Die Essenz der Königin - Anette Schaumlöffel - E-Book

Die Essenz der Königin E-Book

Anette Schaumlöffel

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Beschreibung

Eigentlich sollte Katta nur schnell Kaffee für ihre Mutter kaufen, doch dann stolpert sie in ein Abenteuer, das ihr Fantasybuch zu Hause in den Schatten stellt. In der Parallelwelt, in die sie entführt wird, haben die Tiere das Sagen und Menschen sind nicht besonders helle. Eine geheimnisvolle Essenz ist verschwunden, und eine furchteinflößende Königin verlangt sie zurück. Doch niemand, der Katta begegnet, ist die Person, die sie zu sein vorgibt. Und alle haben ihre eigenen Pläne. Wie gut, dass Katta in der anderen Welt zaubern und sich in jedes Tier verwandeln kann. Trotzdem muss sie all ihren Erfindungsreichtum aufbieten, um die verworrene Verschwörung zu einem guten Ende zu bringen.

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Seitenzahl: 289

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Das Buch

Katta ist eine ganz normale Fünfzehnjährige. Sie lebt zufrieden in einer Patchworkfamilie, liebt ihre kleinen Geschwister, aber noch mehr liebt sie es, sich in ihrem Zimmer zu vergraben und Geschichten über Elfen und Dracheneier zu lesen.

Als sie unvermittelt in eine Welt entführt wird, in der die Tiere sprechen können und auch noch das Sagen haben, denkt sie zuerst, dass sie träumt. Doch setzt sich die unglaubliche Geschichte um eine entführte Essenz und eine zornige Königin in ihrer Wohnung fort.

Angeblich soll sie die geheimnisvolle Flüssigkeit beschaffen, doch die größte Herausforderung besteht darin, herauszufinden, wer von all ihren neuen Bekannten die Wahrheit sagt und wer sie nur für seine Zwecke benutzen will.

Die Autorin

Anette Schaumlöffel hält sich an den Rat, dass man die Bücher schreiben sollte, die man am selber gerne lesen würde. Und sie wollte schon immer wissen, wie es sich anfühlt, ein Eichhörnchen zu sein - oder ein Stein. Am liebsten schreibt sie in den frühen Morgenstunden und lebt mit Katze in Köln.

Für Jonathan, der mir gesagt hat, dass ich’s veröffentlichen soll.

Inhalt

Kapitel 1 Ausweglos

Kapitel 2 Eine Mission

Kapitel 3 Was dazwischen kommt

Kapitel 4 Ab in den Wald

Kapitel 5 Verwirrungen

Kapitel 6 Verhandlungen im Dunkeln

Kapitel 7 Fantastischer Ausweg

Kapitel 8 Gastfreundschaft der seltsamen Art

Kapitel 9 Erzählungen

Kapitel 10 Morgenstund‘ mit Minze

Kapitel 11 Irreführung

Kapitel 12 Fette Beute

Kapitel 13 Wasserspiele

Kapitel 14 Jagd mit Flossen

Kapitel 15 Aus der Klemme in die Falle

Kapitel 16 Offenlegungen

Kapitel 17 Down Under

Kapitel 18 Kurz vor knapp am Korallenriff

Kapitel 19 Unterwasserzirkus

Kapitel 20 Schuld und Sühne

Kapitel 21: Bye bye, my love!

Kapitel 22 Kavallerie

Kapitel 23 Der Zorn des Schamanen

Kapitel 1 Ausweglos

Während sie durchs Laub rannte, krachte und raschelte alles so laut, dass sie sicher war, jeder im Umkreis von einem halben Kilometer könne sie hören und ohne Mühe finden. Aber sie musste weiter. Wann kam die Wegkreuzung? Hatte sie noch ausreichend Zeit, um sich in Sicherheit bringen zu können? Da! Da war sie. Der eine Weg ging steil nach unten, während der andere sich eine sanfte Rechtskurve beschrieb. Auf das orangefarbene Laub am Boden schien die Sonne, es war ein herrlicher Tag. Ihre Lungen schmerzten vom schnellen und anstrengenden Laufen, aber sie konnte sich nicht ausruhen, noch nicht. Schließlich fand sie, was sie gesucht hatte – den großen, knorrigen Kletterbaum, an den sie sich erinnerte. Er war breit und ausladend gewachsen, die untersten Äste leicht erreichbar. Erleichtert berührte sie die silbrige Rinde mit der Hand, bevor sie sich hochzog. Es brannte in ihren Beinen und ihre Arme wollten auch nicht so recht, aber mit letzter Kraft zog sie sich hoch. Nach dem ersten Ast, der in Brusthöhe auf sie gewartet hatte, waren die nächsten leichter zu erklimmen. Sie kletterte vorsichtig so weit sie konnte und erreichte eine letzte Astgabel, in die sie sich rittlings hineinquetschen konnte. Der eine Ast im Rücken war eine recht bequeme Lehne und endlich konnte sie verschnaufen. Als sich ihr Atem verlangsamt hatte und ihr Herzschlag ihr nicht mehr in den Ohren pochte, lauschte sie. Ihre Verfolger waren nicht zu hören. Sie hoffte sehr, das lag daran, dass sie ihr nicht mehr auf den Fersen waren. Vielleicht hatten sie aber gerade von irgendwo da unten ihre Baumbesteigung beobachtet und verschnauften noch ein bisschen, bevor sie ihr den Garaus machen würden.

Puh. Ihr war warm. Noch. Die Helligkeit hatte während ihres Laufes so leicht abgenommen, dass es kaum zu spüren war, doch sie wusste, die Dämmerung brach herein. Es würde eine lange, kalte Nacht hier werden, falls sie nicht aufgestöbert würde. Aber noch war ihr angenehm warm vom Rennen. Frieren konnte sie, wenn es so weit war. Jetzt war sie erleichtert, aus dem undurchdringlichen Wald in eine Position mit mehr Übersicht entkommen zu sein und spitzte die Ohren. Nichts bewegte sich ungehört über solch einen Boden. Das war der Nachteil und der Vorteil im Laubwald. Eine gute Nachricht in dem ganzen verfahrenen Schlamassel, in dem sie steckte.

Und an alledem war nur dieser blöde Wochenendausflug ihrer Familie schuld.

Naja. Wie man’s nimmt. Auf jeden Fall hätte sie gewiss nicht das Haus verlassen, wenn ihre Mutter sie nicht zum Supermarkt geschickt hätte. Mama und Thomas hatten ein Häuschen im Wald gemietet, um dort das lange Wochenende mit der Familie zu verbringen. Aber auf Kattas Schreibtisch häufte sich das Material für ihre Monatsarbeit, die sie am Dienstag in der Schule abgeben musste und für die sie bislang nichts anderes getan hatte, als sich aus der Bibliothek einen Stapel Bücher auszuleihen. Die Lehrerin war sehr genau mit dem Abschreiben von Zusammenfassungen aus dem Internet und es hatte sich herausgestellt, dass es wirklich sicherer war, die Themen selbst zu erarbeiten, als lediglich die Texte umzuformulieren. Bernd aus ihrer Klasse hatte sogar vermutet, Frau Harbich würde sich als Autorin von Wikipedia betätigen und dabei absichtlich kleine Fehler einbauen, an denen sie dann erkennen konnte, woher ihre faulen und nichtsnutzigen Schüler das Material geklaut hatten. Und weil Katta die Vorstellung entsetzlich fand, über den Büchern zu brüten, während der Rest der Familie sich im Herbstlaub tummelte und strahlend mit einem vollen Pilzkorb von herrlichen Ausflügen zurückkehrte, hatte sie beschlossen, gleich ganz zu Hause zu bleiben.

Während Thomas draußen am Auto beschäftigt war, watete Mama in Koffern und Kleidungsstücken. Leni und Malte waren vollauf damit ausgelastet, ihre Mutter in den Wahnsinn zu treiben, während Katta vergessen hatte, dass sie die Kleinen eigentlich beschäftigen sollte. Sie lag auf dem Bett in Lenis Zimmer und war in die Lektüre eines Fantasyromans versunken, als der Ruf ihrer Mutter sie erreichte:

„Katharina, Liebes, bitte lauf doch mal schnell zum Laden und hol uns noch ein Paket Kaffee.“

Nur unwillig verließ Katta die junge Elfenfrau, die gerade ein Drachenei gefunden hatte. Aber da kam schon Leni mit dem Haushaltsportemonnaie in den Händen angelaufen.

„Hier! Ich hab dir das Geld gebracht!“

„Danke, Leni.“ Katta gab ihrer Halbschwester einen Kuss und stand auf.

„Nimmst du mich mit?“, fragte der kleine Rotschopf.

„Nein“, sagte Katta, der nur wenig daran gelegen war, aus den zweihundert Metern bis zum Supermarkt eine Balancier-, Hüpf- und Staun-Strecke zu machen. „Ich muss mich doch beeilen, damit ihr rechtzeitig losfahren könnt. Hast du eigentlich schon deine Bücher eingepackt?“

„Nein!“ Die Ablenkung funktionierte. Leni strich sich energisch die rotblonden Locken aus dem hellen Gesicht und wandte sich ihrem Regal zu, um dort auszuwählen, welche Lektüre sie im Kurzurlaub zur Nacht haben wollte.

„Soll ich noch was mitbringen?“ fragte Katta ihre Mutter, während sie sich die Jacke und die Schuhe anzog.

Die überlegte kurz, dann schüttelte sie den Kopf.

„Nein, mein Schatz, das war’s. Danke dir.“

Auf dem Weg nach draußen blickte Katta in den Spiegel. Keine Zeit, den blonden Wust auf ihrem Kopf zu entwirren. Von dem Garderobenschränkchen raffte sie sich ein dickes Band und fasste damit die widerspenstige Wolle im Nacken zusammen. Ein letzter Blick auf ihre dünne Gestalt mit den großen, hellgrauen Augen in einem herzförmigen Gesicht. Sie streckte sich die Zunge heraus und stapfte nach draußen in einen unauffälligen Herbsttag, der sich noch nichts anmerken ließ von den Überraschungen, die er bereithielt.

Hatte da etwas geraschelt? Sie unterdrückte das Räuspern, das sich in ihrer Kehle einnistete. Direkt unter ihr – ach, es war nur eine Amsel, die da durchs Laub hüpfte, es aufwarf, auf der Suche nach einem Regenwurm. Konnte es sein, dass sie entkommen war? So leicht hatte sie es nicht vorgestellt und sie konnte es auch nicht glauben. Es war noch ein bisschen dunkler geworden – wenn sie geradeaus schaute und versuchte, dort hinten zwischen den Baumstämmen noch etwas zu erkennen, fiel ihr das deutlich schwerer als beim letzten Mal. Mist. Vielleicht hätte sie es doch noch bis zum Bus geschafft. Oder zu der Stelle, wo heute Mittag noch der Bus gehalten hatte, denn schließlich gab es ein paar gute Gründe, daran zu zweifeln, dass sie sich überhaupt noch in einer Welt befand, in der es Busse gab. Wenigstens gab es noch Amseln und Hainbuchen. Aber über den ganzen Rest, über alles, was sich außerhalb ihrer Sichtweite befand, war sie sich im Moment alles andere als sicher. Die Aussicht, hier oben die Nacht verbringen zu müssen, war immerhin ein bisschen besser als die, erst am Waldrand zu merken, dass es dort keine Bushaltestelle mehr gab und ihre Chance auf eine ungestörte Heimkehr sich mit der auf einen Sechser im Lotto die Hand reichte.

Der Kaffee. Sie hatte den kürzesten Weg genommen und bald die Neusser Straße überquert. Im Supermarkt fegte sie durch die Schranke, am Gemüse und Obst vorbei – welcher Gang war denn hier der mit dem Kaffee? Ach, da. Suchend schweifte ihr Blick über die Marken und Informationen, bis sie das passende Päckchen gefunden hatte.

Nachdem sie an der Kasse bei ihrer liebsten, stets grimmig gut gelaunten Kassiererin gezahlt hatte, ging Katta stracks über den Bürgersteig, zwischen den parkenden Autos hindurch und war auf der anderen Seite, in Gedanken schon wieder bei der Elfe mit dem Drachenei. Sie bog in die Einbahnstraße ein, in der die Bäume bereits ihre Blätter abwarfen, gelblich gefärbt und in solchen Massen, als handele es sich um sehr eilige Lemminge.

Die Laubsauger hatten heute geschwiegen, schließlich war es Samstag, und so genoss sie das Rascheln unter ihren Füßen, schuffelte absichtsvoll in die dickeren Lagen und sog den herbstlichen Geruch ein. Auch wenn man schon fünfzehn war, im Herbst tauchte unweigerlich der Wunsch auf, Kastanientiere, Hagebuttenschweinchen und kleine Eichelmännchen zu basteln, und die bunt gefärbten Blätter brachten eine verheißungsvolle Stimmung mit sich. Bald röchen die Nächte wieder rauchig kalt und morgens hätte die Welt einen glitzernden kurzen Pelz aus Reif. Naja. Nicht unbedingt hier in der Stadt.

In ihrer verträumten Stimmung bemerkte sie den Mann erst, als er ihr in den Weg trat.

„Ähm“, sagte er und sie nickte abwesend und wollte um ihn herum gehen. Doch er streckte den Arm aus und versperrte ihr den Weg. Er lächelte dabei und sah freundlich aus, kein bisschen gefährlich, war er doch sogar deutlich kleiner als sie, und wirkte mit seinen kurzen braunen Haaren so normal, als hätte man ihn für das Foto des Max Mustermann auf dem Personalausweis geklont.

„Was ist denn?“, fragte sie ihn und spähte um ihn herum, um zu sehen, wovon er sie abhielt.

„Ähm“, sagte er und holte dann einen Faden aus seiner Hosentasche und zeigte auf ihre linke Hand.

„Ähm?“

„Was?“ Sehr merkwürdig, dieser Typ. Aber sie schaffte es einfach nicht, sich zu fürchten, oder wütend zu werden, oder richtig ungeduldig. Irgendwas sagte ihr, dass noch immer alles in Ordnung war.

Er nahm ihre Hand. Seine Finger fühlten sich angenehm an, warm und trocken, und dann führte er den Faden einmal locker um ihr Handgelenk herum. Die Enden zwirbelte er zwischen zwei Fingern, dann murmelte er etwas und ruckte kurz daran.

Die Erde tat sich unter ihnen auf und keiner der Passanten, die gerade in die Einbahnstraße einbogen, hörte Kattas überraschten Aufschrei.

Der gute, verlässliche Bürgersteig war pflichtvergessen einfach verschwunden, einem Tunnel für überdimensionierte Stadtmaulwürfe gewichen, durch den sie nun mit einem Affenzahn nach unten sausten. Als wäre man in den Paternoster eines Wahnsinnigen gestolpert, gab es an einem Punkt ihrer Abwärtsfahrt einen Ruck, einen Richtungswechsel und dann ging es wieder nach oben, im gleichen Tempo, als gälte es, die Passagiere über dem Erdboden gleich in den Himmel zu schleudern.

Als sie schließlich zum Halten kamen, waren sie wieder draußen an der frischen Luft. Aber es war ein sehr anderes Draußen als die herbstliche Stadt, in der sie gerade im Boden versunken waren. Sie standen an einem Meer, die Füße nicht auf Asphalt, sondern in einem Bett kleiner Kiesel. Die Wellen brandeten sanft und das Wasser versickerte zischend zwischen den Steinen, ließ sie leise gegeneinander klackern, während es sich zurückzog. Es war Mittag und weit und breit war kein Zeichen einer menschlichen Siedlung zu sehen. Noch nicht einmal Wellenbrecher im Meer oder die an allen ihr bekannten Stränden üblichen Holzpfähle gab es hier.

Sie schüttelte den Kopf, kniff die Augen zu, öffnete sie, rieb sie sich und konnte doch nichts an der Kulisse ändern. Ein Traum konnte es aber auch nicht sein, denn in der Hand trug sie noch immer das Päckchen Kaffee.

Der Mann blickte sie freundlich an. Katta funkelte böse zurück und fauchte:

„Was soll das? Ich will sofort wieder zurück!“

Bedauernd verzog er das Gesicht, senkte den Kopf und zog die Schultern hoch. Dann fasste er den Faden an einem Ende, zog ihn von ihrem Handgelenk und steckte ihn zurück in die Hosentasche. Er setzte sich auf die warmen Kiesel und patschte mit der flachen Hand einladend auf ein Fleckchen neben sich.

„Neeee.“ Sie konnte es nicht fassen. Was hatte er mit ihr gemacht? Wo war sie? Und was wollte er von ihr?

„Ich will auf der Stelle zurück!!“

Wieder der bekümmerte Blick, dann wies er auf seine Ohren und anschließend auf seine Zunge und schüttelte den Kopf. Noch einmal Achselzucken.

Sie schnitt ihm eine Grimasse. Mist.

Am liebsten wäre sie davongestapft, einfach in irgendeine Richtung den Strand entlang und los. Aber sie konnte den Gedanken nicht loswerden, dass er sie mit einem blöden Zaubertrick an einen Ort gebracht hatte, von dem es ihr nicht gelingen würde, allein nach Hause zu finden.

Wütend ging sie ein paar Schritte in den knirschenden Kieseln. Sie nahm eine Handvoll davon und warf sie in den schäumenden Wellensaum. Ihr Blick glitt über das endlose Meer und mit einem Mal kam sie sich sehr verlassen vor. Kein Schiff, kein Boot, kein Flugzeug am Himmel, nur der Schrei einer einzelnen Möwe durchbrach das Einerlei des Wellengesäusels. Wo war sie nur gelandet?

Sie blickte sich zu dem Mann um. Der lächelte sie wieder an – beschwichtigend, beruhigend – und zeigte erneut auf den Platz neben sich. Er wartete. Sie konnte entweder mit ihm warten oder weglaufen.

Seufzend suchte sie sich eine trockene Stelle, einige Meter von ihm entfernt, und setzte sich. Als er sah, dass sie sich niedergelassen hatte, umfasste er seine Knie, wandte den Blick hinaus aufs Meer und begann, eine kleine Melodie zu summen.

Entnervt schaute sie auf das Kaffeepäckchen, das sie immer noch in der Hand hielt und legte es zur Seite neben sich, nur um es gleich darauf wieder aufzuheben und in ihrem Schoß zu platzieren. Wenn sie hier ähnlich überraschend wieder den Ort wechseln würde, der Kaffee käme auf jeden Fall mit.

Das Rauschen des Meeres und das Klackern der Kiesel verfehlten jedoch ihre Wirkung auf sie nicht und sie beruhigte sich allmählich. Das zufriedene Summen ihres Gesellschafters tat das seine dazu. Schon nach einer kleinen Weile stand sie auf und ging zu ihm hinüber, den Kaffee in der Hand.

„Bitte bringen Sie mich nach Hause“, sagte sie besonders freundlich.

Doch sie entlockte ihm lediglich ein weiteres liebenswürdiges Lächeln, ergänzt durch einen Zeigefinger, den er an die Lippen legte.

„Häh? Ich soll still sein?“

Er nickte, erfreut, weil sie ihn so schnell verstanden hatte.

Gerade holte sie Luft, um ihrem wieder aufbrausenden Unmut Luft zu machen, da erstarrte er und blickte mit allen Anzeichen von Furcht in Richtung Meer. Katta schaute, um zu sehen, was ihm solche Angst einjagte.

In dem sanften Gekräusel der Wasseroberfläche jenseits der Brandungszone zeichnete sich eine Störung ab – etwas mit einem langen, grauen Rücken schwamm dort nah an der Oberfläche. Eine Finne fehlte, ein Hai war also nicht zu erwarten, aber das unbekannte Schwimmobjekt näherte sich derart zügig, dass Katta trotzdem mulmig wurde.

„Was ist das?“, fragte sie den Mann. Er schüttelte den Kopf in einem Ausdruck von Hilflosigkeit und Sorge.

Ein lautes Schnauben und Prusten wühlte das Wasser auf und schließlich landete das näherkommende Wesen auf dem Strand: Eine dicke, graue Wurst, bestimmt drei Meter lang, stützte sich auf mächtige Vorderflossen auf und robbte unelegant aus dem Wasser. Das Walross hielt genau auf die beiden Menschen am Strand zu und nickte ernst. Katta spürte die Hand des Mannes am Ellenbogen, die sich zusammenkrampfte angesichts der Kreatur, die außerhalb des Wassers unter dem eigenen Körpergewicht zu einem wabbeligen Klumpen zusammenfiel. Katta wollte sich keine Angst einjagen lassen, das Tier wirkte auch nicht, als würde es sie gleich anspringen. Also stand sie auf und ging ein paar Schritte auf das Tier zu, das sie mit seinen aus dicken Speckwülsten hervorblitzenden Augen aufmerksam betrachtete.

Das Tier nickte langsam, dann öffnete es sein breites Maul, wackelte mit seinen vielen, grashalmdicken Schnurrhaaren und sagte mit einer Stimme, die sich anhörte, als sprächen gleichzeitig eine Sopranistin, ein Alt und ein Bariton:

„Die Möwen haben von dir gekündet“, sagte es und dann: „Willkommen in unserer Welt, Mensch und danke, dass du uns in der Not beistehen willst!“

„Hä?“ Katta konnte nicht anders, als mit offenem Mund das Walross anzustarren.

„Ich habe keine Absicht, hier jemandem beizustehen, ich bin gerade entführt worden.“

„Ich verstehe nicht“, die dreifache Stimme des Walrosses dröhnte in ihren Ohren, „was meinst du mit ‚entführt‘?“

„Äh, naja. Ich bin nicht freiwillig hierhergekommen. Ich weiß ja noch nicht einmal, wo ‚hier‘ ist.“

Schweigen. Ein Schweigen, das es zu nutzen galt.

„Darum wäre es sehr nett, wenn sie diesem freundlichen Herrn hier sagen könnten, dass er mich bitte wieder dahin zurückbringt, wo er mich hergeholt hat. Sie haben sich leider in der Person geirrt.“

„Ich glaube nicht, dass er sich geirrt hat“, widersprach das Walross. „Das kann er nämlich gar nicht. Um sich zu irren, muss man ein gewisses Maß an Intelligenz besitzen. Er aber besitzt – neben seiner freundlichen Natur – nur seinen Instinkt. Und der trügt niemals. Goron hat die richtige Person hierhergebracht, selbst wenn es auf den ersten Blick anders erscheinen mag.“

„Nein. Auf den ersten und den zweiten Blick“, Katta umfasste ihr Kaffeepäckchen fester, „eines ist sicher: Ich möchte nicht hier sein. Er hat mich nicht gefragt ...“ Weiter kam sie nicht, denn das Walross brach in eine Explosion aus, die aus Schnaufen, Schnodder und dem Klang einer großen, rostigen Glocke bestand. Ob es lachte?

„Goron hätte nicht fragen können, auch wenn er es gewollt hätte. Wie alle Mitglieder seiner Art kann er nicht sprechen und nur ein paar einfache Worte und Befehle verstehen.“

Katta drehte den Kopf und sah den freundlichen kleinen Mann an. Er war ein Mensch. Ganz sicher war er ein Mensch. Was erzählte dieses Walross da eigentlich?

„Bin ich etwa nicht von seiner Art?“, fragte sie.

„Ja und nein“, antwortete das Walross. „Das ist alles etwas komplizierter, um es in einem Satz erklären zu können. Auf jeden Fall soll dies noch erwähnt werden: Selbst wenn er wollte, er könnte dich jetzt nicht zurückbringen. Zaubern können wir nur in eurer Ebene. In unserer sind wir auf die bescheidenen Kräfte unseres Geistes und unseres Körpers angewiesen. Alle außer den Schamanen zumindest.“

Katta hörte das Walross von Zauber sprechen und schüttelte den Kopf – wo in aller Welt war sie hingeraten? Wieso sprach ein Tier mit ihr, während ein Mensch stumm neben ihr stand? War sie in Ohnmacht gefallen und halluzinierte? Aber wieso spürte sie dann die körnige Struktur des eingeschweißten Kaffees an ihren Fingern, den Wind in den einzelnen Korkenzieherhärchen, die sich dem schnellen Zopf entwunden hatten? Was sie sah und hörte, war unmöglich. Es war, als sei sie in eines ihrer Fantasybücher gerutscht – und doch: Was blieb ihr für eine Wahl? Selbst wenn sie nur träumte, müsste sie doch immer noch auf das reagieren, was ihr begegnete. Sie schüttelte den Kopf und seufzte.

„Naja. Dann kann ich mich wohl mal hinsetzen und mir anhören, wer auf die Schnapsidee gekommen ist, mich hierherzubringen.“

„Schnapsidee?“, das Walross neigte den Kopf fragend.

„Keine gute Idee. Eine, die nur im Rausch entstanden sein kann“, erklärte Katta.

„Ah, Rausch. Ja. Das könnte eine zutreffende Erklärung sein. Vielleicht hat Goron dich erwählt, weil der Schamane, dem er dient, deinen Name in einer Trance gefunden hat. Ich sehe, wir beginnen doch allmählich, uns zu verständigen. Wie ist eigentlich dein Name?“

Katta musste wider Willen lachen. War denn hier alles verkehrt herum? Die Menschen waren reine Instinktwesen, Entscheidungen wurden im Rausch getroffen. Es musste ein Traum sein.

„Ich heiße Katta. Aber ich kann doch gar nichts Besonderes und habe wirklich keine Ahnung, wie ich hier helfen könnte.“

„Nun, welche Gründe ein Schamane hat, um jemanden auszuwählen, ist auch mir verborgen. Es wird dich schon etwas auszeichnen, da bin ich sicher.“ Schaudernd schüttelte sich das Walross und rollte sich auf die Seite, um sich mit seinen Vorderflossen Wasser auf den Rücken zu schaufeln, der ein wenig zu trocken geworden war. Katta war angesichts dieser Selbstgewissheit ratlos.

„Mir fällt da aber so gar nichts ein“, sagte sie schließlich.

„Wie auch immer“, sagte das Walross und wiegte den Kopf. „Es besteht kein Zweifel.“

„Woran?“ fragte Katta.

„Daran, dass du die Richtige für die Aufgabe bist.“

„Welche Aufgabe?“ Ob das wohl ihre Chance war, wieder nach Hause zu kommen? „Ich kann mich gern bemühen, diese Aufgabe für Sie zu erledigen, allerdings möchte ich danach sofort nach Hause gebracht werden.“

Das Walross schnoberte zufrieden.

„Das wird sich einrichten lassen. Dazu muss ich jedoch erst den Schamanen sprechen. Er wird den Weg, den Goron gegangen ist, nachvollziehen und so kann er dich in deine Ebene bringen, als wärst du niemals weg gewesen.“

Katta schaute erfreut auf, hatte aber den Verdacht, dass da noch ein Haken war. Möglicherweise hatte das Walross zunächst etwas übertrieben, als es darum ging, wie schwer es sei, sie wieder zurückzuverfrachten.

„Ach. Ja. Ähm. Packen wir’s an. Ich habe nämlich zu Hause auch noch einiges an Arbeit liegen und wäre sehr froh, wenn ...“

„Ja, ja“, das Walross schnaubte, „wir beeilen uns. Wir entschuldigen uns auch für die Misslichkeiten, die wir angerichtet haben.“ Es schüttelte sich, dann wandte es sich an Goron und grunzte ihn an.

Augenscheinlich hatte es eine Sprache gewählt, die der kleine Mann nicht nur verstand, sondern auch fürchtete. Katta sah, wie sich alle Haare an seinen Armen aufstellten und er sank auf die Knie und berührte den Boden mit der Stirn. Während das Walross grunzte, verharrte er regungslos. Sobald es jedoch damit aufhörte, sprang er auf und sprintete den Strand entlang, ohne sich noch einmal nach Katta umzuschauen. Bald war er hinter einer Düne ihren Blicken entzogen.

„Er wird sich von dem Schamanen die benötigten Informationen holen“, sagte das Walross und fügte hinzu: „Und ich bin bereit, dir so lange Gesellschaft zu leisten, bis er wiederkommt und deine Angelegenheiten geklärt sind.“

Wie nett, dachte Katta, sagte es aber nicht, denn sie hatte es gar nicht gemocht, wie sehr das Walross Goron in Angst versetzt hatte.

Das Walross wälzte sich herum, grub sich in den feinen Kieseln ein bequemeres Bett für seinen tonnenförmigen Körper.

„Was nun diese kleine Aufgabe angeht ... “, sagte sie schließlich und Katta machte das harmlose und aufmerksame Gesicht, das sie in der Schule bei den Lehrern perfektioniert hatte, denen sie am wenigsten über den Weg traute.

„... wir haben ein klitzekleines Problem, das sich augenblicklich unserem Zugriff entzieht und diese Sache ist es, bei der wir dringend deine Hilfe brauchen ...“ Das Walross ließ die Worte bedeutungsschwer in der Luft hängen, obwohl es den Effekt etwas zerstörte, indem es ein schnodderndes Schnauben losließ.

„Ah“, sagte Katta und wartete.

„Es ist nämlich so“, setzte das Walross wieder an, „dass wir in deiner Ebene zwar zaubern können, was natürlich alles sehr einfach macht, auf der anderen Seite ist die seelische Belastung enorm, die der Aufenthalt in deiner Welt mit sich bringt.“

„Wieso?“, fragte Katta.

„Nun“, das Walross machte eine unbehagliche Pause und fuhr dann fort: „Soweit wir herausfinden konnten, leben die Tiere deiner Ebene, seien sie mit Intelligenz gesegnet oder nicht, in einem Zustand der Rechtlosigkeit, Versklavung und Verfolgung bis hin zur Zucht mit dem Ziel des Massenmordes.“

Katta holte Luft, um etwas zu sagen, kam aber nicht dazu.

„Mir ist aufgefallen,“ sagte das Walross, „dass es dir überhaupt nicht gefallen hat, wie ich mit Goron umgegangen bin – dass ich ihm Angst gemacht habe.“

Katta blickte das Walross überrascht an, nickte dann aber.

„Stell dir vor, du würdest feststellen, wir hätten ein ganzes Haus voller Gorons, in dem ihre leblosen Körper an den Füßen aufgehängt langsam ausbluten würden, damit wir sie uns gebraten oder gekocht einverleiben können ...“

Das war ein heikler Punkt.

„Oder du würdest beobachten, wie wir Gorons Frau und andere in einem engen Verschlag halten würden, ihnen die Kinder, die sie gerade geboren hätten, wegnehmen und dafür ihre Milch abpumpen würden, um daraus Speisen für uns herzustellen ...“

Katta fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut und konnte nichts erwidern.

„Oder du hättest gesehen, dass wir Gift auslegen würden für die hungernden Kinder Gorons, die an unsere Vorräte gehen, weil sie ansonsten aus Nahrungsmangel sterben müssten, da wir die Welt so stark verändert hätten, dass sie sich nicht mehr selbst versorgen können ...“

„Okay!“ Das Schlimme war, dass das Walross in allen Punkten recht hatte. „Ich habe verstanden. Steckte ich in der Haut eines Wesens, das bei mir zu Hause als Tier betrachtet wird, hätte ich auch wenig Lust, mich auf eine Exkursion zu begeben, es sei denn vielleicht als Ratte oder so.“

Das heftige Schnauben des Walrosses erschreckte Katta. Mit dröhnender Stimme fragte es:

„Wie kommst du auf eine Ratte?“

Täuschte sich Katta, oder waren Ratten hier möglicherweise nicht sehr beliebt?

„Äh, ja, das sind Tiere, denen die Lebensbedingungen bei uns nicht allzu feindlich zu sein scheinen – sie können sich auf jeden Fall sehr oft anpassen und leben in den Städten ziemlich gut“, sagte Katta und fügte unhörbar hinzu: „sofern sie keine Laborratten sind ...“

Das Walross schnaufte tief, dann schüttelte es seinen Kopf.

„Ich verstehe.“ Es schnoberte und machte dabei eine Bewegung, das ihren Speck erzittern ließ. „Ich verstehe nun besser, was hier geschieht!“ setzte es hinzu.

„Was?“, fragte Katta, die gar nichts verstand.

„Die Ratten ...“, wieder schauderte das Walross, „... sind Teil dessen, um das ich dich bitten möchte. Sie haben unserer Königin großen Kummer bereitet und das im vorletzten Dezennium ihrer Herrschaft.“

„Oh.“ Welches Tier mochte wohl in dieser Welt die Königin verkörpern?

„Die Ratten“, das Walross schien dieses Wort wirklich nicht zu mögen, „haben etwas gestohlen. Nichts Kostbares, eigentlich kann niemand etwas damit anfangen, aber es ist der Königin ans Herz gewachsen, Teil einer liebevollen Angewohnheit sozusagen und, nun ja, es fehlt ihr einfach.“

„So?“ Katta merkte es immer, wenn Erwachsene etwas herunterspielten, das ihnen in Wirklichkeit extrem wichtig war. Diese Unart schien sich auch bei Walrössern zu finden.

„Ja. Es fehlt ihr. Es ist eine Essenz, eine ganz besondere Essenz, die nur für sie hergestellt wurde und die ihr ureigenstes Eigentum ist.“

„Und die Ratten haben es geklaut?“

„Ja. Das haben sie. Diese ...“ Das folgende Wort war nichts, dessen Lautgestalt Katta im Nachhinein hätte umreißen können. Es klang nicht gut. Für die Ratten zumindest.

„Und damit nicht genug“, fuhr das Walross wieder in verständlicher Sprache fort, „haben sie es in deine Ebene gebracht, die für uns undurchschaubar und schrecklich ist.“

Katta schwieg und fragte sich, was das alles mit ihr zu tun hatte. Das Walross schnaufte asthmatisch, während hinter ihm das Meer sein ewiges Gemurmel von sich gab und seine Unterseite allmählich tiefer in das Kieselbett sank, wo es von Welle für Welle unterspült wurde. Katta schaute beiläufig in die Richtung, in die Goron verschwunden war, doch nichts war dort zu sehen, außer dem Gras, das sich auf der Düne wiegte, dem Strand, dem Meer, ein paar leichten Herbstwölkchen am strahlend blauen Himmel.

Wenn das der Versuch einer Erklärung gewesen sein sollte, dann war er erbärmlich in den ersten, unverständlichen Ansätzen steckengeblieben. Vielleicht konnte eine gezielte Frage helfen.

„Ähm, warum haben die Ratten diese Essenz gestohlen?“

Schnaubend schüttelte sich das Walross.

„Wer weiß?“, fragte es. „Wer weiß?“ Es drohte wieder, in seinen Gedanken zu versinken, riss sich aber davon los.

„Vielleicht hat es etwas mit ihrer Untergrundbewegung zu tun.“

„Untergrundbewegung?“, fragte Katta.

„Ja. Der Ratten.“

„In meiner Ebene oder hier?“

„In deiner Ebene.“ Das Walross robbte aus der Senke, die das Meer inzwischen unter seinem Bauch ausgespült hatte.

In Kattas Bauch sammelte sich ein mulmiges Gefühl. Irgendwie fiel es ihr gerade leicht, sich in eine Ratte hineinzuversetzen, die in ihrer Welt lebte. Welchen Zweck eine Untergrundbewegung verfolgte, war eine Frage, die gar nicht gestellt werden musste. Der Feind aller Tiere war bereits ausgemacht.

„Was könnte die Untergrundbewegung mit der Essenz wollen?“, fragte sie.

„Vielleicht haben die Ratten erfahren, dass die Essenz bei allen Lebewesen außer der Königin bereits in kleinsten Mengen als tödliches Gift wirkt, für das kein Gegengift bekannt ist“, schnaufte das Walross, während es sich an einer anderen Stelle ein bequemes Bett in die Kiesel wälzte.

Das mulmige Gefühl in Kattas Bauch festigte sich zu einem unangenehmen Knoten. Ein hochwirksames Gift. In den Händen von Ratten, die sich nicht nur zu einer Untergrundbewegung zusammengeschlossen hatten, sondern überall in der Kanalisation der Städte lebten.

„Hat denn niemand etwas dagegen unternommen?“, fragte sie und fand sich selbst ziemlich lahm dabei.

Das Walross schnaubte und übergoss seinen Rücken mit Wasser, das es mit seiner Hinterflosse aus dem Ozean schöpfte.

„Der Diebstahl wurde eben erst bemerkt und schon bist du hier. Wir wissen nicht, wo die Essenz ist, aber wir wissen, dass sie sich nicht hier in unserer Ebene befindet. Also muss sie in eurer sein.“

„Was ist das eigentlich für eine Sache mit diesen Ebenen?“ Katta war ratlos. „Ich habe noch nie davon gehört.“

„Nun, das hat gute Gründe“, sagte das Walross hochmütig. „Vielleicht verstehst du, warum wir nur wenig Interesse daran haben, deiner Ebene etwas von der Existenz unserer Ebene zu verraten und als bequem erreichbarer Schlachthof entdeckt zu werden.“

Katta wurde knallrot.

Das peinliche Schweigen wurde durch ein neues Geräusch durchbrochen. Weit hinten, dort, wo Goron um die Biegung des Strandes verschwunden war, war eine kleine Figur im vollen Lauf zu erkennen, die auf sie zuhielt und von Moment zu Moment an Größe zunahm. Es war Goron, der wiederkehrte, Goron, der geschickt worden war, ihre Heimkehr zu ermöglichen, eine Heimkehr zu einem Schreibtisch mit einem Stapel voller Bücher darauf, denen Katta sich mit Inbrunst widmen würde, sobald sie endlich aus diesem immer schlimmer werdenden Traum erwacht wäre. Und wenn es kein Traum wäre? Dann würde sie Wichtigeres zu tun haben als eine Monatsarbeit. Das Bild eines Tropfens hochwirksamen Giftes, der in ein zentrales Trinkwasserbassin fiel, beschleunigte ihren Herzschlag.

Als Gorons Gesicht erkennbar wurde, stellte Katta verblüfft fest, dass ihn das Laufen nicht im Geringsten anzustrengen schien. Mühelos, wie sie es nur von Hunden kannte, die neben schnaufenden Herrchen her trabten, mit einer barfüßigen Eleganz, die die Versprechungen namhafter Turnschuhhersteller Lügen strafte.

Als er bei ihnen angekommen war, warf er sich vor dem Walross auf den Boden und gab einige unverständliche Laute von sich.

Das Walross schnaubte, nickte dann aber.

„Der Schamane kommt selbst, wir müssen uns also beide noch ein bisschen gedulden.“

Kattas eben geschöpfte Hoffnung auf eine baldige Heimkunft sank wieder. Sie zwang sich, nicht mehr an das Bild des Giftes zu denken, wie es sich im Wasser auflöst, bevor dieses in die Versorgungsleitungen der Stadt floss.

„Was wird der Schamane tun?“, fragte sie und setzte hinzu: „Ich bin natürlich gern bereit, jede Delegation zu unterstützen, die in meine Welt reist, um dort die Essenz aufzuspüren.“

„Delegation?“, das Walross sträubte verwundert die Barthaare.

„Äh, ja, äh, also Abgesandte von hier, denn es handelt sich doch um die Essenz eurer Königin, oder habe ich das falsch verstanden? Also, was ich sagen wollte, war, dass ich denen sehr gerne helfe, sobald wir wieder bei mir sind.“

„Das Wort Delegation ist mir durchaus ein Begriff,“ sagte das Walross leicht beleidigt, „Ich weiß nur nicht, von welcher Delegation wir hier sprechen?“

„Ja, wer soll denn die Essenz zurückholen?“, fragte Katta.

„Ja, wer wohl?“, fragte das Walross und blickte Katta an.

***

Das war ein wirklich blöder Moment gewesen, dachte Katta und ruckte unbehaglich in der Astgabel hin und her. Nach einer halben Stunde hatte der Ast hinter ihr seine angenehme Passform verloren und seine kleinen Unebenheiten hatten sich zusammengetan, um ihren Rücken zu malträtieren. Es war merklich dunkler geworden und noch immer waren ihre Verfolger nicht aus dem Wald getreten, um ihr den Garaus zu machen. Das seltene Rascheln hier und dort war Waldvögeln zuzuschreiben, einmal hatte sie ein paar Rehe springen sehen, im Unterholz des Abhangs, zu dem sie freie Sicht hatte.

Tiere sind geduldig, sagte sie sich. Tiere, die es geschafft haben, unbeschadet ihre Ebene zu besuchen und zu verlassen und die gleichzeitig in ihrer eigenen Ebene ein unauffälliges Leben geführt haben, während sie ihren komplexen und schlagkräftigen Plan ausheckten, mussten sehr, sehr, sehr geduldig sein. In etwa so geduldig wie ein kleiner Brocken Granit. Sie hingegen hatte ungefähr so viel Geduld wie ein Knallfrosch. Dafür konnte sie nichts, das lag an der Zivilisation. Nur gut, dass sie das wusste. Das wiederum lag am Frontallappen ihres Gehirns.

Oder ob sie doch einfach runtersteigen und ihr Glück versuchen sollte?

Nein. Besser, sie richtete sich endgültig darauf ein, die Nacht hier zu verbringen, dann könnte sie sich das schwachsinnige Hin und Her in ihrem Kopf ersparen. Aber würde sie nicht im Schlaf herunterfallen? Die Gefahr war größer, dass sie beim Aufwachen einen solchen Schrecken über die Höhe ihres Sitzes bekäme, dass sie sich mit einer heftigen Bewegung nach unten beförderte. Vielleicht war da unten niemand. Aber das war nicht wahrscheinlich. Schließlich trug sie etwas bei sich, auf dessen Besitz ihre Verfolger lang und zäh hingearbeitet hatte.

Vorsichtig tastete sie nach dem tropfenförmigen Behältnis in der Seitentasche ihrer Cargohose. Nein. Mit der Essenz würden die sie nicht einfach so davonziehen lassen.

Kapitel 2 Eine Mission

Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis Katta sich von dem Schock erholt hatte.

„Ich soll allein nach der Essenz suchen? Habt ihr eine Vorstellung davon, wie viel Platz es bei uns gibt? Wie viele Ratten?“

Das Walross schnaubte.

„Der Schamane wird dir da schon weiterhelfen. Immerhin hat er dich gefunden, darum nehme ich an, dass die Diebe sich in deiner Nähe aufhalten werden. Vielleicht leben sie ja sogar da, wo du lebst. In dem – äh, wie nennt ihr das noch mal – äh, dem … Gebäude?“

„In meinem Haus leben Ratten?“

„Ja. Und? Da leben ja auch Menschen. Bei uns ist das Zusammenleben von unterschiedlichen Spezies in einem Lebensraum ganz gebräuchlich und wird allgemein sogar als sehr sinnvoll erachtet.“

Katta schluckte. Stimmt. War ja nicht so schlimm. Kam wohl immer sehr stark auf die Warte an.

„Okay. Also in meinem Haus befindet sich die Essenz?“

„Möglich.“

„Es ist aber schon klar, dass Ratten sehr klein sind, während ich doch etwas größer bin. Ich gehe eher davon aus, dass ich in die Wohnungen der Ratten nicht hineinpasse.“