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Die sechziger Jahre haben begonnen und mit ihnen das Zeitalter des Wassermanns. Adolf Eichmann wird in Jerusalem zum Tode verurteilt. Konrad Adenauer sagt Militärhilfe für Israel zu. Gleichzeitig jedoch zieht es deutsche Flugzeugkonstrukteure, Triebwerksbauer und Raketentechniker in großer Zahl nach Ägypten.
Rita Hellberg, Tochter eines Ingenieurs, will ihre Eltern in Kairo eigentlich nur besuchen. Doch der Vater entscheidet: Die Familie gehört zusammen. Ägyptens Präsident Nasser träumt von einer afrikanischen Rüstungsindustrie, und so baut der Vater einen Jagdbomber. Während ihre Mutter sich dem Leben in Kairo verweigert, erkennt Rita bald, dass es für sie keinen besseren Ort geben kann, um ihre eigene Zukunft zu betreten. Sie lässt sich mitreißen in eine faszinierende Welt im Umbruch. Erst mit der Zeit wird ihr klar, dass sie mitten in einem Konflikt gelandet ist, in dem um historische und zukünftige, um weltpolitische und regionale Interessen mit allen Mitteln gekämpft wird. Jeder beobachtet jeden, Bomben explodieren, Menschen sterben. Rita Hellberg muss sich entscheiden, wo sie steht.
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Seitenzahl: 840
Merle Kröger
Die Experten
Thriller
Herausgegeben von Thomas Wörtche
Suhrkamp
Für Ada, Mira, Tabea, Lee und Svenja
Cover
Titel
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
Cover
Titel
Widmung
Inhalt
1 Grünes Fotoalbum . (Dezember 1961 bis Juli 1962)
2 Blaues Fotoalbum . (August 1962 bis Juni 1963)
3 Dunkelrotes Fotoalbum . (August 1963 bis Februar 1970)
Die Kairo-Decke. von Stefanie Schulte Strathaus
Nachwort
Quellenverzeichnis
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
1
(Dezember 1961 bis Juli 1962)
Foto, schwarz-weiß:
Rita liest, auf dem Bauch liegend, ein Taschenbuch; wer genau hinsieht, kann den Titel erkennen: Zazie in der Metro.
Bildunterschrift: Das gefallene Mädchen, Dezember 1961
Die Komposition des Bildes im Sucher der Kamera lässt keinen Zweifel. Rita Hellberg imitiert unbewusst oder mit Absicht eine Pose aus dem Buch, das sie in der Hand hält. Die langen, dunklen Haare fallen ihr ins Gesicht, das Buch verdeckt die Augen. Sie trägt eine weiße Bluse mit hochgeschlagenem Kragen und eine gerade geschnittene, enge Hose, grau oder blau, jedenfalls dunkler. Ihre Füße sind nackt, die Zehen lackiert, vielleicht rot. Sie liegt auf dem Bauch, die Ellenbogen aufgestützt. Ihrem Bruder Kai, der in diesem Moment den Auslöser drückt, signalisiert sie mit ihrem geschlossenen Profil lässig, aber bestimmt:
Zutritt verboten.
Das Bett ist aus Holz, abgeschabt und verwohnt wie das, was man sonst noch von dem Zimmer erkennen kann. Rita scheint das nichts auszumachen. Sie wirkt entspannt, obwohl sie an dem Tag schon weiß, dass sie vom Internat fliegen wird.
Rita Hellberg provoziert ihre Umwelt, ohne es direkt zu beabsichtigen. Sie hat eine Art weltfremder Verträumtheit, als wäre sie von einer durchsichtigen, elastischen Hülle umgeben. Damit hat sie ihre Mutter zur Weißglut getrieben, bis der Vater sie zur Strafe oder zu ihrem Schutz, das weiß er vielleicht selber nicht, hierhergeschickt hat. Keinen Tag länger hätten die beiden unter einem Dach leben können. Rita hat das Urteil widerspruchslos angenommen, sie ist ein Mensch, der sich den Umständen anzupassen weiß.
Auf der Flucht geboren.
Sie rebelliert nicht, wenn es keinen Sinn hat zu rebellieren.
Sie schaut nach vorn und nicht zurück.
Sonst sähe sie noch das weiß gekalkte Haus in Stade, im September vor drei Jahren, es ist früher Morgen, frisch für die Jahreszeit. Ein kalter Wind zieht von der Nordsee über das Land. Ein paar im ersten Nachtfrost erstarrte Rosen hängen noch an den Stöcken. Friedrich Hellberg wuchtet das Gepäck seiner Tochter in den Kofferraum, er ist dreiundvierzig, wirkt erschöpft, das Herz macht ihm zu schaffen. Ingrid Hellberg sieht älter aus als ihr Mann, obwohl sie keine vierzig ist. Unzufriedenheit hat sich vorzeitig in ihre hängenden Mundwinkel gefräst, der Blick flackernd, immer auf der Jagd nach einer dunklen Ecke im Haus oder im Garten, die sie in Angriff nehmen kann und muss. Rita, damals dreizehn, ist schon halb die Stufen herunter, kommt nochmal zurück, ohne einen Blick an die Mutter zu verschwenden. Umarmt ihre sechsjährige Schwester Petra. Flüstert ihr etwas ins Ohr, die Kleine reibt sich die Augen und nickt. Für die Mutter reicht ein gerade angedeuteter Kuss auf die Wange. Rita steigt zum Vater ins Auto, ein letzter Blick zurück, ironisches Lächeln, ein Funken von Triumph im Blick.
Rita Hellberg ist ein Papakind, daran herrscht kein Zweifel. Als sie laufen kann, folgt sie Friedrich wie ein Hund. Als sie sprechen kann, redet sie vor allem mit ihm. Ihre Gespräche umgibt eine Aura des Geheimnisvollen, des Exklusiven, die alle anderen in die Außenwelt verweist.
Kai, nicht mal vier Jahre älter als Rita, ist dem Vater im Krieg abhandengekommen. Ein Junge, der sich lieber an die Frauen hält, die ihn beschützen: an Ingrid und ihre Mutter, später seine väterliche Großmutter in Ottensen. Da bleibt er auch, als die Familie nach Stade zieht, um näher an den Norddeutschen Flugzeugwerken zu sein. Friedrich lässt ihn nur ungern zurück. Aber noch einen Umzug, ein Jahr vor dem Abitur, hätte der Junge wohl kaum verkraftet.
Gebrüllt hat er schon mit drei, als Friedrich ihn ins Flugzeug gesetzt hat, und gebrüllt fortan, wenn sie nur in die Nähe des Segelflugplatzes kamen. Der wird kein Ingenieur, im Leben nicht. Sitzt lieber im Warmen, versteckt sich Nachmittage lang hinter der Orgel von Sankt Marien und klimpert Tonleitern.
Rita hingegen ist aus anderem Holz geschnitzt. Die hat Friedrich in seine zwei Hände nehmen können wie einen Vogel, so winzig war sie. So hat er sie ins Kinderkrankenhaus getragen, nachdem sie im Mai 45 in Hamburg angekommen sind. Bleibt bei ihr, Tag und Nacht, seine Mutter hat zu tun mit dem Jungen und Ingrid, die den ersten Nervenzusammenbruch hat von vielen, die noch folgen werden. Rita lässt sich von ihm ins Flugzeug setzen, ganz ruhig, ohne einen Funken Angst. Die würde sofort mitfliegen, wenn Ingrid es zuließe.
Aber nein! Rita Hellberg schaut nicht zurück. Sie lebt mit jeder Faser des zu ihrem Unglück immer noch jungfräulichen Körpers im Augenblick und liest dieses Buch, von dem alle Welt redet. Wobei im Moment vor allem Kai redet, der gekommen ist, um sie dabei zu stören, auf Anordnung von oben.
»– nachdem die minderjährige Schülerin mehrfach zu spät nach Hause kam, mit Ausgangsverbot bis zu den Ferien belegt«, liest Kai von dem Brief ab, der vor vier Wochen im elterlichen Briefkasten steckte.
»Um acht!«, stöhnt Rita, »die sperren uns hier um acht Uhr ein, obwohl da draußen noch weniger los ist als in Stade.«
»– statt die Hausordnung zu befolgen, regelmäßig nach achtzehn Uhr Herrenbesuch auf dem Zimmer gehabt. Dies wurde durch Fräulein Doktor Meinert der Schulleitung gemeldet und führt zum Internats- und Schulverweis mit sofortiger Wirkung, der jedoch mit Rücksicht auf die Auslandstätigkeit des Vaters bis zum Ende des Halbjahres ausgesetzt wird.«
»Die Meinert ist eine stadtbekannte Denunziantin. Die ist eine ewig Braune, ich schwör’s dir!«
»Wie heißt denn der Glückliche?«, fragt Kai.
Foto:
fehlt, nachträglich entfernt
»Wer?« Rita klappt das Buch zu und sieht ihn mit gespieltem Erstaunen an. »Meinst du etwa jene unwichtige Randfigur, die in Unterhosen aus dem Fenster verschwunden ist, zurück in die Bedeutungslosigkeit, der sie einst entstiegen war?«
Kai, dem die Richtung des Gesprächs nicht gefällt, greift nach einer Postkarte, die auf dem Tisch liegt. Die Vorderseite zeigt eine schmale weibliche Bronzefigur, sitzend, mit einem Kind auf dem Schoß. Er dreht die Karte um und liest die säuberlich gemalte Kinderschrift.
Hallo, Rita! Das ist Isis, die Göttin mit den Hörnern und der Sonne auf dem Kopf. Sie sagen, du hast auch Hörner, die sollst du dir anstoßen oder abstoßen? Vati rauft sich die Haare aus, bis bald keine mehr da sind. Mutti ist schrecklich nervös. Der neue Diener ist wieder weggerannt. Komm schnell, bitte! Viele liebe Grüße, deine Schwester Petra. P.S. Bringst du mir die Hörner mit, wenn du sie nicht mehr brauchst?
Kai lacht. »Typisch Pünktchen!«
Rita hebt nicht einmal den Kopf. Sie ist wieder vollkommen absorbiert von ihrem Buch. Kai wirft ihr einen langen Blick zu und legt die Postkarte zurück auf den Tisch. Er beginnt auf und ab zu laufen, zum Fenster, dann wieder zur Tür, das Zimmer zu klein für seine langen Schritte. Ritas Mitbewohnerin ist zum Glück nicht da. Er läuft auf und ab und pfeift.
I’ve got a feeling I’m falling. Fats Waller.
Nicht, weil er Rita damit etwas sagen will. Die versteht von Musik so viel, wie NDR 2 den ganzen Tag rauf und runter dudelt. Mit einem leider schwindenden Teil seiner Gedanken ist Kai Hellberg noch am vorigen Abend beim Jazzworkshop in Hamburg, im Studio Zehn. Der andere Teil: Anruf aus Kairo, bitte rede mit deiner Schwester, schiebt sich davor.
»Kann ich mir vorstellen, dass Vati tobt. Wir sollen doch alle schön nach seiner Pfeife tanzen.« Er setzt noch einen drauf. »Der alte Tyrann.«
Endlich sieht Rita kurz auf. »Lass Vati in Ruhe. Der hat genug Kummer mit der Verrückten.«
»Im Moment machst du ihm Kummer.« Kai grinst. »Vatis Liebling. Rausgeworfen wegen Verstoßes gegen die guten Sitten.«
Er geht zum Fenster und sieht hinaus in die Novemberdämmerung, als säße da immer noch der namenlose Junge in Unterhosen und wartete zitternd darauf, endlich wieder hereingelassen zu werden.
»Hmmm«, brummt es hinter dem Buch.
»Rita!« Die Musik im Kopf ist weg. »Mutti ist nicht verrückt.« Es stört ihn. Dass sie immer dieses Wort benutzt. Es klingt gemein und krank.
»Ist sie wohl, und du weißt das.« Von hinter dem Buch. »Ist doch nicht normal. Putzen von morgens früh bis nachts. Was hat die mich rumgescheucht.«
»Sie hat es halt gern sauber. Für uns!«
»Für dich vielleicht! Ich wäre fast –«
»– gestorben«, beendet Kai ironisch Ritas Satz. »Du hattest eine Lungenentzündung und keine Schwindsucht. Eine Kur in Sankt Peter-Ording, und ab ins schöne Plön hier.« Er deutet in Richtung Fenster. »Vati regelt alles für seinen Liebling.«
Endlich legt sie das Buch zur Seite und sieht ihn interessiert an, als sei er ein Wesen von einem anderen Stern.
»Bist du eifersüchtig? Hast du mich deshalb im Stich gelassen, als wir nach Stade gezogen sind? Gemütlich bei Oma Hamburg gesessen, das große Musiktalent gegeben und dich bekochen lassen, das hast du!«
Kai beginnt wieder, auf und ab zu tigern.
Stand by me, singt Ben King in seinem Kopf.
»Ich dachte, du bist auf meiner Seite«, murmelt er.
»Lass das!« Sie fuchtelt mit dem Buch in seine Richtung. »Man kann es sich auch leicht machen. Ein, zwei Demonstrationen, ein paar Flugblätter im Haus, Vati dreht durch, und du kriegst, was du willst. Typisch Junge.«
»Was hat denn das damit zu tun?« Immer dreht sie es so, dass er schuld ist. »Eine Volksbefragung gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr zu fordern, ist doch kein Verbrechen. Er hat mich verweichlichter Bolschewik genannt! Nur weil wir uns nicht zu Handlangern eines Ermächtigungsgesetzes des Bundestages machen wollen, der neue Massenvernichtungsmittel –«
»Ach, hör auf zu dozieren. Du langweilst mich.« Sie hält wieder ihr Buch vor die Nase. »Hast du keine Freunde, oder warum vertrödelst du dein Wochenende hier?«
Kai packt wütend seine Kamera in die Tasche und greift nach der Jacke. »Bis in zwei Wochen dann.«
Wenn sie nicht seine Schwester wäre.
Rita Hellberg wirft der knallenden Tür ein nachsichtiges Lächeln zu. Warum regen sich eigentlich immer alle so auf?
Foto, schwarz-weiß:
Rita und Kai, beide in dicken Wintermänteln, stehen neben einem Opel Kapitän, im Hintergrund leuchtet schneehelles Alpenvorland.
Bildunterschrift: Unterwegs, Dezember 1961
Der Großvater gibt Rita ihre Kamera zurück und stellt sich zum Winken auf die Eingangsstufen des Pfarrhauses neben seine Frau. Die wischt sich mit der Ecke ihrer Schürze im Auge herum. »Die Kälte treibt mir die Tränen in die Augen.« Sie lächelt tapfer. »Auf geht’s, Kinder.«
Übernachtung auf der Fahrt von Hamburg nach Venedig bei den Großeltern in Bayern. Es gibt Bratäpfel aus dem Kachelofen im Wohnzimmer. Kai erinnert sich an den Duft noch von früher, Rita nicht. Sie schläft im Mädchenzimmer ihrer Mutter und wirft sich unruhig von einer Seite auf die andere.
Alpträume.
Ingrid Lindemann, Tochter des Kantors in der katholischen Pfarrgemeinde Landsberg, fünf Kinder, alle spielen ein Instrument. Landsberg inszeniert sich als Wallfahrtsort der Hitlerjugend. In Scharen pilgern sie zur Gefängniszelle, in der der Führer seine Festungshaft abgesessen hat.
Die Hitlerstube.
Im Juni 1940 landet hier Friedrich Hellberg in einer nagelneuen He 111 auf dem Flugplatz. Er hat sich verpflichtet, den Sommer über junge Segelflieger zu unterrichten. Der Ingenieur und Hobbyflieger verkörpert für die Jugendlichen das Idealbild des nationalsozialistischen Helden.
Ingrid Lindemann, nervös wie ein Rennpferd, doch für diesen einen Sommer außerordentlich schön, will ihn, bekommt ihn und bekehrt ihn zum katholischen Glauben. Friedrich ist es eins, er glaubt weniger an Gott als an den Führer und ein allumfassendes kosmisches System.
Hochzeit in Weiß, der Vater spielt die Orgel, die Mutter weint um ihre Tochter und weil alles so schnell gehen muss.
Im Herbst nimmt Friedrich seine Ehefrau mit nach Rostock. Dort lebt die junge Elite des Reiches im neu gebauten Stadtteil der Firma Heinkel. Es gibt ein Gesundheitshaus und Kneipp-Kuren für die Angestellten.
Hier wird Flugzeuggeschichte geschrieben.
Der Düsenjäger He 178 wird gerade im Auftrag einiger Raketentechniker weiterentwickelt, die in Peenemünde, das ist ein offenes Geheimnis, an der Zukunft basteln. Das Heer der Zwangsarbeiter, die in den Heinkel-Werken in Oranienburg schuften, sieht Friedrich Hellberg nur im Vorbeilaufen, konturlos, verschwimmend mit dem Hintergrund einer neuen, rasanten Zeit.
Wir fliegen Überschall.
Im Sommer 1941 wird sein Sohn Kai geboren.
Ein Jahr später liegt der Rostocker Traum vom schönen Leben in Trümmern. Friedrich schickt Frau und Kind zurück nach Bayern.
Friedrich baut Flugzeuge.
Zwangsarbeiter bauen Flugzeuge.
Überschall.
Überall.
In Peenemünde erschafft Wernher von Braun mit seiner Gruppe, abgeschirmt von den Kriegswirren, in fiebriger Eile neue Raketen.
V2, 3, 4.
In Landsberg baut Willy Messerschmitt den zweistrahligen Düsenstrahljäger ME 262.
In Oranienburg konstruiert eine Gruppe von Ingenieuren, zu denen auch Friedrich Hellberg gehört, für Heinkel die einstrahlige He 162, die sie den Volksjäger nennen. Das Flugzeug, in dem Hitler die deutsche Jugend verschwenderisch in den Tod schicken wird.
Können Maschinen den Untergang abwenden, den der Mensch nicht mehr aufhalten kann?
Die Häftlinge in den Konzentrationslagern gehen vor Erschöpfung, Kälte und Hunger für diese Maschinen in den Tod. Nach dem Krieg wird in Landsberg ein zentrales Lager für die heimatlosen Überlebenden eingerichtet. In ihren Augen flackert noch der Widerschein der Hölle.
Der kleine Kai Hellberg soll lieber drinnen spielen.
Sein Vater hat deutlich komfortabler überlebt. Er hat zwischen all dem Flugzeugbauen sogar noch Zeit gefunden, seine Frau zu schwängern.
Geschlechtsverkehr gegen die Niederlage.
Im Januar 1945 wird Rita geboren. Friedrich zieht es fort aus Landsberg. Er fühlt sich beobachtet, bedroht, verfolgt von den umherstreifenden KZ-lern, wie er sie nennt. Sie wollen ihm das Wenige nehmen, das ihm geblieben ist. Heim will er, nach Hamburg zu Muttern, der Vater ist im Krieg gefallen.
Auch wir haben gelitten.
Wieder sitzen Nationalsozialisten in der Festung Landsberg ein, diesmal als Gefangene der Siegermächte. Sechs Jahre nach Kriegsende protestiert hier jeder dritte Einwohner gegen die Vollstreckung von Todesurteilen gegen NS-Verbrecher.
»Juden raus!«, brüllt der Mob einer kleinen Gruppe von Holocaust-Überlebenden entgegen.
An diesem Morgen kurz vor Weihnachten 1961, als Kai Hellberg den Wagen anlässt, herrscht in Landsberg endlich wieder Normalität. Die alte Festung ist jetzt eine Justizvollzugsanstalt des Freistaates Bayern.
Die Großeltern stehen winkend vor dem Haus. Sie verstehen nicht, warum dieser unterkühlte nordische Mann ihre Tochter und die Enkelkinder in die ferne Wüste verschleppt. Gibt es hier in Deutschland nicht genügend Möglichkeiten, sich ein gutes Leben aufzubauen? Man hat es doch weiß Gott wieder zu etwas gebracht seit dem Krieg.
Rita winkt und zündet sich eine an, sobald die beiden außer Sicht sind. Im Radio läuft der Messias von Händel, passend zur Jahreszeit und zum Abzweiger nach Oberammergau, an dem sie kurz danach vorbeirauschen.
In den Alpen müssen sie den meerblauen Opel Kapitän der Familie Hellberg, von allen Hans Albers genannt, durch einen Schneesturm bugsieren. Kai versucht fluchend, den Wagen in der Spur zu halten. Rita raucht Zigaretten und lässt ihre Seele in die verschneiten Bergmassive vagabundieren. Kai sucht auf Mittelwelle nach BFBS, dem britischen Militärsender, um sie wieder einzufangen.
Ain’t she sweet, singen die Beatles.
Rita summt mit.
Kai ist das Stück zu seicht. Für ihn ist Musik mehr als Unterhaltung. Er ist jetzt Student der Musikwissenschaften an der Universität Hamburg im ersten Semester. Kai Hellberg, und er ist nicht der Einzige, spielt mit dem Gedanken, dass Musik der Ausdruck eines neuen Zeitalters werden könnte.
Der Beat hat die Stadt erobert.
Letzte Woche ist er nach der Uni hin. Mit ein paar anderen in die Palette, ABC-Straße, gleich hinterm Gänsemarkt.
Einer im Anzug deklamiert Howl von Allen Ginsburg.
Keiner hört zu.
Der Gestank. Einmalig.
Bier und Zigaretten.
Alle reden durcheinander.
Paris. Getrampt. Sartre. Howl.
Hast du was? Ich hab’ nix.
Kai ist erschrocken über diese Welt da unten im Keller. Aber da ist was, das ist anders. Und es gefällt ihm.
Wir sind die anderen.
Der Schnee geht in Regen über. Sie sind über den Pass.
Auf der anderen Seite.
Foto, schwarz-weiß:
Blick von oben auf ein Hafenbecken mit gestreiften Pfählen, einige Gondeln sind daran festgemacht; Kai lehnt an einer Laterne und liest eine Zeitschrift.
Bildunterschrift: Der Student von Venedig, Dezember 1961
Rita Hellberg geht an Deck.
Sie schaut auf die Stadt.
Venedig hat sie sich anders vorgestellt, in bunten Farben, nicht so schwarz-weiß-grau. Selbst die rotweißen Pfosten der Gondeln wirken fahl.
Und Kai, ganz blass und dünn da unten, mit seinem schwarzen Mantel, sieht aus wie eine dieser düsteren Maskenfiguren zum Karneval. Endlich guckt er hoch von seiner Zeitung und grinst. Rita drückt die magische Taste ihrer neuen Agfa, dafür hat Oma Hamburg tief in die Tasche gegriffen. Jetzt den Auslöser betätigen.
Aber er hat den Kopf schon wieder unten.
»Was liest du denn da Spannendes?«, schreit Rita.
Im selben Moment tutet das Schiff. Möwen fliegen kreischend auf.
Es geht los.
Kai ruft etwas zu ihr herauf. Rita versteht ihn nicht, schüttelt den Kopf. Sie winkt ihm zu. Er formt die Hände zum Trichter. Als wäre es unendlich wichtig, was er ihr sagen muss.
Das Schiff tutet.
»Was sagst du?«, schreit Rita.
Er wedelt mit der Zeitung. »Hitler in euch! Ich schicke euch den. Soll er lesen! Sag ihm das!«
Rita überlegt. Entscheidet, dass es nichts zu sagen gibt. Kai wird den Artikel ausschneiden und per Luftpost nach Kairo schicken. Ihr Vater wird den Umschlag mit seinem Brieföffner aus Messing auftrennen, zu den Papieren auf dem Schreibtisch legen und niemals lesen. Er wird vergilben, verstauben, ein zweckloses Unterfangen, diese hoffnungslose Liebe zwischen Vater und Sohn, ein stummer, verbissener Kampf darum, Recht zu haben.
Es beginnt im März 1958. Friedrich und Ingrid Hellberg haben ein Haus in Stade gekauft. Friedrich hat nach vielen Jahren endlich wieder eine feste Stelle. Das Verbot der Alliierten für die deutsche Luftfahrtindustrie ist aufgehoben. Man tüftelt an Flugzeugen für die Reisebranche.
Aber Friedrich Hellberg, auch wenn er es nicht laut sagt, jedenfalls nicht vor den falschen Leuten, hofft auf andere Projekte. Die deutsche Luftwaffe ist doch schon zwei Jahre alt. Er will endlich wieder richtige Flugzeuge bauen!
Überschall.
Ist das magische Wort.
Während sein Vater vom Durchbrechen der Schallmauer träumt und seine Mutter sich dem bevorstehenden Umzug durch eine kurze, aber heftige Nervenkrise entzieht, schließt sich Kai Hellberg mit siebzehn Jahren der Bewegung Kampf dem Atomtod an. An einem Donnerstag im April geht er morgens aus dem Haus, und statt zur Schule auf den Rathausmarkt. Dort formiert sich, nach und nach, die größte Protestversammlung der Nachkriegsgeschichte gegen die militärische Nutzung der Atomenergie.
Der Umzug nach Stade wird verschoben. Die Kinder sollen das Schuljahr noch zu Ende machen. Ingrid fährt zur Kur. Kai verrammelt seine Zimmertür, sitzt auf dem Bett und liest:
Ägypten und Syrien schließen sich zur Vereinigten Arabischen Republik zusammen.
Die Länder des Warschauer Paktes schlagen den NATO-Staaten den Abschluss eines Nichtangriffspaktes mit einer Laufzeit von fünfundzwanzig Jahren vor.
Der erste Negerschüler in Little Rock, USA, kann sein Diplom für die Absolvierung der Mittelschule nur unter massivem Polizeischutz entgegennehmen.
In Flörsheim kommt es zu einem antisemitischen Exzess, der in den Medien als kleine Kristallnacht tituliert wird.
Der ehemalige KZ-Arzt Hans Eisele hat sich einem Haftbefehl der bundesdeutschen Justiz entzogen und ist unter falschem Namen nach Ägypten geflohen.
Im Zuge des allgemeinen Kistenpackens findet Friedrich Hellberg unter dem Bett seines Sohnes ein zusammengeschnürtes Bündel der Wochenzeitung Die Tat und Flugblätter des Hamburger Anti-Atom-Ausschusses.
Es kommt zu der bekannten Auseinandersetzung. Seither finden die beiden keine Worte mehr. Das Schweigen ist eingekehrt, die einmal gesagten Worte in Stein gemeißelt.
Bolschewik!
Kriegstreiber!
Geh doch in die Ostzone!
Die Mauer, die seit einigen Monaten beide Teile Deutschlands trennt, wird erst drei Jahre nach dem privaten Mauerbau in der Familie Hellberg errichtet.
»Tschüs, Kai!« Er sieht verloren aus, da unten am Hafen. »Bis in drei Wochen!«
In dem Moment bricht die Sonne durch die Wolken. Die Fassaden von Venedig leuchten auf wie eine Theaterkulisse, die langsam an Rita vorüberzieht. Ein eigenartiges Gefühl überkommt sie, dass zum ersten Mal nicht die Welt es ist, die sich bewegt, sondern sie selbst.
Foto, schwarz-weiß:
Blick von unten auf ein großes weißes Schiff, an der Reling steht Rita; hinter ihr sind Rettungsboote und ein Schornstein zu erkennen.
Bildunterschrift: Reisende soll man nicht aufhalten, Dezember 1961
Ein letztes Aufblitzen von Kais Fotolinse im Sonnenlicht, dann ist er hinter der glitzernden Helle des Wassers verschwunden. Rita sucht in ihrer Handtasche nach der Sonnenbrille und geht nach hinten zum Heck. Europa gibt eine rauschende Abschiedsvorstellung.
Als wolle es sie festhalten.
Vergeblich!
Rita Hellberg ist entschlossen, diese Reise zu genießen. Ihre eigene Kabine mit Blick auf das Meer. Die Experten und ihre Familien, hat Friedrich ihr geschrieben, reisen selbstverständlich erster Klasse.
Erst mal auspacken und die Sachen verstauen. Dann zum Five o’clock in den Speisesaal. Liegestühle stehen überall an Deck, darauf Wolldecken, in die man sich einkuscheln und Bücher lesen kann.
Rita Hellbergs Bücherliste für die Überfahrt:
1) Nabokov, Lolita (nur in der Kabine)
2) Cendrars, Wind der Welt
3) Willke, Lisabella (Weihnachtsgeschenk für Pünktchen)
4) Brecht, Flüchtlingsgespräche (Abschiedsgeschenk von Kai)
Sie wird Brindisi und Piräus anlaufen und den Kanal von Korinth durchfahren. Sie wird im Hafen von Alexandria an Land gehen. Und sie wird Kairo sehen.
Rita Hellberg interessiert sich nicht übermäßig für Modezeitschriften, sie ist, könnte man sagen, orientiert. Kairo wird in einer Reihe mit Paris und London genannt. Hamburg ist dagegen tiefe Provinz.
Sie will ausgiebig mit Pünktchen bummeln gehen und ihr bei der Gelegenheit auf den Zahn fühlen. Die Kleine ist so damit beschäftigt, es allen recht zu machen, dass sie darüber ihr eigenes Glück vergisst. Pünktchen hat was von einer Samariterin, dafür hat sie sich, frei nach Erich Kästner, ihren Spitznamen gefangen.
Vielleicht sind alle anderen in der Familie so mit sich selbst beschäftigt, dass für Pünktchen einfach kein Platz mehr bleibt. Vati mit seinen Flugzeugen, Mutti mit ihrem Putzfimmel, Kai mit seiner Musik und Rita –
Ja, womit ist eigentlich Rita beschäftigt?
Rita baut an ihrer Welt. Sie liest ein Buch, fügt hier ein Stück hinzu, nimmt dort etwas weg. Sie hört einen Song, und plötzlich muss ein neuer Anstrich her, eine neue Farbe hier, ein noch nie gesehenes Muster dort. Sie verarbeitet Gespräche, Gefühle und Erlebnisse in ihrer Welt, sie nehmen Form und Gestalt an, erschaffen Räume, in denen sie lebt und atmet. Ihr fehlt jegliche Intention, diese Welt zugänglich zu machen oder mit missionarischem Eifer die armen Ungläubigen von draußen hereinzulocken.
Sie ist sich selbst genug.
Zutritt verboten.
Sie will mit ihrem Vater die Pyramiden besuchen. Sie werden in die Grabkammern hinabsteigen. Sie werden Hieroglyphen entziffern, das Wissen der alten Ägypter bestaunen und schaudernd hoffen, dass der Fluch der Pharaonen über sie hinwegzieht und andere trifft.
Rita Hellberg dreht sich um und nimmt die Sonnenbrille ab. Für einen Moment war da das Gefühl, jemand beobachte sie. Doch außer ihr ist niemand mehr an Deck.
So ein Unsinn.
Foto, schwarz-weiß:
Der Vollmond steht über einem klaren Sternenhimmel, leicht verwischt durch die Langzeitbelichtung.
Bildunterschrift: Sternbilder über der MS Ausonia, Dezember 1961
Rita drückt den Auslöser und hält die Luft an. Wer die Sterne beobachtet, muss stillhalten können. Doch die Ausonia schlingert. Sie fragt sich, ob auf dem Foto etwas zu erkennen sein wird.
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt die geprägte Form.
Sie lächelt. Ist noch da, ihr erster Goethe. Auswendig gelernt, im Gehen, geschrieben an die Decke des Planetariums vor dem Sternensaal.
Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen/
die Sonne stand zum Gruße der Planeten.
Ingrid Hellberg will nichts davon wissen, dass Friedrich Horoskope für ihre Kinder verfasst. Für sie ist es Teufelswerk, so sehr er sie davon zu überzeugen versucht, dass es sich bei der Astrologie um eine reine Wissenschaft handelt wie die Physik oder Biologie.
Er tut es dennoch, sturer Hamburger, brütet tagelang über den Sternenkonstellationen der Geburtsstunde und heftet die Horoskope dann in seinem Ordner für wichtige Dokumente ab. Dort liegen sie bereit für den Tag, an dem die Kinder lesen wollen, was die Sterne zur Stunde ihrer Geburt für sie bereithielten.
Friedrich Hellbergs Tätigkeit als Flugzeugkonstrukteur legt nahe, das hat Ingrid damals falsch eingeschätzt, er sei ein Mann des Verstandes. Doch die Luftfahrt in ihren Pionierzeiten zieht Romantiker an.
Als Kind verbringt er mit seinen Eltern zwei Wochen im Berggasthof auf der Wasserkuppe. Jeden Morgen klettert er über die Felsen bis ganz nach oben. Der gewaltige Adler thront auf einem von Menschen errichteten Steinhaufen. Dort wartet der Junge geduldig, bis die ersten Flugzeuge aufsteigen und eine Ehrenrunde um das Denkmal der Flieger drehen.
Danach zieht es ihn zur Segelflugschule hinunter, wo er sich im Casino herumdrückt und die Piloten belauscht. Er hört von den Rhön-Indianern, die hier fern der Zivilisation gehaust und Flugzeuge gebaut haben. Er sieht geheimnisvolle Männer, Angehörige der Reichswehr, die ihren Segelflugschein machen, um das Flugverbot von Versailles zu umgehen. Er beobachtet die Konstrukteure der Weltensegler GmbH bei der Arbeit, die jedes Jahr neue Modelle auf den wachsenden Markt bringen. Friedrich kennt alle Namen ihrer hölzernen Vögel, die den Himmel seiner Kindheit bevölkern.
Schwärmer. Krähe. Elster. Deutscher Aar.
Niemand weiß, wie er seine Eltern dazu gebracht hat, drei Jahre später nochmal Urlaub in der Rhön zu machen. Jedenfalls steht er schon wieder da unten, jetzt dreizehn, als der erste bemannte Raketenflug der Welt startet. Er dauert genau achtzig Sekunden lang. Friedrich Hellberg starrt mit offenem Mund in den blauen Sommerhimmel.
Im September wird er Mitglied der Jungfliegergruppe des Altonaer Vereins für Luftfahrt.
Flugzeuge bei Tag.
Sterne bei Nacht.
Friedrich starrt in den Himmel.
Seine Gedanken fliegen hoch, höher, durchstoßen die Atmosphäre, verlieren sich im All. Kehren zurück mit der drängenden Frage, was das alles mit uns zu tun hat.
Bald wird der Lehrling bei den wöchentlichen Zusammenkünften der Hamburger Astrologen in der Kantine des Schauspielhauses gesichtet. Er hört zu, er liest, er berechnet. Es ist eine mathematische Astrologie, die hier gelehrt wird. Das liegt dem späteren Ingenieur, weit entfernt vom billigen Hokuspokus der Jahrmärkte. Er lernt, Horoskope anhand der gerade erst entwickelten Kreisgrafik zu erstellen.
Friedrich Hellberg baut Flugzeuge.
Friedrich Hellberg deutet die Sterne.
Friedrich Hellberg tritt in die NSDAP ein.
Astrologen schreiben günstige Prognosen für Hitlerdeutschland. Die Kunst der Sterndeutung kommt groß in Mode. Friedrich Hellberg schreibt Horoskope für seinen Sohn Kai und für die Führungsriege der prosperierenden Heinkel-Werke. Sein guter Ruf spricht sich herum.
Ein Sachbearbeiter für Kulturfragen schreibt in Pullach bei München, wo die nationalsozialistische Elite eine Modellsiedlung mit Gärten für den biodynamischen Gemüseanbau bewohnt, ein Horoskop für Rudolf Heß. Der Stellvertreter Adolf Hitlers, in Alexandria geboren, wird wegen seines Hangs zum Okkulten auch der ägyptische Yogi genannt. Der zehnte Mai 1941 sei ein erfolgversprechender Tag für eine Reise im Interesse des Friedens, heißt es in dem Horoskop. Heß setzt sich in eine Messerschmitt Bf 110 und fliegt nach Schottland, um mit den Engländern über ein Ende des Krieges zu verhandeln. Er wird sofort nach der Landung gefangengenommen.
Die Liebe der nationalsozialistischen Führung zur Astrologie findet ein jähes Ende. Wer Horoskope verfasst, wird verhaftet und verschwindet in den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Dachau oder Buchenwald. Friedrich fürchtet wochenlang die Denunziation durch einen seiner Kollegen.
Doch nichts geschieht.
Friedrich Hellberg baut Flugzeuge. Im letzten Kriegsjahr wird er als Techniker und Fluglehrer für den Jagdverband 44, genannt die Experten, angeheuert. Die Experten unterstehen dem direkten Befehl Hermann Görings und sollen mit der Messerschmitt Me 262 die Kriegswende herbeiführen. Am Rande einer Einsatzbesprechung bittet Hermann Göring Friedrich Hellberg um ein persönliches Horoskop.
Ein Dilemma!
Die Nerven liegen blank in diesen Tagen.
Weigert er sich, wird er erschossen. Schreibt er das Horoskop, womöglich auch.
Friedrich Hellberg deutet die Sterne.
Das Horoskop gilt als verschollen.
Das nächste Mal nimmt er den Stift zur Hand, als nebenan, im Schlafzimmer der Schwiegereltern, seine Tochter Rita ihren ersten Schrei ausstößt.
Der Krieg ist vorüber.
Rita hat das Fotografieren aufgegeben und starrt in den nächtlichen Himmel. Sie spürt kaum Wind, und doch liegt das Schiff immer noch unruhig im Meer. Nervös ist dieses Wasser zwischen Süditalien und Griechenland. Das Deck ist leer, die meisten Passagiere haben sich bereits vor dem Dinner oder kurz danach in die Kabinen verzogen. Rita, von Seekrankheit verschont, ist mit ihrer Zukunft beschäftigt.
Die, die man selbst in der Hand hat.
Sie wird ihrem Vater einen Vorschlag machen müssen.
Was soll nur aus dir werden, Kind?
Was wird aus mir?
Ein Sonntag im Februar. Die siebenjährige Rita sieht Friedrich dabei zu, wie er mit dem Zirkel einen Kreis zieht. Dann die geraden Linien mit dem Lineal. Sie hört zu, wie er vor sich hinmurmelt. Ein Horoskop für Petra, die kleine Schwester, die gerade zur Welt kommt.
Kind der Hoffnung und des Aufschwungs.
Rita macht ein ernstes Gesicht, nimmt ihre Wachskreiden und malt einen Kreis.
»Und jetzt, Vati?«
»Willst du das wirklich wissen?«, fragt ihr Vater erstaunt.
Rita nickt. Sie klettert auf seinen Schoß.
»Weißt du, was ein Computer ist?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Stell dir eine riesige Rechenmaschine vor, die aus Sonne, Mond, Merkur, Mars, Jupiter, Saturn, Uranus und –«
»Pluto?«
Der Vater nimmt sie oft mit ins Planetarium im Stadtpark.
In den Sternensaal.
Rita Hellberg sitzt ganz still auf dem harten Stuhl, die Füße reichen noch nicht bis auf den Boden. Den Kopf so weit es geht nach hinten in den Nacken gelegt, schaut sie nach oben in den künstlichen Nachthimmel. Wenn ihr langweilig ist, geht sie nach draußen und spielt mit dem Deckengemälde in der Eingangshalle.
Das Spiel geht so: Augen zu und drehen, dann Augen auf, stehen bleiben und nach oben gucken.
Schwan.
Pegasus.
Bis ihr schwindelig wird.
»Richtig, Pluto. Jetzt stell dir vor, dass dieser Computer für jeden Menschen eine Lochkarte ausspuckt, nämlich sein Geburtshoroskop.«
»Was ist eine Lochkarte?«
»Eine Karte, die deinen ganz persönlichen Code enthält. Eine Geheimsprache.«
Rita nickt, damit er weiterspricht.
»Hast du dir schon einmal gewünscht, deiner besten Freundin ins Herz schauen zu können?«
Ja, das hat sie. Lotte von nebenan.
»Jedem Menschen, der geboren wird, wird sein eigenes Bild des Sternenhimmels mitgegeben. Die Gestirne verlaufen nicht in gleichmäßigen Bahnen, sondern sie bilden immer neue, unendlich viele Stellungen zueinander. Wenn wir dieses Lebensprogramm zu lesen verstehen, verstehen wir das Wesen des Kindes, seinen Charakter, seine Begabungen, seine Stärken und seine Schwächen.«
»Du kannst das alles für das Baby ausrechnen?«
Friedrich lacht. »Und weißt du, was das Größte ist, Rita?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Im Gegensatz zu den Tieren haben wir Menschen die Möglichkeit, diesem blinden Schicksal zu entkommen und damit zur wahren Freiheit zu gelangen!«
Seine Stimme zittert, er ist ergriffen von dem, was er gerade seiner Tochter erklärt. Vielleicht auch von Rührung über das neuerliche Wunder der Geburt, das in dieser Minute im Krankenhaus Altona vonstattengeht.
»Möchtest du lernen, diesen Computer zu bedienen, Rita?«
Und ob sie das will.
Lotte wird sich noch wundern.
Foto, schwarz-weiß:
Vor dem Hintergrund der Akropolis warten Fotografen auf Kundschaft, zwischen den Säulen wandern Besucher umher.
Bildunterschrift: Im Angesicht der Götter, Dezember 1961
Sie hat lange vergeblich nach einem guten Platz unterhalb der Akropolis gesucht. Rita Hellberg macht ein Foto, eher aus Pflichtgefühl als aus Überzeugung, denn deswegen ist sie schließlich hier.
Beinahe hätte sie den Bus nach Athen verschlafen, das kommt vom nächtlichen Herumbummeln an Deck. Vom In-die-Sterne-Gucken und An-die-Zukunft-Denken.
Rita.
Strenger Vaterblick.
Wie stellst du dir nun bitte deine Zukunft vor?
Nun.
Es gibt andere Schulen, Vati.
Oder eine Lehre. Buchhändlerin.
Oder gleich arbeiten. Steno kann sie ja.
Ein eigenes Zimmer in Hamburg.
Seine Antwort kennt sie auch. Du kannst noch nicht auf eigenen Füßen stehen. Man sieht ja, wo das hinführt.
Direkt vor ihrer Nase sitzen zwei professionelle Fotografen in weißen Kitteln wie Möwen auf den Steinen neben einem schwarzen Ungetüm von Kamera auf staksigen drei Beinen. Die beglotzen mit finsterer Miene ihre handliche Agfa. Haltet euch doch an die älteren Touristen, denkt Rita, dann werdet ihr euer Geschäft schon machen.
Das Ehepaar dort hinten, er immer drei Schritte voraus.
Die Reisegruppe, die von rechts ins Bild marschiert.
Oder die beiden Männer, halb von der Säule verdeckt.
Rita sieht genauer hin.
Jetzt kommen sie wieder hervor. Die zwei sind ihr im Bus schon aufgefallen, riesige Kerle, passen kaum in die engen Sitzreihen. Der eine sieht aus wie Gert Fröbe in diesem Film. Einer von denen, die einem im Kopf kleben bleiben.
Es geschah am helllichten Tag.
Rita spürt, wie sie eine Gänsehaut kriegt, selbst hier unter der heißen Sonne. Der Riese mit den Schokoladenigeln, der Kinder in den Wald lockt und sie zerdrückt zwischen seinen Pranken. Er tötet, was er liebt. Sein Gegenspieler ist Heinz Rühmann, der, auf dem Weg in irgendeinen Wüstenstaat, wieder aus dem Flugzeug steigt, weil jemand Trüffel isst.
Sie zwingt sich, an etwas anderes zu denken.
Was wollte der eigentlich in der Wüste? Alle Welt scheint es in die Wüste zu ziehen. Dort locken das Geld und der geheimnisvolle Orient. Im Fall ihres Vaters ist es eine halbseitige Anzeige, die ihm eines Samstagmorgens neben dem Frühstücksei aus der Zeitung ins Auge springt.
Flugzeugwerk in Nordafrika sucht Fachkräfte jeder Art!
Wie seine Augen funkeln, als er vom Vorstellungsgespräch in Zürich zurückkommt. Ritas Mutter hat tagelang gebetet, richtig laut zu Gott, dass es nicht klappen möge.
Pünktchen, die Nachzüglerin, betet leise. Von allen geliebt und doch allein mit der Putzwut und den Gefühlsausbrüchen der Mutter, dem ewigen Gerede von Gott und Jesus und Maria. Pünktchen hat in Stade endlich eine Freundin gefunden, die in einem identischen weißen Haus mit einem Garten gleich neben ihrem wohnt. Zusammen fahren sie nachmittags mit den Rädern zum Ponyhof.
Pünktchen ist neun. Sie will nicht weg aus Stade. Doch sie ist zu jung zum Rebellieren und zu alt, um es einfach hinzunehmen.
Kai tut so, als sei es ihm egal, was der Vater macht. »Der ist doch nur hinter dem Geld her!«
Rita glaubt, dass das nicht stimmt. Ihre Vorstellung ist romantischer. »Vati will etwas Großes schaffen!«
Sie beobachtet mit Interesse, wie seine Lebensgeister zurückkehren. Friedrich Hellberg wird innerhalb weniger Tage nach der Zusage eine jüngere, energischere Version seiner selbst. Rita begreift, dass man nicht einfach älter wird, sondern dass das ein Prozess ist, der plötzlich kehrtmachen und rückwärtslaufen kann.
Durch die Schallmauer.
Mit vollem Schub.
Noch einmal alles auf eine Karte setzen.
Es beginnt ein reger Briefwechsel zwischen Stade und Kairo.
Herrn Ingenieur Hellberg, Rosenstraße 5, 2160 Stade.
Sehr geehrter Herr Hellberg,
es wird nun höchste Zeit, dass ich etwas von mir hören lasse. Alles hier wartet mit Schmerzen auf Sie! Auf dem Gebiet der Konstruktion ist unwahrscheinlich viel zu tun.
Von einigen Sachen abgesehen, die aber nicht sehr ins Gewicht fallen, kann man hier gut leben. Zu kaufen bekommen Sie alles und auch zu annehmbaren Preisen. Am Anfang kommt man sich etwas verloren vor, weil alles noch so neu und unbekannt ist, nach einiger Zeit aber ist schon alles ganz selbstverständlich.
Herrn Ingenieur Mahrenholz, Maadi bei Cairo, Street 10, Villa 74, Vereinigte Arabische Republik.
Lieber Herr Mahrenholz!
Herzlichen Dank für Ihre überraschenden Grüße aus dem Nil-Land! Ich hatte neulich einige Herzanfälle und ließ mich daraufhin gründlich untersuchen. Nun spielt dabei die seelische Belastung eine große Rolle. Ich hole schon seit Jahren wirklich das Letzte aus mir heraus, und trotzdem wird das Ergebnis immer magerer. Das liegt zwar an der Lage der Flugzeugentwicklung in Deutschland, aber letztlich hätte man doch rechtzeitig umsteigen müssen, um überhaupt einmal aus den Sorgen herauszukommen. So habe ich mich entschlossen, diese Jahre Ägypten trotz aller damit verbundenen Risiken auf mich zu nehmen.
Unser Hauptproblem ist, um dies vorwegzunehmen, dass es meiner Frau aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich ist, den Haushalt selbst zu machen, was ihr das Liebste wäre. Andererseits möchte sie auch nichts mit Boys oder Einheimischen unmittelbar zu tun haben, da sie auf peinlichste Sauberkeit und Hygiene den größten Wert legt.
Herrn Friedrich Hellberg, Rosenstraße 5, 2160 Stade.
Sehr geehrter Herr Hellberg,
im Moment geht mir noch so Vieles im Kopf herum. Vielleicht wäre es möglich, daß Sie mir alles aufschreiben und ich Ihnen dann Ihre Fragen ausführlich beantworte?
Herrn Ingenieur Mahrenholz, Maadi bei Cairo, Street 10, Villa 74, Vereinigte Arabische Republik.
Sehr geehrter Herr Mahrenholz,
um Sie nicht mit meinen Fragen allzu sehr zu belasten, habe ich mir erlaubt, einen Fragebogen beizufügen, so daß Sie es einfacher haben.
1) Ist es ratsam, sofort den Wagen mitzunehmen? Man hat mir abgeraten, doch kenne ich die Taxen in Spanien, entsetzlich alte und schmutzige Vehikel, in denen man seines Lebens nicht sicher ist.
2) Wo kauft Ihre Gattin ein? Gibt es Läden europäischer Art mit festen Preisen oder muß man überall handeln?
3) Hatten Sie Schwierigkeiten bei der Nahrungsumstellung? Leben Sie Diät?
4) Gibt es Ungeziefer dort?
5) Können Sie einen Haushalt in gewohnter Weise führen oder muß man sich völlig umstellen?
6) Gibt es dort auch das moderne Plastikgerät, also Plastikschüsseln, Plastikwannen usw.?
7) Bekommt man gute Besen, Handfeger, Scheuerlappen?
8) Haben Sie schon eine ägyptische Wäscherei ausprobiert? Wurde sauber gewaschen und gebügelt?
9) Haben Sie schon Erfahrungen gesammelt, welche Medizin oder Drogen man mitnehmen sollte?
10) Kann man dort schicke Fertiggarderobe kaufen?
11) Kommen Sie mit der Sprache zurecht? Wie verständigen Sie sich mit dem Boy? Und beim Einkaufen?
12) Gab es bei Ihrer Ankunft viele Bettler, wie es uns hier geschildert wurde?
Ingrid Hellberg besteht darauf, ihre Waschmaschine mitzunehmen. »Sonst könnt ihr ohne mich fahren. Gott sei mein Zeuge!«
Friedrich Hellberg schreibt Listen. Eine Liste von Dingen für jeden Koffer. Handgetippt, drei Durchschläge.
Koffer 1. Hellbraun-beige Cord. Mutti, persönliche Wäsche, Kosmetik.
Koffer 2. Vulkanfieber Rot. Handtücher, Küchentücher, Kosmetik, Seife, Vasen und Leuchter.
Koffer 3. Rötlich beige ohne Riemen. Schuhkoffer.
Koffer 4. Heller Leistenkoffer. Bettwäsche, Nähzeug, Putztücher, Tischwäsche, Kittel, Nagelbürste, Weihnachtsschmuck.
Koffer 5. Grüner Lederkoffer. Vati, sofort in Kabine, 1 Anzug, 4 Hosen, Hemden.
Koffer 6. Brauner Lederkoffer mit Riemen. Bücher, Fachbücher
Weiter bis lfd. Nr. 32.
Bücherliste (privat), Oberingenieur Friedrich Hellberg
1.) Joyce, Ulysses
2.) Der nächtliche Lichtzauber der Pyramiden
3.) Essential English, Band 1, 2, 3
4.) Albert Schweitzer, Menschenfreund im Urwald
5.) v. Hilgendorff, Gutes Benehmen
6.) Kirschner, Die Kunst sich selbst zu verjüngen
7.) Gauguin, Tahiti
8.) Das Neue Testament
9.) Kosmobiologie und Kosmischer Beobachter, je 6 Hefte
10.) Ein Ordner, Kosmogramme
11.) Ein Hefter, Berechnungen zu Kosmogrammen
12.) Buß- und Beichtgebete für Kinder
13.) Lieder zur Weihnacht
14.) Katholisches Religionsbüchlein
15.) Arabische Umgangssprache
16.) Ein Haushaltsabrechnungsbuch
17.) Mädchen-Kalender 1961
18.) Mary O’Hara, Sturmwind – Flickas Sohn
19.) Anna Sewell, Der Schwarze Prinz – Die Lebensgeschichte eines Pferdes
Der Tag der Abreise kommt. Hamburg Hauptbahnhof, ein letzter, verzweifelter Blick von Pünktchen durch die zerkratzte Scheibe des D-Zugs nach München. Von da aus geht es weiter mit dem Nachtzug bis Venedig. Der Pfiff ertönt. Die Türen schließen mit einem Knall. Der Zug fährt ab.
Rita und Kai Hellberg stehen am Bahnsteig. Sie winken, bis Pünktchen nicht mehr zu sehen ist.
»Fahren wir nach St. Pauli?« Sie hakt sich bei ihm unter. Noch ein halber Tag und eine Nacht, bevor sie zurück ins Internat muss.
Große Freiheit.
»Ein so schönes Mädchen, ganz allein unterwegs?«
Rita erschrickt. Die beiden Männer, die eben noch oben auf der Akropolis waren, stehen plötzlich neben ihr. Der, der aussieht wie Gert Fröbe, wirft einen mächtigen Schatten über sie. Sofort ist die Gänsehaut wieder da. Der andere ist fast genauso groß, aber schlanker. Der hat was von einem Abenteurer im Blick und eine Narbe auf der Wange, als hätte er sich duelliert.
Interessant.
»Sie kann nicht sprechen.«
Gert Fröbe nickt und betrachtet sie kurz wie ein seltenes Insekt.
»Warum sollte ich denn mit Ihnen sprechen?«
Der mit dem Schmiss blitzt sie an. »Ja, warum sollte sie?« Ein Mann, der sich nicht abwimmeln lässt. So viel hat sie schon kapiert in ihrem kurzen Leben.
Sein massiger Begleiter zuckt die Schultern. Das Interesse ist erloschen. Tote Augen.
Der andere macht unbekümmert weiter. »Warum sollte sie mit uns sprechen, obwohl wir seit Tagen auf demselben Schiff unterwegs sind. Wir sind Deutsche. Wir nehmen die Mahlzeiten zu denselben Zeiten im Speisesaal ein. Wir sind zivilisierte Menschen.«
Er zieht den Sonnenhut.
»Steinhauer mein Name. Wohnhaft derzeit in Madrid, unterwegs nach Kairo in Geschäften.«
Der andere sagt nichts.
Rita sieht sich um. Die Mittagssonne brennt grell auf die weißen Steine. Die meisten Touristen haben sich in den Schatten verzogen. Selbst die beiden Fotografen sind weg, nur die Kamera steht noch da.
»Rita Hellberg. Mein Vater arbeitet für die ägyptische Regierung.« Es soll fest und bestimmt wirken. Stattdessen kassiert sie einen Lacher.
»Expertentochter.« Er mustert sie amüsiert. »Raketen oder Flugzeuge?«
Rita möchte zurück in ihre Welt, und auch wieder nicht. Der Mann hat etwas Magnetisches. Er spricht mit einem leichten Akzent. So einem weichen, schönen.
»Mein Vater ist Flugzeugkonstrukteur.«
Der andere hat sich abgewandt und ist schon wieder auf dem Weg nach unten. Dieser Steinhauer aber weicht nicht von ihrer Seite.
»Hellberg.« Sein Blick richtet sich in die Ferne, er durchkämmt seine Erinnerung an vergangene Zeiten. Auf einmal leuchten seine Augen sie wieder an. »War Ihr Vater bei Heinkel?«
»Das weiß ich nicht.« Sie versucht sich zu erinnern.
Geschichten aus dem Krieg. Nichts für Kinderohren.
Rita und Kai, versteckt hinter dem Sofa.
Rita hört zu. Volksjäger. Düsenjäger.
Kai ist eingeschlafen und hat in die Hosen gemacht.
Ein Bettnässer. Das kriegst du nicht raus aus den Kriegskindern.
»Friedrich Hellberg?«
Sie nickt. Und bevor sie sich versieht, greift er mit beiden Händen nach ihren Schultern und drückt sie an sich.
»Friedrich Hellbergs Tochter!«
Rita schnappt nach Luft. Rasierwasser verströmt einen herben Duft.
»Das muss gefeiert werden!« Er lässt sie los und bietet ihr den Arm. Rita zögert kurz, sieht zu ihm hoch.
Warum eigentlich nicht? Ein bisschen Gesellschaft wird ihr guttun. Das vertreibt die nutzlosen Gedanken an die Zukunft. Gemeinsam machen sie sich an den Abstieg.
Rolf Steinhauer ist der Name, den er sich zugelegt hat, als er kurz nach Kriegsende in die spanische Hauptstadt übergesiedelt ist. Spaniens Machthaber General Franco hat ihm zwar Schutz vor Strafverfolgung zugesagt, aber als ehemaliger Leiter eines Geheimdienstes geht er lieber auf Nummer sicher. Die entführen unsereins ja sonst auf offener Straße.
Seine Angst ist begründet. Der Name, unter dem man ihn einst kannte, steht weit oben auf der Liste des israelischen Auslandsgeheimdienstes Mossad.
Obersturmbannführer Otto Skorzeny. SS-Leibstandarte Adolf Hitler. Unternehmen Eiche: Befreiung des italienischen Diktators Mussolini. Erfolgreich. Unternehmen Weitsprung: Entführung und Ermordung der Präsidenten Churchill, Roosevelt und Stalin. Abgebrochen. Unternehmen Panzerfaust: Entführung, Erpressung, Rücktritt des ungarischen Präsidenten Horthy. Erfolgreich.
Kommandeur der SS-Jagdverbände.
Sabotage hinter den feindlichen Linien.
Wunderwaffen! Wunderwaffen!
Hitlers oberster Geheimagent. Er führt Krieg mit schmutzigen Mitteln. Hinter den feindlichen Linien. Bis zum bitteren Ende.
Das Ende? Nicht für ihn.
Flucht aus dem Internierungslager, unter den Augen der alliierten Geheimdienste. So einen lässt man doch nicht hinter Gittern verschimmeln.
Otto Skorzeny.
Der Name allein genügt, um Faschisten in aller Welt in Aufregung zu versetzen. Geheimer Befehlshaber einer gewaltigen Schattenarmee, die bei Ausbruch des zu erwartenden Dritten Weltkrieges bereitsteht, um Deutschland wieder zu rechtmäßiger Größe zu verhelfen?
Im Dezember 1961 ist Otto Skorzeny alias Rolf Steinhauer auf dem Weg nach Kairo, um sich mit einem Kriegskameraden zu treffen, wie er Mitglied der Waffen-SS, zusammen haben sie 43 auf dem Gran Sasso den Duce aus der Festung geholt. Gerhard Mertins übt derzeit in Ägypten eine lukrative Tätigkeit als Militärberater aus.
Otto Skorzeny hat das selbst eine Weile gemacht, doch wie so oft hat er zu hoch gepokert und verloren. Der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser gibt zwar viel Geld aus, um das Militär und die Geheimdienste auf Vordermann zu bringen. Doch Nazis aus Deutschland gibt es im Dutzend billiger.
Otto Skorzeny lebt auf großem Fuß.
Er braucht Geld.
Otto Skorzeny und Gerhard Mertins verbinden ihre gemeinsamen Kriegserlebnisse und ihr leidenschaftlicher Einsatz für die bundesdeutsche Wiederbewaffnung. Sie tauchen überall dort auf, wo sich die europäischen Rechten sammeln. Wo mit Waffen gehandelt wird.
Im faschistischen Spanien.
Im algerischen Unabhängigkeitskrieg.
Bei den Separatisten in Südtirol.
In der Vereinigten Arabischen Republik und im Libanon.
In Argentinien, Bolivien und Chile.
Gerhard Mertins agiert im Umfeld der gerade gegründeten Modellsiedlung Colonia Dignidad in Chile, in der deutsche und österreichische Antikommunisten neue Menschen heranzüchten wollen. Kindesmissbrauch, Folter und die Ermordung Andersdenkender während der Pinochet-Diktatur nehmen hier ihren Anfang.
Gerhard Mertins arbeitet als Informant auf dem Gebiet politisch motivierter Waffentransfers unter dem Decknamen Uranus für den Bundesnachrichtendienst. Dessen Akten zur Colonia Dignidad werden bis ins Jahr 2018 verschlossen bleiben.
Im Kampf gegen den Kommunismus sind viele Mittel recht.
Zwei Jahre nachdem Rita Hellberg an Bord der Ausonia geht, werden Otto Skorzeny und Gerhard Mertins die Firma MEREX gründen, die Waffen aus deutschen Bundeswehrbeständen ins Ausland verkauft: in den Iran, nach Pakistan, nach Saudi-Arabien. Die faschistischen Diktaturen Lateinamerikas werden über den dortigen MEREX-Vertreter Klaus Barbie bedient, Nummer zwei auf der Liste gesuchter NS-Kriegsverbrecher hinter Adolf Eichmann.
Es geschieht am helllichten Tage.
Adolf Eichmann wird von Agenten des israelischen Geheimdienstes Mossad aus Argentinien nach Israel entführt und vor Gericht gestellt. Die detaillierten Ausführungen des Angeklagten, das Ausmaß des geplanten Völkermordes, das dabei zutage tritt, erschüttert die Öffentlichkeit in Israel und in Deutschland.
Kai Hellberg liest: Eichmann und andere Deutsche.
Alles kommt wieder hoch. Ans Licht!
Adolf Eichmann wird am 15. Dezember 1961 in Israel zum Tode verurteilt. Es ist derselbe Tag, an dem die Sonne über dem Mittelmeer die Wolken durchbricht und Rita Hellberg an Bord der Ausonia geht.
Der Hafen von Piräus verblasst im abendlichen Dunst. Wie jeden Tag versammeln sich die Passagiere der ersten Klasse zum Fünfuhrtee im Speisesaal. Es wird Unterhaltungsmusik gespielt.
BND-Akte 05431_OT.
An dieser Stelle wurde ein Dokument entnommen.
Erstellungsdatum des Dokumentes: 18.12.1961
Die Entnahme erfolgte aus folgendem Grund bzw. folgenden Gründen:
X Nachrichtendienstliche Belange
X Besonders starkes Schutzbedürfnis personenbezogener Daten Dritter
Rita Hellberg tanzt mit Rolf Steinhauer einen Walzer.
Ein bisschen Gesellschaft wird ihr guttun.
Abzug vom Dia, Farbe:
Rita und ihre Schwester Pünktchen posieren neben dem Opel; im Hintergrund liegt die Ausonia am Hafenkai, blaues Meer.
Bildunterschrift: Hans Albers und seine flotten Mädels in Alexandria, Dezember 1961
»No photos!« Einer der Soldaten beim Zoll hat sie entdeckt. Schnell versteckt ihr Vater die Kamera im Handschuhfach. Aber der junge Mann mit der Maschinenpistole ist schon auf dem Weg zu ihnen.
Seufzend zieht Friedrich Hellberg das Portemonnaie aus der Hosentasche. »Ich habe nicht dran gedacht, dass man im Hafen nicht fotografieren darf.«
Rita beobachtet, wie er auf den Soldaten zugeht und beschwichtigend auf ihn einredet.
»Endlich bist du da!« Pünktchen hält es kaum aus, eine Sekunde stillzustehen. Sie zerrt am Gürtel von Ritas Trenchcoat. »Komm, wir laufen vor und gucken, wie das Schiff abfährt!«
»Aber das Auto. Vati –«
»Das dauert noch. Komm jetzt!«
Rita hat nichts dagegen, noch einen Moment am Hafen zu bleiben und sich von der Ausonia zu verabschieden.
Sie ist mit einer unerklärlichen Schwermut aufgewacht, als der Lautsprecher erklang: »Passagiere, die in Alexandria an Land gehen, werden gebeten, sich zur Passkontrolle in den Speisesaal zu begeben.«
Rita lässt sich vom Strom der Leute mitziehen, die verschlafen und nervös nach oben drängen. An Deck bleibt sie kurz stehen und sieht auf die Bucht im Morgenlicht. Gibt es etwas Schöneres, als vom Meer aus ein neues Land, eine unbekannte Stadt zu betreten? Ein Boot mit Männern in weißen Uniformen und goldfunkelnden Tressen auf den Schultern dreht bei. Dazu ein paar Soldaten in Kampfmontur, die Maschinenpistolen im Anschlag.
Der große Speisesaal der zweiten Klasse ist voll und stickig. Die Klimaanlage läuft auf Hochtouren, doch ohne erkennbare Wirkung. Immer mehr Leute drängen herein. Rita kann ein solches Eingequetschtsein nicht leiden und schiebt sich gegen den Strom zurück nach draußen. Lieber will sie als Letzte von Bord gehen.
An der Reling lehnen Rolf Steinhauer und sein Begleiter, rauchen in aller Ruhe Zigaretten und beobachten, wie das Schiff in den Hafen geschleppt wird.
»Mister Steinhauer, Mister Valentin«, plärrt der Lautsprecher, »bitte in den Speisesaal erster Klasse. Mister Steinhauer, Mister Valentin.«
Die beiden drehen sich um, Rolf Steinhauer entdeckt Rita, die an der Tür steht und sie anstarrt. Er zwinkert ihr zu.
»Beziehungen muss man haben. Gutes Ankommen, Fräulein Hellberg. Hoffentlich dauert es nicht zu lange.«
Es dauert.
Rita füllt ein Formular aus, zweifache Ausführung.
Name. Nationalität. Passnummer. Heimatanschrift. Religion. Zweck der Reise. Personen in Ägypten, die sie kennt.
Zollerklärung. Autopapiere.
Noch mehr Fragen.
Einfuhrgenehmigung für den Opel Kapitän? Wer ist der Halter des Wagens?
Sie muss den Pass abgeben.
Einer schaut ihn an.
Noch einer.
Ein dritter vergleicht ihn mit einer Liste in einem Buch.
»Name?«
»Hellberg. Rita.«
Das Formular wird gegengezeichnet.
Ein Soldat trägt den Pass zu einem Offizier, der ihn abstempelt.
»Danke schön, Sie können gehen.«
Ihr Vater hat ihr eingeschärft, nur den Mann ans Steuer von Hans Albers zu lassen, der einen von ihm selbst unterschriebenen Zettel dabeihat.
Das Schiff legt an, die Gangway wird heruntergelassen. Hunderte von Leuten stürmen an Bord. Alle schreien durcheinander.
Zoll. Auto. Gepäck. Hotel. Taxi.
Rita bleibt stehen und beobachtet das Aufeinanderprallen der beiden Gruppen, die, die auf das Schiff wollen, und die, die endlich an Land wollen. Sie verschmelzen in Sekunden zu einem wütenden Menschenknäuel.
Minuten später.
Ein zerknitterter Zettel, kariertes Papier.
Eine Hand. Ein Mann in einer Art Nachthemd.
Rita Hellberg hebt die Hand. »Hier bin ich.«
»Welcome to Egypt.«
Das Schiffshorn ertönt.
»Rita! Guck doch! Es bewegt sich!«
Die Ausonia vollführt ihren Abgang wie üblich in aufreizend melodramatischer Langsamkeit. Rita betrachtet ihre kleine Schwester von der Seite. Ein halbes Jahr ist eine Ewigkeit im Leben einer Neunjährigen.
»Ritaaaa!«
Das Horn, zum zweiten Mal. Das Schiff schiebt sich hinaus in die helle Mittagssonne.
Pünktchen ist ein einziges Durcheinander von Armen und Beinen, die länger werden, sich strecken, dem Erwachsenwerden entgegen. Ihre Haut ist dunkler. Sie wirkt kräftig und gleichzeitig zerbrechlich. Wie ein Fohlen.
»Hast du Eisblume besucht?«
Sie hat es vergessen. Dem Pflegepferd zuhause in Stade noch einen Apfel vorbeizubringen.
»Pünktchen.« Rita hockt sich hin. »Es ging alles so schnell.«
Tränen springen ihr in die Augen, ohne Vorwarnung.
Rita umarmt ihre Schwester, möchte sie einwickeln in ihre Liebe, ganz und gar. Pünktchens Kopf verschwindet in ihrem Mantel.
Zum dritten Mal erklingt das Horn.
Sie hört das Weinen nicht, aber sie kann es mit ihrem ganzen Körper fühlen. So bleiben sie stehen, bis ihr Vater sie ruft.
»Steinhauer?« Friedrich Hellberg runzelt die Stirn. »Ich dachte, wenigstens mein Namensgedächtnis sei noch in Ordnung.« Er streichelt das Lenkrad seines Autos wie ein geliebtes Haustier und atmet den Duft des Leders ein. »Haben wir dich durch den Zoll gekriegt, alter Matrose.«
Neben ihm schließt Rita die Beifahrertür, im Rückspiegel sieht er Pünktchen herumzappeln.
»Rita, ich muss dir –«
»Jetzt lass deine Schwester doch erst mal von ihrer Reise erzählen!« Er dreht den Zündschlüssel, tritt die Kupplung und legt vorsichtig den ersten Gang ein.
Neben ihnen klappert ein einzelnes Eselsgespann vorbei. Die Corniche von Alexandria, seit kurzem heißt sie Straße des 26. Juli, ist um diese Zeit relativ leer. Von draußen zieht ein kühler Wind ins Auto.
Pünktchen lässt sich nicht den Mund verbieten. »– den Greek Club zeigen. Jetzt sind wir schon vorbei!« Sie zeigt vorwurfsvoll nach hinten.
»Was ist das für ein Club?«, fragt Rita neugierig.
»Schluss jetzt. Mutti erwartet uns zum Abendessen. Und ich will im Hellen über die Wüstenstraße.« Vorsichtig fädelt Friedrich sich in den Verkehr ein. »Wie sah er denn aus, dein Steinhauer?«
Rita Hellberg hat die Blende heruntergeklappt und nimmt die Sonnenbrille ab, um sich lange in dem kleinen Spiegel zu betrachten. »Ich weiß nicht, alt. Aber nicht schlecht.« Sie schiebt die Blende mit Schwung wieder zurück in ihre alte Position. »Er hat so ein Ding auf der Backe, eine Narbe.«
»Ein Schmiss. Das hatten viele damals.«
Friedrich erschrickt, ein Laster hat ihn angehupt und fährt viel zu dicht auf. »Was soll denn das?«
Der Pritschenwagen setzt zum Überholen an, schert aber wieder ein, weil ihnen zwei hochbeladene Eselskarren nebeneinander über die gesamte Straßenbreite entgegenkommen. Die Fahrer schreien sich an, oder vielleicht unterhalten sie sich auch nur laut. Friedrich weicht ihnen mit einem scharfen Linksruck aus.
Pünktchen kann sich nicht zurückhalten. »Vati! Du fährst uns in Cleopatras Schloss.« Sie starrt aus dem Fenster, als könne sich der versunkene Palast jeden Moment tropfend und glitzernd aus den Wellen erheben.
Rita dreht sich nach den Fuhrwerken um. »Die haben ja komische Kleider an.«
»Das sind Fellachen. Siehst du dort, Rita, diese Charakterköpfe? Ist das nicht einmalig?« Friedrich lenkt den Wagen langsam zurück auf die rechte Spur. Ein weiteres Fuhrwerk mit einem Alten, einem Kind und einem Berg Melonen rumpelt an ihnen vorbei. Der Alte lächelt zahnlückig in Richtung des Autos und winkt. Friedrich Hellberg grüßt zurück. »Die sind absolut freundlich, aber man darf sie nicht verärgern.«
Hans Albers schwenkt mit einem leichten Schaukeln hinter dem Fuhrwerk ein, das plötzlich aus voller Fahrt zum Stehen kommt.
»Vati!« Rita stützt sich mit beiden Händen am Armaturenbrett ab.
»Keine Angst«, Friedrich lächelt ihr zu und schaltet wieder in den ersten Gang. »Man muss hier entspannt und aus dem Unbewussten heraus reagieren. Wer auf seinem Vorfahrtsrecht besteht, knallt mit Sicherheit irgendwo dagegen.«
Rita schaut skeptisch. »Aus dem Unbewussten? Aber es muss doch irgendwelche Regeln geben.«
Friedrich wirft ihr einen amüsierten Blick zu. »Das sagst ausgerechnet du? Ich zitiere: Wiederholter Regelverstoß, trotz mehrfacher Verwarnung –«
Rita stöhnt. »Ist ja gut! Es tut mir leid. Können wir das Donnerwetter hinter uns bringen?«
»Später. Zuerst muss ich heil durch die Stadt kommen. Die meisten Kollegen haben in den ersten Tagen Blechschäden kassiert. Mein früherer Chef zum Beispiel, Ernst Heinkel. Als der hier den Delta-Jäger bauen sollte, hat er seinen Wagen samt Chauffeur mitgebracht. Der hat an einem Tag zwölf Unfälle gebaut. Am Ende ist der Alte ausgestiegen und mit dem Taxi weitergefahren.«
Heinkel. Also doch. Rita schaut aus dem Fenster.
Friedrich greift in die Tür und reicht Pünktchen eine zusammengefaltete Karte nach hinten.
»Guckst du mal, wo es rechts abgeht? Da vorne ist das Cecil.« Er wendet sich wieder Rita zu, die den Kopf so weit aus dem Fenster streckt, dass sie die Fassaden bestaunen kann. »Die Alexandriner sind Kosmopoliten: italienische Architekten, griechische Reeder, jüdische Händler. Ein Babylon der Sprachen und Religionen.«
Rita nickt. Die Fassaden öffnen sich zu einem quadratischen Platz. Am Eckhaus, dem opulenten Cecil Hotel, stehen Tische draußen. An einem sitzen, ungeachtet der kühlen Temperaturen, Rolf Steinhauer und sein Begleiter mit dem blumigen Namen. Valentin?
Rita hat schon einen Gruß auf den Lippen, zögert aber im letzten Moment und kurbelt stattdessen das Fenster hoch. Etwas irritiert sie, aber sie kann es nicht benennen. Ein prüfender Blick ihres Vaters, aus dem Augenwinkel erhascht? Pünktchens plötzliches Stillsein, als hätte sie ein Geheimnis, das jeden Moment herausplatzen kann?
»Wie geht es Mutti?«, fragt Rita alarmiert.
»Schon besser. Sie gibt sich große Mühe«, antwortet Friedrich.
»Wir mussten ganz lange im Mena Hotel wohnen, weil ihr kein Haus gefallen hat!«, kommt es von hinten. »Das war sehr teuer.«
»Es ist eben alles anders als zuhause.« Er nimmt die Mutti wie immer in Schutz. »Du hast Viertel, da steht Villa neben Villa. Die kühnsten Ideen in Stein und Marmor. Der Formen- und Farbenreichtum der Mosaikwände feiert wahre Orgien.«
Wie aufs Stichwort fahren sie an einem Mosaik in einem gemauerten Rundbogen vorbei, das ein Fischerboot vor einem Leuchtturm darstellt. Rita möchte anhalten und es berühren, so intensiv sind die Farben.
Ihr Vater hat längst weitergesprochen. »– Innenräume entsprechen einfach nicht unserem europäischen Wohngefühl. Der Ägypter liebt es, die ganze Familie um sich zu fühlen, er braucht keine Türen. Er schätzt prunkvolle Sesselgarnituren à la Louis Quinze, die Pracht der Teppiche, schwere Vorhänge –«
»– Mutti eine tote Kakerlake gefunden«, quasselt Pünktchen dazwischen. »Sie hat ganz laut gekreischt!« Sie tippt ihrem Vater auf die Schulter. »Da vorne rechts!«
»Es gibt keine Küche«, fährt Friedrich unbeirrt fort und setzt den Blinker, »in der eine deutsche Hausfrau schalten und walten kann. Nur schmale, dunkle Löcher, in denen die schwarzen Köche herumwuseln. Und natürlich auch kein Bad, in dem eine Waschmaschine Platz hat.«
»Und ihr konntet nicht im Hotel bleiben?«, fragt Rita ihren Vater, doch Pünktchen kommt ihm zuvor.
»Ich schon. Der Garten ist wie aus dem Märchen. Und das Beste sind die Pyramiden. Oder nein, die Kamele. Ich bin fast jeden Tag geritten.«
»Allein das hat mich ein Vermögen gekostet.« Friedrich Hellberg gibt Gas. Die Häuser an der schnurgeraden Ausfallstraße sind nur noch einstöckig, dazwischen tauchen schilfgesäumte Wasserflächen auf. Weiße Reiher hocken am Straßenrand.
Sie passieren einen Kontrollpunkt. Ein Soldat, dessen Uniform an den Ärmeln ausgefranst ist, wirft einen prüfenden Blick ins Innere des Wagens.
»Experten!«, sagt Friedrich Hellberg laut. »I’m an expert at Helwan.« Er zeigt nach hinten, dann auf den Beifahrersitz. »My daughters.«
Der Soldat nickt. Er ist sehr jung. Er sagt etwas, das mit »Elhamdulilleh« endet. Sie dürfen weiterfahren.
»Zum Schluss haben wir einfach Glück gehabt. Mein ägyptischer Stellvertreter hat von einem Arzt gehört, dessen deutsche Ehefrau aus dem Urlaub bei ihrer Familie nicht zurückgekommen ist. Sie hat das Heimweh nicht verkraftet. Der arme Tropf, er ist tieftraurig, und will jetzt nicht mehr in dem Haus wohnen, das er für sie gebaut hat. Er wartet wohl vergeblich, dass sie zurückkommt. Uns soll es recht sein, denn etwas Besseres werden wir kaum –«
»Rita, guck doch!« Pünktchen hat sie von hinten umklammert und drückt ihr die Luft ab. »Die Wüste!«
Rita Hellberg befreit sich aus dem Klammergriff ihrer Schwester und versucht, die Landschaft in sich aufzunehmen. Wie ein Band zieht sich die schmale Asphaltstraße in Kurven bis zum Horizont. Links und rechts wölben sich sandfarbene Hügel auf, ihre Konturen fein, wie gemalt. Vereinzelt kann sie rechteckige weiße Gebäude erkennen. Am eindrücklichsten ist die Helle, ein unwirkliches Strahlen geht von dieser Landschaft aus. Sie muss die Sonnenbrille wieder aufsetzen.
Die Augen ihres Vaters sind ebenfalls hinter dunklen Gläsern verschwunden. Rita kann sich nicht erinnern, ihn je mit einer Sonnenbrille gesehen zu haben. Entspannt lenkt er den Wagen mit einer Hand, während er mit der anderen das Fenster schließt, um den Sand aus dem Wageninneren herauszuhalten. Vergessen ist die Stadt, nicht einmal ein Dorf ist zu sehen.
Kein Baum.
Kein Strauch.
»Da vorne geht es nach El Alamein.«
Die Ägypter schwärmen für Generalfeldmarschall Rommel, den Wüstenfuchs. Dauernd wird Friedrich darauf angesprochen.
Auf Rommel.
Auf Hitler.
»Das habt ihr gut gemacht!«
Mit dem Ersteren kommt er klar. Rommel hat einen sauberen Krieg gegen die Briten geführt. Mit dem Letzteren, na ja, was soll man dagegen sagen? Man ist doch hier schließlich zu Gast.
Rita dagegen sieht ihn verständnislos an.
»Die Schlachten von El Alamein. Deutsches Afrikakorps.« Der Krieg interessiert die Kinder nicht. Aus und vorbei. Damit haben sie nichts zu schaffen. Friedrich Hellberg möchte auch nach vorne schauen. Aber die Vergangenheit holt einen ja ständig ein.
Erwin Rommel fasziniert ihn. Auch er, so sagt man, wollte als Junge Flugzeugingenieur werden, bevor der Vater ihn zwang, ins Militär einzutreten. Ein Wesensverwandter. Mathematiker, Taktiker. Ein Mann der Tat.
El Alamein.
Deutscher Sieg. Deutsche Niederlage.
In einem Informationsblatt für die Experten steht, man solle auf keinen Fall die Straße verlassen, wenn man eine Panne hat. Die Wüste ist voller Landminen.
Teufelsgärten hat Rommel sie genannt.
Eine halbe Million deutscher Minen unter dem Sand.
Auch vor den Beduinen wird gewarnt.
Die Beduinen ziehen mit ihren Herden durch die Wüste. Fährt man einen Beduinen an, das passiert schon mal, die rennen einfach über die Straße, soll man Fahrerflucht begehen und sich auf der nächsten Polizeidienststelle melden.
Ein paar Jahre später werden Beduinen einem Journalisten der Sunday Times berichten, dass sie Erwin Rommel nachts durch die Wüste irren sehen.
Ruhelos. Schlaflos.
Die Innereien zerfressen vom Zyankali, das die Generäle ihn zu nehmen zwangen.
Vielleicht ist auch das eine Legende.
Magenprobleme hatte er schon vorher.
Friedrich deutet nach links. »Hinter diesen Hügeln liegt das Nildelta. Grün und üppig, der fruchtbarste Boden, den du dir vorstellen kannst.«
»Ich weiß nicht, ob mir diese Landschaft gefällt«, sagt Rita leise. »Ich glaube, ich bin ein Meeresmensch.«
»Du wirst dich schon dran gewöhnen.«
»Ach, Vati!« Sie schüttelt das Unwohlsein ab. »Ich bin doch nur drei Wochen hier, was soll ich mich da gewöhnen?«
»Bist du nicht!«, platzt es von hinten herein.
Ihr Blick fährt hoch.
Also doch, da war doch was.
Die ganze Zeit über.
Friedrich Hellberg wechselt die Hand am Steuer, legt die rechte Hand auf das Bein seiner Tochter, ein kurzer Blick, dann sieht er wieder auf die Straße.
»Eine Familie gehört zusammen.« Er spricht mit der Vaterstimme, die nur an Feiertagen und zu besonderen Anlässen zum Einsatz kommt. Rita sieht die Hand auf ihrem Bein. Das Kribbeln dringt durch den Rock und die Strumpfhose bis auf die nackte Haut.