Die falsche Patrizierin - Susann Rosemann - E-Book

Die falsche Patrizierin E-Book

Susann Rosemann

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Beschreibung

Ulm 1524. Laila, Tochter eines Buchbinders, hat sich einer Gruppe von Spielleuten angeschlossen. Auf dem Marktplatz wird sie von einer reichen Ulmerin entdeckt, der sie sehr ähnlich sieht. Laila soll die Frau bei einer Tanzveranstaltung vertreten. Dann begeht ihre Doppelgängerin Selbstmord und Laila wird gebeten, die Rolle weiterzuspielen, um die wahren Hintergründe zu vertuschen. Immer tiefer erfasst sie ein Sog aus Intrigen. Bald weiß sie nicht mehr, wem sie noch trauen kann …

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Susann Rosemann

Die falsche Patrizierin

Historischer Roman

Impressum

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www.gmeiner-verlag.de

© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Herstellung / E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Bilder von: © http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Agnolo_Bronzino_-_Eleonora_of_Toledo_-_Google_Art_Project.jpg und http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Albrecht_Dürer_-_Two_Musicians_-_WGA6952.jpg

sowie des Stiches von: © http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Nuremberg_chronicles_-_ULMA.png

ISBN 978-3-8392-4444-9

Prolog

Ulm, 1518, Spätsommer

Die Mutter weinte. Laila hörte das Schluchzen, als sie die Tür des kleinen Hauses mit dem windschiefen Dach öffnete. Schon gleich beim ersten Mal, als sie es gesehen hatte, hatte sie gedacht, es würde in Kürze einstürzen und halte nur, weil es sich an die Nachbarhäuser lehnte. Bislang aber stand es, aus welchem Grund auch immer. Lailas Familie lebte hier erst seit Kurzem und das Gebäude sah so ganz anders aus als jenes, in dem sie zuvor gewohnt hatten und die Buchbinderwerkstatt des Vaters untergebracht war. Warum es dieser plötzlichen Umstellung bedurfte, nach all den Jahren, in denen es ihnen immer besser ging und ihr bescheidener Wohlstand stetig wuchs, das wusste sie nicht. Als Kind hatte man kein Anrecht auf Erklärungen.

Laila hörte die Stimmen, noch bevor sie die Menschen im Raum sehen konnte, und hielt inne. Die Tür nur einen Spalt breit geöffnet, schloss sie die Augen und lauschte. Ihre Flöte, die sie mit der Rechten umklammerte, fühlte sich glatt an und tröstlich. Das Instrument entstammte einer anderen Zeit, als sie noch alle glücklich gewesen waren. Laila hatte es von ihrer Großtante Jolanthe, die mit ihrer Familie in Paris lebte, als Geschenk bekommen. Bei einem ihrer seltenen Besuche hatte sie es mitgebracht und Laila gezeigt, wie man darauf spielt. »Du hast Talent«, hatte die Tante gesagt und ihr über den Kopf gestreichelt.

Um ihr zu imponieren, hatte Laila täglich geübt. Das kam ihr nun in diesem neuen Leben zugute. Die Mädchen im hiesigen ärmlichen Stadtteil ließen sich nur durch das Spiel ihrer Flöte davon abhalten, sie in die Gosse zu stoßen und Schabernack mit ihr zu treiben. Sie gehörte nicht zu ihnen, würde es niemals. Allein ihr ungewöhnlicher Name, den sie von ihrer Großmutter geerbt hatte, erinnerte sie immer wieder daran. Aber Laila hatte gelernt, sich ihnen anzupassen und das, was sie dachte, für sich zu behalten.

Drinnen im Haus sagte ihr Vater ein paar Worte. »Es wird euch gut gehen«, oder etwas Ähnliches, Laila verstand ihn nicht genau, er sprach zu leise. Deshalb schob sie die Tür noch ein Stück weiter auf. Sie wusste, wie es im Inneren aussehen würde, aufgeräumt und ordentlich wie immer, die wenigen Habseligkeiten in einer Truhe verstaut. In der Wohnküche im unteren Stock drängten sich ein sauber gescheuerter Tisch neben einem gemauerten Herd und ein paar wenigen Töpfen, die an der Wand hingen. Hinter dem Tisch ging eine kleine Vorratskammer ab sowie die schmale Stiege ins Obergeschoss, wo sie zu viert auf Strohmatten schliefen. Direkt unter dem windschiefen Dach.

Laila öffnete die Tür ganz und sah sie alle drei dort am Tisch sitzen, den Vater, die Mutter und ihren Bruder, der in den nächsten Tagen seine Lehre als Steinmetz beginnen sollte. Ein Freund des Vaters hatte ihm die Stelle vermittelt und trug die Kosten. Sie beneidete den Bruder darum, dass er älter war als sie und sich nicht mit den Kindern auf der Straße anfreunden musste. Er würde einen anständigen Beruf erlernen und keiner würde fragen, wo er herkam.

Ihr Vater sah kurz hoch, als Laila eintrat, dann aber blickte er erneut auf seine Frau und strich ihr eine Strähne von der Wange, die sich aus ihrer Haube gelöst hatte. Die Mutter saß nur da, die nach vorn gebeugten Schultern zitterten im Rhythmus ihres Schluchzens.

Der Bruder starrte auf den Tisch und sagte nichts, spielte mit einer Münze in seiner Hand, die er immer und immer wieder zwischen den Fingern drehte.

»Ich muss alleine für mein Unrecht und meine Dummheit büßen. Ihr werdet gut versorgt sein.« Ihr Vater erhob sich, blickte sich um und nahm dann ein Bündel, das er neben dem Tisch abgelegt hatte. Zögernd wandte er sich in Richtung Tür, dorthin, wo Laila stand, die Hand am unebenen Holz.

Plötzlich hörte sie ein leises Klirren, das die nervösen Finger ihres Bruders erzeugten, als er die Münze immer wieder gegen das einzige Glas, das ihnen geblieben war, stieß. Es stand auf dem Tisch, ein kleiner, durchsichtiger Pokal mit Fuß und geriffelter Oberfläche, ein paar von Lailas gepflückten Sommerblumen darin.

»Hör auf damit, sofort!«, rief der Vater. »Hör auf!«

Hastig schob er Laila aus dem Weg. Sie stolperte, verlor das Gleichgewicht und fing sich mit den Händen auf dem festen Lehmboden der Hütte ab. Ihr Handgelenk schmerzte.

»Es tut mir leid«, sagte der Vater leise, dann verschwand er hinaus auf die Gasse.

Kapitel 1

Ulm, 1524, kurz vor der Fastnachtszeit

Endlich war sie wieder zu Hause. Wenn es auch nur für absehbare Zeit sein sollte, in diesem Augenblick zählte das nicht. In der Gruppe der Gaukler schritt Laila voran und blickte nach vorn, wo die Stadt sich in der klaren Luft des Wintertages aus der Umgebung hervorhob. Sie konnte bereits die Quader erkennen, aus denen die Stadtmauer bestand. Hinter dem massiven Mauerwerk duckten sich die Dächer der Häuser, als suchten sie Schutz. Einen nach dem anderen musterte Laila die Türme der Wehranlagen, dann blieb ihr Blick in der Mitte an dem imposanten und doch so filigran gearbeiteten Bau des Ulmer Münsters hängen, dessen Westturm immer noch der Vollendung harrte. Ja, sie freute sich.

Mit jedem Schritt kam sie der Stadt näher, in der sie aufgewachsen war, und in die sie sich zurücksehnte, wenn es ihr schlecht ging. Wenn sie ehrlich war, fühlte sie sich in letzter Zeit immer häufiger so, als stecke sie in einem Kleid fest, das ihr viel zu eng war und welches Löcher und Flicken aufwies, die sie nur nach und nach entdeckte, weil sie sich vom verführerischen Glanz der Samtbordüre hatte täuschen lassen. Doch auch das verdrängte sie. Sie wollte nichts Trauriges denken an diesem herrlichen Wintertag. Sie wollte sich den Kopf vom kalten Wind freiwehen lassen und mit sich selbst und Gott im Reinen sein.

»Freust du dich?« Irene, die neben ihr ging, ließ ihr Bündel von der Schulter gleiten und schob es auf die andere. Ihre dunklen Haare hatte sie sich von Laila am Morgen zu einem faustdicken Zopf flechten lassen. Er verschwand unter ihrem Umhang, der so bunt war, wie man es bei Spielleuten erwartete.

Laila nickte nur als Antwort und blickte weiter geradeaus. Auf der Donau wurden zwei Lastkähne flussabwärts gerudert, die Männer stemmten sich gegen die Kraft des Wassers. In beiden Booten stapelten sich Fässer dicht aneinander gepackt, Laila konnte die hölzernen Rundungen erkennen. Hinten stand ein Steuermann, vorn befanden sich zwei Ruderer. Die Kähne lagen tief im Wasser. Vermutlich war es eine Weinlieferung für einen der Gastwirte. Ein Floß trieb mit dem Strom. Die zusammengebundenen Stämme schmiegten sich aneinander, wurden von Wellen überspült oder hochgehoben, um gleich darauf wieder einzutauchen.

Laila fröstelte und war froh, nicht auf dem Fluss unterwegs zu sein. Ein kalter Windstoß fuhr ihr unter die Haube. Sie zog ihren wollenen Umhang enger um den Körper und überblickte ihre kleine Gruppe. Die beiden jüngsten Burschen zogen die zweirädrigen Karren mit den Habseligkeiten und den Musikinstrumenten. Nur langsam holperten sie über den Weg. Vor Laila knirschten und knarrten die Räder. Als einer der Karren in ein Schlagloch geriet und festsaß, konnte er nur mithilfe des Trompeters und der Harfenspielerin wieder herausgezogen werden. Sie packten vorn mit an und zogen.

»Du hast deine Mutter seit Sommer nicht gesehen«, nahm Irene neben ihr das Gespräch wieder auf.

»Doch, ganz kurz zu Weihnachten. Als die Wege so verschneit waren und wir in Blaubeuren bei diesem Bauern untergekommen sind, obwohl wir doch beim Grafen von Württemberg aufspielen sollten, den ganzen Winter über. Im Rusenschloss. Du erinnerst dich?« Die Reise nach Ulm damals war beschwerlich gewesen, aber sie hatte keine andere Möglichkeit gesehen, ihrem Ärger über die falschen Versprechungen Herr zu werden. Sie musste für ein paar Tage nach Hause.

»Ja, ja, ich weiß. Aber auf der Burg lebte nur ein Forstmeister und der wollte keine Musik.«

»Reginald hätte das wissen müssen. Ich denke, er kennt sich in Fürstenkreisen aus.« Lailas bitterer Unterton veranlasste Irene, ihre Hand zu greifen.

»Du wirst nicht mehr lange bei uns bleiben, nicht wahr?«

Laila erwiderte Irenes Händedruck. »Wo soll ich denn hin, so ganz ohne euch?«

»Er hat dir zu viel versprochen. Zu viel, was er nicht halten kann.« Irene nickte in Richtung ihres Anführers Reginald, der mit seinen rot-grünen Beinlingen und dem aus bunten Flicken bestehenden Überwurf den Anfang der Gruppe bildete.

»Er verspricht immer zu viel, das liegt in seinem Wesen«, antwortete Laila. Ihre Worte sollten neckisch klingen, doch sie konnte den bitteren Unterton nicht verhindern. Irene hatte recht.

»Er ist ein guter Anführer und ein hervorragender Spielmann. Hab Geduld.«

»Das sagst du mir, seit ich euch kenne.«

»Und du glaubst es nicht mehr?«

Laila verzog den Mund und schaute wieder nach vorn auf das irritierende Farbenspiel von Reginalds Kleidung. Er schien ständig in Bewegung zu sein. Genau ein Jahr war es her, dass sie in Ulm den Fastnachtsdarbietungen dieser Spielleute zugesehen hatte und sich von der ausgelassenen Stimmung hatte anstecken lassen. Reginald hatte sie angeworben, nachdem er erfuhr, dass sie nicht nur gut tanzen, sondern auch vortrefflich Flöte spielen konnte. Und Laila brauchte Geld, jetzt, ein Jahr danach, mehr als je zuvor. Die Zeit rann ihr durch die Finger, ohne dass sie etwas Greifbares hinterließ.

»Nein.«

»Nein?«

»Lass uns nicht über diese Dinge reden«, Laila deutete in Richtung Stadt. »Dort ist Ulm, dort wartet unser Publikum.« Das hoffentlich zahlreich sein wird und freigiebig, setzte sie in Gedanken hinzu.

Es dauerte länger als erwartet, bis sie die Donau erreichten und sie überqueren konnten. Unter ihnen knarzten die Holzbohlen der Brücke. Durch die Lücken zwischen den unregelmäßigen Stämmen konnte Laila den trüben Fluss erkennen und Enten, die vorbeitrieben, mitgenommen vom Strom. Die Gruppe der Spielleute näherte sich dem Torturm. Von der anderen Seite der Mauer waren die Rufe eines Quacksalbers zu hören, der lautstark ein Mittel gegen Warzen anpries. Zwei Frauenstimmen begannen zu zetern und übertönten die Rufe des Mannes. Offenbar waren sie mit der angepriesen Wirkung nicht zufrieden gewesen.

Ihre Gruppe geriet ins Stocken, musste warten, weil die zwei Stadtwachen einen großen Wagen angehalten hatten und sich mit dem Besitzer unterhielten. Münzen wanderten in die ausgestreckte Hand des einen Wachmanns, und endlich setzte sich das Gefährt wieder in Bewegung.

Reginald lief mit seinem typischen Schwung auf die Wachen zu und verbeugte sich gekonnt vor ihnen. Er wedelte mit einem Pergament, wohl wissend, dass die Männer es nicht lesen konnten und nur das Siegel prüfen würden. Er redete auf sie ein. Laila rückte ein Stück an die Freundin heran, legte den Kopf auf ihre Schulter und schloss die Augen, um das Geschehen um sich herum auszusperren. Doch die Ruhe hielt nicht lange.

»Was ist da los?«

Die Worte Irenes schreckten Laila auf. Offenbar schien es Schwierigkeiten zu geben, einer der Männer studierte das Empfehlungsschreiben Reginalds und schüttelte den Kopf. Reginald sagte etwas, doch er schien nicht überzeugend zu sein. Vermutlich war er heute nicht richtig in Schwung. Laila seufzte, zog sich den Umhang noch enger um die Schultern und war wieder einmal froh darum, dass sie die bunte Kleidung der Spielleute bis heute verweigerte. Sie trug die Sachen auf, die sie von zu Hause mitgebracht hatte. Ihren Umhang hatte sie von einem wohlhabenden Gönner in Buchhorn bekommen. Es war ein netter Mann gewesen, dem ihr Flötenspiel gefiel und der sie wohl besonders dafür belohnen wollte. Er hatte Laila bei sich behalten wollen, damit sie für seine Frau und das Kind musizierte, doch zu der Zeit hegte Laila noch Hoffnungen, dass sich die Lage der Spielleute bald verbessern würde.

»Wie sehe ich aus, eher wie eine Magd?« Sie zog die Schultern hoch und knickste, verschämt zur Seite blickend. »Oder doch eher wie eine Bürgersfrau?« Laila stellte sich wieder gerade hin und richtete sich mit spitzen Fingern die Haube.

Irene antwortete mit einem kurzen Blick zum Geschehen am Wachhaus: »Mit dem teuren Umhang auf jeden Fall die Bürgersfrau. Aber nur, wenn du nicht zu kokett mit dem Hintern wackelst.«

Laila ging zwei Schritte mit wiegenden Hüften, zwinkerte ihrer Freundin zu und lief dann geradewegs zu Reginald.

»Warum geht es hier nicht voran?«, fragte sie mit einem harten Ton in der Stimme, den sie für ihre Auftritte geübt hatte. Sie musterte den Wächter und schaute ihm offen in die Augen.

»Wir haben über die Fastnacht bereits genug Spielleute in Ulm«, antwortete er.

»Mein Bruder hat diese Musiker für seine Hochzeit gerufen. Die Vorbereitungen sind fast vollendet. Ihr werdet doch jetzt den Leuten den Einlass nicht verwehren?« Sie suchte weiter den Blick des Mannes, aber er wich ihr aus und zögerte. Laila spürte, dass sie noch zulegen musste. Also machte sie eine herrische Geste, um das Empfehlungsschreiben zurückzufordern.

»Dieser Schrieb ist wohl kaum von Nöten. Wenn Ihr Fragen habt, wendet Euch an meine Familie, ganz im Vertrauen.« Sie wandte sich an Reginald und dachte bei sich, ob der Wachmann wohl nach Namen fragen würde? Er tat es nicht. Es wäre ihr nicht schwer gefallen, irgendeine Ulmer Familie zu nennen. Überzeugend Unwahrheiten von sich zu geben, das hatte sie gelernt. Aber sie wandte es nur an, wenn es wirklich nötig war. »Lasst uns gehen. Mein Bruder wartet ungern.«

Die Wachleute hielten sie nicht auf, als sich die Gruppe wieder in Bewegung setzte. Sie schritten durch das Tor, Reginald mit einem Lächeln auf den Lippen, das Laila aus den Augenwinkeln sehen konnte. Als sie ein gutes Stück die angrenzende Gasse entlang gelaufen waren, meinte er:

»Dass Gott dich hat meinen Weg kreuzen lassen, welch Glück war das.«

»Ein noch größeres Glück wäre es, wenn du statt dieses Pergaments mit gefälschtem Siegel ein echtes Empfehlungsschreiben vom Herzog mit dir herumtragen würdest.«

»Du bist im Schauspiel ebenso bewandert wie im Spielen der Flöte. Mit mir gemeinsam wirst du bald den hohen Herrschaften dienen.«

»Und das, mit Verlaub, hör ich auch nicht zum ersten Mal.« Laila gab Reginald das gefälschte Schreiben zurück, der es in seiner Umhangtasche verwahrte. Dann ging er in seinem beschwingten Schritt voran, verbeugte sich nach hier und grüßte nach dort. Sie würden in einem Gasthof unterkommen, wie meist in einem mit Stroh ausgelegten Raum, mit freiem Essen, um am Abend die Gäste zu unterhalten. In ein paar Tagen, da stünden die Fastnachtstage an, die waren der Grund, warum sie überhaupt in die Stadt gereist waren. Laila hoffte, dass sie wenigstens hier eine entsprechende Entlohnung erhalten würden und ihr Anführer nicht schon wieder zu viel versprochen hatte.

Kurze Zeit später erreichten sie den Platz vor dem Münster. Wie immer, wenn sie den imposanten Kirchenbau nach längerer Zeit wiedersah, spürte sie Stolz, dass die Ulmer in der Lage waren, ein derartiges Gebäude zu errichten. Gut, es hatte Schwierigkeiten gegeben, ihr Bruder Jabbo war als Steinmetz bestens informiert gewesen. Die Fundamente hielten nicht, also hatte man vor zwei Jahrzehnten einen neuen Baumeister bestellt, einen, der aus Augsburg kam. Als wenn Ulm nicht selbst genügend ausgezeichnete Baumeister vorzuweisen hätte, zumindest glaubte das ihr Bruder. Der begonnene Westturm brauchte ein neues Fundament, die Gewölbe der Seitenschiffe waren zu schwer. Laila hatte sich nicht alles merken können, was Jabbo ihr erzählt hatte. Ihre Bewunderung für die Arbeit der Steinmetze war ungebrochen und auch jetzt blickte sie voll Ehrfurcht auf die Fassade mit ihren filigranen Säulen und den hohen Fenstern. Von den Baugerüsten an den Seitenschiffen konnte sie von ihrem Standpunkt aus nur einen Teil sehen, doch sie wusste, dass die Arbeiter dort weiterhin beschäftigt waren.

»Nicht träumen, helfen«, Irene gab ihr einen sanften Stoß. Die Karren waren mittlerweile am Rande des Platzes abgestellt und die anderen hatten ihre Instrumente herausgeholt. Laila zog ihre Flöte aus ihrem Beutel, spielte ein paar Töne, während sich die Spielleute in Positur brachten. Ein paar Handwerksburschen blieben erwartungsvoll stehen. Ihre Kleidung war weiß vom Gesteinsstaub. Offenbar kamen sie von der Münsterbaustelle und wollten sich zum Mittag etwas zu essen besorgen. Laila musterte sie flüchtig, doch ihren Bruder konnte sie nicht unter ihnen ausmachen. Sie wollte nicht, dass er sie bei der Arbeit mit den Spielleuten sah. Das hätte nur seine üblichen Vorwürfe nach sich gezogen, dass sie sich herumtreibe, dass sie endlich etwas Anständiges tun solle und so weiter …

Sie begann zu spielen und wiegte sich im Takt der Musik hin und her. Irene hatte ihren Zopf gelöst und den Umhang über einem der Karren abgelegt. Mit in die Hüften gestemmten Händen trat sie vor die Burschen und machte ein paar tippelnde Schritte. Dann drehte sie sich unvermittelt und begann einen sanften Tanz, nur begleitet von Lailas Flötenmusik. Laila liebte diese Anfänge, wenn sie versuchten, die Aufmerksamkeit der Leute zu erhaschen. Im Gegensatz zu vielen anderen Spielleuten bevorzugten sie den leisen, sich stetig steigernden Beginn. Reginalds Ansicht nach reagierten die Leute darauf nachhaltiger und blieben länger stehen.

Eine Laute begann, die Melodie zu unterstützen. Nach und nach stimmten die anderen Instrumente ein und Irene bekam Gesellschaft von einer weiteren Tänzerin.

Laila beobachtete erstaunt, wie sich bereits eine größere Menge an Zuhörern eingefunden hatte, doch dies war Ulm, das durfte sie nicht vergessen. Hier gab es mehr Menschen als in den abgelegenen Dörfern, in denen sie auf ihrer Reise immer wieder auftraten. Sie würde sich jetzt im Hintergrund halten, den anderen die Aufführung überlassen und sie nur noch begleiten. So hatte sie es mit Reginald verabredet. In Ulm galt für sie: Je weniger sie auffiel, desto besser. Es sollte sie niemand erkennen. Wenn erst öffentlich wurde, dass sie sich einer Gruppe Spielleute angeschlossen hatte, dann würde es kein Zurück mehr ins bürgerliche Leben geben. Spielleute waren rechtlos und blieben es auf alle Zeit. Sie fühlte sich nicht bereit zu diesem Schritt, Reginald respektierte das.

Laila wich nach hinten aus, um den Tänzerinnen mehr Raum zu geben, stieß gegen den Karren und stolperte nach links. Der hölzerne Rand bohrte sich in ihren Rücken, sodass sie keuchen musste. Doch sie fiel nicht. Stattdessen rempelte sie gegen einen anderen Körper. Als sie hochsah, blickte sie in ein Augenpaar, das sie durch und durch zu mustern schien. Laila richtete sich auf, knickste, tat bewusst beschämt und spürte die Hitze an den Wangen. Die Frau, die sie angestoßen hatte, musste sehr wohlhabend sein. Ihr Gegenüber trug ein unter der Brust gegürtetes rotes Gewand, dessen Ausschnitt mit Perlen besetzt war. Der schimmernde Umhang über ihren Schultern bedeckte nur ihre Arme und den Rücken. Laila fragte sich, ob ihr nicht kalt war. Ihr selbst war jedes Frösteln vergangen.

»Entschuldigt«, brachte sie hervor und knickste noch einmal, immer noch bemüht, möglichst demütig zu erscheinen. Hoffentlich geht sie einfach weiter, dachte sie, und schaut mich nicht mehr so an, als würde sie in meinem Inneren lesen.

Ein Mann hielt die Frau am Ellbogen fest, hatte sie offenbar beim Zusammenprall gestützt. Er blickte Laila ebenso an, wenn auch eher belustigt. Die grüne Kappe, die er trug, saß ein wenig schräg auf seinen dunkelbraunen Haaren, die breiten aufgenähten Streifen seines Übergewandes hatten dieselbe Farbe.

»Es tut mir leid«, sagte Laila.

Ein paar Augenblicke sprach niemand. Hinter ihr ging die Vorstellung der Spielleute weiter. Sie hörte den Gesang von Reginald, der bereits vor einer Weile eingesetzt haben musste und der die Leute nun einlud, seiner Geschichte zu folgen.

Plötzlich lächelte die Frau versonnen und nickte. Dann wandte sie sich ab und ging weiter, begleitet von einem weiteren, kleineren Mann, so unscheinbar, dass Laila ihn bislang gar nicht bemerkt hatte. Ein Diener, vermutete sie, obwohl er nicht die Kleidung eines einfachen Lakaien trug. Sie strich sich die Hände am Stoff ihres Umhangs ab. Ihre Handflächen mussten trocken sein, damit ihr die Flöte nicht durch die Finger glitt. Erneut setzte sie das Instrument an. Es bereitete ihr keine Probleme, wieder Anschluss an die Darbietung der anderen zu bekommen, dennoch fing sie einen fragenden Blick Irenes auf. Zumindest die Freundin hatte etwas bemerkt.

Laila spielte eine Weile, bevor sie es wagte, wieder hochzusehen. Die reiche Frau war immer noch da. Sie hielt sich mit ihrer Begleitung im Hintergrund und blickte zu den Spielleuten. Nein, nicht zu den Spielleuten, sie blickte zu ihr, Laila. Warum nur?

Mit einer Hand zupfte Laila die Haube tiefer ins Gesicht, dabei gerieten ihr ein paar schräge Töne. Dann zog sie sich noch weiter zurück, bis sie fast zwischen den beiden Handkarren stand. Sie spielte auf ihrer Flöte, den Blick auf die Menge gerichtet, doch die Leute schienen nur Augen für die Tänzerinnen und Reginald zu haben, der gerade mit ausgreifenden Armbewegungen zum Höhepunkt seiner Geschichte ansetzte. Er machte kleine Hüpfer, verbeugte sich vor zwei Mädchen, die kichernd die Köpfe einzogen vor so viel Übermut. Laila sah die zwei Burschen aus ihrer Gruppe, wie sie mit ihren vom Kopf gezogenen Kappen durch die Menge gingen und um Münzen baten. Es sah so aus, als bekämen sie reichlich. Gut, dachte Laila, dann hat sich wenigstens dieser Auftritt gelohnt.

Kapitel 2

Maxim beobachtete seine Mutter Kyrilla von der Seite, sah wie sich Lachfältchen um die Augenwinkel gebildet hatten, obwohl ihr Mund kaum die Spur eines Lächelns verriet. Aufmerksam blickte sie nach vorn. Nach dem Zusammenstoß mit der Flötenspielerin hatte sie darauf bestanden, etwas abseits stehen zu bleiben und sich die Darbietung der Spielleute anzusehen. Etwas, was sie sonst nie tat.

Ungeduldig nestelte er an seinem Beutel, den er eben hatte öffnen müssen. Der Junge, der ihm herausfordernd seine verfilzte Kappe hingehalten hatte, wäre sonst nicht mehr von seiner Seite gewichen und hätte als Nächstes seine Mutter angebettelt. So ließ er sie in Ruhe, bedankte sich artig und lief weiter.

Es gelang Maxim, die übrigen Münzen wieder sicher zu verstauen und den Beutel unter seinem Umhang zu verstecken. Gerade bei solchen Menschenansammlungen gab es genügend Beutelschneider, die genau wussten, in welchem Säckel etwas zu holen war. Maxim ärgerte sich darüber, dass er hier gemeinsam mit Kyrilla stehen musste, bis sie genug hatte von den Darbietungen der Musikanten. Obwohl ihm das Flötenspiel, der Gesang und Tanz durchaus gefielen, fühlte er sich nicht in der Stimmung, dem länger als nötig beizuwohnen. Er konnte sich nicht helfen, aber der bittere Gedanke, dass er sich sein Leben anders vorgestellt hatte, als hier auf dem Marktplatz neben seiner Mutter zu warten, drückte ihm auf das Gemüt.

Den Blick auf die Gruppe gerichtet, strich Kyrilla wie in Gedanken über die Perlen an ihrem Ausschnitt. Ihr Umhang hatte sich gelöst bei dem Zusammenstoß. Maxim fragte sich, wie lange es dauern würde, bis sie die Kälte wahrnehmen würde. Etwas schien sie zu beschäftigen.

Er schaute zu Johann, der dicht hinter Kyrilla stand und ausdruckslos auf ihren Rücken starrte. Als mache es ihm nichts aus, hier zu warten, selbst dann nicht, wenn er bis in den Abend ausharren musste. Er war einen guten Kopf kleiner als Maxim und machte seine geringe Körpergröße mit einer kräftigen Statur wett, die man unter dem langen Gewand nur erahnen konnte. Maxim hatte sich oft gefragt, wie seine Mutter es schaffte, gleichzeitig so treues wie anständiges Personal zu bekommen. Zugegeben, sie hatte ein gutes Händchen mit Menschen. Anders als er selbst. Seine Unaufmerksamkeit hatte ihn nicht nur sein so mühsam aufgebautes Geschäft gekostet, sondern auch das wenige Geld, welches er nach dem Tod seines Vater geerbt hatte. Wer mit zwei älteren Brüdern aufwuchs, konnte keine Ansprüche stellen. Der musste froh sein, wenn für ihn überhaupt etwas blieb. Maxim wischte sich mit dem Handrücken über die Nase, die Kälte machte ihm zu schaffen. Er war bis vor Kurzem noch in wärmeren Gefilden unterwegs gewesen. Nun aber war er wieder zu Hause und stand in Abhängigkeit zu seiner Mutter. Ihm gefiel es nicht.

Der Spielmann, der vor der Gruppe mit Musikern und zwei Tänzerinnen auf und ab gehüpft war, verstummte. Er verbeugte sich tief und kam mit einem breiten Lächeln wieder nach oben. Das Publikum applaudierte. Dann ertönten Harfenklänge, die so leicht in die Luft emporstiegen, dass die Menge den Atem anzuhalten schien. Die Flöte kam hinzu. Das Mädchen, das sie spielte, hatte sich ganz nach hinten zurückgezogen, als wolle sie sich verstecken. Maxim musste zugeben, dass sie einen guten Zeitpunkt gewählt hatten für ihren Auftritt. Das Marktgeschehen war abgeflaut, die Feilschereien und Einkäufe waren zum großen Teil getätigt. Dennoch befanden sich weiterhin viele Menschen auf dem Platz. Nicht weit von sich hörte Maxim das Stöhnen eines Mannes, dem ein Zahnbrecher mit einer Zange im Mund bohrte. Mit einer Hand hielt er den Unterkiefer des Mannes fest, mit der anderen betätigte er die Griffe des Instrumentes. Der Zahn, um den es ging, war wohl nicht leicht zu entfernen. Maxim fasste an seine Wange und dankte Gott, dass er ihn bislang vor derartigen Eingriffen bewahrt hatte.

Die Fischersfrau mit ihrem überdachten Stand hatte weiter regen Zulauf; morgen war Freitag, offenbar schien der Fischmarkt vor dem Haus der Tuchkaufleute bereits beendet zu sein. Sie bewahrte die Fische in mehreren Holzschüsseln auf und war gerade damit beschäftigt, die Schuppen von einem besonders großen Exemplar mit einem Messer abzuschaben. Neben ihr verkaufte ein Bäcker frisch gebackenes Brot. Ein paar Ratsherren in mit Pelz gefütterten Roben standen beisammen und diskutierten, flankiert von zwei Stadtdienern, die ihnen auf Geheiß den Weg bahnen würden. Doch sie nahmen weder Notiz vom Geschehen auf dem Platz noch vom vorherrschenden Lärm. Was sie wohl Wichtiges zu beraten hatten, dass sie es in der Kälte außerhalb der beheizten Räume des Rathauses taten? Vielleicht ging es um diese neue Lehre. Die Thesen, die dieser Luther angeschlagen hatte, versetzten seither den gesamten Klerus in Aufregung. Die Stadt Ulm machte keinen Hehl daraus, dass sie mit Luther sympathisierte. Wohin das führen würde, wusste kein Mensch. Nicht nur Maxim sah die Entwicklung mit Sorge.

Er richtete seine Aufmerksamkeit erneut auf die Gruppe von Spielleuten. Es war zu erkennen, dass sie zu den Meistern ihres Faches gehörten und so wie der Anführer sich gab, war er gewiss nicht aus Armut heraus zum Spielmann geworden. Er schien Maxim eher wie einer, der das ungebundene Leben und das Abenteuer suchte und genoss. Und er schien sich seine Gefährten sorgsam ausgesucht zu haben.

»Sie sieht ihr so ähnlich, Maxim«, meinte Kyrilla unvermittelt.

Ja, das hatte er in der Tat auch bemerkt, dass die Flötenspielerin seiner Schwägerin ähnelte. Deshalb wusste er sofort, was seine Mutter mit ihren Worten meinte. Nun, so etwas kam vor, dass ein Mensch dem anderen glich, obwohl sie nicht zu derselben Familie gehörten.

»Das tut sie, Mutter.«

Doch was tat es zur Sache? Außer dass es vielleicht ärgerlich sein mochte, wenn eine rechtlose Spielleute­frau der hochgeborenen Dietlind ähnelte. Seine Mutter konnte sich über derlei ärgern, das wusste er. Schließlich hatte sein Vater mit dem wenigen Einfluss, den er als Kaufmann mittleren Ranges besessen hatte, Maxims beiden älteren Brüdern zu Verbindungen zum Adel verholfen. Der soziale Rang der Familie war ihnen wichtig. Er durfte nicht beschmutzt werden.

»Mit dem entsprechenden Kleid würde man sie mit Dietlind verwechseln.«

»Das nun auch wieder nicht.« Ihm war kalt, er wollte in sein aufgewärmtes Arbeitszimmer und einige Geschäftsbriefe verfassen, in der Hoffnung, doch noch die ein oder andere Münze zurückzubekommen. Stattdessen stand er hier auf dem Platz und machte sich über Flötenspielerinnen Gedanken. Das Mädchen würde sich nie wie Dietlind kleiden, zudem wäre es nach den Feiertagen sicher aus Ulm verschwunden, wozu also die Aufregung.

»Doch, sieh dir diese hohen Wangenknochen an und die vollen Lippen trotz des schmalen Gesichtes. Die Brauen, man müsste sie nur etwas zupfen, die Wangen etwas bleichen, damit sie nicht gar so aussieht, als käme sie direkt vom Feld. Obwohl der Winter das Seine tut und ihre Haut gebleicht hat. Sicher ist sie im Sommer viel dunkler. Sie hat sogar dieselbe Augenfarbe. Grün.«

Das musste seine Mutter bei dem Zusammenprall mit dem Mädchen festgestellt haben, denn von dem Standort aus, an dem sie sich jetzt befanden, konnte man derlei Details nicht erkennen. Maxim rieb sich die Hände und wollte zum Aufbruch drängen, da fügte Kyrilla hinzu: »Dietlind braucht eine Weile zur Besinnung. Sie soll Ulm verlassen und zu deinem Bruder Friedrich auf unser Landgut fahren. Er wird sich dort um sie kümmern. Aber es muss niemand davon wissen, hörst du?«

»Zur Besinnung?« Was hatte das mit der Ähnlichkeit der beiden Frauen zu tun? Nun hatte Kyrilla seine Aufmerksamkeit, denn diese Wendung im Gespräch hatte er nicht erwartet.

»Ihre Kinderlosigkeit scheint ihr aufs Gemüt zu schlagen. Sie macht Dummheiten.« Seine Mutter wich ihm aus, das spürte er. Etwas schien ihr Sorge zu bereiten.

»Sie wird kein Kind bekommen, wenn sie von Guntram getrennt ist.« Sein Bruder war ohnehin viel zu häufig unterwegs, das schien Maxim als Ursache des Übels wahrscheinlicher als alles andere.

»Dietlind braucht unsere Hilfe. Sie muss zur Besinnung kommen, sie weiß, was von ihr in ihrer Stellung erwartet wird.« Kyrilla drehte sich zu Johann und gab ihm Anweisung, der Flötenspielerin nach Ende der Darbietung zu folgen und herauszufinden, wo sie Quartier bezogen hatte. Dann nickte sie Maxim zu und setzte sich in Bewegung.

»Was hast du vor? Dietlind kann jederzeit verreisen, ohne dass wer nach ihr fragt.« So wichtig war sie schließlich nicht, ergänzte er in Gedanken.

Seine Mutter zögerte. »Dietlind agiert zu eigensinnig«, sagte sie schließlich. »Sie gefährdet alles, was wir uns erarbeitet haben, was dein Vater erarbeitet hat. Sie muss weg aus Ulm. Dein Bruder wird sie zur Einsicht bringen, ich vertraue ihm. Und es ist gut, wenn sie merkt, dass sie nicht unersetzbar ist.« Mit einem Lächeln nickte sie zu der Flötenspielerin. »Mal schauen, was wir für einen Nutzen aus dieser Begegnung ziehen können.«

Maxim folgte ihrem Blick und beschloss, neugierig auf das zu sein, was ihn in den kommenden Tagen erwarten würde. Begebenheiten, die ihn von seinen eigenen kleinen und großen Problemen ablenken konnten, waren ihm willkommen. Vor allem, wenn sie so gut Flöte spielten wie diese hier.

Laila erwachte unvermittelt, als habe sie etwas aus dem Schlaf hochschrecken lassen. Sie stützte sich auf die Ellbogen und schaute sich um, konnte jedoch nichts Ungewöhnliches entdecken. Ein leises Schnarchen kam aus der Ecke rechts von ihr, ein Schmatzen von links neben ihr, wo sich der dicke Emmrich hingelegt hatte, der in der Nacht näher gerückt war. Vielleicht war es seine Wärme gewesen, die Laila aufgeweckt hatte, oder sein Atem in ihrem Ohr. Ihr war das unangenehm. Vorsichtig rückte sie ein Stück weit in die andere Richtung und stieß dort an Irene, was ihr lieber war. Offenbar hatte die Freundin sich nicht neben Reginald legen wollen in dieser Nacht, obwohl sich die beiden das Lager häufig teilten. Doch es war beengt in diesem Raum, in dem man den Boden mit frischem Stroh ausgelegt und jedem eine kratzige Decke gegeben hatte. Dieses Gasthaus lag mitten in der Stadt, man merkte es am geringen Platz, den man ihrer elfköpfigen Gruppe zu Verfügung gestellt hatte. Hier war es nicht so wie bei den Herbergen auf dem Land mit ihren großzügigen Räumlichkeiten. Aber sie hatten es sauber und einigermaßen warm, was wollte man mehr.

Am Abend hatten sie bis spät in die Nacht im Wirtsraum für die Gäste musiziert. Der Wirt kannte Reginald offenbar gut, also hatte ihr Anführer ausnahmsweise einmal nicht geschwindelt, als er ihnen versprochen hatte, für Unterkunft sei gesorgt. Im Gegenzug füllten sie mit ihren Darbietungen die Wirtsstube. Die Stimmung war immer ausgelassener geworden, es floss Bier in Krüge und von dort weiter in trockene Kehlen, Mahlzeiten wurden in Holzschüsseln aus der Küche gereicht. Einer Schankmagd war eine verschwitzte Haarsträhne aus der Haube gerutscht, ohne dass sie es bemerkte.

Das Feuer im Kamin knisterte, wenn der Junge ein Holzscheit nachlegte. Er saß daneben, mit von der Hitze gerötetem Gesicht, stocherte mit dem Schürhaken in der Glut und achtete auf den Gewürzwein, der in einem Kessel daneben stand. Ab und an griff er sich einen Korb und lief nach draußen in den Hof, um neues Holz zu holen. Immer, wenn er zurückkam, leuchteten seine Wangen vor Kälte. Laila hoffte, er würde sich im Flur in einen wärmenden Umhang hüllen, bevor er hinausging. Dieser ständige Wechsel zwischen Hitze und Kälte konnte einen umbringen, wenn man nicht auf sich achtgab.

Sie hatte Flöte gespielt, Reginald trug seine Spottlieder vor, in den Pausen führten die Frauen Tänze auf. Alles in allem hatten sie den Besuchern so gute Unterhaltung beschert, dass sie sich erst weit in der Nacht zur Ruhe begeben konnten. Zwei der Gäste mussten abgewehrt werden, weil sie wie so viele glaubten, wenn Frauen ihren Körper mit offenem Haar im Tanz wiegten, dann seien sie auch für andere Dinge käuflich. Reginald duldete so etwas nicht, und er wies die Männer mit seiner üblichen Spitzzüngigkeit in ihre Schranken. Sie waren anständige Spielleute, das sollte sich jeder merken.

Laila setzte sich noch weiter auf und zupfte sich die Strohhalme aus dem Haar. Im Raum war es dämmrig, nur wenig Morgenlicht drang durch die Ritzen der geschlossenen Fensterläden. Es musste noch früh sein. Keiner der anderen regte sich, die Anstrengung der letzten Nacht ließ sie tief schlafen. Nur Laila fühlte sich hellwach. Aus dem Bündel, das neben ihr lag, zog sie einen Knochenkamm. Sie begann unten an den Haarspitzen, erst als die sich locker in ihre Hand legten, setzte sie den Kamm ein Stück weiter oben an. Es dauerte einige Zeit, bis sie sich einen Zopf flechten und die Haube aufsetzen konnte. Dann erhob sie sich.

Bemüht, auf keinen Arm oder Bein zu treten, stieg sie über die Körper der Schlafenden am Boden hinweg. Bei der Tür angelangt, genügte es, sie ein Stück weit zu öffnen, um durchzuschlüpfen. Leise drückte sie die Tür wieder zu und lauschte. Offenbar hatte sie niemanden geweckt.

Auch im Flur war es ruhig. Die Dielenbretter knarrten, als sie zur Treppe ging. Von unten aus dem Schankraum roch es abgestanden nach verbrauchter Luft und verschwitzten Körpern, nach kalter Bohnensuppe und verschüttetem Bier. Gestern war ihr das gar nicht so sehr aufgefallen, aber heute empfand sie es als unangenehm. Die Tür stand offen, das sah Laila, als sie über die Stiege in den unteren Flur gelangte. Sie wandte sich nach hinten, zum Hof des Gasthauses. Die Hintertür war mit einem Riegel gesichert, der ein schabendes Geräusch verursachte, als sie ihn zur Seite schob. Die Tür ließ sich nun aufziehen und herein kam kalte Luft, die sich frisch auf Lailas Gesicht anfühlte. Wie eisklares Wasser aus einem Gebirgsbach. Sie blinzelte. Tatsächlich hatte draußen gerade die Dämmerung eingesetzt. Der Himmel färbte sich rot von der aufgehenden Sonne. Laila fand es irritierend nach der langen Zeit auf dem Land, nun nicht mehr den Stand der Sonne sehen zu können, weil die Häuser ihr lediglich ein kleines Blickfeld auf den Himmel ließen.

Sie sah sich um und entdeckte einen Brunnen in der Mitte des Hofes. Dahinter schlossen sich Stallungen an, unter einem Dach hing Wäsche an einer Leine, die sicher nicht nass gewesen war, als man sie dort aufhängte, sonst wäre sie über Nacht gefroren.

Laila nahm den Eimer und ließ ihn am Seil nach unten. Sie machte behutsame Bewegungen, damit er nicht allzu sehr gegen die Brunnenwand polterte. Unten angekommen ließ sie ihm Zeit, im Wasser zu versinken, dann zog sie ihn über die Winde wieder hoch. Zuerst trank sie ein paar Schlucke und wischte sich mit den Fingern über die Zähne, spülte mit Wasser nach. Dann wusch sie sich mit Kernseife Gesicht, Arme und Hände. Das eiskalte Wasser auf ihrer Haut tat weh. Das Gefühl ging über in dumpfe Taubheit, ihre Haut färbte sich rot. Zuletzt nahm sie die Haube ab, löste den Zopf und seifte ihr Haar ein. Sie tat gut, diese Kälte. Sie vertrieb die letzte Müdigkeit aus ihrem Körper. Als sie fertig war, schüttete sie das restliche Wasser über ihre Haare. Nun fühlte sie sich bereit für diesen Tag.

Zurück im Haus stibitzte sie aus der Küche ein Stück trockenes Brot und einen Becher Milch, hielt ihr nasses Haar an den noch warmen Herd, um es zu trocknen. Die anderen würden sicher noch eine Weile weiterschlafen und das war gut so. Es gab Laila die Möglichkeit, unbehelligt ihre Mutter zu besuchen. Die begann ihr Tagwerk immer mit dem ersten Licht des Morgens, also war sie sicher schon aufgestanden.

Irene würde sich denken können, wo sie hingegangen war, also entschied sie sich dagegen, Bescheid zu geben. Sie spülte den Becher aus, nahm ihren Umhang, zog ihn sich über die Schultern und trat auf die Gasse vor dem Haus. Zögernd blieb sie stehen, um sich zu orientieren. Sie hatte sich den Weg vom Münster am Tag davor gemerkt, doch im ersten Moment wusste sie nicht, ob sie sich nun nach rechts oder links wenden musste.

»Kann ich Euch helfen?«

Der Mann, der sie so unvermittelt angesprochen hatte, kam ihr bekannt vor. Woher, das wusste sie nicht. War er am Abend unter den Gästen gewesen? Hoffentlich nicht einer der aufdringlichen. Sie hatte das Gefühl, dass er vor dem Haus auf sie gewartet hatte.

»Ich würde Euch gerne ein Stück begleiten.«

Sein forschender Blick wanderte über ihr Gesicht, so als wolle er sich vergewissern, dass er mit der Richtigen sprach. Laila blickte sich um. Als sie hinter ihm den Erker des Hauses an der nächsten Ecke sah, wusste sie auf einmal wieder, in welche Richtung sie gehen musste. Sie setzte sich in Bewegung, in der Hoffnung, der Mann würde sich schon abschütteln lassen, sobald sie den Münsterplatz erreicht hatten. Er ging neben ihr, nicht zu dicht, aber doch so, dass sie seine Nähe spüren konnte. Sie entschied, nichts zu sagen und abzuwarten.

Sie waren vielleicht zwanzig Schritte gegangen, da stellte er sich als Johann vor. »Ihr seid die Flötenspielerin vom Marktplatz.«

Als er das sagte, wusste Laila wieder, woher sie ihn kannte. Er war der unscheinbare Mann, der die reiche Frau begleitet hatte, mit der sie am Tag zuvor zusammengestoßen war. Wenn er sich nun nachträglich in ihrem Namen beschweren wollte, würde es ungemütlich für sie werden.

»Was wollt Ihr?«, fragte sie deshalb und konnte einen missmutigen Unterton nicht verhindern.

»Ihr spielt nicht nur die Flöte, sondern tanzt auch, seid es gewohnt, Euch vor anderen sicher zu bewegen?«

»Wie man es nimmt.« Laila zog an ihrem Umhang, obwohl er richtig saß.

»Bekommt Ihr viel Lohn?«

Wenn er ihr die Rechnung für ein zerrissenes Kleidungsstück überreichen oder eine Entschädigung einfordern wollte, dann würde dieser Aufenthalt in Ulm zu einem Reinfall für Laila werden. So viel würde sie hier nicht verdienen, um diese Kosten ausgleichen zu können. »Nicht wirklich«, antwortete sie deshalb. »Wisst Ihr, wir spielen meist auf Dorffesten, ganz selten mal in einem größeren Gasthaus, das am Wegesrand liegt. Wir sind zu elft und müssen uns alles teilen, da bleibt nicht viel. Wir hungern nicht … nun, im Winter schon.« Sie probierte einen demütigen Blick von unten und musste dafür unmerklich in die Knie gehen, weil er nicht sehr viel größer war als sie selbst. Sie war sich sicher, dass ihre Bemühungen ihr Ziel nicht verfehlen würden. Und wenn doch, so würde sie als Bezahlung einen exklusiven Vortrag mit der Flöte vorschlagen. Sie sah das Gesicht der Frau vor sich, wie sie da stand und der Musik lauschte. Es hatte ihr gefallen, ganz bestimmt.

»Ihr könntet Geld verdienen, ich hätte da was für Euch.«

Überrascht blieb Laila stehen. »Was?«

»Könntet Ihr Euch vorstellen, nun, sagen wir, eine Aufgabe zu übernehmen, die etwas ungewöhnlich ist?« Er zögerte. »Nur Ihr allein.«

Laila sah ihr Gegenüber durchdringend an. Was wollte dieser Kerl ihr sagen? Warum sprach er nicht geradeheraus? »Ich bin eine Flötenspielerin und nur weil ich zu einer Gruppe von Spielleuten gehöre, heißt das nicht, dass ich meinen Körper verkaufe. Wenn Ihr eine Hure braucht, geht ins Hurenhaus. Wenn Ihr eine Tänzerin braucht, die unanständig für Euch tanzt, so findet Ihr gewiss eine in diesen Tagen in Ulm, aber nicht bei uns. Wir sind anständige Spielleute. »

»Ihr habt mich missverstanden.«

»Ach ja?« Laila setzte sich wieder in Bewegung. Sie mahnte sich selbst zur Vorsicht.

»Mich schickt Frau Dietlind Nehlin. Es steht eine Tanzveranstaltung an, bei der sie nicht teilnehmen möchte. Sie sollte es aber. Ihr wisst es vielleicht nicht, aber in den gehobenen Schichten gibt es gewisse Regeln. Da der Ehemann sich auf Reisen befindet, sollte wenigstens einer von beiden der Höflichkeit halber anwesend sein. Ihr könntet sie vertreten.«

Dieses Angebot hörte sich derart merkwürdig an, dass Laila abwog, ob sie vielleicht gerade auf den Arm genommen wurde. »Ich soll eine reiche Ulmerin beim Tanz vertreten?« Wie um Himmels Willen sollte das vonstatten gehen? Vielleicht war es ein Maskenball? Es entstand eine Pause, in der sie überschlug, wie viel sie für eine solche Aufgabe würde verlangen können. Sie hatte keine Erfahrung damit, so etwas verhandelte Reginald immer für die ganze Gruppe. Deshalb kam sie nicht weit.

»Sehe ich ihr denn ähnlich?«, fragte sie, um ihre Unsicherheit zu überspielen.

»Aber gewiss«, antwortete Johann. »Sehr. Das ist mir auf dem Marktplatz, als ich Euch zum erstem Mal sah, gleich aufgefallen.«

»Und diese Ähnlichkeit wollt Ihr Euch nun zunutze machen.«

»Ihr dürft mit großzügiger Entlohnung rechnen. Eure Auftraggeberin ist aus reichem Haus. Sie hat wenig Freude an den ständigen gesellschaftlichen Verpflichtungen.«

Er schien es ernst zu meinen. Laila beschloss, dass es nicht schaden konnte, mehr darüber zu erfahren. Wenn sie es geschickt anstellte und ihn auf keinen Fall spüren ließ, wie unsicher sie in Geldfragen war, würde sich vielleicht ein gutes Sümmchen verdienen lassen.

Kapitel 3

Am Münster hatte sich Laila von Johann verabschiedet mit der Vereinbarung, dass er am folgenden Morgen wiederkommen würde. Bis dahin müsse sie sich entschieden haben, ob sie die Aufgabe annehme oder nicht. Wenn sie ganz ehrlich war, dann wusste sie nicht, was sie von alldem halten sollte. Das alles hörte sich so verrückt an.

Je weiter Laila sich vom Münsterplatz entfernte, desto enger wurden die Gassen, die Häuser rückten dichter aneinander. Doch sie bemerkte es kaum, so sehr fesselte sie der Gedanke an das Gespräch mit diesem Johann. Erst als die Umgebung immer ärmlicher wurde, fiel ihr auf, dass sie fast am Haus ihrer Mutter angelangt war. Auf dem Lehmboden des Weges lag gefrorener Unrat. Laila erinnerte sich an den Gestank, den er im Sommer verursachte, hier im armen Viertel Ulms, in dem nur selten jemand unterwegs war, um Ordnung zu halten. Im Winter schon gar nicht. Damals, als sie hierher gezogen waren, hatte sie sich an den Geruch erst gewöhnen müssen. Eine Tochter eines anständigen Buchbinders verirrte sich normalerweise nicht hierher. Nicht, wenn sie nicht musste.

Ein Straßenköter kläffte ihr entgegen, doch sie beachtete ihn nicht. Stattdessen musste sie erneut an Johann und sein verlockendes Angebot denken. Ob es ihr vielleicht ungeahnte Möglichkeiten eröffnen würde, mithilfe dieser Frau noch mehr Geld zu verdienen? Wenn sie sich nur einigermaßen geschickt anstellte und niemand etwas bemerkte? Sie musste Irene davon erzählen.

Ein Bursche kam ihr entgegen, er trug einen großen schweren Korb vor sich her, dessen Inhalt abgedeckt war. Laila wusste, was sich darin befand: das Tagwerk ihrer Mutter vom gestrigen Tag, das der Buchbinder nun abholen ließ. Gleichzeitig hatte er sicher die Arbeit für heute vorbeibringen lassen. Laila grüßte und der Junge nickte freundlich zurück. Sie kannte ihn nicht. Offenbar war er ein neuer Lehrling, vielleicht auch nur ein einfacher Laufbursche. Die Buchbinderei lief laut den Aussagen von Lailas Mutter sehr gut.

Sie arbeitete also immer noch für ihn, den neuen Besitzer von Vaters Werkstatt. Er rühmte sich vermutlich weiterhin, einer armen Frau damit zu helfen, dass er ihr ein Auskommen bot. Dabei war ihre Mutter so exakt und genau, wie es sicher kein Zweiter in der Werkstatt vermochte. Der Lohn, den sie dafür erhielt, war ein Almosen. Von wegen Güte und Großzügigkeit, der Buchbinder konnte froh sein, dass Miltraut keine andere Wahl hatte, als sich zu fügen. Noch nicht.

In der Gasse schmiegten sich zweistöckige Häuser aneinander, bei einem fehlte ein Laden, bei einem anderen blätterte die Farbe ab. Aus manchen stieg nur wenig Rauch aus den Kaminen. Sie mussten sparen in dieser Ecke von Ulm, und Brennholz war wertvoll. Laila hörte ein Hämmern und erblickte eine Leiter, die am Haus ihrer Familie lehnte, und nahezu die ganze Gasse versperrte. Sie führte hoch auf das Dach.

»Bist du da oben, Jabbo?«, rief sie, in der Hoffnung, dass es ihr Bruder war, der auf dem Dach arbeitete. »Ich bin es, Laila!«