Die falsche Wahl - Esther Göbel - E-Book

Die falsche Wahl E-Book

Esther Göbel

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Beschreibung

Eine Frau, die sich dazu bekennt, ihre Mutterschaft zu bereuen. Die sich heute gegen ein Kind entscheiden würde, könnte sie die Zeit zurückdrehen. Eine Frau, die so empfindet, schweigt. Weil sie fürchtet, von anderen verurteilt zu werden. Eine israelische Studie hat das Phänomen der bereuenden Mütter erstmals untersucht. Die Journalistin Esther Göbel hat mit ihrem Artikel über diese Studie eine internationale Debatte ausgelöst und Frauen befragt, die sich dazu bekennen, ihre Mutterschaft zu bereuen. Ihr Buch beleuchtet die tieferliegenden gesellschaftlichen Hintergründe des Phänomens und geht der Frage nach, welche Rolle überzogene Ansprüche an Mütter und antiquierte Rollenbilder dabei spielen.

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Esther Göbel

Die falsche Wahl

Wenn Frauen ihre Entscheidung für Kinder bereuen

Knaur e-books

Über dieses Buch

Es ist das letzte große Tabu unserer Gesellschaft: Frauen, die sich dazu bekennen, ihre Mutterschaft zu bereuen. Die auf die Frage, ob sie sich, wenn sie die Zeit zurückdrehen könnten, noch einmal dafür entscheiden würden, ihr Kind zu bekommen, mit »nein« antworten. Wer öffentlich oder auch im Familien- und Freundeskreis solche Gefühle äußert, wird meist als egoistisch, unreif, unweiblich oder krank beschimpft. Die Befindlichkeit dieser Frauen widerspricht dem in unserer Gesellschaft verankerten Ideal der liebevollen, sich selbst aufgebenden Mutter, die bereit ist, alles für ihr Kind zu tun, und für die ihr Kind das größte Glück ist.

Inhaltsübersicht

MottoVorwort1 Was ist regretting motherhood? – Eine Definition2 Mutterschaft ist Ideologie – Frauen in Israel3 Reise zu einem verbotenen Gefühl – Bereuende Mütter in DeutschlandSofiePaulaPetra4 Eine Kuh wird geschlachtet – Die Debatte #regrettingmotherhood5 Eine Idee wird zur Norm – Der deutsche Muttermythos6 Eine Vorstellung wird zur Krux – Die Mär vom Elternglück7 Mutterliebe wird zur Verklärung – Die vermeintliche Natürlichkeit8 Gleichheit wird zum Trugschluss – Mütter im Dilemma9 Ein Trend wird zur Marke – Die neuen VäterSchlusswortDankeWeiterführende Literatur und Links
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Es gibt keine Grenzen.

Weder für Gedanken

noch für Gefühle.

Es ist die Angst,

die immer Grenzen setzt.

 

Ingmar Bergman

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Vorwort

Diese Geschichte beginnt nicht mit Müttern, auch nicht mit Kindern. Sie beginnt mit einer persönlichen Ernüchterung. Ich lebe in einer Großstadt, begreife mich als emanzipiert und gebildet, bin 31 Jahre alt, gesund und damit: eine junge Frau im besten gebärfähigen Alter. Lange Zeit machte diese Tatsache mir nicht zu schaffen; ich lebe schließlich in einer Gesellschaft, die mir die Freiheit lässt, selbst zu entscheiden, ob ich Kinder gebären möchte oder nicht.

Dachte ich.

Erst später sollte ich verstehen. Nämlich ab dem Punkt, an dem ich offen den Gedanken äußerte, vielleicht für immer kinderlos zu bleiben. Freiwillig.

Egal mit wem ich über mein Empfinden sprach, nie durfte der Satz: »Ich möchte vielleicht keine Kinder« einfach so stehen bleiben. Die gemäßigte aller Reaktionen war ein stummer, aber verwunderter Blick, der kein Verständnis spiegelte. Er kam von einem befreundeten Kollegen, der während eines gemeinsamen Mittagessens kurz sein Kauen unterbrach, als ich meine Unschlüssigkeit äußerte. Der Kollege sah mich wortlos an, murmelte etwas Unverständliches in seinen Teller und bearbeitete weiter seine Nudeln.

Die moderatere Antwort erhielt ich von einer guten Freundin, Mitte 30, Mutter zweier Töchter: »Ach, da wächst du schon noch rein!«, sagte sie, machte eine abwinkende Handbewegung und lächelte generös das Lächeln der Erfahrenen – als ob mein bis dato schwankender Kinderwunsch eine zwangsläufig nach oben verlaufende Linie wäre, die mit dem Alter auf der Skala der Sehnsüchte kontinuierlich ansteigt, und meine Zweifel lediglich eine überflüssige Laune, die sich einfach so wegwischen ließe.

Die heftigste Reaktion jedoch äußerte eine andere Freundin, genau wie ich 31 Jahre alt. Wir kennen uns seit zehn Jahren, sie ist selbstbewusst, emanzipiert und ungebunden. Meine Freundin lässt sich von niemandem diktieren, was sie zu tun oder zu lassen hat – und dann sagte sie zu mir: »Jede Frau hat die gesellschaftliche Pflicht, ein Kind zu gebären.«

 

Dieser Satz änderte etwas. Und meine anfängliche Ernüchterung steigerte sich in Empörung. Plötzlich verstand ich, dass ich als junge Frau so frei, wie ich zu sein glaubte, gar nicht bin. Da ist dieser Druck, als Frau einem Bild entsprechen zu müssen, das in unserer Gesellschaft noch immer eng mit dem Muttersein verknüpft ist. Frauen sollen Kinder gebären. Nach wie vor stellt diese Forderung das Leitbild dar.

Und es dämmerte mir: Wenn schon ich als kinderlose Frau einen gesellschaftlichen Erwartungsdruck verspüre, wie müssen sich dann erst Mütter fühlen? Von denen gefordert wird, dass sie ihre Kinder wenn schon nicht abgöttisch, dann zumindest bedingungslos lieben, dass sie stets glücklich sind, dass sie ihre Entscheidung, Nachwuchs bekommen zu haben, niemals hinterfragen, geschweige denn bereuen dürfen?

Denn Muttersein ist wunderschön, das größte Glück auf Erden. Zumindest laut der gängigen Norm. »Vermehret euch und zweifelt nicht!« So lautet der allgegenwärtige Imperativ an Frauen. Deutschland hat eine kinderlose Kanzlerin, die oft die mächtigste Frau der Welt genannt wird. Die Geburtenrate in Deutschland pendelt auf einem konstant niedrigen Level, sogar auf dem niedrigsten weltweit.[1] Und doch: Kinderwunsch und Mutterglück sind noch immer das Maß, mit dem sich Frauen hierzulande vermessen lassen müssen und meist auch selbst vermessen.

Ich fragte mich also: Sollten wir im Jahr 2016 nicht viel weiter sein? Sind wir wirklich so emanzipiert, wie wir glauben?

 

Der bestehenden Norm zufolge ist jede Frau eine Mutter. Und die ist angeblich niemals zweifelnd, sondern immer zufrieden. Dass diese Norm jedoch mit der Realität kollidiert und Mütter auch anders empfinden können, trug ich als stumme Ahnung lange mit mir herum. Ab und zu versuchte ich, mit befreundeten Müttern über meine Gedanken zu sprechen. Sicher, manchmal waren die Kinder anstrengend, oft fehlte der Schlaf, sagten sie. Aber die Conclusio blieb immer dieselbe: Natürlich war Frau überglücklich mit der Mutterrolle. Damit war das Gespräch in der Regel beendet.

Über die negativen Seiten dieser Rolle zu sprechen hatten meine Freundinnen nicht gelernt. Zu schwer wog der Druck von außen, zu sehr beäugten sie sich gegenseitig. Denn in der Wertung der öffentlichen Meinung ist die Frau, die Ambivalenz gegenüber ihren Kindern fühlt oder die es gar wagt, ihre eigene Entscheidung kritisch zu hinterfragen, unweiblich, egoistisch, fehlerhaft, unreif, karrieregeil, zu verkopft oder zu verwöhnt. Und wenn all das noch immer nicht reicht, haut man ihr eben den Stempel »gestört« auf den nachdenkenden Kopf.

Und doch gibt es die negativen Seiten des Mutterseins: den Druck der Verantwortung, den Verlust von Selbstbestimmung und Freiheit, die Überforderung, die fehlende Zeit für sich selbst, die Neuordnung mit dem Partner, die teils irreversible Veränderung des eigenen Körpers, ein chronisches Schlafdefizit, die Wut über eine vielleicht mangelnde Unterstützung, die ständige Sorge um das eigene Kind, die Unsicherheit und die Zweifel, eine gute Mutter zu sein, die große Anstrengung, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren, der ständige Stress, die Trauer darüber, das alte Leben aufgegeben zu haben für ein neues, das vielleicht hinter den Erwartungen vor der Geburt zurückbleibt.

Ich fühlte mit meinen Freundinnen. Und so hielt meine Skepsis an.

 

Dann stieß ich auf eine wissenschaftliche Studie aus Israel. Die Soziologin Orna Donath erforscht darin eine Beobachtung, die sie mit den Worten »regretting motherhood« betitelt, was übersetzt so viel bedeutet wie »die Mutterschaft bereuen«: Sie befragte 23 israelische Mütter im Alter von Mitte 20 bis Mitte 70 in intensiven Interviews zu ihren Gefühlen gegenüber der eigenen Mutterrolle. Allen Frauen stellte Donath die Frage: »Wenn Sie die Zeit zurückdrehen könnten, würden Sie dann noch einmal Mutter werden, mit dem Wissen, das Sie heute haben?« Alle Mütter, sosehr sie sich auch in ihren persönlichen Koordinaten unterschieden, antworteten auf dieselbe Weise: »Nein.«

Ich las die Studie einmal, zweimal, ich hatte noch nie vorher von Müttern gehört, die ihre Mutterrolle bereuten. Doch je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr gärte in mir die Frage: Jede Entscheidung im Leben ist der Gefahr von möglicher Reue ausgesetzt – wieso also sollte ausgerecht eine der existentiellsten Entscheidungen im Leben einer Frau, nämlich ein Kind zu bekommen, von Reue ausgenommen sein?

Ich las die Studie ein drittes und viertes Mal, weil ich verstehen wollte, was das Phänomen ausmacht und wie das Tabu mit unserer Zeit verknüpft ist. Auch, wie es mich selbst als kinderlose Frau betrifft. In meine persönliche Empörung mischten sich Fragen nach der gängigen Norm, nach dem gültigen Frauen- und Mutterbild. Ich beschloss, einen Artikel zu der Thematik zu schreiben. Der Text erschien in der Oster-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung – und sorgte für Aufregung: Innerhalb weniger Tage erreichte der Artikel online mehrere Hunderttausend Klicks, auf Facebook wurde der Text über das Profil der Süddeutschen Zeitung so oft kommentiert, dass ich irgendwann vor der schieren Anzahl der Kommentare kapitulierte. Das ZDF-heute-journal griff das Thema in der ersten Woche nach Ostern in seiner Sendung auf, Moderator Claus Kleber sagte: »Ich bin sicher, das ist nicht der letzte Beitrag zu diesem Thema.«

Er sollte recht behalten: Die klassischen Printmedien zogen nach, die Mütterblogs im deutschsprachigen Raum diskutierten zu diesem Zeitpunkt längst; unter dem Hashtag #regrettingmotherhood fand sich das Thema bald auch bei Twitter. Das Phänomen der bereuenden Mütter erhitzte die Gemüter. Eine Debatte war losgetreten. Nicht nur online, nicht nur in den Medien. Auch unter Müttern und jungen Frauen im realen Leben.

Seitdem weiß ich: Es gibt Redebedarf. Bei allen Müttern, die nicht der gängigen Norm nach empfinden, sich aber scheuen, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Dieses Buch will sich jedoch nicht nur an jene Mütter wenden, die den Extremfall ihres Unglücks fühlen, die Reue. Sondern auch an solche, die ihre persönliche Erfüllung nicht automatisch in stundenlangen Still- oder Spielplatzsitzungen finden, obwohl sie ihr Kind lieben. Und die manchmal Verzweiflung und Wut darüber spüren, dass sie nicht nur durch ihr Kind fremdbestimmt werden, sondern vor allem durch ein Rollenbild, das ihnen vorschreibt, wie sie sich zu fühlen haben.

 

Menschen unterscheiden Erlebnisse und Geschehenes seit jeher in schwarz und weiß, gut und böse, normal und anormal, richtig und falsch. Weil diese Kategorisierungen eine vermeintliche Sicherheit versprechen in einer Welt, die nie einfach nur schwarz oder weiß, gut oder böse, normal oder anormal und richtig oder falsch ist. Trotzdem schaffen wir solche Kategorien. Weil wir sonst in dieser schwierigen Welt nicht bestehen könnten. Wir wünschen uns einfache und eindeutige Antworten, vor allem bei komplexen Fragestellungen. Doch wenn die Recherche an diesem Buch eines deutlich macht, dann die Erkenntnis: Mutterschaft und damit verbundene normative Gefühle wie Mutterliebe und Reue sind ein extrem vielschichtiges Thema, bei dem es keine einfachen Antworten gibt.

Deswegen verfolgt dieses Buch keinen universal gültigen Wahrheitsanspruch, einem naturwissenschaftlichen Beweis gleich. Es verweigert sich einfachen Kategorisierungen; wer nach den Ursachen für das Phänomen regretting motherhood sucht, wird die eine Erklärung nicht finden. Genauso wenig will dieses Buch glücklichen Müttern ihr Glück absprechen oder Frauen ihren Kinder- und Familienwunsch ausreden, denn das wäre schlicht eine Anmaßung. Beides, sowohl Mutterschaft als auch Familie, macht sehr viele Menschen sehr glücklich. Die folgenden Seiten sollen vielmehr eine Suche nach möglichen Antworten sein. Sie sollen den vorliegenden Diskurs genauer betrachten und in eine konstruktive Richtung lenken.

Ich möchte die bereuenden Mütter verstehen lernen und erkennen, welche Geschichte sich hinter ihrer Scham über die gefühlte Reue verbirgt. Es drängt sich außerdem die Frage auf: Wieso stellen bereuende Mütter und jene, die auch nur ambivalente Gefühle ihrer Rolle gegenüber hegen, ein solches Tabu dar? Wieso dürfen Frauen mit Kindern nicht über die negativen Seiten ihrer Rolle sprechen? Wo doch Muttersein nicht nur großes Glück bedeuten kann, sondern auch: Anstrengung, Verzicht, Unsicherheit. Es gibt diese ambivalenten Gefühle bei Müttern, sie sind sogar normal. Jeder Bindungsforscher und jede Entwicklungspsychologin wird das bestätigen. Was es bis dato nicht gibt: eine Redenskultur sowie einen öffentlichen Raum der Akzeptanz.

Wir wissen wenig über bereuende Mütter und über die Ursachen ihrer Gefühle, da die Thematik bis dato im öffentlichen Raum nicht explizit als eigenständiges Phänomen benannt und betrachtet wurde. Mütter, die mit ihrer Rolle hadern, sprechen nicht darüber. Negative Gefühle sind von der Gesellschaft in Bezug auf Mütter und ihre Kinder nicht erwünscht. Hinter vorgehaltener Hand aber wartet nicht selten ein riesiges Konglomerat aus Erschöpfung, Unsicherheit und Wut. Und so vermischt sich in dem Begriff regretting motherhood ein persönliches Gefühl mit einer gesellschaftlichen Problematik. Eben weil das so ist, muss die Betrachtung des Phänomens auch auf verschiedenen Ebenen verlaufen. Unwiderrufliche Reue mag ein Extrem sein, aber sie rührt an die Sorgen und Ängste vieler Frauen. Wer ihre Nöte verstehen will, muss deswegen fragen, wie die unterschiedlichen Ebenen zusammenhängen. An welchen Stellen also das persönliche Gefühl die individuelle Ebene verlässt und vielmehr in einem gesellschaftlichen Kontext betrachtet werden muss. Nur in diesem Spannungsfeld macht eine Diskussion Sinn.

Es braucht zunächst eine klare Definition des Begriffs (Kapitel 1), doch sie allein reicht nicht aus. Ebenfalls wäre es unzureichend, lediglich die persönliche Geschichte bereuender Mütter wiederzugeben (Kapitel 3). Auch darf die Tatsache nicht außer Acht gelassen werden, dass die soziologische Studie Orna Donaths aus Israel stammt. Wer differenziert analysieren will, muss über die Ausgangsstudie hinaus fragen: Wie sieht die Situation von Frauen in Israel im Vergleich zu derjenigen von Frauen in Deutschland aus (Kapitel 2)? Wie ist der deutsche Muttermythos entstanden, und wieso können wir uns nur so schwer von ihm lösen (Kapitel 5)? In welcher sozialpolitischen Realität finden sich Frauen hierzulande wieder (Kapitel 6)? Mit welchen Begriffen wird sprachlich operiert, wenn von »natürlicher Mutterliebe« die Rede ist (Kapitel 7)? Wie geht es den Müttern in diesem Land – aber auch den Vätern (Kapitel 8 und 9)? Was muss sich ändern (Schlusswort)? Und vor allem: Was war da eigentlich los, als sich die Debatte rund um das Thema regretting motherhood im Frühjahr 2015 derart erhitzte, als hätte das Thema lange im Dampfdrucktopf vor sich hin gegart und nur darauf gewartet, dass jemand den Deckel lüftet? Wieso ereiferten sich so viele – wegen 23 anonymer Mütter (Kapitel 4)?

Genau das ist die Kernfrage, in der sich die individuelle Geschichte einzelner Betroffener mit der gesellschaftlichen Ebene verknüpft. Es ist diese Frage, die erklärt, warum das vorliegende Buch sich nicht nur an Mütter richtet. Sondern auch an kinderlose Frauen im besten (gebärfähigen) Alter.

 

Wer sich die Debatte #regrettingmotherhood genauer anschaut, stellt schnell fest: Unter den Facebook- und Twitter-Kommentaren fanden sich nicht nur erleichterte Worte von betroffenen Müttern, sondern auch verurteilende und sogar hetzende Aussagen. Die aber helfen niemandem weiter. Wir sollten daher vorsichtig sein mit den gewählten Begrifflichkeiten. Und unseren Blick stattdessen fokussieren. Denn die Diskussion, die sich in den Wochen nach Bekanntwerden der israelischen Studie hierzulande entwickelte, war zu weiten Teilen ein Missverständnis.

Über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie wurde in den Kommentarspalten der Zeitungen und sozialen Netzwerken des Internets gestritten. Diese Diskussion wurde schon oft geführt, und sie muss weitergeführt werden, auch im Zusammenhang mit dem Phänomen regretting motherhood. Weil Kinder keine reine Privatangelegenheit von Müttern sind. Doch wer die Diskussion um die bereuenden Mütter allein in den Mantel der fortwährenden Vereinbarkeitsdebatte hüllt, greift zu kurz. Es geht um etwas anderes: darum, eine Norm zu hinterfragen. Um auf diese Weise mit einem der letzten großen Tabus unserer Gesellschaft aufzuräumen: dem Mythos der stets und zwangsläufig glücklichen Mutter, die weder Ambivalenz geschweige denn Reue zeigen darf.

Wie groß dieses Tabu ist, wird auch in der Tatsache deutlich, dass die drei bereuenden Mütter aus Deutschland, die auf den folgenden Seiten zu Wort kommen, nicht unter ihrem wirklichen Namen auftauchen wollten; nur im Schutz der Anonymität waren sie dazu bereit, über ihre Reuegefühle zu sprechen. Die drei Frauen unterscheiden sich in Alter, Wohnort, Anzahl und Alter ihrer Kinder, Bildungs- und Beziehungsstatus, Beruf und persönlicher Sozialisation. Sie sind nicht »verrückt« oder »gestört«, auch nicht »asozial« oder »herzlos«. Es sind Mütter, die aus verschiedenen Gründen nicht in das Korsett unserer gängigen Vorstellungen passen und für die die Mutterrolle deswegen problematisch ist.

 

Die Zeit schrieb in einer Replik auf die #regrettingmotherhood-Debatte: »Über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie wurde viel gesagt. Über die Vereinbarkeit von Mutter und Kind nicht.« Damit trifft Nina Pauer, die Autorin des Textes, den Nagel auf den Kopf. Es geht in diesem Buch nicht um dysfunktionale, »kranke« Mütter, auch nicht im Kern um die Frage, wie eine Frau Kind und Job unter einen Hut bringen kann (obwohl diese Problematik ein Teil der Betrachtung ist). Es geht um die Frage, wie sich das bestehende Frauenbild mit der gesellschaftlich gesetzten Erwartung nach dem großen Mutterglück in Einklang bringen lässt. Denn im Kern dreht sich die ganze Diskussion auch um mehr Freiheit. Für alle Mütter, aber auch für jede andere Frau.

Darum dieses Buch.

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1 Was ist regretting motherhood? – Eine Definition

Ich habe natürlich meine Mutterschaft mal bereut. Jedes Mal, wenn ich meinem Sohn weh tun wollte. Als er ein Baby war und ich alleine, und er hörte nicht auf zu schreien. Er schrie und schrie und ich wollte ihm weh tun, ich wollte, dass er aufhört. Da habe ich meine Mutterschaft mal bereut. Oder jedes Mal, wenn ich dachte, ich sei eine so schlechte Mama, dass es ihm besser ginge, wenn er nicht geboren wäre; besser überhaupt nicht geboren als am Leben mit so einer schlechten Mutter wie mir. Jedes Mal, wenn ich mein Bestes gegeben habe und mein Bestes nicht gut genug war. Oder als mein Ex mich beim Jugendamt verpetzt hat. Oder als mein Sohn mich gebissen hat, wegen einer Club-Penguin-Karte. Als ich so alleine war, alleine und erschöpft. Als ich überfordert war, überfordert und überwältigt, überfordert und alleine.[2]

So beschreibt die in Berlin lebende Autorin Jacinta Nandi die Gefühle für ihren Sohn Lenny. Die Zeilen stammen aus einem Text, den die Bloggerin im Mai 2015 als Teil der #regrettingmotherhood-Debatte im Internet gepostet hatte. Er liest sich, als würde Nandi ihr Kind bereuen. Sie kommt am Ende des Textes aber zu dem Schluss, dass dies gar nicht der Fall sei. Die Worte sollen lediglich ihre Gefühle in bestimmten Situationen wiedergeben und ihre Überforderung als Mutter in diesen Situationen beschreiben. Nandis Zeilen sind Schnappschüsse, Momentaufnahmen mütterlicher Ambivalenz. Wenn aber Nandi laut Selbstauskunft keine bereuende Mutter ist, welche Frau ist es dann? Wo fängt das Phänomen regretting motherhood an, und wo hört es auf? Was unterscheidet mütterliche Reue von mütterlicher Ambivalenz oder auch von postpartaler Depression? Wo verlaufen die Grenzen? Und wieso bereuen manche Frauen ihre Mutterschaft, obwohl sie ihre Kinder lieben? Beziehungsweise: Wie geht beides überhaupt zusammen?

Wir wissen wenig über die mütterliche Reue, weil sie bislang wissenschaftlich nicht in breitem Rahmen untersucht wird. Grund dafür mag auch der negative Beigeschmack sein, den das Thema bei vielen hervorruft. Offensichtlich stößt der Gedanke, Frauen könnten ihre Mutterschaft nachhaltig bereuen, derart bitter auf, dass bislang abgesehen von einer Forscherin aus Israel schlicht niemand auf die Idee gekommen ist, das Phänomen wissenschaftlich zu beleuchten. Die Entwicklungspsychologie beispielsweise konzentriert sich eher auf pränatale Angst oder postpartale Depression von Frauen. Auch in der Soziologie und der Anthropologie hat man die bereute Mutterschaft nie groß verfolgt, genauso wenig in den Genderwissenschaften. Langzeitstudien und quantitative Untersuchungen fehlen bisher. Wie wichtig aber eine möglichst genaue Begriffsdefinition ist, zeigt die Debatte, die im Frühjahr 2015 entbrannte: Wild flogen die verschiedenen Begriffe durcheinander, in einem schwammigen Konglomerat jagte eine Mutmaßung die nächste; die meisten Kommentatoren vermuteten bei den bereuenden Müttern schlicht ein pathologisches Problem. Leider hatten sie vergessen, den Begriff regretting motherhood auf eine bestimmte Definition hin zu eichen. An der israelischen Ausgangsstudie wollten sie sich auch nicht orientieren.

Dabei liefert Orna Donath, Soziologin an der Universität Tel Aviv und Verfasserin eben jener Studie, eine klare Bestimmung dessen, was sie mit den Worten »regretting motherhood« zusammenfasst:[3] Sie definiert solche Frauen als bereuende Mütter, die von sich sagen, sie liebten ihr Kind oder ihre Kinder – die sich gleichzeitig aber in ihrer Mutterrolle so unglücklich fühlen, dass sie den Schritt, ein Kind bekommen zu haben, zutiefst bereuen. Nicht nur in den ersten schwierigen Wochen und Monaten nach der Geburt, was das Phänomen von der postpartalen Depression abgrenzt. 13 bis 19 Prozent aller Mütter zeigen vier Wochen bis zu ein Jahr nach der Geburt depressive Symptome wie beispielsweise Angst, Schlaflosigkeit, Traurigkeit, Panikattacken oder Schuldgefühle.[4] Die postpartale Depression ist als Krankheit anerkannt; wird sie richtig und frühzeitig behandelt, sind die Heilungschancen gut.

Die mütterliche Reue aber ist keine Krankheit. Sie tritt auch nicht ausschließlich in bestimmten Momenten auf, was sie von ihrer Schwester, der mütterlichen Ambivalenz, unterscheidet. Die Reue der befragten Mütter begleitet die betroffenen Frauen nachhaltig. Und zwar so sehr, dass sie die Geburt ihrer Kinder rückgängig machen würden, wenn sie nur könnten. Das ist der große Unterschied zu postpartaler Depression und mütterlicher Abivalenz: Keines dieser beiden Phänomene beinhaltet zwingend eine gedankliche Auseinandersetzung der betroffenen Frauen mit ihren Gefühlen. Die mütterliche Reue aber erfordert ein Mindestmaß an Reflexion; nur, wer sich mit früheren Entscheidungen gedanklich auseinandersetzt, kann im Anschluss sagen, dass sie oder er bereut.

 

Für ihre Studie hatte Donath 23 israelische Mütter im Alter von Mitte 20 bis Mitte 70 in langen Interviews zu ihren Gefühlen gegenüber der eigenen Mutterrolle befragt. Der Großteil der Frauen stammte aus der Mittelschicht, manche hatten ein Kind, andere mehrere, manche waren alleinerziehend, andere nicht. Fünf der Probandinnen bezeichneten sich als atheistisch, zwölf als säkular, drei ordneten sich verschiedenen religiösen Sektoren zu, die restlichen drei wollten sich keiner eindeutigen religiösen Strömung verschreiben. Elf der befragten Frauen hatten ein Studium abgeschlossen, acht die Highschool besucht, drei eine professionelle Ausbildung durchlaufen, eine Befragte studierte noch. Fünf der Frauen hatten Methoden der künstlichen Reproduktionstechnologie genutzt, um schwanger zu werden.

Acht Probandinnen waren verheiratet oder lebten in einer langjährigen Beziehung, vierzehn waren geschieden oder vom Partner getrennt, eine der Befragten war verwitwet. Bei einigen Probandinnen kümmerte sich hauptsächlich der Vater um Kinder und Haushalt, in anderen Fällen lebte der Nachwuchs ganz beim Vater. Das Alter der Kinder lag zwischen einem und 48 Jahren, einige waren also schon erwachsen und zum Teil selbst Eltern. Keines der Kinder wies eine physische Behinderung auf, fünf von ihnen waren jedoch als betreuungsintensiv charakterisiert worden. Nur ein einziges gemeinsames Kriterium war es, nach dem Donath die Teilnehmerinnen ihrer qualitativen Studie ausgewählt hatte. Alle verneinten die Frage: »Wenn Sie die Zeit zurückdrehen könnten, würden Sie dann noch einmal Mutter werden, mit dem Wissen, das Sie heute haben?«

Die 57-jährige Tirtza etwa findet, ihre Mutterschaft habe ihrem Leben nichts hinzugefügt außer Schwierigkeiten und ständige Sorge. Charlotte, 44, sagt, sie ziehe aus ihrer Mutterrolle keinerlei emotionalen Gewinn. Muttersein »sei halt die Auseinandersetzung mit dem nun mehr Unvermeidbaren«. Und Atalya, 45, beklagt, sie könne einfach nicht verstehen, was andere Mütter meinen, wenn sie von ihren Glücksgefühlen sprächen. Sie empfinde Muttersein als eine Bürde.

Diese Aussagen sind schon deshalb bemerkenswert, weil sie aus dem Mund einer Mutter normalerweise als Kuriosum gelten. Frauen sprechen öffentlich nicht über negative Gefühle in Bezug auf ihr Kind, meistens auch nicht im privaten Umfeld. Dabei kennt jede Mutter Situationen der Überforderung, geprägt von Einsamkeit und Zweifeln. Also Momente, wie Nandi sie treffend beschreibt. Die ambivalenten Gefühle können sogar hilfreich sein, da sie eine intensivere Auseinandersetzung der Mutter mit ihrem Kind erfordern, was letztlich die Bindung zwischen beiden stärkt. Schwierig wird die Ambivalenz der Mutter erst, wenn sie für den Nachwuchs jederzeit spürbar ist.

Dass es jedoch schwer ist, seine Gefühle als Mutter stets zu kontrollieren, weiß jeder, der schon einmal über einen längeren Zeitraum Babysitter war. Kleinkinder und Babys sind rücksichtslos an ihren ureigenen Bedürfnissen orientiert. Sie müssen erst lernen, dass neben den eigenen auch noch die Bedürfnisse anderer existieren. Also fordern sie, unermüdlich. Sie schreien nach Essen, Nähe, Liebe, Aufmerksamkeit, Sorgfalt, Beschäftigung, Geduld und Schutz, später nach Antworten, Einsichten und Erklärungen. Sie fordern und fordern – und manchmal über-fordern sie. In solchen Momenten stellen sich negative Empfindungen ein. In der Regel verflüchtigen diese sich jedoch wieder; es überwiegt trotz aller Anstrengungen und Entbehrungen das Glück über das eigene Kind.

Bei den bereuenden Müttern ist jedoch genau das nicht der Fall. Obwohl auch einige der Frauen aus Donaths Studie positive Aspekte der Mutterrolle anerkennen können (persönliche Weiterentwicklung, herausfordernde Aufgabe oder das Gefühl einer größeren gesellschaftlichen Wertschätzung),[5] fällt ihr Fazit in der Auseinandersetzung mit der eigenen Mutterrolle negativ aus. Sie unterscheiden zwischen Objekt und Erfahrung, also zwischen Kind und Mutterschaft. Im Klartext bedeutet das: Frauen, die ungern Mütter sind, lieben ihren Nachwuchs deswegen nicht weniger. Sie bereuen nicht das eigene Kind, sondern das Muttersein. So sagt die 44-jährige Charlotte in Donaths Studie[6]:

Schauen Sie, es ist kompliziert zu erklären. Ich bereue es, Mutter geworden zu sein, aber ich bereue nicht meine Kinder, wer sie sind, ihre Persönlichkeit. Ich liebe sie. (…) Ich bereue es, Kinder bekommen zu haben und eine Mutter zu sein – aber ich liebe die Kinder, die ich bekommen habe. (…) Ich wünsche mir nicht, dass sie nicht hier wären, ich möchte einfach keine Mutter sein.

Und Tirtza, selbst zweifache Mutter sowie Großmutter, drückt ihre Gefühle folgendermaßen aus:[7]

Ich glaube, ich habe die Entscheidung schon in den ersten Wochen nach der Geburt bereut. Ich sagte, es war eine Katastrophe. Eine Katastrophe. Ich habe sofort verstanden, dass das nichts für mich ist. Mehr noch: Es ist der Alptraum meines Lebens (…). Allein dieses Konzept, wenn ein Kind mich ›Mama‹ nennt. Ich drehe mich um, schaue, welche Mutter gemeint ist. Bis zum heutigen Tag. Ich konnte keine Verbindung herstellen zu dem Konzept, der Rolle, den Konsequenzen dieser (…) Verantwortung und Verpflichtung.

Der erste Impuls verleitet dazu, solche Aussagen als ein individuelles, psychologisches Problem der einzelnen Frauen zu bewerten. Doch Donath schreibt in ihrer Studie, dass keine der Mütter eine auffällige Persönlichkeitsstruktur zeige. Auch gehörten die Probandinnen keinem bestimmten Problemmilieu an. Donath verortet die mütterliche Reue nicht in der Psychologie – sie betrachtet das Phänomen mit dem Blick der Soziologin. Folglich sucht die Wissenschaftlerin nicht nach dem Programmierfehler in der seelischen Software ihrer Probandinnen, also nach eher intrinsischen Ursachen. Donaths Probandinnen sind eben nicht »gestört« oder »abnorm«. »Es sind ganz normale Frauen, die ihre Mutterrolle aber mit einer anderen emotionalen und kognitiven Haltung bewerten, als der soziale Kontext es verlangt«, so die Forscherin.

Mit dieser Aussage hebt sie die mütterliche Reue aus der persönlichen Schmuddelecke heraus in einen normativen Kontext. Donath setzt sich eine feministische Brille auf, durch die jene Fragen rund um das Phänomen in einer veränderten Form erscheinen. So fahndet die Wissenschaftlerin nicht nach der alles erklärenden Ursache für die mütterliche Reue, auch nicht nach dem großen Warum. Sie verschiebt den Blickwinkel und fragt, fast schon mit einer gewissen Koketterie: Warum nicht? »Wenn Reue in der Rückschau theoretisch jeden Lebensbereich, jede menschliche Beziehung und jede Entscheidung berühren kann, wieso dann nicht auch die Mutterschaft?«

Natürlich ist das eine provokante Frage. Sie fordert ihr Gegenüber heraus. Donath tätigt die Provokation als Frau, die von sich selbst sagt, sie sei Feministin. Und die sich freiwillig gegen eigene Kinder entschieden hat. Bevor sie das Thema regretting motherhood untersuchte, beschäftigte Donath sich mit der Frage, warum Frauen und Männer sich bewusst gegen Kinder entscheiden. Auch damals setzte sie sich mit der normativen Ebene auseinander, auf der das Thema Elternschaft und speziell die Mutterschaft Karussell fährt. Donath erforscht mit ihrer Arbeit den kulturhistorischen und soziopolitischen Charakter von Mutterschaft. Dass sie ihre Fragen vor diesem Hintergrund weiterdreht und auf die mütterliche Reue lenkt, scheint fast logisch. Donath will die mütterliche Reue ganz bewusst unter gesellschaftlichen Gesichtspunkten betrachten; als Soziologin ist die Gesellschaft ihr Revier.

Allerdings vernachlässigt die Forscherin die persönlichen Einflussfaktoren der einzelnen Probandinnen. So erfahren wir nichts über die Qualität der Beziehung zwischen den Kindern und ihren bereuenden Müttern. Auch werden keine detaillierteren Informationen zu deren Vorstellung vom Muttersein vor der Geburt der eigenen Kinder wiedergegeben, genauso wenig wie zur eigenen Biographie. Nur in einem einzigen Fall ist zu lesen, dass die Probandin eine schwere Kindheit durchlebt hat und sich durch ihre eigene Tochter an diese erinnert fühlt. Nähere Informationen zu den Partnerschaften der Frauen (falls vorhanden) fehlen ebenfalls. Mutterschaft aber ist immer von verschiedenen Faktoren beeinflusst, natürlich auch von individuellen. Das lässt sich nicht leugnen. Gleichzeitig gilt allerdings auch: Wer glaubt, die Ursache für die Reue bei Müttern allein in deren persönlichem Setting finden zu können, der vergisst den kulturellen Einfluss und die normative Komponente, obwohl beides eng mit dem Thema Mutterschaft verzahnt ist.

Deswegen ist die mütterliche Reue letztlich ein Phänomen, das auf verschiedenen Ebenen betrachtet werden muss: als persönliches Gefühl – aber auch als gesellschaftlicher Diskurs, der eine feministische Grundhaltung einnimmt.

 

Und weil nicht nur Erziehung, individuelle Prädispositionen und persönliche Erfahrungen unser Sein formen. Sondern auch unsere Umgebung uns prägt. Menschen leben in einem sozialen Gefüge und in einem kulturellen Biotop. Was ist Schönheit? Was ist Liebe? Was ist ein Mann? Und was eine Frau? Verschiedene Menschen mögen solche Fragen abweichend voneinander beantworten, doch auch wenn diese Antworten Schattierungen aufweisen, liegt ihnen eine gemeinsame Schablone zugrunde, die uns durch Normen und Bilder jeden Tag gespiegelt wird. Als schön gilt in unserem Kulturkreis eher schlank als adipös; Liebe soll für die meisten leidenschaftlich und monogam sein; ein Mann hat beruflichen Erfolg und weint nicht in der Öffentlichkeit; eine Frau ist hübsch, hat vielleicht beruflichen Erfolg, in jedem Fall aber will sie Kinder bekommen.

Wir entwickeln solche Vorstellungen nicht in völliger Unabhängigkeit von unserer Außenwelt. Unbewusst übernehmen wir Leitbilder, passen uns an Normen an und orientieren uns am Mainstream, selbst wenn wir uns von ihm abgrenzen. Wir sind keine Inseln, die weit voneinander entfernt und ohne jegliche Verbindung zueinander in einem luftleeren Vakuum liegen. Wir sind Individuen, die durch Beziehungen und die Brücken der sozialen Norm miteinander verbunden in ein und demselben Meer kultureller Erwartungen schwimmen. Dicht an dicht, auch wenn wir es gar nicht merken. Was keiner von uns will: in diesem Meer untergehen. Die meisten wollen mit dem Strom schwimmen, am besten vorneweg. Wir brauchen Anerkennung, wollen Erfolg. Also strampeln wir, bemühen uns. Schwimmen schneller, trainieren härter. Fördern die »guten«, die nützlichen Gefühle. Minimieren die »schlechten«, unterdrücken die Zweifel. Erfüllen die Norm.

Doch welches Verhalten sich ziemt und welches nicht, welche Gedanken »normal« sind und welche »krank«, überlegen wir uns nicht allein. Wir erlernen diese Kategorien mit der Sozialisation zum erwachsenen Menschen, vor dem Hintergrund des jeweiligen Kulturkreises, in dem wir leben. Und der hat Mütter, egal ob in Israel oder Deutschland, gelehrt: Kinder machen glücklich. Wer diese vermeintlich universelle Tatsache als Mutter infrage stellt, hat eine Macke. Jede Frau ist zum Muttersein geboren, ist doch logisch, eben durch ihr Geschlecht. Basta.

Nicht erst seit Jahrzehnten, sondern seit Jahrhunderten wird Frauen dieses Mantra ins Ohr geflüstert. Es waren Männer wie Jean-Emmanuel Gilibert, Jean-Jacques Rousseau oder Johann Heinrich Pestalozzi, die den weiblichen Wirkungsraum auf Haus und Kinder beschränkten. Sie zwängten ihre Narration in ein Stützkorsett von Wissenschaft, Religion und Staat und verkauften sie so gut, dass wir mittlerweile vergessen haben, dass es sich bei der viel beschworenen instinktiven Mutterliebe und dem Bild der perfekten Mutter eben nicht um ein Naturgesetz handelt. Sondern um eine verzerrte Erzählung.

Im 21. Jahrhundert sollte jedoch jede Frau ganz für sich allein entscheiden können, ob sie erstens ein Kind bekommen will, und zweitens, wie sie sich mit dieser Erfahrung fühlt. Wie weit wir allerdings von diesem Ideal entfernt sind, zeigt folgendes Gedankenspiel: Jede Frau, die nicht tief in sich die bedingungslose Sehnsucht nach einem Kind verspürt, sondern eher indifferent über ihre Fotpflanzung denkt und sich folglich irgendwann die Frage stellt, ob sie Kinder möchte oder nicht, landet früher oder später bei der Befürchtung: »Was, wenn ich mich gegen Kinder entscheide – und die Entscheidung bereue, wenn es zu spät ist?«

Meistens muss sie sich diese Frage noch nicht mal selbst stellen; sie wird freundlicherweise von außen an die Zweifelnde herangetragen, als eine Art subversive Drohung. Von Freundinnen, die schon Kinder haben, von der eigenen Mutter, von Tanten und Onkel, die alle versichern, wie die eigenen Kinder jeden einzelnen Tag bereichern würden, ach, wie arm einem das Dasein in kinderlosen Zeiten rückblickend vorkomme.

Man möge es ihnen von Herzen gönnen. Und überhaupt: Die Eltern, Freunde, Tanten und Onkel meinen es gut. Trotzdem machen sie die oben erwähnte Befürchtung mit ihren Aussagen zu einer rhetorischen Fangfrage, weil sie keinen Widerspruch dulden und die Antwort somit längst gegeben scheint: Natürlich wird eine Frau die selbst gewählte Kinderlosigkeit in jedem Fall bereuen, so die implizierte Schlussfolgerung. Dass es aber auch anders kommen könnte, ja dass sogar die umgekehrte Situation eintreten, also eine Frau die Entscheidung für Kinder in ihrem späteren Leben bereuen kann, kippt bei der Überlegung der meisten Menschen hinten über. Diese Option wird nie an einen herangetragen. Zumindest hat keiner meiner engsten Vertrauten aus dem Familien- und Freundeskreis, mit denen ich meine Zweifel zur Kinderfrage besprach, jemals den Satz formuliert: »Aber was ist, wenn du dich für ein Kind entscheidest – und die Sache am Ende bereust, wenn das Kind da ist?«

So sehr haben wir die Erzählung vom perfekten Mutterglück verinnerlicht: Als ob es die Möglichkeit der mütterlichen Reue gar nicht gäbe, wenn wir sie einfach nicht ansprechen.

Und so wird das Gefühl der Reue zum Druckmittel. Kein Mensch will Entscheidungen bereuen. »Reue fühlt sich schlecht an, weil sie ein falsches Verhalten impliziert«, schreiben Neal J. Roses and Amy Summerville in einer wissenschaftlichen Publikation aus dem Jahr 2005.[8]