dass sich menschliches Gewebe genau so leicht durchstoßen lies wie ein gegrilltes Stück Fleisch. Sein Widersacher sah ihn an, als hätte er gar nicht begriffen was soeben geschehen war – dann schrie er los. Von einer neuen Welle der Panik erfasst, zog Lars das Messer zurück und rannte davon.

2

Den ganzen Tag über klingelte das Telefon und auch an der Haustür läutete es, aber weder öffnete Lars die Tür noch hob er den Hörer ab. Er wusste, dass er in Schwierigkeiten steckte – und er wusste auch, dass er diesen nur für eine sehr begrenzte Zeit ausweichen konnte. Er nutzte die Zeit, die ihm noch blieb, bis seine Eltern von der Arbeit zurückkamen, um das Messer zu reinigen. Es war erstaunlich wenig Blut daran zurückgeblieben und es ließ sich ganz einfach abwischen. Hinterher verstaute er es ganz tief, möglichst weit hinten, in einer der Schreibtischschubladen. Seine Eltern kamen an diesem Tag früher von der Arbeit nach Hause. Sie zitierten ihn ins Wohnzimmer. Dort stellten sie ihn zur Rede. Natürlich leugnete er alles, aber es hatte keinen Zweck. Immerhin gab es neben dem eigentlichen Opfer noch vier Augenzeugen, die alle das Gleiche ausgesagt hatten. Seine Bemühungen, ihnen vorzugaukeln, dass die Jungen ihm nur wieder einmal eins auswischen wollten und ihm deshalb die Schuld zuschoben, scheiterten auf ganzer Linie.

Lars wurde vier Wochen lang vom Unterricht ausgeschlossen, seine Eltern nahmen ihm das Messer weg und gaben ihm strenges Hausarrest, sowie Fernseh- und Malverbot. Aber das Schlimmste für ihn war, dass sie ihn dazu verdammten, zwei Mal in der Woche einen Heilpraktiker für Kinder- und Jugendpsychologie namens Herr Seibert aufzusuchen. Da Lars bei der Geschichte seiner Unschuld geblieben war, lag es nun an dem Heilpraktiker die Wahrheit aus ihm heraus zu bringen. Die Entscheidung von Lars Eltern keinen richtigen Kinderpsychologen für das Gespräch zu wählen, hatte zwei miteinander zusammenhängende Gründe. Zum einen war es ihnen wichtig, dass sie keine Zeit damit verloren und zum anderen, gab es im gesamten Großraum keine freien Plätze in der ambulanten psychischen Versorgung für Kinder und Jugendliche. Welchen Schaden dieser Heilpraktiker anrichten würde, konnten die Eltern jedoch nicht erahnen.

Bei ihrem ersten Treffen sagte Lars kein Wort. Nicht einmal »Hallo« oder »auf Wiedersehen«. Er starrte den Heilpraktiker einfach nur so trotzig wie möglich an und wartete darauf, dass die Zeit vorüberging. Der Mann war sehr freundlich, dass stand außer Frage und seine Motive schienen Lars auch ehrlicher Natur zu sein. In der zweiten Sitzung bekam er Lars schließlich doch zum Reden. Zwar nicht über den Vorfall, der zu dem sehr zweifelhaften Vergnügen ihrer Bekanntschaft geführt hatte, aber immerhin sprachen sie miteinander. Der Heilpraktiker lobte Lars für seine Leistungen in der Schule und fragte welches Fach denn sein liebstes sei.

»Kunst«, antwortete er ihm und so kam eines zum anderen. Lars verriet ihm wie gerne er malte, aber dass dies gerade nicht möglich sei, denn seine Eltern hätten es ihm doch zur Strafe verboten. Herr Seibert versprach ihm daraufhin, sich für ihn einzusetzen und seine Eltern davon zu überzeugen dieses Verbot ein wenig aufzulockern. Das tat er dann auch: Gleich als Lars von seiner Mutter abgeholt wurde, nahm der Heilpraktiker sie bei Seite und erklärte ihr, wie überaus wichtig das Malen für Lars sei und dass Kinder in dieser Form der Kunst ihre Erlebnisse widerspiegeln und so vergangene Ereignisse verarbeiten könnten. Während des ganzen Gesprächs stand Lars nur ein paar Meter von ihnen entfernt und so war es ihm ein Leichtes jedes Wort zu verstehen. Zuhause gab ihm seine Mutter dann auch tatsächlich die Stifte zurück. Seit diesem Zeitpunkt hatte der Heilpraktiker Lars Vertrauen gewonnen und auch der Hausarrest fühlte sich für ihn nicht mehr ganz so schlimm an. Lars setzte sich sofort an seinen Schreibtisch und begann zu malen. Er versuchte die Frau zu zeichnen, die ihm immer vorgesungen hatte und von der er zwar eigentlich nur die Stimme kannte – aber aus seiner Phantasie und der Erinnerung an seinen Traum formte sich ein Bild daraus. Er gab ihr lange, schwarze Haare, die sich mit den Schatten rings um sie herum verbanden, blutrote Lippen, dunkle Augen und eine helle Hautfarbe. Letztendlich erinnerte sie ihn ein wenig an Schneewittchen und er war sich auch ziemlich sicher, dass sie ihr in ihrer Schönheit mindestens ebenbürtig sein müsste.

Während des nächsten Besuches bei dem Heilpraktiker, bat er Lars darum, ihm beim folgenden Mal eines seiner Bilder mitzubringen. Selbstverständlich stimmte er zu. Immerhin hatte Herr Seibert dafür gesorgt, dass er wieder zeichnen durfte, also schien es Lars nur fair, wenn er ihm seine Bilder dann auch zeigen würde. Wie sich herausstellen sollte, war das ein naiver Gedanke.

»Wer ist das?« fragte der Heilpraktiker höflich, als sie sich wiedersahen und Lars ihm das Bild zeigte.

»Die Frau aus meinen Träumen«, antwortete er wahrheitsgemäß. Herr Seibert lächelte:

»Aus deinen Träumen, wie?«

»Ja, also…«, Lars zögerte, »eigentlich habe ich bisher nur einmal von ihr geträumt. Sonst singt sie mich immer nur in den Schlaf, wenn ich traurig bin, oder es mir schlecht geht. « Zum ersten Mal seit sie sich kannten, sah Lars wie sich der Heilpraktiker etwas auf seinem Block notierte: »Was singt sie denn so?«

»Naja meistens ist es Twinkle twinkle little star«, gab Lars zurück.

»Und in deinem Traum«, hakte Herr Seibert weiter nach und begutachtete nachdenklich das Bild, »hat sie da auch gesungen?«

»Nein das hat sie da nicht«, versuchte Lars auszuweichen.

»Sondern?«, wollte der Heilpraktiker weiterwissen.

»Wir haben geredet.« Wieder notierte er sich etwas auf seinem Block:

»Worüber denn?«

»Das weiß ich nicht mehr«, log Lars. In diesem Moment, kippte das Bild der Person vor ihm: Aus dem gutmütigen Mann, mit der Lesebrille und dem Wollpullover wurde ein gemeiner Kauz, der alles was Lars ihm bereits anvertraut hatte plötzlich gegen ihn verwendete. Trotz allem blieb seine Stimme höflich – es lag nur einfach ein falscher Klang in ihr: »Und es könnte nicht zufällig sein, dass sie dich dazu angestiftet hat ein gewisses Messer mit in die Schule zu nehmen?«

»Nein«, log Lars weiter und begriff seinen damit begangenen Fehler im selben Moment, denn mit der Verneinung hatte er unabsichtlich zugegeben das Messer mitgenommen zu haben. Nun war es zu spät.

»Und du bist dir da auch ganz sicher?«, fragte der Heilpraktiker weiter. Es wäre vollkommen egal gewesen was Lars als nächstes gesagt hätte, also entschied er sich dafür wieder zu seiner ursprünglichen Taktik zurück zu kehren und den Heilpraktiker anzuschweigen – und damit machte er es nur noch schlimmer.

»Ich denke«, fuhr Herr Seiber nach einer kurzen Pause fort, »dass sie das sehr wohl getan haben könnte. Und ich denke auch, dass du bereits zu alt bist, um dich hinter unsichtbaren Freunden zu verstecken.« Er hatte sehr sanft gesprochen, aber dennoch – oder vielleicht auch genau deshalb – traf Lars jedes Wort wie ein Hieb und er begann zu weinen. In jenem Augenblick, fühlte er sich der Welt und allen Menschen die sie beheimatete, so fremd wie noch nie zuvor. Weder in- noch außerhalb der Schule hatte Lars Freunde gefunden. Das Einzige was ihm Trost und Kraft spendete war die Frau die so herrlich singen konnte und nun, da er gedacht hatte einem Menschen vertrauen zu können, verlangte eben dieser von ihm sie aufzugeben.

Es war bereits spät am Abend als Lars wieder nach Hause kam. Auch mit seiner Mutter hatte er kein Wort gesprochen. Auf ihre übliche Frage, wie es denn gewesen sei, zuckte Lars nur mit den Schultern. In seinem Zimmer angekommen setzte er sich an seinen Schreibtisch und wollte ein weiteres Bild malen – dann aber erinnerte er sich daran, dass ihm das nur dank des Heilpraktikers möglich war und ihm verging alle Lust darauf. Nun hatte ihm die Welt also auch das noch genommen – dafür, aber kehrte das Gefühl des »hier-fremd-seins« in neuer Intensität zurück.

»When the blazing sun is gone, when he´s nothing shines upon, then you show your little light, twinkle twinkle all the night«, sang sie wieder für Lars als er im Bett lag und versuchte einzuschlafen. Auch in dieser Nacht fand er sich von diesen merkwürdigen, Schutz spendenden, Schatten umringt. Er wanderte eine Weile in der Dunkelheit umher und versuchte dem aus der Ferne widerhallenden Gesang zu folgen. Dann endete das Lied und eine Sekunde später erschien die Stimme wieder hinter ihm:

»Gefällt es dir, wenn ich für dich singe?«

»Ja sehr«, antwortete Lars und drehte sich um. Sie sah tatsächlich genau so aus, wie er sie sich vorgestellt hatte. Sogar noch ein bisschen schöner – aber älter. Lars hatte erwartet, dass sie etwa in seinem Alter sei, aber sie erschien ihm hier als junge Erwachsene: »Das freut mich, Laaz.« Sie nannte ihn Laaz – und nicht Lars wie ihn seine Eltern immer riefen. Auch seine Lehrerin in der Schule bestand darauf, dass er seinen Namen doch endlich einmal richtig schreiben sollte – aber er hatte ihre Belehrungen immer ignoriert. »Laaz« gefiel ihm nun einmal besser und dass die Frau aus seinen Träumen ihn jetzt so nannte, machte sie ihm nur noch sympathischer.

»Wie heißt du?«, fragte er und machte einen halben Schritt auf sie zu.

»Serine«, gab sie zurück und tat dasselbe. Sie waren jetzt nur noch einen knappen Meter voneinander entfernt.

»Das ist ein schöner Name.« Lars versuchte ihr ein Kompliment zu machen und er meinte es auch wirklich so. Daraufhin lächelte sie:

»Laaz gefällt mir auch ganz gut.«

»Ich habe getan was du gesagt hast«, führte Lars das Gespräch nach einer kurzen Pause zögerlich fort, »ich habe mich gegen sie gewehrt, aber jetzt ist alles nur noch schlimmer geworden.« Es lag keinerlei Vorwurf in seiner Stimme und das, da war er sich ganz sicher, spürte sie auch. Vielmehr glichen seine Worte einer indirekt gestellten Frage.

»Du magst diesen Mann nicht zu dem du jede Woche gehen musst, oder?« forschte sie in besorgtem Tonfall nach.

»Ich glaube er will nicht, dass du mir vorsingst, oder mit mir sprichst«, antwortete Lars verlegen.

»Und wie siehst du das?«, fragte sie vorsichtig weiter.

»Ich liebe es, wenn du singst und mit dir zu reden ist großartig. Es ist mir egal was Herr Seibert will! Am liebsten«, fügte Lars wieder zögernd hinzu, »würde ich für immer bei dir sein.«

»Für immer«, wiederholte sie sanft, »für immer…« Mit diesen Worten endete der Traum und Lars fand sich zurück in der Realität. Alleine in seinem Bett.

Am nächsten Morgen klingelte das Telefon, Lars Mutter hob ab, führte ein kurzes Gespräch und kam dann auf sein Zimmer: »Du hast Glück«, sagte sie mit einem leicht vorwurfsvollen Unterton, den er sich nicht erklären konnte, »Dein nächster Termin bei Herr Seibert fällt aus. Er scheint krank geworden zu sein.«

»Danke, Serine«, flüsterte Lars als die Mutter den Raum wieder verlassen hatte und setzte sich an seinen Schreibtisch um ein neues Bild zu malen.

Lars musste nie wieder zu dem Heilpraktiker gehen. Es hieß, er hätte einen Schlaganfall erlitten und könnte seither seinen Beruf nicht mehr ausführen. Symptomatisch zeigte sich den behandelnden Ärzten auch genau dieses Bild: Ein Schlaganfall von besonders hohem Schweregrad. Nicht mehr und nicht weniger.

3

Lars bestand den Übertritt aufs Gymnasium im nächsten Jahr ohne Schwierigkeiten. Jetzt, so hatten es ihm seine Eltern versprochen, könnten ihn die Jungen nicht mehr ärgern. Damit lagen sie zwar richtig – denn diese Jungen konnten das tatsächlich nicht mehr, aber sie wichen eben anderen, die genau so grausam waren. Dennoch war nicht alles schlecht an seiner neuen »Strafanstalt«. Die Unterrichtsinhalte, an der musischen Schule die er gewählt hatte, waren wesentlich interessanter und auch fordernder. Lars lernte als Pflichtinstrument Geige und hatte auch viel Freude daran, aber sein Lieblingsfach blieb weiterhin der Kunstunterricht. In seiner Freizeit bemühte er sich immer und immer wieder darum, die Frau aus seinen Träumen angemessen aufs Papier bringen zu können. Was mit Wachsmalkreide begonnen hatte, führte über Wasserfarben, Filz- und Buntstifte schließlich zu Zeichnungen aus Blei und Kohle.

Lars fühlte sich in seiner neuen Klasse, trotz so mancher Querköpfe, im Grunde ganz wohl. Zumindest wohler als in seiner alten Klasse – mit Ausnahme davon, wenn jemand Geburtstag hatte und einen Kuchen mitbrachte. Das lag daran, dass sich dann alle versammelten, den Kuchen aßen und davon sprachen wie lecker er sei. Lars konnte diesem Ritual nie beiwohnen. Die Gründe dafür waren einfach: Er hatte eine Allergie gegen Haselnüsse, eine ausgeprägte Laktoseintoleranz und zu allem Übel litt er auch noch von Geburt an unter Diabetes Mellitus. Dazu gesellte sich ein Reiz-Darm-Syndrom und eine Glutamat Unverträglichkeit. Er wurde mehr als nur einmal gefragt, was er denn überhaupt essen könne ohne, dass ihm entweder übel wurde, oder man ihn gleich ins Krankenhaus einliefern müsse – die Antwort darauf kannte er selbst nicht einmal. Nur eines war klar: Lars musste peinlichst genau darauf achten was er aß, oder trank. Glücklicherweise aber kamen diese Geburtstage nicht allzu häufig vor und so war es ihm ein leichtes sich in die Rolle einzufügen, die ihm die Klasse zugedacht hatte: Er war der, den man am besten in Ruhe ließ – und bis auf besagte Querköpfe hielten sich auch alle daran. Selbst die Lehrer gaben es irgendwann auf ihn in ihren Unterricht integrieren zu wollen, wenn ihn das Thema nicht interessierte. Lars nutzte die Zeit in den Deutsch- und Erdkundestunden weiter dazu Serine zu malen. Wenn ihn ein Lehrer darauf ansprach ignorierte er ihn einfach. Er hatte sich nur einmal auf eine Argumentation darüber eingelassen – mit dem Ergebnis, dass ihn der »erfahrene« Pädagoge anschließend »diskret« zum Schulpsychologen verwies. Wie Lars mit Angehörigen dieser Profession umgehen konnte wusste er ja bereits: Er schwieg sie an.

Lars Schwachstelle, im bestehen jeder Woche, war der Sportunterricht. Dort versuchte er Bällen auszuweichen, die auf sein Gesicht zielten, über Beine zu springen die ihm gestellt wurden und Remplern zu entgehen, die ihn aus dem Gleichgewicht bringen wollten. In den Pausen lief Lars in möglichst unregelmäßigen Mustern durch die Halle und über den Hof. Er achtete stets darauf größeren Grüppchen aus dem Weg zu gehen und auch sonst möglichst von niemanden bemerkt zu werden.

Seit dem Vorfall mit dem Messer in der Regelschule, war Lars‘ Verhältnis zu seinen Eltern ins Schwanken geraten. Zwar stritten sie nicht, aber sie kamen dennoch nicht sonderlich gut miteinander aus. Es schien als wäre zwischen ihnen eine Mauer errichtet worden. Sie sprachen kaum noch miteinander und wenn doch, dann ging es ausschließlich um irgendwelche Banalitäten: »Wie war die Schule heute?«, oder »Hast du nächste Woche irgendwelche Proben zu schreiben?« Natürlich hatten die Eltern einige male versucht ein vernünftiges Gespräch mit ihm anzufangen und die Dinge wieder ins Reine zu bringen, aber letzten Endes blockte Lars sie immer ab. Eines Abends hörte er seine Eltern sogar darüber diskutieren ob sie ihn nicht wieder zu einem Heilpraktiker oder vielleicht auch zu einem richtigen Psychologen bringen sollten – sie entschieden sich jedoch schlussendlich dagegen. Immerhin hatte damit der Ärger nur begonnen. Lars wollte nie wieder zu einem dieser sogenannten Heiler oder anderweitigen Pseudoexperten. Er hatte allgemein alle Ärzte, Ernährungsberater und sonstige Therapeuten mit ihren ständigen Untersuchungen und nutzlosen Ratschlägen satt. Was er wollte war ein ganz normales Leben führen zu können: Freunde finden, bei einem Fast-Food Restaurant essen, Cola trinken, wenn ihm danach war und sich in die Sonne legen, ohne beinahe augenblicklich einen roten, schmerzhaften Stich abzubekommen. Es war frustrierend für ihn zu sehen, dass alle anderen und ganz besonders die, die gemein zu ihm waren, diese Probleme nicht hatten.

Eines Abends, Lars lag wieder einmal mit Fieber im Bett, fragte er sich, zum hundertsten Mal, womit er dieses Schicksal wohl verdient hatte – dann aber, als Serine zu singen begann dachte er daran, dass wenigstens das etwas war, was die Anderen, im Gegensatz zu ihm, niemals haben könnten: Eine Freundin die ihnen immer in solchen Zeiten beisteht. Es war ein tröstender Gedanke der ihn in den Schlaf geleitete.

Wieder träumte er von den behütenden Schatten und wieder lauschte er dem Lied bis zum Ende:

»In the dark blue sky you keep, and through my curtains you often peep - For you never shut your eye, till the sun is in the sky...« In seinen Träumen ging es ihm gut – ganz besonders, wenn er bei Serine war.

»Ich habe dich vermisst«, begrüßte Lars sie, als er ihre Anwesenheit hinter ihm spürte. Sie nahm ihn in den Arm und strich durch sein Haar:

»Ich dich auch, Laaz«

»Wo sind wir hier«, fragte er nach einigen Minuten.

»Das weiß ich nicht so genau«, gab sie zurück, »du hast diesen Ort hier erschaffen. Ich bin nur zu Besuch.«

»Ich?«, wunderte sich Lars laut, »aber wie? Ich bin doch nur...«

»...eingeschlafen«, beendete sie seinen Satz, »du träumst – und ich träume mit dir.«

»Das heißt du schläfst auch gerade?«, vergewisserte er sich.

»Ja – ich schlafe schon sehr lange«, sagte sie und fügte nach einer kurzen Pause hinzu, »und wenn du das auch tust, dann kann ich manchmal bei dir sein.«

»Ich finde es schade, dass ich dich nur hier treffen kann«, bemerkte Lars traurig, »ich würde dich auch gerne in der richtigen Welt sehen.« Serine löste ihre Umarmung und sah ihn ernst an:

»Das kannst du, wenn du willst – du musst mir nur einen Gefallen tun.«

»Ja! Jeden!«, stimmte Lars sofort zu, »was soll ich für dich tun?«

»Ich will, dass du mich weckst, wenn du mich gefunden hast«, forderte sie und Lars willigte auf der Stelle ein:

»Aber natürlich! Sag mir nur wo ich dich finden kann und ich gehe los sobald ich wieder gesund bin.«

»Es ist nicht ganz so einfach«, erklärte sie weich, »kennst du die alte Villa Largaretta?«

»Klar«, gab Lars zurück. Jeder kannte dieses alte, verfallene Haus. Es gab dutzende Geschichten darüber. Die meisten dienten dazu um Kindern Angst ein zu jagen und sie von dem baufälligen Anwesen fern zu halten. Lars war ein Kind. Die Geschichten handelten überwiegend von Geistern, die das Gebäude heimsuchten. Andere beschrieben einen schrecklichen Mord, der in diesem Haus stattgefunden haben sollte und in manchen Fassungen sei sogar beides wahr. Auf jeden Fall war die Largaretta-Villa kein Ort, den Kinder in Lars‘ Alter freiwillig aufsuchten. Nur ein paar Wenige wagte sich hinein, aber meist nur um eine Mutprobe zu bestehen – und selbst dann auch nur ganz kurz. Mutproben musste Lars in seiner gesamten Kindheit nie nachgehen. Auch die Erwachsenen mieden dieses Haus. Irgendwer hatte es irgendwann einmal unter Denkmalschutz gestellt und das Betreten war aufgrund der Baufälligkeit strengstens verboten. Man wollte es eigentlich schon längst restaurieren, aber der Stadt fehlte dafür das Geld und so war es obendrein auch noch hochgradig einsturzgefährdet. Nein, dort hinein zu gehen war wirklich nicht ratsam – aber Lars war das egal. Er würde es trotzdem tun. Für Serine, dachte er, würde er alles tun.

»Du musst dort hineingehen«, fuhr sie fort, »und dann die Tür in den Keller nehmen. Dort ist ein Gang und hinter der zweiten Tür, auf der linken Seite kannst du mich finden.« Sie stoppte, zog eine Nähnadel aus ihrem Kleid und griff sachte nach Lars Hand. Er ließ es ohne Gegenwehr geschehen. Sie stach mit der Nadel in seinen Zeigefinger und bedeckte die kleine Wunde, eine Sekunde später mit ihren Lippen. Der Stich war kaum zu spüren gewesen, dennoch fragte er verwundert:

»Warum hast du das getan?«

»Damit du mich wecken kannst«, antwortete sie lächelnd, »Wenn du jetzt in der wirklichen Welt, einen Tropfen von deinem Blut auf meine Lippen gibst, dann weiß ich, dass du es bist und wache auf.«

4

Am nächsten Morgen fühlte Lars sich schon viel besser. Das Fieber war so gut wie verschwunden und er wusste, dass er bald wieder in die Schule gehen könnte. Somit würde er auch eine Gelegenheit finden, die Villa-Largaretta auf zu suchen. Am Freitag hatte er nur vier Stunden, seine Eltern aber mussten ihre normale Arbeitszeit ableisten. Das wollte er ausnutzen, um sein Vorhaben unbemerkt in die Tat umzusetzen: Nach der Schule wollte er schnell nach Hause, den bereits mit Wasserflasche, Taschenlampe, zur Sicherheit noch Streichhölzer und Nähnadel gepackten Rucksack abholen, sich auf sein Fahrrad schwingen und zur Villa hinausfahren. Dort anschließend in den Keller einbrechen, Serine wecken, ein bisschen Zeit mit ihr verbringen und vor halb sieben wieder zu Hause sein, um so zu tun als wäre er gar nicht weg gewesen.

So einfach, wie Lars sich das vorgestellt hatte kam es natürlich nicht: Die Zeit in der Schule verging unendlich langsam. Die vier Stunden kamen ihm vor wie ein ganzer Tag. Er konnte sich auf nichts konzentrieren und verpatzte sogar das Vorspielen mit der Geige. Als der Unterricht endlich vorbei und er zu Hause angekommen war, bemerkte er, dass die Reifen seines Fahrrades Luft benötigten – das war auch nicht weiter verwunderlich, denn er hatte es seit einer Ewigkeit nicht mehr benutzt.

Ungeduldig pumpte er sie auf, schwang sich aufs Rad und fuhr sofort los – nur um nach einem Kilometer noch einmal um zu kehren, damit er seinen Rucksack holen konnte, den er in der Eile vergessen hatte. Sein zweiter Versuch lief etwas erfolgreicher und endlich bog er in die Goethestraße ein. Von dort aus musste er in Richtung Hauptfriedhof und dann an der Gabelung nach rechts in den Wald hinein. Der Weg führte etwa achthundert Meter weit und endete direkt vor dem verfallenen Haus.

Allein der Anblick ließ Lars einen Schauer über den Rücken laufen. Widersinnigerweise hatte er aber auch irgendwie etwas Vertrautes an sich: Das Steingebäude war über und über mit Moos bewachsen. Sämtliche Fenster waren entweder zerschlagen, oder mit morschen Brettern zugenagelt und an den Wänden hatten Jugendliche mit Spraydosen Nachrichten hinterlassen. Große rote Buchstaben überdeckten die geschmierten Beleidigungen: »Achtung Lebensgefahr!« Vor dem Gatter des verwitterten Zaunes war ein Schild mit »Betreten verboten!« angebracht. Lars ignorierte es und schritt über das raschelnde Laub, auf die steinerne Treppe zu. Eine zerbrochene Löwenstatue lag unter dem Sockel auf der sie einst gethront hatte. Auf der anderen Seite stand dessen Duplikat noch weitestgehend unberührt an der gedachten Stelle – wenn auch von der Witterung etwas deformiert.

Die Haustür war verschlossen, aber es gelang Lars einige der Bretter von einem Fenster zu entfernen und hindurch zu klettern. In der Villa war es vollkommen still – fast zu still. Lars dachte, man müsste doch zumindest den Wind von draußen hören, wie er durch das Laub wehte, aber das war nicht der Fall. Die Wände schienen jedes Geräusch zu verschlucken.

»Hallo?«, rief Lars verunsichert in die Leere, aber natürlich bekam er keine Antwort. Die Luft roch modrig und es knirschte als er über die morschen Dielen schritt. Er öffnete den Reißverschluss seines Rucksacks und suchte nach der Taschenlampe. Es hätte ihn kaum gewundert, wenn die Batterien plötzlich leer, oder verschwunden gewesen wären. Zitternd suchten seine Finger nach dem Einschalter: Sie funktionierte! Der Lichtstrahl fuhr über den von Staub bedeckten, verwahrlosten Boden.

»Die Kellertür finden«, erinnerte er sich selbst und begann zu suchen.

Je weiter er in das Haus vordrang umso bewusster wurde ihm die Angst, die in ihm heranwuchs. Er hatte Angst davor, dass die Geschichten vielleicht doch wahr wären und dass es hier drinnen tatsächlich spukte. In jeder Ecke dachte er Schatten zu sehen, die sich bewegten und von überall glaubte er nach einiger Zeit auch ein leises rascheln wahrzunehmen. Dann bildete er sich sogar ein, flüsternde Stimmen zu hören – aber sobald er innehielt, um genauer danach zu lauschen, waren sie verschwunden.

»Das Haus ist verlassen«, redete er sich ein, »hier ist niemand.«

Die Eingangshalle hatte er bereits hinter sich gelassen. Lars schritt einen Gang entlang an dessen Ende sich eine hölzerne Tür befand. Zitternd tastete er nach dem Knauf und drückte ihn hinunter. Sie war verschlossen. Missmutig drehte er sich um – und erstarrte. Es war nur für den Bruchteil einer Sekunde gewesen, aber er hatte es gesehen: Am Anfang des Ganges hatte eine Gestalt gestanden und ihn beobachtet. Dann als er sich umdrehte war sie hinter der Wand verschwunden. Sein Herz schlug wild gegen seinen Brustkorb. Vor Furcht ließ Lars sich auf den Boden sinken und kauerte in der Ecke.

»Serine«, flüsterte er, »bitte hilf mir.« Es dauerte nur einen Moment, bis er tatsächlich wieder ihre Stimme vernahm:

»...Then the traveler in the dark, Thanks you for your little spark. He could not see which way to go, if you did not twinkle so...« Wieder verfehlte der Gesang seine Wirkung nicht und beruhigte ihn. Zumindest ein bisschen. Natürlich verspürte er noch immer eine heftige Angst, aber er fand nun doch den Mut, wieder aufzustehen und seine Suche fortzusetzen.

Vorsichtig näherte Lars sich der Stelle an der er die Gestalt gesehen hatte.

»Hallo?« rief er noch einmal, aber er bekam auch jetzt keine Antwort. Lars trat aus dem Gang heraus und spähte um die Ecke: Es war niemand da. Auch auf dem staubigen Boden zeichneten sich nur die Fußspuren ab, die er selbst verursacht hatte.

»Vielleicht war es doch nur eine Einbildung«, überlegte er und trat auf eine andere Tür in der Halle zu. Sie war offen und führte in einen kleinen Raum, der früher wahrscheinlich einmal so etwas wie ein Arbeitszimmer oder ein Büro gewesen sein mochte. Es waren allerhand Schränke darin und ein Schreibtisch, mit dem dazu gehörigen Stuhl. Lars durchsuchte die einzelnen Fächer und Schubladen in der Hoffnung einen Schlüssel zu finden, aber bis auf noch mehr Staub und eine leere Bierflasche fand er nichts. Er wollte den Raum gerade wieder verlassen, als er einen kühlen Luftzug im Nacken spürte. Sofort steigerte sich seine Angst wieder ins unermessliche, da er fürchtete, dass die unheimliche Gestalt zurückgekehrt sein könnte. Vorsichtig drehte er sich in Richtung der Tür – aber auch jetzt war niemand da. Erleichtert atmete er aus.

Es gab neben der Treppe, welche aber nach oben führte, nur noch eine letzte Möglichkeit, die Lars noch nicht ausprobiert hatte, um die Halle zu verlassen: Eine weitere Tür, die gegenüber jener lag, aus welcher er gerade kam. Sie war zwar nicht abgeschlossen, dafür aber verklemmt. Lars holte Schwung und warf sich dagegen. Polternd krachte sie auf und um ein Haar wäre Lars in die tiefe Dunkelheit gestürzt die ihn dahinter erwartete. Im letzten Moment konnte er am Griff halt finden. Als Lars sich wieder gesammelt hatte, leuchtete er die steinerne Treppe hinunter. Es war, als würde das Licht von den Wänden verschluckt, so dass er nur erkennen konnte, was sich unmittelbar im Lichtkegel seiner Lampe befand. Er zögerte, tat dann aber doch den ersten Schritt nach unten. Nach unten in diese alles verschlingende Dunkelheit. Die Treppe führte kreisförmig und ungewöhnlich lange in die Tiefe. Schließlich aber erreichte Lars das Ende und trat in einen breiten, etwa zehn Meter langen Gang. Es war unverkennbar, dass hier unten schon seit einer sehr langen Zeit niemand mehr gewesen sein konnte. Langsam schlich er durch den Keller. Wieder glaubte er ein Flüstern, oder zumindest ein rascheln zu hören, aber wie schon oben verschwand es auch hier sobald er stehen blieb, um sich danach zu vergewissern. Zur linken und zur rechten führten weitere Türen in angrenzende Räume. Welche Lars nehmen musste, hatte er nicht vergessen. Mit klopfendem Herzen trat er auf die zweite Tür der linken Seite zu und drückte die Klinke hinunter. Mit einem leisem klicken entriegelte sich das Schloss und die hölzerne Barriere schwang fast wie von selbst auf. Der Schein seiner Taschenlampe glitt über, an der Wand angelehnte, Schränke, Kommoden und Regale. Überall waren erloschene Kerzen aufgestellt und dunkle, schwere Vorhänge verdeckten jede Ecke in diesem Zimmer. Das unheimlichste aber war, dass sich in der Mitte kein, so wie Lars eigentlich erwartet hatte, Bett sondern ein Sarg befand. Lars wollte schon umdrehen und eine andere Tür ausprobieren, denn er dachte, dass ihm Serine vielleicht aus Versehen einen verkehrten Weg genannt hatte, oder er sich nicht richtig daran erinnerte. Dann aber hörte er sie noch einmal in seinem Kopf singen:

»Don´t I know not what you are, twinkle twinkle little star. « Und da wusste Lars, dass er im richtigen Raum angekommen war. Was hatte sie in seinem Traum zu ihm gesagt?

»Ich schlafe schon sehr lange.« Lars fragte sich, ob sie damit gemeint hatte, dass sie tot wäre?

»Unsinn«, ermahnte er sich selbst, »Wenn sie tot wäre, könnte sie ja wohl kaum singen – oder mit mir reden.« Mit neuem Mut trat er in das Zimmer, schloss die Tür und suchte in seinem Rucksack nach den Streichhölzern. Er zündete alle Kerzen an, die er finden konnte, wobei er sorgsam darauf Acht gab, dass sie sich nicht in der Nähe eines der Vorhänge befanden. Sie spendeten ihm überraschend viel Licht und so konnte er seine Taschenlampe vorerst bei Seite legen. Auch die Angst, welche er empfunden hatte, wich mit der Dunkelheit.

Vorsichtig ging er neben dem Sarg in die Hocke und strich behutsam über den Deckel. Staub blieb an seinen Fingern haften, doch er beachtete es kaum. Seine Finger suchten nach der Rinne im Holz, wo sich der Deckel vom Rest des Gebildes trennte. Ganz sachte schob er ihn bei Seite und blickte auf Serine hinab.

Die Familie Largaretta

1

Es war keine, wie Lars anfangs befürchtet hatte, vermoderte Leiche die er fand. Serine lag genauso da, wie er sie aus seinen Träumen in Erinnerung hatte. Vielleicht ein bisschen blasser und auch ihre Lippen waren nicht ganz so rot wie sonst. Außerdem fühlte sich ihre Wange, über die Lars mit dem Handrücken sanft gestrichen hatte, deutlich kühler an, als er es gewohnt war. Aber das lag – wie er sich zu erklären versuchte – bestimmt nur an dem langen Schlaf, von dem sie gesprochen hatte. Ihre Hände waren auf dem Bauch übereinandergelegt und in ihrem Gesicht lag ein Ausdruck von reiner, tiefer Entspannung. In dem flackernden Kerzenschein, fiel es Lars schwer Atembewegungen erkennen zu können. Vorsichtshalber stellte er aber keine weiteren Nachforschungen darüber an, sondern kramte nach der Nähnadel, die er mitgebracht hatte. Er rieb sich den übrigen Staub von den Fingern und machte sich dann daran Serines Bitte weiter zu folgen. Von seinen endlosen, dem Diabetes zu verdankenden Zuckertests war er es bereits gewohnt einen kleinen Stich in den Finger zu bekommen. So fiel es ihm nicht schwer sich selbst so zu verletzen, dass es leicht blutete. Lars drückte mit der anderen Hand seitlich an seine Fingerkuppe, um das Blut heraus zu pressen – dann legte er die kleine Verletzung auf Serines Lippen.

Zuerst bewegten sich leicht ihre Finger, dann öffnete Serine ganz langsam die Augen und sah ihn an.

»Du bist wirklich zu mir gekommen«, flüsterte sie gleichermaßen müde, wie auch erleichtert, »es war nicht nur ein Traum.«

»Natürlich!«, antwortete Lars freudestrahlend, »Ich bin froh, dass ich dich endlich gefunden habe. Dieses Haus hier ist so unheimlich.« Seufzend zog sie sich hoch, so dass ihre Gesichter auf Augenhöhe waren:

»Gib mir deine Hand.« Lars tat es und Serine führte, wie schon in seinem Traum, die verletzte Stelle an ihre Lippen. Er spürte ihre Zunge auf der, noch immer leicht blutenden Stelle. Eine Sekunde später ließ sie seinen Arm wieder los und er bemerkte verwundert, dass die Wunde aufgehört hatte zu bluten:

»Wie hast du das gemacht?« Sie lächelte:

»Nur zu singen ist nicht das Einzige was ich kann.« Sie schwiegen einen Moment. Dann fragte Lars, eigentlich nur um die Stille zu beenden:

»Wieso liegst du denn in einem Sarg?«

»In meiner Familie ist es so Brauch, wenn man sich lange zur Ruhe legt«, antwortete sie in noch immer müdem Tonfall. Lars half ihr aus der Kiste heraus. Eigentlich hätte er sie noch mehr gefragt, aber er wollte sie – jetzt wo sie gerade erst aufgestanden war – auch nicht bedrängen. Serine legte den Deckel wieder zurück auf den Sarg und setzte sich kurzerhand darauf. Es war ein merkwürdiger Anblick. Allerdings nicht merkwürdig genug, dass Lars den Platz, welchen sie ihm an ihrer Seite anbot nicht angenommen hätte. Serine legte ihren Arm um Lars und zog ihn zu sich heran. Er mochte das. Es fühlte sich irgendwie richtig an – anders als wenn jemand aus seiner Familie das tat. Zum ersten Mal, seit seinem letzten Gespräch mit Herr Seibert war ihm die Welt wieder ein echtes zu Hause geworden.

Lars konnte eine Stunde zusammen mit Serine verbringen, bevor er den Heimweg antreten musste, sodass er noch vor seinen Eltern zu Hause ankam. Diese Stunde war – bis dahin – die schönste in seinem Leben. Sie sprachen wenig miteinander, denn auch wenn noch viele Fragen in ihm brannten, spürte er doch, dass jetzt nicht der Moment war, um sie zu stellen. Serine brauchte Zeit, um sich zu erholen. Sie saßen einfach nur dicht beieinander und genossen die Friedfertigkeit des Moments. Später brachte Serine ihn nach oben, wo Lars ihr versprach, gleich am nächsten Tag wieder zu kommen. Sie geleitete ihn noch bis zum Fenster, durch das er geklettert war und welches er auch jetzt wieder nutzte, um das Haus zu verlassen. Dann schwang er sich, mit einem letzten, wehmütigen Blick in ihre Richtung, auf sein Fahrrad und fuhr zurück nach Hause.

Lars ging früh zu Bett, denn der Tag war für ihn sehr anstrengend gewesen. Außerdem wollte er am nächsten Morgen ausgeruht sein, um sobald wie möglich zurück zur Largaretta-Villa fahren zu können. Er stand kurz nach neun auf, frühstückte, packte seinen Rucksack. Die Nähnadel nahm er sicherheitshalber noch einmal mit – für den Fall, dass Serine wieder eingeschlafen war. Er eröffnete seiner Mutter, dass er draußen sei, um zu spielen. Sie sah ihn zwar etwas skeptisch an, denn sonst verbrachte Lars seine Samstage niemals draußen, aber nickte dann seine indirekt gestellte Frage wortlos ab.

So schnell er konnte, fuhr er zurück zur Villa, lehnte sein Fahrrad gegen einen Baum und ging auf das Haus zu. Er kletterte wieder durch das Fenster, um hinein zu gelangen. Lars fiel auf, dass die angsteinflößende Atmosphäre der Villa nachgelassen hatte. Die verfallenen Gänge, Türen, Decken und Wände erschienen ihm nun schon etwas vertrauter, als bei seinem ersten Besuch.

»Serine!«, rief er, als er in der Halle angekommen war.

»Ich bin hier«, antwortete sie und kam die Treppe, welche zum Obergeschoss führte hinab, »es ist schön dich zu sehen, Laaz.« Heute sah sie schon nicht mehr so bleich wie am vergangenen Tag aus und auch ihre Lippen hatten an Farbe gewonnen. Lars ging auf sie zu und fiel ihr in die Arme, so als wären Jahre seit ihrem letzten Treffen vergangen. Minutenlang standen sie einfach nur so da und umarmten einander. Als sie sich wieder voneinander lösten, reichte sie ihm ihre Hand:

»Komm mit. Ich möchte dir etwas zeigen.« Lars folgte ihr die Treppe hinauf. Sie gelangten zu einem Flur, an dessen Ende eine Tür in ein geräumiges Zimmer führte.

»Dies hier«, sagte Serine mit verhaltenem Stolz in der Stimme, »war einmal mein Zimmer.«

»War?«, fragte Lars und sie verbesserte sich lächelnd:

»Das ist es natürlich immer noch.« Neugierig sah sich Lars um: Das große Bett und der riesige Holzschrank an der Wand füllten den größten Teil des Raumes. In einer Ecke stand ein altmodischer, verstaubter Vogelkäfig, der von einem sehr wackelig wirkenden Gestell herunterbaumelte. Die Fenster waren, wie die meisten anderen des Hauses auch, mit Brettern vernagelt, aber Serine hatte bereits ein paar Kerzen entzündet, um den fehlenden Sonnenschein ein wenig auszugleichen.

»Es gefällt mir«, urteilte Lars wahrheitsgemäß.

»Ich habe hier früher viel Zeit verbracht«, erklärte Serine in nostalgischem Tonfall, »In dem Käfig pflegte ich einmal ein verletztes Rotkehlchen.« Sie ging wie in Trace zur Kommode und zog einen verschnörkelten Schlüssel hervor, der an einer ledernen Kette um ihren Hals hing. Sie öffnete eine Schublade und nahm eine kleine Schatulle heraus – dann kehrte sie zum Bett zurück, setzte sich und bot Lars den Platz neben ihr an. Die Matratze und das Bettzeug wirkten, als seien sie erst vor kurzem erneuert worden und bildeten damit einen gewissen Kontrast zum restlichen Raum. Die Polsterung war so weich, dass er einen Moment ernsthaft gegen das Verlangen ankämpfen musste, sich nicht einfach hinein fallen zu lassen. Serine öffnete die Schatulle und Lars erkannte, dass es ein kleines Schmuckkästchen war. Es hatte sogar eine Miniatur-Ballerina, die sich zu einer blechern klingenden Melodie um die eigene Achse drehte. Außerdem war ein Spiegel an der Innenseite des Deckels befestigt. Serines Finger durchstrichen behutsam den Inhalt der Schachtel, bis sie bei einem dunklen, in sich selbst verdrehtem Ring innehielten. Vorsichtig nahm sie ihn heraus, begutachtete ihn kurz und hielt ihn Lars schließlich auffordernd unter die Augen:

»Hier – der ist für dich«, erklärte sie freudestrahlend, »wenn du ihn trägst, kennzeichnet er dich als einen Freund, der Largaretta, meiner Familie. Ich habe auch so einen.« Mit diesen Worten, deutete sie auf den Ringfinger ihrer rechten Hand, wo sich tatsächlich ein Duplikat des Ringes befand, den sie Lars gerade in die Hand gedrückt hatte.

»Wenn ich ihn anstecke sind wir dann verlobt?«, scherzte Lars und begutachtete noch einmal genauer das Geschenk: Es waren zwei Ringe aus dunklem Material, welche sich gegenseitig umschlungen, wie es Würgeschlangen in einem Kampf um Leben und Tod taten.

»Wenn du das so möchtest«, stieg sie in den Spaß ein und lächelte.

»Ja«, flüsterte er, in mehr oder weniger unabsichtlich wieder ernst gewordenem Ton und schob sich den Ring auf den vierten Finger. Er passte so gut, als ob er eigens für ihn angefertigt worden wäre.

»Erzähl mir von deiner Familie, den Largaretta«, bat Lars, als die Ballerina angehalten hatte und es wieder still wurde.

»Was willst du denn von ihnen wissen?«, fragte sie, schloss die Schatulle und legte sie bei Seite.

»Naja einfach alles«, gab er zurück, »zum Beispiel wo der Brauch mit den Särgen herkommt. Ist das nicht ein bisschen seltsam?« Serine legte ihren Arm um ihn und er griff nach ihrer Hand. Sie war viel wärmer als am Tag zuvor, doch trotzdem blieb sie auch jetzt weiterhin, auf seltsame Weise angenehm kühl:

»Findest du das wirklich? Die Menschen legen sich doch alle in Särge, wenn sie lange schlafen gehen.« Es dauerte eine Weile bis Lars eine Antwort fand:

»Dann betrachtet ihr den Tod nur als einen langen Schlaf?« Für Lars war es ein merkwürdiges Gefühl diesem Gedanken zu folgen, denn aus dieser Sichtweise heraus unterhielt er sich gerade mit einer Toten. Außerdem wusste er nicht was sie mit »Die Menschen« gemeint hatte. War sie denn nicht auch ein Mensch? Serine schien zu wissen was in seinem Kopf vor sich ging, tat aber nichts um dem zu widersprechen.

»Ist es nicht eine tröstende Vorstellung, dass jene die gestorben sind vielleicht einfach nur schlafen?«

»Und von was träumen die Toten?«, fragte Lars ehrlich interessiert. Serine ließ sich langsam, nach hinten fallen und zog ihn sanft mit ihr. Sie lagen nebeneinander auf der weichen Matratze als sie antwortete:

»Ich glaube die meisten träumen vom Leben, oder von einem himmlischen Paradies. Ich aber habe von einem Jungen geträumt, dem ich vorsingen konnte und der mich eines Tages wieder aufwecken würde – und das«, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu, »hat er auch getan.« Dann beugte sie sich nach vorne und küsste seine Stirn. Ihre Lippen fühlten sich sehr weich an und ihn überkam eine tiefe Entspannung. Ohne dass er es gewollt, oder etwas dagegen hätte tun könnte, fielen ihm die Augen zu und er schlief ein.

Lars hatte einen schwer einzuordnenden, metallischen Geschmack im Mund als er wiedererwachte. Serine lag noch immer neben ihm und sah ihn lächelnd an:

»Na, hast du gut geschlafen?« Gähnend versuchte er sich auf zu richten. Es gelang ihm zwar, aber er fühlte noch immer eine starke Müdigkeit, die er sich jedoch nicht erklären konnte. Ihm wurde sogar für einen Moment schwarz vor Augen, bis er sich kopfschüttelnd wieder gefasst hatte:

»Wie lange war ich weg?«

»Nicht lange«, sagte Serine beruhigend, setzte sich hinter ihn und stützte seinen Oberkörper mit dem ihren, »nur für ein paar Minuten.« Sie strich ihm wieder einmal durchs Haar, als er verstohlen auf seine Armbanduhr sah. Es war nicht so, dass er die Geste an sich verbergen wollte – vielmehr war ihm nur das Motiv seiner Uhr peinlich. Das Ziffernblatt, stellte eine urzeitliche Landschaft dar und die Zeiger bestanden aus diversen Dinosaurier-Extremitäten. Früher einmal war Lars sehr stolz auf diese Uhr gewesen, aber jetzt hielt er sie für kindisch. Er wollte nicht, dass Serine sie sah:

»Normalerweise schlafe ich nicht so schnell ein«, versuchte er ein Gespräch zu beginnen und unterdrückte ein erneutes Gähnen.

»Der gestrige Tag war für dich bestimmt sehr kräftezehrend. Es ist doch nur natürlich, dass man da ein wenig Schlaf nachholen muss.«

»Das muss es wohl sein«, seufzte Lars und genoss das wohlige Gefühl ihrer Nähe.

»Willst du noch immer etwas von meiner Familie wissen?«, knüpfte sie an ihre vorangegangene Unterhaltung an.

»Ja, aber natürlich«, entgegnete Lars ein wenig überrascht davon, dass sie es war die den Vorschlag machte.

»Was würdest du davon halten, sie ganz einfach kennen zu lernen?«, flüsterte sie und berührte mit ihren Lippen sachte seinen Kopf.

»Geht das denn?«, fragte Lars und drehte sich in ihre Richtung, »ich dachte sie würden alle schlafen?«

»Das haben sie auch«, erklärte Serine, »zumindest die meisten, aber jetzt sind sie wieder aufgewacht. Sie wollen hierherkommen und mich besuchen.« Einerseits wollte Lars diese Familie tatsächlich kennen lernen, andererseits hatte er aber auch ein wenig Angst davor. Schließlich entschied er sich aber dafür, denn wenn sie alle auch nur ein bisschen so waren wie Serine, dann gäbe es nichts vor dem er sich fürchten müsste.

»Ja, sehr gerne«, antwortete Lars schließlich und deutete auf den Ring an seiner Hand, »ich habe ja immerhin den hier. «

»Und den hast du dir auch verdient«, lobte sie, »mach dir keine Sorgen – ich bin mir ganz sicher, dass sie dich mögen werden. « Ihre Worte beruhigten ihn und festigten seinen Entschluss:

»Wann werden sie denn hier ankommen?«, wollte Lars wissen und Serine blinzelte ihn fröhlich an:

»Gleich morgen Abend.« Es war unverkennbar und auch sehr gut nachzuvollziehen, dass sie sich auf das Wiedersehen freute. Immerhin schienen sie sich eine ganze Weile lang nicht mehr gesehen zu haben. Das Problem für Lars war nur, dass er nicht so lange wegbleiben durfte:

»Ich muss morgen für die Schule lernen«, teilte er Serine traurig mit, »und abends darf ich nie aus dem Haus gehen.«

»Aber das macht doch nichts«, tröstete sie ihn, »sie werden länger hierbleiben. Du kannst nächstes Wochenende wiederkommen und sie dann kennen lernen.«

»Sie bleiben so lange?«, fragte Lars erfreut von der guten Nachricht.

»Ja. Sogar noch viel länger«, gab sie zurück, »Wir wollen die Villa restaurieren. Schließlich ist sie unser zu Hause.«

Lars blieb noch zwei Stunden bei Serine, bevor er wieder zu seinen Eltern zurückkehrte. Der Heimweg mit dem Fahrrad fiel ihm überraschend leicht: Es war so als hätte er ununterbrochen Rückenwind und auch sonst fühlte er sich so gesund und so stark wie noch nie zuvor. Einzig und allein die Sonne blendete ihn etwas mehr als sonst, aber das erklärte er sich damit, dass es in der Villa sehr dunkel gewesen war und sich seine Augen noch nicht wieder an das vergleichsweise grelle Licht gewöhnt hatten. Den Ring steckte er, um eventuellen Fragen auszuweichen, vorsorglich in seine Tasche, bevor er ankam. Auch seiner Mutter war eine Veränderung an ihm aufgefallen, denn sie begrüßte ihn mit:

»Die frische Luft scheint dir ja richtig gut zu tun. Wo bist du denn gewesen?«

»Ich war ein bisschen im Wald«, gab Lars knapp, und aus seiner Perspektive immerhin nicht ganz und gar gelogen zurück. Schließlich lag die Villa Largaretta ja tatsächlich im Wald. Dann ging er auf sein Zimmer und übte das Geigenspiel, bis es das Abendessen gab. Es war eine einfache Brotzeit. Diese Mahlzeit stellte zwar auch sonst kein außergewöhnliches Fest für seinen Gaumen dar, aber an diesem Abend schmeckte alles irgendwie fade. So als hätte es zu lange im Kühlschrank gelegen. Lars sprach seine Eltern darauf an, aber sie erklärten nur verständnislos, dass für sie alles wie sonst auch schmecken würde: »Das bildest du dir nur ein, Lars. Stell dich nicht so an.« Lars – Wie viel lieber wäre er jetzt bei Serine gewesen.

2

Es war diese Nacht, in der Lars das erste Mal von einem Traum heimgesucht wurde, der ihn noch lange verfolgen sollte. Schlimmer noch, der Traum nahm in den kommenden Wochen und Monaten sogar noch an Schrecken zu. Lars fand sich in der Rolle eines unsichtbaren Beobachters im Thronsaal einer Burg wieder. Es gab nur sehr dünne Schlitze in dem massiven Mauerwerk. Gerade so dünn, dass ein Bogenschütze mit Pfeilen hinausschießen könnte. Doch aktuell schien sich die Burg nicht unter Belagerung zu befinden. Das meiste Licht kam von Fackeln, die an den Wänden flackerten und knisterten. Trotzdem wurde der Raum dadurch nicht vollständig beleuchtet. Unnatürliche Schatten lagen wie unheilverbergende, schwere Vorhänge über dem Saal. Es schien als saugten sie solange an allem Lebenden, bis jegliche Hoffnung, jegliches Glück und alle Freude genommen wäre. Auf dem schlichten, kantigen Thron saß ein Mann, den Lars nicht vollständig erkennen konnte. Um ihn herum waren die Schatten derart verdichtet, dass es unmöglich war sein Gesicht auszumachen. Diese Hoffnung aussaugende Schatten, verhielten sich gegenüber dem Mann auf dem Thron jedoch anders. Sie wirkten wie loyale Hunde. Hunde, die nur ihm gehorchten und sonst niemanden.

Etwa fünf Meter vor dem Thron lag ein anderer Mann, in lumpiger, zerfetzter Kleidung am Boden. Er war von Schmutz bedeckt und in schwere Ketten gelegt. Er kniete und flehte in Richtung des unheimlichen Herrschers. Seine Stimme zitterte voller Furcht und auch seine Hände konnte er nicht ruhig halten. Hinter dieser elendigen Gestalt standen drei weitere Männer. Es waren Soldaten, die grimmig ins Leere blickten. Sie trugen dicke, engmaschig gewebte Stoffkleidungen, welche die Wucht eines Schwerthiebes auffangen konnten. Dazu kamen schlicht gefertigte Eisenhelme und an ihren Gürteln baumelten Schwerter. Nur der Soldat, der direkt hinter der flehenden Gestalt Stellung bezogen hatte, trug kein Schwert. Er hielt in der Hand etwas, das zunächst aussah wie eine Art Spieß, oder Lanze. Bei näherer Betrachtung war jedoch erkennbar, dass es sich nicht um eine Waffe handelte. Es war zu lang und auch der Durchmesser entsprach nicht dem einer Waffe. In den verschwommenen Trugbildern seines Traumes erkannte Lars schließlich, dass es sich um eine Art Zelt- oder Bannerstange handeln musste. Seltsam fand er nur, dass diese etwa fünf Meter lange Stange am oberen Ende angespitzt worden war.

Der Mann auf dem Thron hob seinen Arm und gab damit wortlos einen Befehl, indem er auf den knieenden Gefangenen deutete. Sofort packten die beiden Soldaten, welche zu seinen Seiten standen, nach dem Geschundenen und zerrten ihn in die Höhe. Der Mann schrie und zappelte. Er flehte nun noch lauter, versuchte sich zu befreien und dann… Dann erwachte Lars voller Angst und mit klopfendem Herzen.

Dieser Traum kehrte in den verschiedensten Variationen wieder: Mal war die flehende Person eine Frau, mal ein Kind. Manchmal waren sie nicht in einer Burg, sondern auf einem freien Feld, oder auf einem Marktplatz. Hin und wieder gab es Zuschauer, die die Szenerie schweigend beobachteten. Doch es gab auch Dinge, die sich nicht veränderten: Der unnatürliche Schleier, der das Gesicht des Mannes auf dem Thron verhüllte, blieb immer gleich, sodass Lars sein Gesicht nie erkennen konnte. Der Herrscher gab auch nie einen Laut von sich, sondern nutzte lediglich eine einzelne, knappe Geste, um die Verurteilung auszuführen. Es waren auch stets drei Soldaten. Nicht mehr und nicht weniger.

3

Die ganze Woche über freute er sich darauf, wieder zur Villa zurück kehren zu können und die Familie zu treffen. In der Schule glänzte er mit Höchstleistungen. Erstaunlicherweise sogar im Sportunterricht, wo er den Tausend-Meter-Lauf entgegen jeder Erwartung nur als Drittschlechtester abschloss. In Kunst fühlte er sich besonders kreativ und malte einen langen Tisch in einem großen Saal, zu dessen Kopf ein mächtiger König saß, um zu regieren – auch wenn das Thema eigentlich »Der Weltraum« lautete. In Musik spielte er alle Noten fehlerfrei und seine Lehrerin in Französisch lobte sogar seine Aussprache, die sonst immer seinen Schwachpunkt in diesem Fach darstellte. Dann war endlich wieder Freitag und Lars machte sich sofort nach der Schule auf den Weg zurück zur Villa. An der Weggabelung steckte er sich den Ring der Largaretta auf den Finger. Er hatte ihn die Woche über nur sehr selten getragen und fühlte sich auch ein klein wenig schuldig deswegen. Immerhin war es ein Geschenk von Serine und sicherlich würde sie nicht wollen, dass es nur in seiner Hosentasche verweilte. Lars wollte das zwar auch nicht, aber das Risiko darauf angesprochen zu werden und keine passende Ausrede zu finden war ihm einfach zu groß. Am Ende hätte man ihm den Ring vielleicht noch weggenommen. Es wäre ja schließlich nicht das erste Mal gewesen, dass man ihm etwas, was ihm Freude bereitete wegnahm. Nein. Der Ring war für ihn viel zu wertvoll, um verloren zu gehen.

Die letzten hundert Meter ging Lars zu Fuß. Er wollte ein wenig Zeit schinden, um seine Nervosität unter Kontrolle zu bekommen, aber diese Bemühungen verkehrten sich nur in das genaue Gegenteil. Mit jedem Schritt wuchs die Anspannung ein klein wenig an. Was, wenn sie ihn doch nicht mochten? Was wenn er etwas Falsches sagen würde? Oder etwas Dummes? Lars atmete noch einmal tief durch, bevor er das Grundstück betrat und auf das Haus zu ging. Verwundert bemerkte er, dass die Restaurationsarbeiten an der Fassade bereits begonnen hatten und die Türen der Villa dieses Mal einladend offenstanden. Vorsichtshalber klopfte er dennoch, um sein Erscheinen anzukündigen, gegen das Holz und wartete einen Moment ab. Als dann aber nichts geschah, wagte er sich schließlich doch zögerlich hinein.

»Hallo«, rief er, als er die verlassene Eingangshalle erreicht hatte. Es dauerte nicht lange bis Serine die Treppe hinabstieg und ihn zur Begrüßung in die Arme nahm. Die angenehme Kühle ihrer Berührung ließ die angesammelte Anspannung innerhalb von Sekunden vergehen. Mit ihr an seiner Seite fühlte sich Lars sicher, gelassen und mutig.

»Es ist immer wieder schön dich zu sehen«, flüsterte sie ihm ins Ohr und sagte dann etwas lauter, »Komm mit. Die Anderen warten bereits auf dich.« Als sie auf den Gang zutraten, in dem er bei seinem ersten Besuch dieser Villa vor einer verschlossenen Tür kehrtmachen musste, stockte er.

»Was ist mit dir?«, fragte Serine in besorgtem Tonfall.