8,99 €
Über das Buch In Berlin wird das erste Bollywood-Musical geprobt. Mit mondänem Prunk und dickem Budget verspricht die Inszenierung an der Spree ein Hit zu werden. Kino-Expertin Mattie Junghans soll als Begleitprogramm eine feine Filmreihe zusammenstellen. Herrliche Aussichten für die chronisch abgebrannte Wanderkinobetreiberin. Doch Mattie, die Norddeutsche mit dem indischen Gesicht, bekommt bei einer Open-Air-Feier in der Provinz bösen Ärger: Ihr Wanderkino wird zerstört und nur dank Jasmin Assadi, Leibwächterin und Kampfkunst-Ass, kommt sie selbst mit heiler Haut davon. Dann legt sich Mattie ausgerechnet mit der Bundeswehr an ... Bald treibt eine Leiche in der Ostsee, und hinter blühendem Raps und Windenergie lauern dunkle Geheimnisse. Ein fulminanter Kriminalroman um indisches Kino, deutsche Politik, große Illusionen und Kung-Fu. »Dieser zweite Roman um die rastlose Kino-Expertin Mattie Junghans ist eine süffige Mischung aus Krimi, Drama, Pop-Märchen und klugem Blick hinter die Kulissen deutscher Politik und Kultur. Hinzu kommt Merle Krögers wunderbare Erzählsprache, mal trocken, mal urkomisch, dann wieder emotionsgeladen, immer flüssig, lebendig und wahrhaftig. Mir schenkt diese Lektüre, was ich an deutschen Krimis oft vermisse: ein Feuerwerk aus Realitätsnähe, multikultureller Opulenz, pointiertem Witz und turbulenter Action.« Else Laudan »So beherzt wie überzeugend … Merle Krögers Krimi ist auf der Höhe der Zeit, ihre Figuren sind so rund und bunt wie das Leben.« Sylvia Staude in der Frankfurter Rundschau »Ein üppiger Genreroman, der alles hat, was des Krimilesers Herz begehrt: Action, Intelligenz, Wortwitz, Situationskomik, Liebe, Verzweiflung, Leidenschaft, Kampf, Korruption, Bedrohung, Aufbegehren, Abschied, Erkenntnis, Aufklärung. Respekt!« Ulrich Noller im WDR (Funkhaus Europa) Über die Autorin Merle Kröger, geb. 1967 in Plön/Schleswig-Holstein, studierte Filmwissenschaft und Publizistik an der FU Berlin, macht seit 1987 eigene Videos und Filme, ist in Künstlergruppen aktiv, konzipiert und realisiert Film- und Videoscreenings, Seminare, Ausstellungen, Konzerte. Mitgründerin der Produktionsfirma »dogfilm« und der Medienkunst-Plattform »pong«. Merle Kröger macht Produktion, Buch, Regie, Dokumentarfilm, Essay und Videokunst, ist als Cutterin, Autorin und Produktionsleiterin sowie als Kuratorin tätig und arbeitet frei für ZDF, Arte, 3Sat, Deutsche Welle u. v. a. Sie erhielt etliche Auszeichnungen auf Film- und Videofestivals im In- und Ausland.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 572
Über das Buch
In Berlin wird das erste Bollywood-Musical geprobt. Mit mondänem Prunk und dickem Budget verspricht die Inszenierung an der Spree ein Hit zu werden. Kino-Expertin Mattie Junghans soll als Begleitprogramm eine feine Filmreihe zusammenstellen. Herrliche Aussichten für die chronisch abgebrannte Wanderkinobetreiberin.
Doch Mattie, die Norddeutsche mit dem indischen Gesicht, bekommt bei einer Open-Air-Feier in der Provinz bösen Ärger: Ihr Wanderkino wird zerstört, und nur dank Jasmin Assadi, Leibwächterin und Kampfkunst-Ass, kommt sie selbst mit heiler Haut davon. Dann legt sich Mattie ausgerechnet mit der Bundeswehr an ... Bald treibt eine Leiche in der Ostsee, und hinter blühendem Raps und Windenergie lauern dunkle Geheimnisse. Ein fulminanter Kriminalroman um indisches Kino, deutsche Politik, große Illusionen und Kung-Fu.
»Dieser zweite Roman um die rastlose Kino-Expertin Mattie Junghans ist eine süffige Mischung aus Krimi, Drama, Pop-Märchen und klugem Blick hinter die Kulissen deutscher Politik und Kultur. Hinzu kommt Merle Krögers wunderbare Erzählsprache, mal trocken, mal urkomisch, dann wieder emotionsgeladen, immer flüssig, lebendig und wahrhaftig. Mir schenkt diese Lektüre, was ich an deutschen Krimis oft vermisse: ein Feuerwerk aus Realitätsnähe, multikultureller Opulenz, pointiertem Witz und turbulenter Action.« Else Laudan
»So beherzt wie überzeugend … Merle Krögers Krimi ist auf der Höhe der Zeit, ihre Figuren sind so rund und bunt wie das Leben.« Sylvia Staude in der Frankfurter Rundschau
»Genaue Beobachtung und authentisch gezeichnete Figuren halten den Text in cooler Balance. Mitreißend global!« Tobias Gohlis im Börsenblatt (Krimi Extra)
»Ein üppiger Genreroman, der alles hat, was des Krimilesers Herz begehrt: Action, Intelligenz, Wortwitz, Situationskomik, Liebe, Verzweiflung, Leidenschaft, Kampf, Korruption, Bedrohung, Aufbegehren, Abschied, Erkenntnis, Aufklärung. Respekt!« Ulrich Noller im WDR (Funkhaus Europa)
Über die Autorin
Merle Kröger, geb. 1967 in Plön/Schleswig-Holstein, studierte Filmwissenschaft und Publizistik an der FU Berlin, macht seit 1987 eigene Videos und Filme, ist in Künstlergruppen aktiv, konzipiert und realisiert Film- und Videoscreenings, Seminare, Ausstellungen, Konzerte. Mitgründerin der Produktionsfirma »dogfilm« und der Medienkunst-Plattform »pong«. Merle Kröger macht Produktion, Buch, Regie, Dokumentarfilm, Essay und Videokunst, ist als Cutterin, Autorin und Produktionsleiterin sowie als Kuratorin tätig und arbeitet frei für ZDF, Arte, 3Sat, Deutsche Welle u. v. a. Sie erhielt etliche Auszeichnungen auf Film- und Videofestivals im In- und Ausland.
Mit ihrem Partner Philip Scheffner schuf sie u. a. den Dokumentarfilm »Revision«. Dessen Handlung Krögers zuletzt erschienener Kriminalroman »Grenzfall« zugrunde liegt.
Merle Kröger
Kyai!
Kriminalroman
CulturBooks Verlag
www.culturbooks.de
Impressum
eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2014
www.culturbooks.de
Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg
Tel. +4940 31108081, [email protected]
Alle Rechte vorbehalten.
Deutsche Printausgabe: © Argument Verlag 2006
Lektorat: Else Laudan
Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj
Erscheinungsdatum: 01.08.2014
ISBN: 978-3-944818-54-2
Für Tina und Jörg
Eine Verbindung zwischen diesem Roman und der Organisation »Osho International« besteht nicht. Sämtliche Figuren und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden. Die Handlung dieses Romans ist nicht die dokumentarische Darstellung tatsächlicher Vorgänge. Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Vorgängen und Situationen in tatsächlich existierenden Organisationen wären rein zufällig. Darum erhebt dieser Roman auch keinesfalls den Anspruch, die geschilderten Vorgänge könnten wahr sein und sich so zugetragen haben.
Mattie Junghans
verliert ihre Existenz und verdoppelt den Einsatz
Nick Ostrowski
setzt alles, verliert und kommt trotzdem eine Runde weiter
Cal Mukherjee
spielt auf Nummer sicher und findet sie woanders als vermutet
Jasmin Assadi
teilt aus und steckt ein
Kamal Assadi
muss sich zwischen Vergangenheit und Zukunft entscheiden
Frederike von Westenhagen
setzt auf Risiko und verliert
Johannes von Westenhagen
spielt ein gefährliches Spiel spielt ein gefährliches Spiel
Anand Kumar
erkauft sich einen billigen Sieg
Sabiya Ansari
setzt auf Zukunft und rettet die Gegenwart
Emma Junghans
setzt ihr Leben aufs Spiel
Will the wind ever remember
The names it has blown in the past,
And with this crutch, its old age and its wisdom
It whispers, ›No, this will be the last‹
And The Wind Cries Mary
Close-up von Jimi Hendrix. Die Gesichtszüge verlieren sich im körnigen Kontrast der Schwarzweißbilder. Seine Hand greift um den Gitarrenhals, als wolle er ihn würgen.
Crossfade – die Musik wird leiser und weicht einer markigen Sprecherstimme.
»Fünfter September 1970. Love and Peace Festival auf der Insel Fehmarn. Jimi Hendrix spielt sein letztes Konzert. Für seine Fans beginnt eine neue Zeitrechnung.«
Ein Gegenschuss von oben aus in die Menge. Lachende Gesichter. Zuckende Körper. Haare fliegen im Wind.
»Visionen können die Welt verändern.«
Das Gitarrensolo endet in einem Schlag, dessen Hall sekundenlang nachklingt.
Die Bilder explodieren in einem weißen Blitz, aus dem sich langsam die gestochen scharfe Farbaufnahme einer roten Mohnblume einblendet.
High Definition Hyperrealität.
Die Musik geht über in ein Orchesterthema, das an die Titelmelodie von Star Wars erinnert.
Windräder drehen sich in einer mechanischen Choreographie.
Close-up eines Rotorblattes, durch das Bild wischend. Dahinter blauer Himmel.
Die Kamera folgt einer weißen Möwe.
Sie landet auf einer Sandbank voller Seevögel. Die Kamera scheint zurückzuweichen, bis sie das Schild mit der Aufschrift »Biosphärenreservat« im Visier hat.
Funkelnde Solarplatten auf dem Dach eines Bauernhauses.
Davor verkauft eine Bäuerin frisches Gemüse.
Eine Frauenhand greift nach den knallig roten Tomaten.
Umschnitt auf das lachende Gesicht der jungen Mutter.
Dahinter ihr Mann mit dem Kind, in einer Trekking-Sportkarre. Sie sind gekleidet wie Models aus dem Outdoor-Katalog.
Die Musik wird lauter.
Jetzt ein Leuchtturm, aus der Hubschrauber-Perspektive.
Ganz oben steht eine Frau und schaut über das Meer.
Die Kamera fährt nah an sie heran. Ihr Blick wendet sich vom Meer direkt ins Objektiv.
Grüne Augen, sympathisch, klar und fast ein wenig spöttisch.
»Helfen Sie uns, unsere Visionen umzusetzen. Wählen Sie am 6. Juli die SPD.«
Mattie schüttelte den Kopf. »Das ist doch der Abschuss!«
Ellen kam zu schnell unter der Zapfanlage hoch, wo sie gerade nachgeguckt hatte, ob das neue Fass richtig angestochen war. »Aua! Was ist denn?«
Mattie deutete auf den kleinen Fernseher, der hinter der Theke vom Strandläufer lief. Außer ihr und Ellen Steinmüller war niemand in der Kneipe. »Jimi Hendrix!«
Ellen strich sich müde eine graublonde Strähne aus dem Gesicht, in dem sich sechsundfünzig bewegte Lebensjahre abzeichneten. »Hast du den noch nicht gesehen? Denen ist echt nichts heilig.« Sie nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. Ihr Kopf verschwand wieder hinter der Theke. »Das sollte so was wie ein deutsches Woodstock werden«, grummelte es aus den Tiefen der Zapfanlage, »aber es war eben Fehmarn. Arschkalter Sturm, drei Tage Regen, und dann haben die Hells Angels das Kassenhäuschen abgefackelt. Wo ich drinsaß.« Offensichtlich war sie jetzt mit dem Fass zufrieden, denn sie griff nach dem Tabak und drehte sich eine, während sie Mattie grinsend fixierte. »Die Veranstalter hatten sich längst mit der Kohle vom Acker gemacht. Und wir standen da, mit einer Wiese voller Müll und Kacke. Von wegen Visionen.«
Mattie lachte. Ellen ließ keine Gelegenheit aus, sich über die verklärte Romantik ihrer Altersgenossen auszulassen, auch wenn sie damit oft alleine dastand. Als Mattie noch zur Schule ging, waren sie am Wochenende immer aus Harmsdorf in den Strandläufer getrampt, wo Musik gespielt wurde, die auch jenseits von Hamburg relevant war. Von dem Kollektiv, das das alte Hotel an der Ostsee in jahrzehntelanger Arbeit restauriert hatte, waren heute nur noch Ellen und ihr Mann Christian übrig. Und wie so viele, die in Schleswig-Holstein vom Tourismus – auch dem sanften – lebten, kämpften sie sich von Kredit zu Kredit.
Aber heute wurde der Strandläufer dreißig Jahre alt, und Ellen wollte feiern. Freunde und ehemalige Mitstreiter aus Kiel und Hamburg waren angereist, Film- und Musikprogramm gebucht.
»War das gerade Jimi Hendrix?« Weder Mattie noch Ellen hatten den Mann bemerkt, der am Eingang der Gaststube stand. Er sprach englisch, sein Akzent ließ auf einen Amerikaner schließen. In Ellens Augen stand kein Erkennen. Da sie schwieg, antwortete Mattie.
»Er hat sein letztes Konzert auf der Insel Fehmarn gegeben. 1970, kurz vor seinem Tod. Es gibt da sogar ein Denkmal für ihn. Machen Sie hier Urlaub?«
Der Mann kam näher. Aus seiner Silhouette gegen die Nachmittagssonne, die durch die Fenster schien, wurde ein realer Körper in Jeans, Pullover und einer North-Face-Weste. Um die Augen hatte er Lachfältchen. Er antwortete nicht auf Matties Frage. »Ein Werbespot?« Er lächelte entschuldigend. »Ich verstehe kein Deutsch.«
»Könnte man sagen.« Mattie sah zu Ellen, die schweigend mit einem Tuch auf dem Tresen herumwienerte, in der linken Hand die brennende Zigarette. Sie schien heute kein Interesse an potenziellen Kunden zu haben. »Es war eine Wahlwerbesendung für die deutsche Regierungspartei.«
Sein Lächeln wurde breiter. Mattie wusste nicht, ob es eine Reaktion auf die Worte selbst oder auf ihren sarkastischen Tonfall war. »Als die US-Armee General Noriega in seiner Villa in Panama belagerte, haben sie ein Soundsystem aufgebaut und ihm tagelang Voodoo Child vorgespielt. Immer wieder. Bis er aufgegeben hat.«
»Imperialistenschweine«, murmelte Ellen hinter der Theke auf Deutsch. Daher wehte also der Wind. Ellen hatte kein Interesse an potenziellen amerikanischen Kunden. Der Blick, den sie dem Mann zuwarf, ließ daran keinen Zweifel.
»Sie haben hier ein sehr schönes Hotel.« Entweder tat er nur so, oder er hatte Ellens Feindseligkeit nicht bemerkt. »Ich würde gern ein Zimmer mieten. Für zwei Nächte.«
»Tut mir leid, wir sind voll belegt. Versuchen Sie es doch im Ferienzentrum Hohenberger Strand. Dort ist um diese Jahreszeit immer etwas frei. Sie haben auch Wellness-Angebote und ein Erlebnisbad.« Mattie konnte die Bitterkeit in Ellens Worten hören.
Der Blick des Mannes folgte der ausgestreckten Hand mit der Zigarette. Durch das Fenster sah man die weißen Hochhäuser in der Sonne über die Bucht aufragen. Er schüttelte den Kopf. »Ich brauche kein Wellness. Ich mag lieber Häuser wie Ihres hier.«
Ellen zuckte die Schultern und begann wieder die Theke zu polieren, die bereits auf Hochglanz schimmerte. Langsam wurde es Mattie zu bunt. Auch wenn Ellen schon gegen den Vietnamkrieg auf die Straße gegangen war, konnte sie jeden Euro gebrauchen. »Er kann mein Zimmer haben«, sagte sie auf Deutsch. »Ich schlafe sowieso lieber im Bus.« Ellen wollte etwas erwidern, aber Mattie kam ihr zuvor. »Ich mache hier unten die Anmeldung fertig, und du gehst schon mal hoch.« Sie grinste. »Die Leute kommen gleich. Und du siehst aus wie eine alte Barschlampe.«
Ellen musste lachen und schlug spielerisch mit dem Handtuch nach ihr. »Jetzt werden die Küken aber frech! Du bist hier gerade noch durch die Hintertür rausgekrochen, wenn die Bullen auftauchten!«
Mattie sah der schlanken Frau nach, wie sie die ungebeizte Holztreppe hinauflief, immer zwei Stufen auf einmal, und das in einem knöchellangen Rock und ihren geliebten, schiefgetretenen Stöckelschuhen. Sie rutschte vom Barhocker und holte das dicke schwarze Gästebuch hinter dem Tresen hervor. Der Amerikaner hatte die Szene schweigend beobachtet, ohne sich vom Fleck zu rühren. Als Mattie das Buch aufschlug, lächelte er wieder. Sie nahm seinen Pass entgegen und schrieb den Namen ins Buch.
»Mr. James Forrester.« Sie reichte ihm den Pass zurück. »Sie haben Zimmer acht, im zweiten Stock. Wundern Sie sich nicht, wenn es heute Nacht etwas lauter wird. Am besten stopfen Sie sich etwas in die Ohren, oder Sie kommen runter und feiern mit.«
»Sie können mich Jimi nennen«, sagte er lächelnd. »Ich spiele zwar nicht Gitarre, aber gegen gute Musik hatte ich noch nie was. Wir sehen uns dann heute Abend.« Er nahm seine Reisetasche und verschwand ebenfalls über die Treppe aus ihrem Blickfeld.
Mattie ging nach draußen auf die große Terrasse, wo ihre Leinwand sich tapfer gegen den steifen Wind behauptete. Dahinter hörte sie das Meer rauschen.
Open Air Ende April, das konnte ganz schön in die Hose gehen.
»Na, meine Damen, dann treten Sie mal ein.«
Vor ihr ertönte Gelächter. Jasmin Assadi hatte Schwierigkeiten, an Frederike dranzubleiben. Es war viel zu voll hier. Nervös checkte sie die Position von Mariusz.
Einer vorne, einer hinter Frederike.
Auf der Leinwand stolperten gerade ein paar Girls in ein einsames Hotel an der Ostsee, wo zwei alte Chanson-Tanten für ihre Tour übten. Hey, die waren gar nicht schlecht.
Jasmin sah sich um.
»Guck mal, das ist doch die kleine Jasmin!«
Am liebsten hätte sie ihre Sonnenbrille aufgesetzt, aber das war verboten.
»Denkt lieber gar nicht erst an Matrix. Das ist besser für euch und die Leute, die ihr beschützen sollt.« Die Stimme ihres Bosses ließ keinen Zweifel aufkommen.
Jetzt winkte dieser Gymnasiallehrer-Typ ihr auch noch zu. Wie hieß der noch? Jürgen? Und direkt neben ihm stand Regina, schüttelte ihre rote Hennamähne und fuchtelte mit langen Flatterärmeln vor seinem Gesicht herum. Jasmin mochte ihre Mutter nicht, und schon gar nicht, wenn sie mit ihren Weggefährten rumhing, wie sie es nannte. Ein Haufen Leute, die offensichtlich Schwierigkeiten hatten, in Würde zu altern. Unwillkürlich sah sie an ihrer eigenen Arbeitskleidung hinab. Schwarzer Anzug aus dehnbarem Stoff, Hemd, Krawatte – für Abendanlässe Pflicht. Offensichtlich hatte sich noch niemand überlegt, dass Bodyguards für Regierungsmitglieder aus der 68er-Fraktion eher in Indienhemdchen gekleidet werden sollten. Jasmin sah routinemäßig auf ihre Armbanduhr. Sie war jetzt seit über zehn Stunden im Dienst. Morgens Wahlkampfauftritt mit dem gemeinen Volk auf dem Wochenmarkt in Eutin, nachmittags Rede vor ausgewählten Offizieren auf dem Bundeswehrstützpunkt, und jetzt auch noch Smalltalk in der Stammkneipe. Ihre zu schützende Person hatte sich gerade Ellen Steinmüller gekrallt, die aussah, als wollte sie auch lieber den Film sehen.
Jasmin hatte den Titel im Vorbeigehen auf dem Plakat gelesen. Schöne Frauen. Sie versuchte die interviewerprobte Stimme Frederike von Westenhagens auszublenden und sich auf die Leinwand zu konzentrieren. Fünf arbeitslose Schauspielerinnen, die von einem Casting abgehauen waren und sich nun am Meer einen ansoffen und ihre Lebenslügen auspackten.
Jasmin entspannte sich ein wenig. Sie mochte Roadmovies. Auch wenn sie lieber für ihr Strafrechts-Examen geübt oder noch eine Runde Training eingeschoben hätte.
Plötzlich spürte sie hinter sich eine störende Energie. Eine Sekunde später flog eine Flasche an ihrem Ohr vorbei in Richtung Leinwand.
»Scheiß-Nutten! Ihr wollt doch nur mal richtig durchgevögelt werden!«
Um sie herum waren auf einmal Leute, die nicht ins Bild passten. Zu jung. Zu mackermäßig. Sie drehte sich nicht um, sondern sprang sofort auf ihre Position. Ihre rechte Hand schloss sich eisern um den Arm von Frederike.
»Weg hier!«, zischte sie. Mariusz hatte schon einen Weg zur Tür freigeräumt, die ins Innere des Hotels führte.
Zwei Minuten später war Frederike sicher in die Wohnung der Steinmüllers verfrachtet, Mariusz hatte sich vor ihrer Tür postiert, und Jasmin war wieder auf dem Weg nach unten.
Draußen tobte das Chaos. Jetzt erst konnte sie die vier Typen ausmachen, die mittlerweile das Feld unter Kontrolle hatten. Sie brüllten, traten gegen Stühle und Tische, und in ihren Augen funkelte die Macht der Besoffenen.
»Scheißstimmung hier! Was ist denn los mit euch?«
Die Gäste versuchten unter Tischen und Stühlen in Deckung zu gehen oder klammerten sich aneinander fest.
»Aber solche Scheißfilme wollen wir ja auch nich sehn!«
Einer hatte sich zur Leinwand vorgearbeitet und hielt ein großes Sturmfeuerzeug daran. Der synthetische Stoff fing sofort Feuer, das die Szene gespenstisch beleuchtete. Jasmin hörte eine Frau aufschreien. Die würde doch nicht im Alleingang auf die Typen losgehen? Die Polizei musste jeden Moment eintreffen. Sie fragte sich, ob einer von den Ex-Kommunarden hier seine Vorsätze über Bord geworfen und 110 gewählt hatte. Die Sache selber in die Hand nehmen konnten sie schließlich nicht, dazu waren sie zu alt und zu vollgefressen. Sie als Leibwächter hatten jedenfalls strikte Anweisung von ihrem Boss, nicht einzugreifen, wenn es nicht um die zu schützende Person ging.
Aber diese blöde Kuh konnte nicht warten. »Meine Leinwand!«, brüllte sie und schmiss eine Flasche nach dem Typen.
»Guck mal da! Das ist hier ein Kanaken-Kino!« In null Komma nix war der Typ hinter ihr und hielt ihr eine abgebrochene Flasche an den Hals. »Na, meine Schöne, möchtest du vielleicht, dass ich dich persönlich wieder in das Scheißland befördere, wo du hergekommen bist?«
Jasmin nutzte die folgende Sekunde allgemeinen Verharrens, um aus der Tür zu treten. Sie war selbst überrascht, wie leicht es ihr fiel, sich nicht an die Anweisung des Bosses zu halten. Denn der Boss war immerhin ihr Vater. Sie zwang sich, nicht an ihn zu denken, und setzte mit einem gesprungenen Frontkick den Typ mit der Flasche außer Gefecht. Als sie seinen Wangenknochen unter ihrem Fuß brechen fühlte, wurde ihr schlagartig bewusst, dass dies keine Trainingssituation war. Ihre Füße setzten wieder auf dem Boden auf. Die drei anderen schrien durcheinander und kamen auf sie zu.
Jetzt nur nicht rückwärts gehen.
Mach dich größer als du bist.
Plötzlich fühlte sie, dass sie nicht mehr alleine war. Wie verlangsamt sah sie eine zweite Figur ganz rechts außen in ihr Gesichtsfeld treten. Eine Faust schoss nach vorn, gefolgt von einem Kreiskick.
Der letzte der Angreifer drehte sich zu seinen Kumpels um, die am Boden lagen. Er stand jetzt mit dem Rücken zu ihr. Ihr Körper spannte sich und schien schon vor ihrem Gehirn zu wissen, was zu tun war.
Der Überraschungsmoment musste eindrucksvoll sein. Kung-Fu ist eine Kampfkunst, kein Gemetzel. So hatte sie es gelernt.
Mattie hievte sich von dem Holztisch hoch, an dem sie, wie es ihr schien, über Stunden festgewachsen war.
»Was soll’s! Ist halt Unternehmerpech«, murmelte sie.
Ellen hob müde den Kopf. »Madita, verdammt, warum hast du deine Leinwand denn nicht mal brandschutzimprägniert! Wir können froh sein, wenn die Versicherung überhaupt den übrigen Schaden bezahlt.«
»Jetzt mach mal halblang, Ellen.« Christian berührte ihren Arm. »Ist ja schließlich nicht ihre Schuld. Diese faschistischen Kriegstreiber! Warum müssen die ausgerechnet hier ihre Kaserne haben!« Er donnerte mit der Faust auf den Tisch. Als er sah, dass Mattie zusammenzuckte, nahm er die Hand sofort wieder runter. »Tut mir echt leid, ich würde dir sofort deine Anlage bezahlen, aber du weißt ja selbst, wie es bei uns läuft ...« Er zuckte hilflos die Schultern.
Mattie fühlte, wie die Enge der verrauchten Gaststube ihr die Luft nahm.
»Ist schon okay! Kümmert euch mal um euren Kram«, sagte sie unfreundlicher, als sie gewollt hatte, und ging schnell zur Tür. Sie mied den Weg zum Meer, wo immer noch die traurigen Überreste von Leinwand und Projektor auf den Abtransport warteten, und ging vorne rum, wo ihr roter alter Bus parkte. Sie schloss auf und stieg langsam die Stufen hoch. Alles sah noch genauso aus wie gestern, als vor ihr ein weiterer Sommer gelegen hatte, in dem sie mit ihrem Wanderkino an der Küste entlangziehen würde. Auf dem Tisch, vor der um neunzig Grad versetzten Sitzbank Nummer sechs, stapelten sich Verleihkataloge. Dahinter, wo sie die Reihen acht bis zwölf rausgenommen hatte, türmte sich zerwühltes Bettzeug und obendrauf ihre Jogging-Klamotten. Dazwischen tauchte plötzlich ein Ohr aus dunkelbraunem Fell auf.
»Oh Gott, Mascha!« Mattie fühlte, wie ihr Herz hämmerte. Sie hatte sich noch nicht daran gewöhnt, dass die alte Hündin wieder bei ihr war.
Vor einer Woche war sie guter Dinge aus Berlin in Harmsdorf am See eingelaufen, um sich über Ostern ein bisschen auszuruhen und Hinnarck in der Sicherstellung von Emmas Routine abzulösen. Die schweren Depressionen ihrer Mutter waren zwar besser geworden, seit sie und Nick im letzten Jahr die Geschichte um den alten Vogelliebhaber klären konnten, der sie über Jahrzehnte bedroht hatte. Zumindest fühlte sich Emma nicht mehr von der gespenstischen Figur des Nassen Mannes verfolgt. Aber ihre Welt hatte auch heute nur selten die gleichen Koordinaten wie der Planet, auf dem die restliche Menschheit verkehrte. Man musste sie ständig in der Umlaufbahn halten. Und das tat ihr Mann Hinnarck mit hingebungsvoller Geduld seit über vierzig Jahren. Als Mattie ihren Bus wie immer hinter dem alten Haus am Bahnhofsplatz parken wollte, stellte sie überrascht fest, dass Hinnarck für Emma einen kleinen Garten angelegt hatte, in dem sie emsig herumwurschtelte. Und hinter ihr her schlurfte Matties alte Hündin Mascha. Mascha, deren vorwurfsvoller Blick sie bis nach Hamburg verfolgt hatte, als sie ihre Jugendliebe Tim und Harmsdorf verließ. Natürlich war es Hinnarck gewesen, der seinem Ex-Schwiegersohn in spe nichts abschlagen konnte, als Tim plötzlich mit Mascha vor der Tür stand. Der Hund musste weg, weil er das Kind von Tim und seiner Freundin Lisa angeknurrt hatte. Wahrscheinlich weil es Mascha ein Auge rausoperieren wollte. Und so war Mattie nach zehn Jahren plötzlich wieder mit dem Hund zusammen, den sie als Welpen aus dem Heu gezogen hatte, um ihre eigene Zukunft mit Tim zu besiegeln.
In der Zwischenzeit war viel passiert, von dem Mascha nichts wissen konnte. Mattie hatte Nick gefunden und wieder verloren, weil Nick bei Cal sein wollte. Und gemeinsam hatten sie Matties indischen Vater Anand Kumar gefunden, der sich leider noch in der Stunde ihres Wiedersehens vom geheimnisvollen Märchenprinzen in einen erbärmlichen Frosch verwandelt hatte.
Mattie stoppte ihren Gedankengang automatisch an dem Punkt, den sie zur verbotenen Zone erklärt hatte. Wenn Nick jetzt hier wäre ...
Aber das war er nun mal nicht.
Mascha, die seit über zwölf Stunden klaglos im Bus gewartet hatte, guckte vorwurfsvoll, als sie steifbeinig aus der hinteren Tür kletterte und eine Riesenpfütze direkt vor den Bus setzte.
»Tu nicht so, als ob du nicht die ganze Zeit geschlafen hättest. Im Traum warst du wieder jung und schnell und konntest Kaninchen jagen«, brummte Mattie, während sie ihre Laufschuhe zuband. Mascha wedelte dezent mit dem Schwanz und setzte sich königlich in Trab, um wie immer das Rudel anzuführen. Sie nahmen den Weg hinter den Dünen, auf dem es sich besser lief als am Strand.
»... von unserem Zusammentreffen zu berichten. Ich kann mich auf Sie verlassen?«
Mattie, die sich hoffnungslos in wechselnden Szenarien ihrer ungewissen Zukunft verheddert hatte, wurde von der eindringlichen Männerstimme aus ihren Gedanken gerissen. Sie spähte über den niedrigen Deich, aber da war niemand. Mascha war auch nicht mehr da. Sie lief schnell zum nächsten Strandübergang, wo Mascha stand und ihr mit hechelnder Zunge den neuesten Rudelzugang präsentierte. Vor ihr stand der schwarz gekleidete Engel, den ihr Ang Lee vergangene Nacht direkt aus Tiger and Dragon geschickt hatte.
Nick und Cal steckten im Verkehr auf der Bandra Kurla Road. Schwaden von Abgasen zogen durch die offenen Seiten der Autoriksha herein. Cal hatte sich ein Tuch um Kopf und Nase gewickelt und nur die Augen frei gelassen. Die versteckte er jedoch hinter seiner dunklen Sonnenbrille. Nick, das aufgeklappte Laptop auf Knien vor sich, hielt sein Handy an die Infrarotschnittstelle und klickte sich ins Internet. Der Artikel über die aktuellen Prozesse wegen des Massakers in Gujarat nahm immer gewaltigere Ausmaße an. Oder sollte er es drastischer eine ethnische Säuberung nennen? Das machte einen großen Unterschied. Er dachte an die endlosen Reihen von Zeitungsartikeln, Augenzeugenberichten, medizinischen Reports und Fotos, die sich auf seiner Festplatte türmten. In Cals Wohnung stapelten sich noch mal so viele Dateien auf realem Papier, Kopien aus dem Research Center in Colaba, wo Nick den größten Teil der letzten zwei Monate verbracht hatte. Jeden Tag nahm er sich vor, endlich mit dem Schreiben anzufangen. Und jeden Tag fand er wieder neue Informationen.
»Ich fasse es einfach nicht«, murmelte er, »hier sind 2002 fast so viele Leute gestorben wie im World Trade Center, und in Hamburg kam es nicht mal in den Nachrichten.«
Cals Stimme klang undeutlich durch das Tuch, doch der Sarkasmus war nicht zu überhören. »Das sagst du dauernd. Aber es interessiert doch niemanden in Berlin oder Washington, ob sich irgendwo in Indien ein paar Leute verschiedener Religion abschlachten. Tausend weniger, who cares, gibt doch genug Menschen da unten. Hab ich recht?«
Nick antwortete lieber nicht. Er versuchte sich auf den wackelnden Bildschirm zu konzentrieren. Das Laptop hatte er sich von dem Geld gekauft, das Mattie ihm letzten Winter stillschweigend überwiesen hatte, als er schon in Bombay war. Eigentlich hatte er seinen Teil ihrer gemeinsamen Abfindung für das alte Kino durch eine Wette an sie verloren. Und sie schickte ihm das Geld hinterher, obwohl er sie wegen dieses Mannes verließ, den sie mal als Indiens Antwort auf Robbie Williams bezeichnet hatte. Nick musste grinsen. Cals Sticheleien zu ignorieren war zwecklos. Er würde so lange weitermachen, bis er sicher war, Nicks ungeteilte Aufmerksamkeit zu haben. Wie aufs Stichwort setzte das dumpfe Gemurmel neben ihm wieder ein.
»Hey, Mister Ich-rette-die-Welt, ich will dir ja nicht die Illusion rauben, etwas Einzigartigem auf der Spur zu sein, aber wenn du nächstes Jahr durch Zufall in Thailand landest oder in Nigeria oder in Kolumbien, wirst du wahrscheinlich genauso unglaublich schreckliche Dinge aufdecken, die alle an deinem weißen Arsch vorbeigegangen sind, solange du noch in deinem sauberen sicheren Europa gesessen hast.« Cal sah aus der Riksha auf die Straße, in das übliche Bombayer Chaos aus Menschen, Kühen, Autos, Rikshas, Lastwagen und Zweirädern. Er schüttelte den Kopf wie ein Scheich, der zum ersten Mal das Leben seiner Untertanen begutachtet. »Es ist unfair. Wir haben Sturmfluten und Erdbeben, wir haben Dürren und Pest und Cholera und wir haben Kakerlaken. Und ihr habt nichts davon. Kein Wunder, dass wir Probleme haben.«
»Euer Hauptproblem ist eine Feudalgesellschaft wie im neunzehnten Jahrhundert, in Verbindung mit einer durch und durch korrupten Bürokratie«, antwortete Nick. Er konnte nichts dagegen machen. Cals ewige Provokationen brachten ihn immer wieder auf die Palme.
»Wir Inder gut gelernt von den Britishern, Sahib«, winselte der Scheich neben ihm, »jetzt alle sagen, ist falsch, wir leiden an Krankheit heißt koloniales Erbe.«
»Wie recht Ihr habt, königliche Hoheit, Maharadscha von Raipur«, stieg Nick auf das Spiel ein und zupfte an Cals Tuch, bis es sich löste, »und welch erlesene Kleidung Ihr heute wieder tragt, um dem Volk zu huldigen.«
Als sie am Bahnhof Kurla aus der Riksha kletterten, verspürte Cal den dringenden Wunsch, sich an Nick dafür zu rächen, dass ihm weder Lärm noch Abgase etwas ausmachten. Er ließ sich einfach ein Stück zurückfallen und beobachtete, wie Nick in Sekundenschnelle von Leuten umgeben war, die ihm Taxifahrten nach Goa, ayurvedische Massagen oder ein erstklassiges Hotel anboten, ihm die Schuhe putzen oder die Zukunft weissagen wollten. Nick ragte wie ein Turm aus der Menge. Seine blonden Haare reichten bis fast auf die Schultern. Das machte es ihm einfacher, sie selbst zu schneiden. Einen Friseur aufzusuchen fand er spießig. Genauso wie seine T-Shirts zu bügeln, Deo zu benutzen oder auf der Straße lieber nicht zu rauchen. Alles Dinge, die Cal nie im Leben in Frage gestellt hatte, bis er Nikolaus Ostrowski begegnet war.
»Cal! Wo bist du?« Nicks Stimme klang verzweifelt.
Er wartete noch ein paar Sekunden, dann bahnte er sich einen Weg durch das Menschenknäuel um Nick und nahm ihn am Arm, wobei er links und rechts Leute auf Hindi anbrüllte.
»Du hast mich absichtlich da reinlaufen lassen!« Nick nestelte am Reißverschluss der Tasche seines heiligen Laptops herum, um zu gucken, ob noch alles dran war.
»Natürlich!« Cal drückte seinen Arm. »Sonst wirst du mir zu selbstbewusst und denkst, du könntest ohne mich klarkommen.«
Nick sah ihn an, und die grauen Augen hinter der blonden Strähne begannen zu lächeln. Cal spürte einen Stich in der Herzgegend. Er wollte jetzt nicht nach Pune fahren, um mit Mohan über eine neue Produktion zu sprechen.
Er wollte Nick nicht allein lassen.
Nicht in dieser Stadt, nicht in diesem Augenblick, nicht auf diesem Planeten, nicht in diesem Leben.
»Sie müssen im tiefen Sand laufen, das stärkt die Sprunggelenke.«
Jasmin blieb sofort stehen und drehte sich um. Leute, die ihr vorschreiben wollten, wie sie zu trainieren hatte, konnte sie überhaupt nicht leiden. Besonders keine Männer, egal ob jung und charmant oder alt und onkelhaft. So wie dieser hier. Und dann noch auf Englisch.
Er stand direkt oberhalb vor den Dünen, ebenfalls in Trainingsklamotten, auf dem Kopf eine dieser lächerlichen Basecaps. Sie machte ein paar Schritte auf ihn zu. In solchen Situationen suchte sie lieber die direkte Auseinandersetzung, statt grummelnd auf Abstand zu gehen. Der Effekt war nachhaltiger.
Erst als sie nur noch ein paar Meter entfernt war, erkannte sie ihn. Der muskulöse, etwas untersetzte Körper, kurze rötliche Haare, blaue Augen. Nachts und in Bewegung hatte er so energetisch gewirkt. Jetzt dagegen, im hellen Tageslicht, machte er einen bärenhaften, fast plumpen Eindruck auf sie.
Jasmin blieb abrupt stehen, schloss den Mund, legte die Handflächen aneinander und verbeugte sich. Was und wer immer er auch sonst sein mochte, er war ein Meister. Daran gab es keinen Zweifel. Er lächelte und machte dieselbe Bewegung. Sie dachte nicht lange nach. So eine Gelegenheit musste man nutzen. »Eine Runde Sparring?«, fragte sie ihn auf Englisch. Er nickte und nahm die Achtsamkeitshaltung ein.
Fünf Minuten später lag sie keuchend im Sand und schlug mit der Hand auf den Boden, um zu signalisieren, dass er gewonnen hatte. Jasmin stand auf, schüttelte den Sand ab und brachte ihren Atem unter Kontrolle. Sie wusste, dass es Wut war, die ihr die Luft nahm, nicht fehlende Kondition. Sie hatte alles aufs Tablett gebracht, was sie gelernt hatte. Aber egal welche Angriffstechnik sie einsetzte, er reagierte beinahe spiegelbildlich, als wüsste er bereits vorher genau, was sie tun würde. Es war nicht einfach nur seine größere Erfahrung. Er kämpfte exakt denselben Stil wie sie.
Jasmin sah ihre eigene Überraschung in seinem Gesicht.
»Von wem haben Sie das gelernt?«, fragte er ohne weitere Floskeln.
»Mein Lehrer heißt Kamal Assadi«, antwortete sie nicht ohne Stolz. »Er trainiert in Kiel.«
»Assadi?« Sie meinte ein kurzes Flackern in seinen Augen zu sehen, aber er schüttelte den Kopf. »Der Name sagt mir leider nichts.«
»Er hat diesen Stil bei einem Meister in Taiwan gelernt. Dieser Mann hatte nur eine Handvoll Schüler.« Sie musterte ihn neugierig. Sein Lächeln war einer höflich professionellen Freundlichkeit gewichen, die nicht mehr bis zu den Augen reichte. »Warum kommen Sie nicht mal vorbei? Es wäre Kamal sicher eine Ehre, mit Ihnen zu trainieren. Er findet kaum gute Sparringspartner hier oben.« Sie machte eine vage Geste über die Bucht.
»Leider habe ich dafür keine Zeit.« Er war jetzt sichtlich angespannt. »Sie arbeiten als Personenschützerin für eine hohe deutsche Regierungsbeamtin. Der Begriff Geheimhaltung dürfte Ihnen nicht fremd sein. Ich muss Sie daher bitten, niemandem, auch nicht Kamal Assadi, von unserem Zusammentreffen zu berichten. Ich kann mich auf Sie verlassen?«
Jasmin nickte verwirrt. Er verbeugte sich kurz vor ihr, drehte sich um und joggte den Strand entlang, Richtung Strandläufer.
Sie hatte mit keinem Wort erwähnt, dass sie Frederikes Bodyguard war.
Erst als sie sich wieder umdrehte, bemerkte sie den braunen schlappohrigen Hund, der schwanzwedelnd neben ihr stand. Hinter ihm tauchte die Besitzerin der abgebrannten Leinwand auf. Sie folgte Jasmins Blick zu der sich schnell entfernenden Gestalt am Strand.
»War das nicht gerade James Forrester?«
Jasmin zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Er hat mir nicht gesagt, wie er heißt.«
Eine kleine weiße Wolke schob sich vor die Sonne, und als hätten sie dieses Zeichen zum Anlass genommen, donnerten die Geschütze los. Jasmin fröstelte und sah auf die Frau und den Hund, der die Ohren anlegte. Die Frau zuckte kurz zusammen, dann entspannte sie sich.
»Sie schießen wieder. Ich hatte ganz vergessen, wie laut es ist.« Sie schaute sich um und ging auf eine verwehte Sandburg des letzten Sommers zu. »Ich hatte gestern keine Gelegenheit, mich bei dir zu bedanken.«
Jasmin stieg zögernd über den niedrigen Wall und setzte sich hin. Die andere hatte ihre Arme um die Knie geschlungen und verfolgte die Leuchtspurmunition, die aschige Streifen in den grauen Himmel zog. Jasmin setzte sich aufrecht, die Beine untergeschlagen in Meditationshaltung, die Hände locker auf den Knien.
»Das war nur –« Sie stockte. Ihre Pflicht? Eine Übung? Das Reden fiel ihr nicht leicht, wenn sie Fremden eins zu eins gegenüberstand. Wenn sie ihre Plädoyers vor Gericht übte, war es einfacher, eine Rolle, die sie spielte. »Bist du öfter hier in der Gegend?«
»Ich bin aus Harmsdorf. Dann hab ich in Hamburg ’ne Weile ein Kino gemacht. Und jetzt fahre ich herum und zeige Filme – als echte Ich-AG.« Die Hundebesitzerin lachte. »Ich hab mich gefragt, wie du überhaupt gestern hier gelandet bist. Du siehst nicht so aus ...«
Jasmin lächelte, aber geradeaus in Richtung Meer. »Als ob ich schon 1975 bei der Eröffnung des Strandläufers einen Trip geschmissen hätte? Nee, da war ich noch nicht mal ein Gedanke zwischen den Hormonen meiner Eltern.« Sie dehnte die Schultergelenke, bis sie ein inneres Knacken der steifen Muskeln spürte. Das regelmäßige Training fehlte ihr. »Ich bin sozusagen verantwortlich für den persönlichen Schutz der Staatssekretärin im Außenministerium, Frederike von Westenhagen. Außerdem ist sie die Nummer eins der schleswig-holsteinischen Landesliste der SPD, Wahlkreis Ostholstein. Die, die gestern nach dem Wahlkampfauftritt in der Kaserne noch mal die Luft an der Heimatfront schnuppern wollte«, fügte sie mit einem Blick auf die leuchtenden Kugeln hinzu, die wie außerirdische Begrüßungszeichen in der Luft hängen geblieben waren und nun langsam verglommen.
»Ich bin Mattie Junghans«, sagte die Frau.
Jasmin musste ein Lachen unterdrücken. Es klang, als wolle Mattie sich vergewissern, dass im Falle eines Nuklearkrieges jemand ihren Namen auf der Vermisstenliste identifizieren konnte. »Jasmin Assadi«, entgegnete sie stattdessen, um der Höflichkeit genüge zu tun. Sie fühlte Matties Blick auf ihrem Profil.
»Warum hast du eingegriffen, als er mit dieser Kanackenscheiße anfing?«
Jasmin drehte ihr das Gesicht zu. »Was für eine blöde Frage. Wir haben offensichtlich etwas gemeinsam, Schwester.«
Jetzt mussten sie beide grinsen.
»Türkin?«, fragte Mattie.
»Vater Iraner, Mutter Deutsche«, antwortete Jasmin. »Und du?«
»Vater Inder. Aber nur biologisch«, sagte Mattie.
Jasmin nickte.
»Sag mir«, Mattie sah sie mit diesem eindringlichen Blick an, den sie schon gestern Nacht draufhatte, »was kann ich jetzt tun? Soll ich zum Stützpunkt gehen und sagen: Ihre Soldaten rennen nachts zugeknallt durch die Gegend und zerstören anderer Leute Existenz?«
Jasmin begann sich unwohl zu fühlen. Sie hatte dieser Frau den Arsch gerettet, und sie würde den Teufel tun, sich noch weiter in ihr Schlamassel reinziehen zu lassen. »Du könntest natürlich Anzeige erstatten wegen Landfriedensbruch und Sachbeschädigung«, hörte sie sich dennoch sagen. »Aber da wirst du nicht viel Glück haben. Die Bundeswehr ist der einzige Arbeitgeber in der Ecke. Die haben hier quasi einen Freifahrtschein.«
Mattie kraulte gedankenverloren ein Ohr des alten Hundes, der die Schnauze in den Sand gebohrt hatte und in regelmäßigen Abständen Luft hineinpustete. Plötzlich sprang sie auf, so schnell, dass Jasmins Reflexe automatisch reagierten und sie noch vor der Frau auf den Beinen war. Die Hündin hob ihre sandige Schnauze und sah sie misstrauisch an. »Diese Frederike von Westenhagen, wohnt die hier in der Gegend?«
Jasmin verstand nicht, worauf sie hinauswollte. »Ein Stück landeinwärts, auf Gut Westenhagen.«
»Na wunderbar.« Matties Stimme vibrierte vor Unternehmungsgeist. »Das liegt sowieso auf meinem Weg. Da werde ich als Bürgerin mal meiner zukünftigen Abgeordneten einen Besuch abstatten.«
Jasmin hätte sie am liebsten mit einem Hebel flachgelegt und im Sand eingebuddelt. »Bist du noch ganz da? Das ist ihre Privatwohnung! Wenn du da aufläufst, verliere ich meinen Job!«
»Ich werd mir schon was einfallen lassen, damit das nicht passiert.« Mattie wischte ihren Einwand mit einer schnellen Handbewegung beiseite und lief einfach los.
Jasmin folgte ihr langsam Richtung Parkplatz. Sie hatte nichts anderes gewollt als einen ruhigen Nachmittag und ein bisschen Bewegung. Aber hier war offensichtlich zu viel los.
Cal ließ die Hängematte mit geschlossenen Augen auspendeln. Aber er konnte sich nicht entspannen. In seinem Kopf ging alles drunter und drüber. Er machte die Augen wieder auf. Über sich sah er die verzierten Balken der Veranda und dann blauen Himmel, in den rechts oben ein paar Palmblätter hineinragten.
Er musste sich zwingen, an etwas anderes zu denken.
Irgendwann würde er auch so ein Haus haben und so ein Leben.
Er sah hinüber zu der zweiten Hängematte, die im spitzen Winkel zu seiner hing. Leider lag darin nicht Nick, sondern Mohan Kapur, übergewichtiger Spross der einflussreichsten Filmdynastie Bombays. Cal hob vorsichtig den Kopf, um zu sehen, ob Mohan schon schlief. Ein lautes Räuspern, gefolgt von einer halben Umdrehung des massigen Körpers ließ ihn wieder zurücksinken. Noch konnte er sich nicht gefahrlos aus dem Staub machen.
Also legte er den Kopf in den Nacken und betrachtete das Anwesen, das sich, natürlich verkehrt herum, in sanften Wellen bis hinunter zum See erstreckte, wo die Hütten der Gärtner lagen. Bunte Fähnchen an Holzstangen markierten die neun Löcher des hauseigenen Golfplatzes. Mohan hatte sich hier ein künstliches Paradies geschaffen, das aus einem seiner eigenen Filme hätte stammen können. Und Cal hatte er als Hauptdarsteller nominiert.
Der Film hatte begonnen, als Cal – der natürlich den armen Helden verkörperte – am Tag zuvor aus dem grellen Licht des staubigen Bahnhofsvorplatzes von Pune in den Fond eines schwarzen Maybach sank. Der Fahrer bot ihm eisgekühlte Getränke an und fragte, ob er auf dem Weg eine DVD anzuschauen wünsche. Aber Cal sah lieber aus dem Fenster, wo die rote Erde von Maharashtra wirkungsvoll mit den grünen Hügeln und klaren Seen außerhalb der Stadt kontrastierte. Frauen in bunten Saris, die Heuballen auf dem Kopf an der Straße entlangtrugen, fügten sich ebenso nahtlos in die Filmszene ein wie die bewaffneten Wächter am Tor der Residenz, die salutierten, als er vorbeirollte. Leise knirschend kamen die Räder im Kies zum Stehen. In der Haustür erschien – im Film würde der Held jetzt anfangen zu singen – Cals beste Freundin Nitya in engen Jeans und einem Tank-Top mit Tarnmuster, wie man es trug, seit Shahrukh Khan darin in Main Hoon Naa die Terroristen besiegt hatte. Sie nahm die Sonnenbrille ab, rannte in Nike-Sneakers die Stufen des Portals herunter, riss die Autotür auf und ließ sich neben ihm in die Polster fallen.
»Hi, Handsome. Wie geht es deinem liebsten Hunnen?« Ab hier würde der Film natürlich anders weitergehen, denn es kam auf keinen Fall in Frage, dass die Heldin sich nach dem Lebensgefährten des Helden erkundigte.
»Nitya, ich warne dich!«, zischte Cal. »Ein falsches Wort und ich kläre deinen Vater darüber auf, dass du seit drei Jahren mit einem verheirateten Mann schläfst!«
Aber Nitya lachte nur und zog ihn aus der kühlen Luft des Autos in die Hitze draußen. Arm in Arm betraten sie das Haus, dessen Erdgeschoss aus einem einzigen Raum bestand, der bis unter die freigelegten Deckenbalken reichte. Er bildete das kombinierte Ess- und Wohnzimmer. In den Seitenflügeln befanden sich neben einem separaten Küchentrakt die Schlafzimmer der Familie sowie ein Büro, in dem Mohan seine Geschäfte auch von Pune aus kontrollieren konnte.
Als Nitya und Cal hereinkamen, saß er vor einem Flatscreen, der die halbe Breite der Wand einnahm, und sah sich die gerade synchronisierte Fassung seines neuen Films an. Über eine Freisprechanlage brüllte er in ein unsichtbares Telefon.
»Das geht so nicht! Wir sind doch hier nicht in Madras!«
Cal lächelte. In Bollywood machte man immer noch Witze über die Qualität der Filme von der südindischen Konkurrenz, dabei waren die längst auf demselben technischen Standard wie die Produktionen des Hindi Cinema im Norden. Mohan winkte seine Tochter und Cal zu einer Sitzecke und brüllte ungeniert weiter.
Obwohl Cal das erste Mal ins Landhaus der Familie eingeladen war, kannte er Nityas Vater gut. Es war noch nicht allzu lange her, dass er seine Zukunft als Abkömmling einer langen Ahnenreihe von Tablaspielern in Calcutta hinter sich gelassen hatte. Ohne Kontakte und ohne Geld war er in Bombay angekommen, besessen von der Idee, Filmmusik zu komponieren. Es war Nitya Kapur, die einem Nobody wie ihm einen Job als Sound-Designer in ihrem Tonstudio gab. Und Nitya hatte ihn erwischt, als er nachts, wenn alle weg waren, am Computer Songs komponierte. Statt ihn rauszuschmeißen, hatte sie die Songs ihrem Vater vorgespielt, und so war Cal zu einem der neuen Hot Shots im schnell rotierenden Karrierekarussell von Bollywood geworden. In letzter Zeit arbeitete er mehr mit jüngeren Regisseuren, die nicht so sehr auf den klassischen Familienfilm setzten wie Mohan, aber die Loyalität der ersten Stunde verband ihn immer noch mit dem mächtigen Tycoon.
Seine Freundschaft mit Nitya war kurzzeitig abgekühlt, als im letzten Jahr Mattie und Nick in Bombay auftauchten und mit ihren wilden Geschichten um Matties indischen Vater und einen verrückten alten Nazi sein Leben in Beschlag nahmen. Als Nick ein paar Wochen später tatsächlich nach Bombay zurückkam, hatte Cal es nicht mehr ausgehalten und war das Risiko eingegangen, Nitya in sein Doppelleben einzuweihen. Sie hatte ihn lange und ernst angesehen, und Cal hatte schon das Schlimmste befürchtet. Dann war sie plötzlich in wildes Gelächter ausgebrochen.
»Hallo, Cal! Du bist viel anständiger als der Rest der Welt! Willkommen im Club der Abtrünnigen!« Sie erzählte ihm von ihrer schon zwei Jahre andauernden Beziehung zu Sohan Roy, der nicht nur einer der bekanntesten Schauspieler Bollywoods, sondern leider auch verheiratet und Vater dreier Kinder war. Am Anfang hatte Nitya Sohan noch geglaubt, wenn er beteuerte, seine Familie zu verlassen, wenn der richtige Zeitpunkt da wäre. Aber irgendwann musste sie einsehen, dass dieser Zeitpunkt niemals kommen würde, denn es gab immer einen neuen Film, der keine schlechte Publicity vertrug, eine plötzliche Krankheit seiner Frau oder Probleme mit den Kindern. Sie hatte sich nicht nur um der Liebe willen arrangiert, sondern den festen Entschluss gefasst, niemals selbst zu heiraten. Seit diesem Abend war Cals Freundschaft zu Nitya noch enger geworden, denn sie teilten den Balanceakt zwischen dem, was die konservative indische Gesellschaft von ihnen erwartete, und dem, was sie für richtig und lebenswert erachteten.
Wie üblich rückte Mohan mit dem tatsächlichen Grund für die Einladung an Cal erst heraus, nachdem sie gegessen, geschlafen und eine Runde Golf gespielt hatten – wobei Cal feststellte, dass er weder Spaß daran noch Talent dafür hatte, in der Hitze einem kleinen Ball hinterherzulaufen. Vielleicht brauchten die Briten diesen Sport, um auf ihrer feuchten nebligen Insel die rheumatischen Glieder zu wärmen, aber hier in Indien gab es sinnvollere Arten der Fortbewegung, beispielsweise in einem Maybach mit Klimaanlage. Aber er hielt durch bis Loch neun und verbuchte das Golfen als einmalige Erfahrung, die er seiner prall gefüllten gedanklichen Schublade mit Anekdoten über das unheilvolle koloniale Erbe hinzufügte.
Endlich hatte auch Mohan genug, wischte sich den Schweiß von der Stirn und ließ eisgekühlte Drinks an die beiden Hängematten auf der Veranda bringen. Er nahm einen tiefen Schluck und startete einen seiner berühmten Monologe, die lang und verschlungen waren wie das Drehbuch eines dreistündigen Bollywood-Films. Er war ein guter Erzähler, und Cal sah vor seinem inneren Auge, wie Mohan seinen Traum wahrmachte und persönlich bei DaimlerChrysler den Maybach bestellte. Man hatte ihn zum Direktor des kleinen Werks in Pune gebracht, in dem die Limousinen für den indischen Markt montiert wurden. Bei der Werksführung überzeugte er sich von der deutschen Gründlichkeit, mit der die indischen Arbeiter gelernt hatten die hohen Qualitätsstandards zu erfüllen. »Ich habe die Zukunft gesehen!«, erklärte Mohan dem staunenden Cal.
Der Qualitätsstandard von Cals Wohnung litt erheblich, seit Nick überall volle Aschenbecher, dreckige T-Shirts und halb ausgetrunkene Kingfisher-Flaschen hinterließ.
»Diese deutsche Technologie und unser indisches Wirtschaftswachstum sind eine hochkarätige Verbindung. Die laufen uns hinterher wie die Hündchen, um hier Fuß zu fassen!« Der Manager versprach Mohan, die hohen Einfuhrzölle für einen Maybach zu übernehmen, wenn er dafür in seinem nächsten Film ein paar Mercedesse durchs Bild fahren ließe. »Eine Hand wäscht die andere. Wir sind im Zeitalter des Product-Placement angekommen!«
Cal begann sich langsam zu fragen, wo die Geschichte hinführen würde, als sie eine überraschende Wendung nahm. Mohan wurde eingeladen, bei der nationalen indischen Ausscheidung der DaimlerChrysler Golf Trophy mitzumachen, und kam auf Platz zwei. Drei Monate später flog er auf Kosten der Firma nach Stuttgart, um dort als Mitglied des indischen Teams am Finale teilzunehmen. Nach weiteren begeisterten Ausführungen über die Heimat des besten Automobils der Welt, die Cal jedoch teilweise verpasste, weil er einnickte, kam Mohan endlich auf den Punkt.
Cal wurde wieder wach.
»Bei einem dieser exotischen Volksfeste in einem Bierzelt kam ich mit einem deutschen Teilnehmer aus Berlin ins Gespräch, der eine große Veranstaltungshalle besitzt. Und, Cal, du wirst es nicht glauben«, Mohan versuchte sich in der Hängematte aufzusetzen, wurde aber von seinem eigenen Gewicht wieder in die Waagerechte gedrückt, »die haben dort noch nie eine Bollywood-Show gemacht! Und das ist einzig und allein unsere Schuld. Für uns war Europa immer nur Großbritannien, die anderen Märkte haben uns nicht interessiert, weil die indischen Communitys zu klein sind. Und da sitzt dieser Typ und kriegt leuchtende Augen, wenn er von K3G[1] redet. Er behauptet, die Deutschen seien ganz wild auf Bollywood, obwohl ich mir kaum vorstellen kann, dass die genug Fantasie haben, um unseren Plots zu folgen.«
Cal musste grinsen, sagte aber nichts. Das würde er sich merken.
»Also, um zu meinem Anliegen zu kommen«, Mohans Ton wurde geschäftsmäßiger. »Letzte Woche haben wir die Verträge unterschrieben. Jetzt brauche ich jemanden, der Regie und Produktion dort übernimmt. Nitya hat mir gesagt, du würdest dich aus irgendeinem Grund, den ich schon wieder vergessen habe« – hier bekam Cal einen Hustenanfall und musste schnell einen Schluck Wodka-Orange kippen –, »für Deutschland begeistern. Deine letzten Songs waren alle Hits. Willst du für diese Show die Regie übernehmen? Du müsstest allerdings schon bald losfliegen, um vor Ort mit Live-Musikern zu proben. Diese Deutschen legen offenbar großen Wert auf Authentizität. Die Tänzer und Schauspieler kommen dann zwei Wochen später nach.« Es folgte eine Aufzählung von Stars und Sternchen aus der ersten und zweiten Riege Bollywoods, die Mohan für die Show engagieren wollte.
Cal hörte nicht mehr zu. Er sah sich mit Nick Arm in Arm durch Clubs ziehen, wo niemand sich darum kümmerte, ob sie zwei Männer waren. Er sah sie nebeneinander an einem See sitzen, auf dem ein Paar weißer Schwäne seine Runden zog. Er sah ...
»Cal! Hast du überhaupt zugehört? Willst du den Job nicht?« Mohan winkte dem Boy, ihm noch einen Drink zu bringen.
»Doch, natürlich!« Cal bemühte sich, nicht zu enthusiastisch zu klingen. »Das ist eine Riesenchance für mich. Du weißt ja, dass ich gern mal einen eigenen Film machen würde.«
Mohan schnitt ihm das Wort ab. »Deine Zeit wird schon noch kommen. Jetzt fährst du erst mal nach Berlin, und danach –«
Täuschte sich Cal, oder schimmerte eine Träne in Mohans rechtem Auge?
»Cal, du bist wie ein Sohn für mich. Ich finde, die Zeit ist gekommen, um das zu besiegeln. Nitya ist mein Juwel, mein Augenstern, mein einziges Kind. Und sie liebt dich. Wenn du zurück bist, sollten wir über eure Zukunft sprechen.« Mohan bemerkte nicht einmal, dass Cal diesen Vorschlag mit fassungslosem Schweigen aufnahm. Er war es ohnehin gewohnt, dass ihm niemand widersprach.
Und nun lag Cal in seiner Hängematte, und seine Gedanken kreisten immer wieder um Mohans Worte. Wusste Nitya von dieser Idee? Wie kam ihr Vater darauf, dass sie in Cal verliebt war?
Cal erinnerte sich dunkel, sie während Mohans Geschichte vorbeilaufen gesehen zu haben. Ein leichtes Schnarchen ertönte aus der Hängematte neben ihm. Vorsichtig stand er auf und ging runter zum See, wo sie auf dem Bootssteg saß und die Füße im Wasser baumeln ließ.
»Nitya, dein Vater will, dass wir heiraten. Wusstest du das?« Er hörte seine eigene Stimme, die ängstlich und viel zu laut klang. Leiser redete er weiter: »Das ist eine Katastrophe! Wir müssen ihm die Sache so schnell wie möglich ausreden!«
Nitya wandte ihm langsam das Gesicht zu und nahm ihre Sonnenbrille ab. In ihren Augen funkelte der vertraute Spott. »Warum sollten wir ihn davon abbringen? Das ist doch eine akzeptable Lösung für alle unsere Probleme, findest du nicht?«
Mattie schaltete einen Gang runter und ließ Jasmin auf ihrem Motorrad davonbrausen. Für solche Spielchen war sie nicht mehr zu haben.
Klingt, als wärst du kurz vor den Wechseljahren, meldete sich ihre innere Stimme, und sie merkte, wie sie in ihre alte Gewohnheit verfiel, Dialoge mit sich selbst auszufechten. Na ja, mit einunddreißig war sie zwar noch nicht alt, aber als Unternehmerin verantwortlich für ihre Mitarbeiter, und von denen war nur noch ihr Bus übrig, wenn man von Mascha absah, die bereits im Rentenalter war. Projektor und Leinwand hatten sich ja nach dem gestrigen Desaster verabschiedet. Mattie spürte, wie ihr zum ersten Mal seit dem Überfall Tränen in die Augen stiegen. Der alte TK-35 war keine leblose mechanische Maschine für sie. Wie oft hatte sie ihn in Einzelteile zerlegt, jedes einzelne Rädchen geölt und ihn wieder zusammengebaut, damit er schnurrte wie ein alter Kater. Er hatte sie nie im Stich gelassen, keine teuren Filmkopien gefressen oder plötzlich störende Nebengeräusche produziert. Und jetzt war er nur noch ein Haufen angekohlter Schrott.
Mattie schaltete einen Gang rauf und zwang sich, durch die große Windschutzscheibe auf die Landschaft zu schauen, die in diesem besonderen Frühlings-Spätnachmittags-Licht dalag, als hätte der Kameramann einen Filter zu viel eingeschoben, so dass die Bilder künstlich und zu bunt aussahen. Die großen Windräder drehten sich in Zeitlupe und hoben sich strahlend weiß vor dem blauen Himmel und dem frischen Grün auf den Feldern und in den Bäumen ab. ›Visionen können die Welt verändern‹, schoss ihr der Slogan aus dem Wahlwerbespot durch den Kopf.
Das Wanderkino war ihre ganz persönliche Vision geworden, nachdem sie ihr altes Filmtheater in Hamburg an einen Multiplex-Investor verloren hatten. Ein Kino, das ihr niemand wegnehmen konnte. Die Vision sah vor, dass sie anspruchsvolles World Cinema für entspannte Urlauber bot, die in dankbaren Scharen die Kinokasse füllten, wenn man ihnen mal was anderes als die übliche Massenware aus Hollywood vorsetzte. Die Wirklichkeit sah anders aus. In den Ferien wollten die Leute offenbar noch weniger über die Welt um sie herum wissen. Was lief, waren Verschwörungstheorien nach dem Endlosprinzip: Star Wars, Matrix, Herr der Ringe. Ausverkaufte Paralleluniversen. Und für die Damen romantische Literaturverfilmungen à la Rosamunde Pilcher.
Nach ihrem ersten Kino-Sommer, den sie vorwiegend an der östlichen Küste verbracht hatte, war Mattie pleite und gelangweilt. Also heuerte sie bei einem Berliner Verleih an, den sie noch aus den Tagen ihres Programmkinos kannte. Er war auf asiatische Filme spezialisiert und hatte es als Erster gewagt, einen Bollywood-Film auf den deutschen Markt zu bringen, der gar nicht so schlechte Zahlen an den Kinokassen erzielte. Damit war – zwar ein paar Jahre später als im übrigen Europa, aber immerhin – der Trend ins Rollen gekommen. Mattie übernahm die Sondierung weiterer Filme, die entweder ins Kino, auf DVD oder sogar ins Fernsehen gebracht werden sollten. Am meisten Spaß machte es ihr, an den deutschen Synchronfassungen mitzuarbeiten. Es war nicht leicht, die rasanten und blumigen Hindi-Dialoge in ein Deutsch zu bringen, das nicht an kitschige Heimatfilme aus den 50ern erinnerte. Nicht dass Mattie mittlerweile ihre Plattdeutschkenntnisse gegen fließendes Hindi ausgetauscht hätte, um ihren indischen Genen endlich den Weg zu den Wurzeln freizumachen. Aber sie nahm sich die deutschen Dialoglisten vor und versuchte, den Tonfall moderner Märchen in ihrer eigenen Muttersprache zu erfinden, die nicht allzu viel zeitgenössischen Wortschatz für solch ein Abenteuer bereithielt.
Für Nick dagegen, von dem alle – und vor allem er selbst – dachten, dass er nach seiner Veröffentlichung ihrer Recherchen über die Indische Legion[2] eine steile Karriere als Autor vor sich hatte, war es anscheinend nicht so gut gelaufen. Zuerst kamen noch ein paar kurze Reportagen über die Callcenter in Pune und Bangalore, dann nur noch E-Mails, in denen er sich beklagte, die Redaktionen in Deutschland wollten von Indien nichts wissen, was über Ayurveda, Bollywood und Computer hinausging. Und auch dazu bekam er immer häufiger den Kommentar: »Indien? Das hatten wir doch voriges Jahr erst.«
In letzter Zeit hatte sie wenig von ihm gehört, außer wenn er ihr kommentarlos die gewünschten DVDs von neuen Filmen schickte. Dafür fanden sich jetzt öfter Mails von Cal in ihrer In-Box, der sie offensichtlich als kompetent erachtete, ihm Ratschläge zu geben, wenn die komplizierte Beziehung zwischen ihm und Nick mal wieder kurz vor dem Scheitern stand. So war es auch Cal, von dem Mattie wusste, dass Nick wieder Platten auflegte, in einem angesagten Dachterrassen-Club in Colaba, von wo er immer später und meistens besoffen oder bekifft zurück in ihre Wohnung nach Andheri kam. Auch wenn sie Nicks Anwesenheit in ihrem Leben noch immer vermisste, hätte sie nicht mit Cal tauschen wollen. Sie erinnerte sich nur zu gut, wie einem Nick durch die Finger glitt, wenn er unzufrieden war. Und um das festzustellen, musste sie nicht bis nach Bombay fahren.
Beinahe hätte sie die Allee verpasst, die nach Gut Westenhagen abzweigte. Sie war die Strecke zwischen Harmsdorf und dem Strandläufer früher so oft gefahren, dass sie glaubte, jede Kurve wäre eingraviert auf ihrer inneren Landkarte. Aber die Erinnerung spielte ihr optische Streiche und ließ sie die Zeit spüren, die vergangen war, seit sie hier gelebt hatte. Genau wie Maschas weiße Barthaare, die jetzt vor Aufregung zitterten, als der alte Hund neben ihr auftauchte und sich mit beiden Pfoten auf die Frontablage stellte, um zu sehen, wo sie anhalten würden.
Die Allee endete in einem von uralten Linden und Kastanien gesäumten Halbrund. Die Straße, die jetzt nur noch aus Kopfsteinpflaster bestand, teilte sich davor und führte zu beiden Seiten an norddeutschen Katen mit Reetdach und alten Stallungen vorbei, bis sie hinter dem Dorfplatz in die Einfahrt zu einem dreistöckigen weißen Gutshaus mündete.
»Na, Mascha, dann fahren wir mal rein in den Pilcher-Film«, murmelte Mattie und kurvte vorsichtig rechts herum, um die ausladenden Baumkronen nicht zu beschädigen. Vor einem Landgasthof parkten ein paar protzige Allradjeeps und Limousinen mit Hamburger und Lübecker Kennzeichen. Leute in grünen und blauen Wachsjacken drängten sich um einen Laden, vor dem Rosenstöcke und Gartenpflanzen aufgestellt waren. Einige drehten sich um und beäugten den alten Reisebus, der sich mühsam durch die Schlaglöcher kämpfte. »Und ich bin die arme Pferdepflegerin, die eigentlich die uneheliche Tochter des Grafen ist, aber von ihren intriganten Halbgeschwistern gezwungen wird, sich zwischen ihrem Erbteil und ihrer aufrechten Gesinnung zu entscheiden.«
Mascha wedelte zustimmend mit dem Schwanz.
»Eigentlich ist Pilcher auch Bollywood. Nur kürzer«, schloss Mattie ihren Gedankengang ordnungsgemäß ab, ehe sie ihren Bus direkt vor der Toreinfahrt parkte, wo neben ein paar Autos das Motorrad von Jasmin stand.
Mitten auf dem geschlossenen Holztor sprang ihr ein großes Schild entgegen. Es machte unmissverständlich klar, dass hier Privatbesitz begann und sich potenzielle Besucher bitte in der Gutsverwaltung am Ortseingang melden sollten.
»Wir sind keine Besucher, sondern haben ein Anliegen, das ist ein großer Unterschied«, murmelte Mattie in Richtung Mascha. Sie würde ihre Vision nicht aufgeben. Noch nicht.
Gerade als sie die Klingel unter dem unauffälligen Namensschild mit der Aufschrift von Westenhagen drücken wollte, öffnete sich das schwere Tor von selbst. Dahinter tauchten zuerst die Lederjacke und dann das Gesicht von Jasmin auf.
»Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.« Es klang, als hätte Jasmin genau das gehofft. Einen Moment lang musterten sie sich schweigend. »Jetzt lass dir mal was Schlaues einfallen, damit ich meinen Job behalte«, fügte sie noch hinzu, als habe Mattie Alzheimer und könne sich nicht mehr an ihr Gespräch am Strand erinnern, das keine fünfzehn Minuten zurücklag.
»Mach dir mal keine Sorgen«, sagte Mattie und nahm Mascha vorsichtshalber an die Leine, falls man hier auf arme Verwandte mit Hunden keinen Wert legte. Sie folgte Jasmin zum hinteren Teil des Innenhofs, der in einen offenen Garten mündete. Die schräg einfallenden Sonnenstrahlen leuchteten eine Gruppe von Leuten aus, die um einen großen Tisch saßen und Wein tranken. Daneben auf einem Holzgerüst sah sie zwei Mädchen mit langen weizenblonden Haaren, wie es sich in Norddeutschland gehörte. Die kleinere, in einer Art Fußballkluft, machte Klimmzüge an einer Stange, während die ältere oben auf dem Podest in ein Buch vertieft war.
Sie traten an den Tisch, wo die leise Unterhaltung augenblicklich verstummte. Fragende Gesichter wandten sich Mattie und Mascha zu. Jasmin zeigte auf die blonde Frau mit den grünen Augen, die Mattie aus dem Werbespot kannte. »Frederike von Westenhagen und ihr Mann Johannes«, das musste der Mann daneben sein, mit den grauen, halblangen Haaren. Er sah gar nicht aus wie ein Graf. Oder wie sich Mattie einen vorstellte. Sein Gesicht verzog sich zu einem charismatischen Lächeln. »Und das ist Regina Reimers.« Bestimmt eine Künstlerin, so wie sie ihren farbfleckigen Overall zur Schau stellte.
»Und deine Mutter, Jasmin, das kannst du ruhig zugeben.« Moment, was war denn das? Mattie musste sich zwingen, die Frau nicht anzustarren, die spöttisch in Richtung Jasmin grinste und an ihrer Zigarette zog.
Aber Jasmin sprach einfach weiter. »... Nele und Lina, die beiden Töchter von Frederike und Johannes, und da hinten noch Mariusz, mein Kollege.« Mattie sah erst jetzt den jungen Mann, der ein wenig abseits an einem Klapptisch saß und auf seinem Handy spielte. Er nickte ihr kurz zu und vertiefte sich wieder ins Spiel.
»Und wer sind Sie?« Frederike von Westenhagen war ganz klar die Sprecherin der Gruppe. Mattie registrierte, dass sie die durchdringende Stimme schon gestern während der Filmvorführung gehört hatte.
»Ich bin Madita Junghans«, sagte sie und hoffte, es klang nicht wie in der Schule, wenn einen die Lehrerin aufrief. »Ich bin die Betreiberin des Wanderkinos, das gestern Abend abgebrannt ist. Ich wollte mich persönlich bei Ihnen bedanken, dass Sie Ihre Leibwächterin geschickt haben, um mir und den Gästen zu helfen. Sonst wäre sicherlich noch mehr zu Bruch gegangen als nur meine Ausrüstung.«
Sie sah die Überraschung in Jasmins Augen aufblitzen und das automatisierte Lächeln der Staatssekretärin, die wusste, dass Politiker niemals ein Kompliment ausschlagen dürfen, weil jede Stimme zählt. Selbst wenn es unverdient ist.
»Das war doch selbstverständlich«, schnurrte Frederike von Westenhagen, während ihr Mann sich bereits erhob und Mattie ein Glas reichte.
»Möchten Sie nicht ein Glas Wein mit uns trinken?« Seine Stimme war weicher als die seiner Frau, aber nicht weniger kräftig. Wie auf ein Zeichen schienen sich alle zu entspannen, und Regina lud Mattie und Jasmin mit einer Geste ein, sich zu ihnen zu setzen.
Jasmin schlenderte demonstrativ zu ihrem Kollegen und fing ein Gespräch mit ihm an. Er gähnte und griff nach einer Sporttasche, offensichtlich im Aufbruch begriffen. Mattie probierte einen Schluck Wein, der eiskalt und köstlich war und sie daran erinnerte, dass sie den ganzen Tag weder etwas gegessen noch getrunken hatte.
Frederike von Westenhagens Handy klingelte, und sie verzog sich damit in Richtung des rückwärtigen Gartens. Jasmins Mutter wandte sich wieder einem Prospekt zu, auf dem Mattie alte Möbelstücke erkennen konnte. Johannes von Westenhagen prostete Mattie zu. »Sie sehen, wir sind hier eine echte Wohngemeinschaft, wenn auch mit gehobenem Standard.«
An Humor schien es ihm nicht zu fehlen. Mattie fragte ihn nach dem Konzept des Pilcher’schen Idylls. Er war der einzige Erbe des ehemals landwirtschaftlichen Gutes und lebte mit seiner Familie in der unteren Wohnung des Gutshauses. Während Frederike im Auswärtigen Amt in Berlin war, kümmerte sich Johannes um die beiden Kinder und arbeitete nebenbei als Therapeut. Er hatte eine der ehemaligen Stallungen zu einem Tagungshaus umgebaut, wo Menschen aus ganz Deutschland an seinen Seminaren teilnehmen konnten. Regina Reimers restaurierte alte Möbel, die sie in der Landhausgalerie und über das Internet vertrieb. Sie bewohnte die obere Etage. Rundherum in den ehemaligen Häusern und Katen der Landarbeiter hatten sich ebenfalls Leute angesiedelt, die im weitesten Sinne ökologische Dienstleistungen anboten, von Windkraft bis Landschaftsplanung.
Mattie fühlte einen leichten Schwindel, entweder von dem Wein auf nüchternen Magen oder von so viel erfolgreicher Lebensführung. Sie merkte, wie die angenehme Stimme von Westenhagens sie einlullte und wünschen ließ, sich hier auf der Stelle niederzulassen, statt zurück zu ihrer depressiven Mutter und Hinnarck in das enge, dunkle Haus in Harmsdorf zu fahren. Also ergriff sie die Gelegenheit, als Johannes eine Sprechpause machte, um eine neue Flasche Wein zu öffnen, und Frederike nach erledigter Arbeit wieder an den Tisch zurückkehrte.
»Ich möchte Ihre Gastfreundschaft nicht überstrapazieren, aber ich hätte da noch eine Bitte.« Die Politikerin sah sie prüfend an, als ahnte sie, was jetzt kam.