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»Welche Farben hat der Regen?« – »Die Farben unserer Träume, wenn du in meinen Armen liegst.«
München, 1965. Die 17-jährige Anna hat sich in ihrer Familie schon immer fremd gefühlt. Mit ihren dunklen Locken sticht sie buchstäblich wie das schwarze Schaf der Sonnlechners hervor. Und während ihre Eltern und ihre Schwester das unaufgeregte bürgerliche Leben genießen und den familieneigenen Friseursalon mit Eifer betreiben, sehnt sie sich nach Freiheit und Abenteuer. Vor allem das Malen – das Spiel mit unzähligen Farben und Formen – hilft ihr dabei, ihren Träumen Ausdruck zu verleihen. Als Anna eines Tages auf einen alten Brief stößt, in dem von einem Findelkind die Rede ist, wird sie stutzig: Könnte sie dieses Kind sein? Sie begibt sich auf die Suche nach ihren wahren Wurzeln – und findet dabei nicht nur zu sich selbst, sondern auch zu ihrer großen Liebe …
Weitere historische Romane von Lilli Beck bei Blanvalet:
Glück und Glas
Wie der Wind und das Meer
Mehr als tausend Worte
Wenn die Hoffnung erwacht
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Seitenzahl: 549
Buch
München, 1965. Die 17-jährige Anna hat sich in ihrer Familie schon immer fremd gefühlt. Im Vergleich mit ihrer hellhaarigen Schwester kommt sich die dunkel gelockte Anna manchmal wie das schwarze Schaf der Familie vor. Und während ihre Eltern und ihre Schwester das unaufgeregte bürgerliche Leben genießen und den familieneigenen Friseursalon mit Eifer betreiben, sehnt sie sich nach Freiheit und Abenteuer. Vor allem das Malen – das Spiel mit unzähligen Farben und Formen – hilft ihr dabei, ihren Träumen Ausdruck zu verleihen. Als Anna eines Tages auf einen alten Brief stößt, in dem von einem Findelkind die Rede ist, wird sie stutzig: Könnte sie dieses Kind sein? Sie begibt sich auf die Suche nach ihren wahren Wurzeln – und findet dabei nicht nur zu sich selbst, sondern auch zu ihrer großen Liebe …
Autorin
Lilli Beck wurde in Weiden/Oberpfalz geboren und lebt seit vielen Jahren in München. Nach der Schulzeit begann sie eine Ausbildung zur Großhandelskauffrau. 1968 zog sie nach München, wo sie von einer Modelagentin in der damaligen In-Disko Blow up entdeckt wurde. Das war der Beginn eines Lebens wie aus einem Hollywood-Film. Sie arbeitete zehn Jahre lang für Zeitschriften wie »Brigitte«, »Burda-Moden« und »Twen«. »Die Farben unserer Träume« ist ihr fünfter historischer Roman bei Blanvalet.
Weitere Informationen unter: www.lilli-beck.de
Von Lilli Beck bereits erschienen
Glück und Glas · Wie der Wind und das Meer · Mehr als tausend Worte · Wenn die Hoffnung erwacht · Die Schwestern vom See
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LILLI BECK
ROMAN
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Originalausgabe 2023 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Copyright © 2023 by Lilli Beck
Redaktion: Gisela Klemt
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Umschlagmotiv: mauritius images/ClassicStock/H. Armstrong Roberts
DK · Herstellung: sam
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-30145-3V001
www.blanvalet.de
»Wo Liebe ist, wird das Unmögliche möglich.«
Buddha
GLÜCKLICHSCHMIEGTESIEsich in seine Arme. Sie legte ihre Hand auf seine Brust, um seinen Herzschlag zu spüren, wünschte, die Zeit bliebe stehen, wie jedes Mal, wenn sie sich geliebt hatten. Dann träumte sie davon, für immer bei ihm bleiben zu können. In dieser von Bomben verschonten Traumvilla, in der es keinen Hunger und keine Not gab. In der immer die Sonne für sie schien, selbst an trüben Tagen. Bis heute war es nur ein heimlicher Traum gewesen, nun konnte er Realität werden.
»Hast du was, Liebes? Du bist so still, sonst erzählst du mir doch immer von deinem Tag.« Zärtlich schob er eine Haarsträhne aus ihrer Stirn.
»Es ist alles in Ordnung …« Sie brach ab, blickte nachdenklich durch das Glasdach des Wintergartens nach draußen. Die Novembersonne hatte sich durch die graue Wolkenschicht gedrängt und die immergrünen Pflanzen zum Leuchten gebracht, war aber zu schwach, um zu wärmen. Vorhin hatte sie gefroren, doch unter seinen begehrlichen Berührungen war ihr heiß geworden.
»Dann bin ich beruhigt.« Er drückte sie kurz an sich, lockerte dann seine Umarmung und setzte sich auf den Rand des dick gepolsterten Biedermeiersofas. »Tut mir leid, ich muss an die Arbeit, auch wenn ich gern noch bei dir liegen bleiben und unsere Zeit ins Unendliche dehnen würde.«
Sie hielt seine Hand fest. »Warte, nur noch einen Moment, ich wollte …«
Er drehte sich zu ihr. »Bist du in Schwierigkeiten, brauchst du Geld?«
Sie erkannte ein unsicheres Flackern in seinen Augen, sein weicher Mund verhärtete sich fast unmerklich, ihr fiel es trotzdem auf. »Nein, nein, ganz im Gegenteil. Es ist etwas Wunderbares geschehen.«
»Das klingt ja aufregend.« Jetzt lächelte er wieder, nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie sanft. »Dann los, lass hören, ich bin gespannt.« Er griff nach der dunkelblauen Arbeiterhose, die er achtlos auf den kalten Betonfußboden hatte fallen lassen.
Sie suchte nicht länger nach passenden Worten, platzte einfach mit der Wahrheit heraus. »Wir bekommen ein Kind.«
Er reagierte nicht, schlüpfte in gewohnter Routine in seine Hose, als habe sie nicht diese lebensverändernden Worte ausgesprochen. Erst im Greifen nach dem gestreiften Oberhemd, das auf einem Stuhl hing, hielt er in der Bewegung inne und starrte sie wortlos an.
»Freust du dich nicht?« Kaum hatte sie die Frage ausgesprochen, spürte sie eine Welle der Angst, die sich von ihrem Magen aus bis in die Fingerspitzen wie ein Stromschlag ausbreitete.
»Freuen? Wie kommst du denn auf diese absurde Idee? Du kennst meine Situation, wusstest von Anfang an, worauf du dich eingelassen hast. Falls du beabsichtigst, mich mit einem Kind einzufangen, sage ich dir jetzt in aller Deutlichkeit, dass es ganz und gar unmöglich ist.« Seine blauen Augen verdunkelten sich.
»Aber … aber, wir lieben uns doch! Eben hast du es mir versichert …«
»Natürlich lieben wir uns, dummes kleines Mädchen, das ist aber noch lange kein Grund, sich das Leben mit einem Kind zu ruinieren. Du kannst es auf keinen Fall bekommen.«
Sie zuckte zusammen, als habe er sie geschlagen. »Was soll das heißen … nicht bekommen? Es ist unser Kind, ein Kind der Liebe.«
»Bitte, rede keinen Unsinn, das passt nicht zu dir. Ich dachte, du bist eine moderne junge Frau und keines von diesen Mädchen, die unbedingt geheiratet werden wollen und versuchen, es mit einer Schwangerschaft zu erzwingen. Aber bei mir zieht diese Masche nicht. Du lässt es wegmachen, ich kenne jemanden, der das erledigen wird, und komme natürlich für die Kosten auf.«
München, Mitte Dezember 1948
ENTSCHLOSSENKÄMPFTESIEsich durch das Schneetreiben. Ignorierte die schneidende Kälte, die unerbittlich durch ihren dünnen Mantel drang, genauso wie das durchnässte Kopftuch, aus dem blonde Strähnen herausgerutscht waren, die an ihren Wangen klebten. Doch all die Widrigkeiten kümmerten sie nicht, ihre Sorge galt allein dem Henkelkorb an ihrem Arm. Von Zeit zu Zeit suchte sie Schutz in einem windstillen Hauseingang, zog das Wolltuch über dem Korb zur Seite, schaute hinein und setzte dann leise summend ihren Weg fort.
Endlich war sie dem Ziel nahe.
In der Amalienstraße blieb sie vor dem hell erleuchteten Schaufenster eines Friseursalons stehen. Über dem Ladeneingang fehlte ein S, das den Schriftzug »Salon Sonnlechner« vervollständigt hätte. Die an zwei dünnen Ketten im Wind baumelnde silbrige Barbierschale hatte das zwölf Jahre andauernde »Tausendjährige Reich« schadlos überstanden und reflektierte an schönen Tagen das Sonnenlicht wie ein Spiegel.
Der Blick in das Innere des Friseurladens wurde für einen Moment von den verlockenden Haarpflegeprodukten abgelenkt, die der besseren Wirkung wegen auf einem Stück roten Stoffs dekoriert waren: Seborin, das fettfreie Haarwasser für den gepflegten Herrn. Duftseifen von 4711 und verjüngende Hautcreme von Mouson für die Damen. Von einer Aufstelltafel strahlte dem Betrachter ein hübsches junges Fräulein entgegen, dessen goldblondes Haar in kunstvolle Wellen gelegt war. Am unteren Bildrand der Tafel war zu lesen, dass sie Dauerwellen von Schwarzkopf empfahl.
Sie umklammerte den Henkelkorb mit beiden Händen und beobachtete die dunkelhaarige Friseuse mit der gelockten Kurzhaarfrisur, die Handtücher in einen Waschkorb legte. Der hünenhafte Mann im blauen Friseurkittel fegte abgeschnittenes Haar zusammen, nahm es mit der Kehrschaufel auf und beförderte es in einen bereitstehenden Eimer.
Voller Wehmut betrachtete sie das harmonische Bild und bedauerte, nicht hören zu können, worüber die beiden sich unterhielten. Schließlich schritt sie zum Eingang des Salons und verharrte unentschlossen an der ersten Stufe. Das Geräusch eines heranfahrenden Autos ließ sie aufhorchen und ihren Entschluss ändern. Sie eilte auf die andere Straßenseite.
Eine der Ruinen, die noch an die letzten schweren Luftangriffe im April 1945 erinnerten, bot Schutz vor den tanzenden Eisflocken und davor, entdeckt zu werden. Sie duckte sich in eine windgeschützte Mauernische, von der aus sie den Salon im Blick hatte.
Aus dem Korb drang leises Wimmern. »Mein armer Liebling, gleich kommst du in ein warmes Zuhause, zu Menschen, die dich lieben. Die dich genauso lieben werden, wie ich dich liebe. Du wirst ein glückliches Leben führen, niemals Hunger leiden müssen und keine Erinnerung an diesen Schicksalstag haben. Du bist ja noch viel zu klein, um zu begreifen, was Mutterliebe vermag.« Wieder begann sie zu summen, bis das Wimmern verstummte.
Ängstlich schaute sie sich nach Passanten um, doch die spärlich erleuchtete Amalienstraße war menschenleer. Abermals eilte sie hinüber zum Salon. Tränen traten in ihre Augen, als sie das Wolltuch zur Seite hob und einen letzten Blick auf das Baby im Korb warf, bevor sie ihn direkt auf der Stufe vor dem Ladeneingang abstellte. Schluchzend küsste sie es auf die zarte Wange und schluckte die aufkommenden Zweifel hinunter, als sie das Kind wieder mit dem Tuch verdeckte. Sie klopfte einmal kurz an den Glaseinsatz der Ladentür, drehte sich dann abrupt um und lief zurück in ihr Versteck. Während sie im Schutz der Ruine darauf wartete, dass die Tür sich öffnete, rannen Tränen über ihr Gesicht. Minutenlang quälte sie sich mit der Frage, ob sie das Richtige tat, presste die Hand auf den Mund, um ihr Schluchzen zu dämpfen.
War es nicht unmenschlich, das unschuldige kleine Wesen einfach vor einer Tür auszusetzen? Doch dann beruhigte sie sich mit der Gewissheit, keine Kurzschlusshandlung zu begehen. Das Baby im Korb würde nicht wissen, warum seine leibliche Mutter gezwungen war, es fremden Menschen zu überlassen und sich damit das Herz aus dem Leib zu reißen.
Ein leises Wimmern drang wieder aus dem Korb. Die junge Frau biss auf ihre Faust, um nicht schwach zu werden. Sie hatte sich diesen schweren Schritt lange überlegt und war nun fest entschlossen. Sie durfte nicht weich werden.
Das Wimmern wurde stärker, steigerte sich zu lautem Jammern und dann zu einem herzzerreißenden Weinen.
Sie hielt sich die Ohren zu, wollte nicht das Glück ihres Kindes gefährden. Doch das Baby schrie nach seiner Mutter. Schließlich löste sie sich aus ihrer Mauernische, um ihr Kind zurückzuholen.
In diesem Moment öffnete sich die Ladentür.
Traudl Sonnlechner betrachtete den Berg benutzter Handtücher, die sie am Sonntag waschen wollte. Wie jeden Sonntag würde sie zuerst die Frühmesse besuchen und dann den Rest des Tages mit der Wäsche beschäftigt sein, denn seit der Währungsreform im Juni liefen die Geschäfte täglich besser. Für Freitag und Samstag waren stets alle Termine bis zur letzten Stunde vergeben. Auch ihr Mann Xaver, der die Herren bediente, hatte keine einzige Minute, um mal eine Zigarette zu rauchen. Um wenigstens die Mittagspause einhalten zu können, mussten sie das Geschäft von zwölf bis eins schließen. Demnächst würden sie noch eine Kraft einstellen, die das Schamponieren und Auswaschen nach dem Färben übernehmen konnte. Aber Traudl störte die viele Arbeit nicht, lenkte sie doch von ihrer Trauer ab. Davon, dass sie und ihr Xaver auch dieses Jahr wieder nur zu zweit unterm Weihnachtsbaum sitzen würden.
Traudl hob den Kopf und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn, die sich während der Arbeit aus der sonst makellosen Kurzhaarfrisur gelöst hatte. War da draußen nicht ein Geräusch, das nach Babyweinen klang? Doch gleich darauf ermahnte sie sich im Stillen, sich besser auf die Schmutzwäsche zu konzentrieren, statt sich solchen Unsinn einzubilden. Xavers leises Pfeifen war gewiss nicht bühnenreif, es aber mit Babyweinen zu vergleichen, wäre gemein gewesen. Es gab auch im ganzen Haus keine Babys. Über dem Laden lag die Wohnung der Schwiegereltern, im zweiten Stock wohnten sie und Xaver in einer Dreizimmerwohnung. In den beiden Stockwerken darüber lebten zwar Familien mit Kindern, die waren aber im schulpflichtigen Alter.
Doch da hörte sie es schon wieder. »Xaver, horch!«
Xaver hatte soeben die abgeschnittenen Haare von Advokat Grubinger, einem Stammkunden, in den Abfalleimer befördert und pfiff leise Man müsste Klavier spielen können von Johannes Heesters. Traudl wusste, dass Xaver den berühmten Schauspieler und Sänger verehrte und davon träumte, ihm einmal die Haare schneiden zu dürfen. Die würde er aber nicht in den Abfall werfen, sondern in einer besonders schönen Schachtel aufbewahren und allen Kunden zeigen. Dann könnte man sogar die Preise anheben, und keiner würde sich beschweren, hatte Xaver gesagt.
Die Kehrschaufel noch in der Hand, drehte er sich jetzt Traudl zu und zwinkerte übermütig. »Hört mei Schatzilein am End schon das Christkind? Bald ist es so weit, dann ist Bescherung, und des Jahr ist die Kasse gut gefüllt, da werd bestimmt was Schöns unterm Baum liegen.«
»Ah, geh, alter Spinner … Aber horch doch mal, da weint ein Baby. Es muss von draußen kommen.« Traudl hörte es jetzt überdeutlich. Wenige Sekunden später war es so laut, dass sie es bis ins Mark spürte. Zum Gotterbarmen.
Xaver legte Schaufel und Handbesen auf dem Eimer ab. »Stimmt, jetzt hör ich was …«
Traudl ließ das letzte Handtuch einfach fallen und eilte zur Ladentür. Xaver hatte nach dem Advokaten sofort abgesperrt, weil es schon nach halb sieben und damit Ladenschluss gewesen war. Aber der Schlüssel steckte noch, sie musste ihn nur umdrehen, um die Tür zu öffnen.
Traudl stolperte beinahe über den Henkelkorb und wich in letzter Sekunde zurück. Eilig zog sie das Wolltuch weg. Sofort verstummte das Weinen.
Xaver war seiner Frau gefolgt.
Traudl ging instinktiv in die Hocke. »Oh mei, oh mei … was für ein liebes Bobberl …«
»Ein Kind? Ja, was für ein Unmensch setzt denn bei so einem Sauwetter ein kleines Kind aus? Ich geh gleich raus nachschaun. Wer immer das war, weit kann der noch nicht sein.«
Traudl kümmerte sich nicht um Xavers Empörung, nahm den Korb und brachte ihn ins Warme.
Xaver stürmte nach draußen in das »Sauwetter« und schaute sich suchend um. Ohne Erfolg. Wild entschlossen, den Wüstling zu finden, lief er in seinem dünnen Kittel zur nächsten Straßenecke an der Schellingstraße.
Alles menschenleer. Aber bei diesem Wetter ging niemand freiwillig vor die Tür, selbst die Kinder, die sonst in den Ruinen auch im Dunkeln nach Brauchbarem suchten, waren nicht zu sehen. Außerdem war in zwei Wochen Heiligabend, da hatten die Menschen jede Menge fürs Fest vorzubereiten. Xaver schlug den Hemdkragen hoch, obwohl das so unsinnig war wie Schuppen mit Trockenshampoo bekämpfen zu wollen. Den kantigen Kopf gegen den Flockenwirbel gesenkt, stapfte er zurück zu seinem Salon.
Dort angekommen glaubte er im ersten Moment, am falschen Ort zu sei. Traudl saß auf einem der schwarz bezogenen Friseurstühle, hatte das Baby im Arm und sang mit leiser Stimme Hänschen klein, ging allein … Allerliebst, einfach allerliebst. Dem Lied nach zu urteilen, musste das Kind ein Bub sein, weil es sonst ja ein Schmarrn gewesen wäre, dachte Xaver und dass er sich immer einen strammen Jungen gewünscht hatte. Einen Nachfolger für das von seinen Eltern gegründete Friseurgeschäft, einen kleinen Kerl, mit dem er am Sonntag auf den Fußballplatz gehen würde. Natürlich erst, wenn er alt genug war, so ab sechs oder sieben Jahren, das verstand sich von selbst. Im nächsten Moment wunderte er sich, wie er jetzt an Fußball denken konnte. Die ganze Situation war doch vollkommen verrückt. Und Traudl wohl nicht mehr ganz bei sich, auch wenn er sie gut verstehen konnte. So aufgeregt war sie 1943, als sie zum ersten Mal guter Hoffnung gewesen war! Doch sie hatte das Kind verloren und danach nur noch geweint. Im Jahr darauf war sie wieder schwanger, aber auch das hatte nicht gehalten. Schuld daran sei der Krieg, die Bombardierungen und die lebensbedrohliche Situation, hatte der Frauendoktor gesagt. Und der musste es wissen, hatte schließlich darauf studiert.
Traudl blickte auf, als sie ihren Mann eintreten sah. »Xaver, schau sie dir an …«
»Sie?« Xaver schloss die Ladentür wieder ab.
»Ja, es ist ein Mäderl, das erkenne ich an den rosa Häkelsocken.«
»Hm …«, brummelte Xaver mit einer steilen Falte zwischen seinen Augenbrauen.
Traudl nahm dem Baby die Mütze ab, während ihr Ehemann sich auf Zehenspitzen näherte. »Na, was sagst?« Sie hielt das Kind in ihren Armen etwas hoch. »Schau nicht so grimmig, du machst dem Kind ja Angst … aber findst nicht, dass die dunklen lockigen Haare genau wie meine ausschauen und die blauen Augen auch?«
»Ja, vielleicht … Aber was machen wir denn jetzt damit?«
»Mei, Xaver, manchmal bist ein rechter Hirsch.« Kichernd gab Traudl ihm einen Klaps ans Bein. »Behalten werden wir es natürlich! Wer auch immer es vor unsere Tür gelegt hat, wusste genau, wie sehr wir uns ein Kind wünschen. Und der liebe Gott hat meinen sehnlichsten Wunsch erfüllt. Des glaube ich jedenfalls. Oder, was meinst du?« Sie wiegte das Baby, das sie aus großen blauen Augen neugierig anschaute und ganz ruhig war. »Wie alt mag es wohl sein?«
Xaver zuckte die breiten Schultern und schnaufte einmal tief ein und dann wieder aus. »Ich weiß ned, Traudelchen, süß is es ja, aber es wird gwiss verboten sein, ein Findelkind zu behalten? Wir sollten es zur Polizei bringen. Einfach so behalten geht ned. Am End bringt uns das in Teufels Küche.«
»Ja, freilich, unsere Ordnungshüter täten sich narrisch freun, wenn wir ihnen kurz vor Weihnachten ein ausgesetztes Kind auf die Wache bringen. Das wär ja fast so wie beim Jesuskind. Nix da, wir behalten es, weil es ganz bestimmt nicht zufällig vor unserer Tür abgesetzt worden ist. Schau mal in den Korb, vielleicht ist ein Brief drin, der alles erklärt, oder sonst irgendein Hinweis auf die Umständ. Bestimmt war die Mutter in höchster Not, die Ausstattung ist nicht grad vom Feinsten. Das Mützerl hat Löcher, der Strampler is gflickt, und das Jackerl selber gstrickt. Und zwar mit aufgetrennter Wolle, des erkenne ich gleich.«
Xaver kniete sich vor den Korb und zog eine durch viele Wäschen grau gewordene Stoffwindel heraus, deren Ecken miteinander verknoten waren. »Wenn mich nicht alles täuscht, is da was Schweres eingepackt.«
»Schnell, schau nach, vielleicht is eine Nuckelflasche drin … die Kleine wird womöglich Hunger haben, nachert kann ich einen dünnen Mehlbrei kochen …«
Xaver richtete sich wieder auf und beugte sich über das Kind. »Schaust aber nicht verhungert aus, hast ganz runde Backerln. Gell, bist gut im Futter?«
»Jetzt mach schon das Windelpackerl auf«, drängte Traudl ihren Mann.
Vorsichtig löste Xaver den Knoten, faltete den Stoff auseinander und hatte ein weiteres Stoffpäckchen in der Hand. Als er dieses zu hastig öffnete, fiel etwas Glänzendes heraus. Perplex starrte er auf den mit dunkelrotem Linoleum belegten Fußboden, bevor er sich nach dem Fundstück bückte. »Jessas … was ist denn das jetzt?« Er hielt Traudl eine goldene Kette mit einem Herzanhänger vor die Nase.
»Ich werde verrückt! Das schaut aber nicht nach Talmi aus. Das rote Herz könnt ein echter Edelstein sein und die kleinen weißen Steine echte Brillanten.«
Das Baby betrachtete die Kette mit großen Augen und streckte die Hände danach aus.
»Also, ich bin ja nur ein einfacher Bader, aber wennst mich fragst, ist das echtes Gold. Und wennst mich weiter fragst, dann muss hinter der ganzen Gschicht ein großes Geheimnis stecken …« Xaver kratzte sich überlegend am Hinterkopf, bevor er weiterphilosophierte. »Des Gwand von dem Kind ist schäbig, aber das Schmuckstück wertvoll … da muss man sich doch fragen, wie das zusammenpasst. Vielleicht ist es Diebesgut. Traudl, ich bin dafür, dass wir es doch auf die Wache bringen.«
Traudl antwortete nicht, flüsterte dem Baby stattdessen zu: »Musst keine Angst haben, mein Schatzerl, wir werden Himmel und Hölle in Bewegung setzen, dass du bei uns bleiben kannst. Wer auch immer dich hierhergebracht hat, wollte es so.«
»Hm … vielleicht, vielleicht aber auch nicht«, wandte Xaver ein.
Traudl wies mit einer Kopfbewegung auf den Korb. »Schau halt noch mal nach, ob vielleicht doch eine Nachricht drin ist.«
Xaver kam der Bitte seiner Frau nach und angelte tatsächlich ein graugrünes Kuvert zwischen den Stoffresten hervor, mit denen der Korb notdürftig ausgepolstert war. »Da schau her, mei Traudelchen is eine Hellseherin. Und eine Nuckelflasche is auch da.« Er hielt das Fläschchen hoch und stellte es dann auf die Ablagefläche zwischen den Waschbecken.
»Hellseherin, von wegen, du mein geliebter Spinner!«, erwiderte Traudl mit zärtlichem Lächeln. »Vorlesen musst ihn mir trotzdem. Aber vorsichtig aufreißen …«
Xaver langte nach der Haarschneideschere, die noch in der Brusttasche seines Kittels steckte, und betrachtete sie nachdenklich.
Traudl ahnte, warum Xaver zögerte. Die Schere durfte nur zum Haareschneiden benutzt werden. »Nimmst halt eine von den dicken Nadeln … in der Schublade …« Sie wies abermals mit einer Kopfbewegung zu den Hängekonsolen, die direkt unten den Spiegeln angebracht waren.
Doch Xaver ignorierte Traudls Vorschlag und schlitzte das Kuvert mit der Schere auf. »Ausnahmsweise, weil es ein besonderer Tag ist. Womöglich einer dieser Tage, an denen das Schicksal einen Haken schlägt und alles kräftig durcheinanderwirbelt.«
»Kannst leicht recht haben, heut ist ein ganz bsonderer Tag. Ich spür so ein komisches Zwicken in der Magengegend«, entgegnete Traudl und musterte Xaver ungeduldig, während er zwei dicht beschriebene Schulheftblätter aus dem Umschlag nahm. »Also, was steht da?«
»›Hochverehrtes Ehepaar Sonnlechner …‹ – es ist mit Bleistift geschrieben …«
»Na, was hab ich g’sagt? Die Mutter … wenns die Mutter war, hat sich genau uns ausgsucht, weil …«
»Jetzt wart halt, was da noch steht«, unterbrach Xaver seine Frau.
»Schon gut, lies weiter …«
»Also, ›Hochverehrtes Ehepaar Sonnlechner, ich bitte Sie inständig, sich um meine kleine Anna zu kümmern, weil ich es nicht kann. Ich bin eine ledige Mutter und wurde von meiner Familie davongejagt, weil mein Kind ein Bankert ist. Ich wusste nicht, wohin, und auch nicht, wie ich mich und das Kind durchbringen sollte, wir wären verhungert oder erfroren. Ich wollte ins Wasser mit dem Kind gehen, aber dann hab ich mich an Sie erinnert und dass Sie gute Menschen sind. Das Schmuckstück ist das einzig Wertvolle, das mir noch geblieben ist, es hätte mich und meine kleine Anna vielleicht ein paar Wochen über Wasser gehalten, aber danach wären wir wieder vor dem Nichts gestanden. Deshalb flehe ich Sie an, sich der Anna anzunehmen und die Kette als Entlohnung für Ihre Mühe und Kosten anzusehen. Anna ist ein liebes Kind und kann schon Zwiebackbrei essen, auch ein Haferschleimflascherl mag sie gern …‹« Xaver ließ das Blatt sinken und schaute Traudl mit feuchten Augen an. »Ins Wasser wollt sie gehen … So eine traurige G’schicht.«
Traudl nickte schniefend und drückte das Kind an ihre Brust. »Arme kleine Anna … arme kleine Anna … Steht da noch was?« Das Baby begann zu strampeln. »Oh weh, oh weh … brauchst vielleicht eine frische Windel und bestimmt auch bald ein Fläschchen? Wie das mit dem Wickeln und Füttern geht, weiß ich vom Baby einer Schulfreundin, da hab ich zuschauen dürfen«, redete sie sanft auf die kleine Anna ein und wandte sich dann an Xaver. »Jetzt möcht ich schnell nach oben in die Wohnung, um unser Kind zu wickeln und zu füttern.«
»Unser Kind«, wiederholte Xaver mit leichter Verwunderung. »Wie du das sagst. Hast wohl schon alles entschieden?«
»Bist ein schlauer Mann, deshalb hab ich dich auch genommen.« Traudl lächelte ihn liebevoll an, rappelte sich dann mit dem Baby im Arm aus dem Stuhl hoch und gab Xaver einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Nimm den Korb und schau nach, ob der Laden auch gut abgesperrt ist.«
DASFENSTERIMzweiten Stock zur Wohnküche der Sonnlechners war an diesem Abend lange erhellt. Zudem hatte Xaver den gusseisernen Küchenherd mit einer doppelten Ladung Holz und Briketts zum Glühen gebracht, und schon nach kurzer Zeit war es in dem mit Eckbank, Holztisch, gepolsterten Stühlen und einem schönen Büfett recht heimelig eingerichteten Raum so warm, dass Xaver sein Hemd aufknöpfte und im Unterhemd dastand.
»Es ist heiß wie im Hochsommer, ich überleg, ob ich meine Badehose anziehen soll.«
»Willst das Kind verschrecken?« Traudl saß auf der Bank am Küchentisch, die kleine Anna auf dem Arm an ihre Schulter gelehnt, und klopfte ihr sanft auf den Rücken, damit sie aufstoßen konnte.
Vorhin hatte sie das Baby mit der angegrauten Windel, die um die Kette geschlungen war, frisch gewickelt und den Popo mangels Penaten Creme mit der im Salon vorrätigen Nivea Creme versorgt. Zum Glück waren der Strampler und das Jäckchen nicht durchnässt, sonst hätte sie die kleine Anna in eine Decke wickeln müssen. Xaver hatte derweil den Krimskrams aus der oberen Schublade der Kommode im Wohnzimmer geleert. Mit Handtüchern und einem Pullover wurde daraus eine provisorische Schlafstatt für Anna, die Traudl heute Nacht neben ihr Bett stellen wollte. Nach dem Wickeln hatte Anna ein Fläschchen mit Haferschleim getrunken, das ihr geschmeckt hatte, genau wie in dem Brief stand. Traudl hatte zum Glück Haferflocken im Haus, sonst hätte sie den Xaver zu den Nachbarn geschickt. Es war eine sehr hilfsbereite Nachbarschaft, wo man sich gern mit einem Ei, einer Tasse Zucker oder anderen Kleinigkeiten aushalf. Das Haus und der Laden waren offiziell noch im Besitz von Xavers Eltern. Überschreiben wollte die Alten aber erst, wenn Nachwuchs da wäre, und genau darüber dachte Traudl jetzt nach.
»Weißt, was ich mir grad überlege?«
»Dass wir frische Luft brauchen und ich das Fenster aufmachen soll?« Xaver wischte sich ein paar Schweißtropfen von der Stirn.
Traudl lachte. Sie war so unfassbar froh über das Baby in ihren Armen, dass jeder von Xavers Scherzen sie noch glücklicher machte. Auch wenn sie dieses Kind nicht geboren hatte, fühlte es sich doch schon ein klein wenig so an, als sei es ihr eigenes. »Nein, da liegst ganz falsch, ich hab an deine Eltern gedacht. Ob sie uns den Laden endlich notariell übergeben, wo wir jetzt den lang ersehnten Nachwuchs haben? Ich …«
»Jessas, die Eltern hab ich glatt vergessen«, unterbrach Xaver sie erschrocken. »Was sollen wir denn sagen, woher wir plötzlich ein Kind haben? Mei, oh mei, noch keinen Tag im Haus, und schon bringt so ein Baby alles durcheinander. Na, des kann ja was werdn …«
»Jetzt übertreibst aber …« entgegnete Traudl. »Wir werden die Wahrheit sagen, die ist so traurig, dass sie jeden erbarmt. Außerdem ist mit Lügen noch niemand weit gekommen.«
»Wennst meinst …«
Traudl war aufgestanden und lief mit Anna auf dem Arm durch die geräumige Wohnküche. »Aber zuerst haben wir noch andere Sorgen. Was machen wir mit meinen Terminen am morgigen Samstag? Mit dem Kind kann ich doch nicht arbeiten.«
»Ach, so kleine Kinder schlafen doch den ganzen Tag.«
Traudl schüttelte den Kopf. »Manche tun das, das Baby von der Frau Angermeier, die vorn am Eck wohnt, schläft angeblich rund um die Uhr, aber ob Anna auch so eine Vielschläferin ist, weiß ich doch nicht. Sie allein in unserer Wohnung liegen und dann schreien zu lassen, bringe ich nicht übers Herz. Wo sie doch gerade erst ihre Mutter verloren hat. Nein, nein, wir müssen uns was überlegen. Auch, woher wir Windeln, eine schöne Ausstattung, Spielsachen, ein Bettchen und einen Kinderwagen mit Kissen und Polster bekommen.«
Xaver zuckte hilflos mit den Schultern. »Du weißt doch, Traudelchen, wenns drauf ankommt, rasiere ich fünf Männer in einer halben Stund nach allen Regeln der Baderkunst. Aber bei Frauensachen kenn ich mich nicht aus.«
Traudl seufzte. Xaver war ein fleißiger Friseur und ein braver Ehemann, und sie liebte ihn immer noch genauso wie vor zehn Jahren, als er bei ihren Eltern um ihre Hand angehalten hatte. Er half ihr auch im Haushalt, da war er sehr modern, aber jetzt war er hilflos wie ein kleiner Bub und trotzdem einfach zum Küssen.
Aber Küsse halfen natürlich nicht weiter, deshalb würde sie das Kommando übernehmen. »Das macht nichts, Xaver, wir werden das Kind schon schaukeln, gell, meine kleine, goldige Anna?« Sie küsste das Baby auf die Wange, das genau in diesem Moment aufstieß und den letzten Schluck Haferschleim auf Traudls grünen Pullover spuckte.
»Oh mei, oh mei.« Xaver riss erschrocken die blaugrauen Augen auf. »Sie wird doch nicht krank sein?«
»Nein, nein, das ist ganz normal bei Babys, musst dir keine Sorgen machen. Und jetzt zieh dein Hemd wieder an, eine anständige Joppen darüber und geh hinunter zu deinen Eltern.«
»Es ist doch schon viel zu spät«, wandte Xaver ein.
»Gerade mal acht Uhr, wahrscheinlich sitzen sie vor dem Radio und hören die Abendnachrichten«, vermutete Traudl.
»Hm …« Xaver war in das Hemd geschlüpft und knöpfte es bis zum letzten Kragenknopf zu. »Und was soll ich sagen, was ich so spät noch will?«
»Dass eine Überraschung auf sie wartet.«
»Na, die werden Augen machen.« Händereibend verließ Xaver die Küche.
Zehn Minuten später kam er in Begleitung seiner Eltern zurück. Seine Mutter Fanny, eine resolute kleine Frau, die keine Arbeit scheute, hatte zusammen mit ihrem Mann Josef bis 1945 noch täglich im Salon gestanden. Josef, Xavers Vater, war wegen einer Rückenverletzung, die er sich im Großen Krieg an der Westfront zugezogen hatte, nicht eingezogen worden. Aber Xaver hatte in Frankreich gekämpft und war zu Traudls großer Erleichterung unbeschadet zurückgekehrt.
Als Fanny das Baby in Traudls Armen sah, blieb sie abrupt auf der Türschwelle stehen.
»Wie kommt ihr denn zu einem Kind?«, fragte Josef, der seine Frau in die Küche schob. »Geh bittschön hinein, damit wir die Tür zumachen können, sonst weht die teure Wärme in den kalten Flur hinaus.«
Fanny, den Blick auf die kleine Anna gerichtet, ließ sich auf einen Stuhl am Küchentisch fallen. »Also, jetzt bin ich gespannt, weil, deines kann es ja nicht sein«, stellte sie fest und musterte ihre Schwiegertochter misstrauisch, als habe diese das Kind aus einem Kinderwagen geraubt.
»Es wurde einfach vor dem Salon abgestellt! Vor einer Stund hab ich Babyweinen gehört, und als ich nachgschaut hab, war ein Korb mit dem armen Bobberl vor der Tür gestanden«, erklärte Traudl und wandte sich an Xaver: »Zeigst der Mutti am besten den Brief.«
Xaver nahm den Brief aus dem Umschlag und reichte ihn seiner Mutter. »Eine ganz traurige G’schicht.«
Fanny Sonnlechner holte ihre Lesebrille aus der Küchenschürze. Monoton murmelnd las sie den Brief, als würde sie einen Rosenkranz beten, wobei sich ihre Miene mit jeder Zeile verdunkelte und die steile Falte zwischen ihren Augenbrauen immer tiefer wurde. Am Ende angelangt, faltete sie die Blätter bedächtig zusammen, legte sie auf den Tisch und ihre Hände darüber, als wolle sie den Inhalt schützen. »So viel Schlechtigkeit auf der Welt … die arme Frau …«
»Und das da ist quasi Annas Mitgift.« Xaver legte die Kette mit dem Herzanhänger auf den Küchentisch.
Einige Minuten lang starrten Fanny und Josef schweigend auf das Schmuckstück, bis Anna sich unerwartet mit Gebrüll meldete.
Fanny tippte sofort auf Hunger und sprang auf, um einen Mehlbrei zu kochen. »Den hast du auch gern gegessen, Xaver, und schau dich an, wie groß und stark du geworden bist«, sagte sie mit mütterlicher Zufriedenheit in der Stimme.
»Dankschön, Mutti, aber Hunger kann sie nicht haben, sie hat grad ein Flascherl getrunken«, sagte Traudl.
Die Frauen rätselten ein wenig, warum Anna weinte, und kamen überein, dass es nur eine Blähung war, da sie sich schnell wieder beruhigte.
Als die kleine Anna erschöpft vom Trinken und Weinen in Traudls Armen einschlief, unterhielten sich die Ehepaare im Flüsterton weiter über die anstehenden Probleme. Allen voran Traudls Termine, und wer sie morgen übernehmen konnte.
Josef Sonnlechner war der Meinung, Findelkinder würden lebenslang nur Sorgen bereiten; daran änderten auch kostbare Juwelen nichts, Traudls Termine, nicht nur die für morgen, seien dagegen das kleinere Übel. Man wisse nichts über die Eltern, der Vater könne ein Verbrecher sein und dem Kind die schlechten Eigenschaften vererbt haben. Sie sollten es der Polizei übergeben, die wüssten am besten, was zu tun sei.
Xaver hatte bei dem kleinen Vortrag seines Vaters den Kopf gesenkt, aber geschwiegen, und Traudl ahnte, dass er ihm insgeheim zustimmte.
Fanny schüttelte den Kopf, überhaupt nicht einverstanden mit der Meinung ihres Mannes. »So ein Schmarrn, Josef, nur weil unser Sohn auch ein begabter Friseur ist und damit dein Talent geerbt hat, ist das noch lange keine Garantie, dass sich alle Eigenschaften vererben. Außerdem schreibt die Frau doch, dass sie Traudl und Xaver ganz bewusst ausgesucht hat.« Fanny blickte von Schwiegertochter zu Sohn. »Hast du vielleicht eine Idee, wer sie sein könnte? Sie muss euch kennen, jedenfalls lese ich das heraus.«
»Vielleicht ist sie eine ehemalige Kundin, als es ihr noch besser ging. Dass wir Kinder wollen, weiß praktisch jeder«, meinte Xaver.
Fanny seufzte aus tiefster Brust. »Dann ist es fast unmöglich, das Rätsel zu lösen, aber deine Termine, Traudl, kann ich die nächsten Tage übernehmen, bis du dich arrangiert hast. Würde mir sogar Spaß machen, mal wieder ein paar Locken zu drehen.«
»Das ist lieb, Mutti.« Traudl schickte ihrer Schwiegermutter ein dankbares Lächeln. Fanny war wohl auch schon ganz vernarrt in Anna.
Josef zog die Stirn in Falten. »Und was mach ich in der Zwischenzeit?«
»Du gehst morgen früh auf den Dachboden, da steht noch ein großer Wäschekorb, der ist bestimmt staubig, den kannst in unserer Badewanne sauber schrubben, und wenn er trocken ist, können wir ihn als Schlafkörbchen herrichten«, bestimmte Fanny, die jetzt ganz in ihrem Element war.
»Wennst meinst«, sagte Josef.
»Ich meine … Opa!«
Der soeben zum Großvater ernannte Josef straffte nun doch ganz stolz die Schultern. »In Ordnung, ich kümmere mich morgen um den Korb. Ich tät auch sofort ins Dach hinaufsteigen, aber dort haben wir ja leider noch kein elektrisches Licht. Trotzdem, Xaver, ihr solltet es euch noch mal gründlich überlegen und zur Polizei gehen, oder zum Amt. Auch wenn ich grad nicht weiß, wer da zuständig wär«, versuchte er seine Bedenken erneut anzubringen.
»Wir haben es gründlich überlegt.« Traudl nickte gefällig. »Der liebe Gott hat mir nach den zwei Fehlgeburten die kleine Anna geschenkt.« Sie war fest entschlossen, für dieses Kind zu kämpfen wie eine Löwin, und ihre Schwiegermutter würde sie unterstützen, das spürte sie ganz deutlich.
Fanny hatte auch die Babysachen von Xaver aufgehoben, die sie noch vor dem Schlafengehen heraussuchte und Traudl brachte. Einige Hemdchen und Strampler waren noch gut erhalten, und Traudl nahm sie dankbar entgegen.
Josef bestand trotz allem Mitleid darauf, jemanden zu befragen, der sich mit Gesetzen auskannte. Auch wenn eine neue Zeit angebrochen war und man sich nicht mehr vor den hinterhältigen Schikanen der »braunen Bagage« fürchten musste – ein Findelkind zu behalten, konnte einem am Ende mächtige Scherereien einbringen.
Montag, als der Salon geschlossen war, marschierte Xaver am Vormittag in die Leopoldstraße, wo Anwalt Grubinger residierte. Er hätte ihn auch telefonisch kontaktieren können, im Geschäft stand ein Apparat, und der Anwalt besaß natürlich auch einen Anschluss. Aber Xaver war der Meinung, wichtige Dinge ließen sich besser von Angesicht zu Angesicht besprechen. Und oft konnte man aus dem Zucken eines Mundwinkels mehr entnehmen als aus dem längsten Vortrag, das hatte er schon als Lehrbub zu beobachten gelernt. Keine Stunde später war er wieder zu Hause, und zwar mit folgender Nachricht: Findelkinder müssen von Rechts wegen am Folgetag dem Jugendamt gemeldet werden.
Traudl zog gerade den Topf vom Feuer, in dem sie Annas Nuckelflaschen und den Sauger ausgekocht hatte. »Dem Amt melden?«, fragte sie nach, um sicherzugehen, sich nicht verhört zu haben. Als Xaver nickte, wurde sie blass, aber nur für einen Moment, dann stemmte sie die Fäuste in die zierlichen Hüften, reckte kämpferisch das Kinn vor und blitzte den Überbringer der schlechten Nachrichten zornig an. »Jugendamt?«, schnaufte sie. »Das Wort ›Amt‹ hat noch nie nicht was Gutes bedeutet. Hat der Herr Advokat auch gesagt, was die dann mit dem Kind anstellen? Im Büro werdens es ja wohl kaum behalten.«
»In ein Waisenhaus tät es kommen.«
»Heilige Jungfrau Maria.« Traudl bekreuzigte sich. »Unser Kind in ein Waisenhaus? Da tät ich mich ja versündigen. Bevor ich es melde, lass ich mich lieber einsperren.«
»Der Grubinger hat so was geahnt, weil er dich ja kennt und weil du dir noch nie nicht was hast gefallen lassen. Er hat sich an ein Vorkommnis erinnert, als er bei mir zum Haareschneiden war. Da ist eine neue Kundin ohne Termin hereinspaziert, stellt sich als Gattin eines Bankdirektors vor und möcht sofort bedient werden. Du hast ihr dann erklärt, dass sie leider warten müsse, weil du eben nur zwei Hände hättest, und nicht mal ein Koffer voller Geld daran etwas ändern könne.« Xaver betrachtete seine Frau bewundernd.
»An die erinnere ich mich genau, eine spinnerte Urschel war das, hat sich eingebildet, was Besseres zu sein. Da wars bei mir an der richtigen Adresse. Vor dem Herrgott sind alle Menschen gleich und im Salon Sonnlechner gleich zweimal.« Traudl drehte sich wieder zum Herd, fischte mit einer Holzzange eine Flasche aus dem heißen Wasser und stellte sie zum Abkühlen in eine Henkeltasse. »Hat der Herr Advokat sonst noch was gesagt?«
»Dass die Nachbarschaft sich wundern würde, wenn plötzlich ein Kind im Haus ist, und uns jemand hinhängen könnt. Dann hätten wir eine Anzeige am Hals, und das wär gar nicht gut fürs Geschäft. Wenn sich das rumspricht … du weißt, wie die Leut sind.«
»Hm …« Traudl schöpfte jetzt heißes Wasser aus dem seitlich im Herd eingelassenen Wassertank in einen Topf und setzte ihn auf die Herdplatte. »Dann koch ich uns erst mal einen echten Bohnenkaffee, da kann ich besser nachdenken. Und solange die Anna schläft, überlegen wir uns eine Lösung.«
»Wie ich dich kenn, wird dir schon was Raffiniertes einfallen.« Xaver streichelte ihr liebevoll die Wange, holte dann Tassen und die Zuckerdose aus dem Küchenschrank und deckte den Tisch vor der Eckbank. Das mit Vergissmeinnicht bestickte Leinentischtuch nahm er vorsichtshalber ab, Kaffeeflecken ließen sich nur schwer auswaschen, was seine Mutter ihm, der gern kleckerte, eingehämmert hatte.
Als Traudl den köstlich duftenden Kaffee servierte und Xaver genüsslich zwei Löffel Zucker in die Tasse rührte, fragte sie, ob er Grubinger von dem Brief erzählt habe, der im Körbchen gelegen hatte.
»Ja, schon, aber es war blöd, dass ich den nicht vorzeigen konnte.«
»Ja, des war nicht so gescheit. Magst vielleicht nach dem Mittagessen noch mal mit dem Brief hingehen? Ich tät ja mitkommen, aber wir haben leider noch keinen Kinderwagen für die Kleine …« Den Rest ließ sie ungesagt, Xaver würde die Botschaft verstehen.
Xaver nahm einen Schluck Kaffee, lobte das köstliche Aroma und erklärte, dass er gern noch mal loslaufe. Anschließend könne er mit der Trambahn in die Innenstadt fahren und sich nach einem Wagen für Anna umschauen.
Traudl beugte sich zu ihrem Ehemann und drückte ihm einen liebevollen Kuss auf die Wange. »Du bist der beste Ehemann der Welt und wirst auch der beste Vater der Welt sein.« Im Stillen dachte sie, wenn er bereit war, einen Kinderwagen zu besorgen, würde er auch mit ihr um Anna kämpfen.
Xaver hatte den Eindruck, als sei in diesen letzten Tagen vor Heiligabend die halbe Stadt auf den Beinen. In der Trambahn standen die Leute Schulter an Schulter. Rund um den Stachus ging es zu wie auf dem Oktoberfest, das ja während dieses verdammten Krieges ausgefallen war, aber nächstes Jahr endlich wieder stattfinden sollte, wie neulich in der Zeitung gestanden hatte. Und überall drängten sich die Münchner vor den festlich geschmückten Schaufenstern. Kinder drückten ihre Nasen an den Scheiben platt und betrachteten mit leuchtenden Augen die ausgestellten Spielsachen. Nach der Währungsreform waren die Läden wie durch ein Wunder wieder mit allem gefüllt, was vorher angeblich nicht zu kriegen war – ausgenommen auf dem Schwarzmarkt für die dort übliche Zigarettenwährung. Dieser längst verbotene Handel auf den einschlägigen Märkten in der Möhlstraße, rund um den Hauptbahnhof oder in den Hinterzimmern von Gaststätten fand weiterhin statt, obwohl die Polizei immer wieder Razzien durchführte. Anfang Juli waren über dreißig Händler festgenommen worden; ob sich die anderen dauerhaft davon abschrecken ließen, blieb abzuwarten.
Einen Kinderwagen hätte er dort vielleicht auch bekommen, aber er wollte einen legalen. Er musste ein wenig suchen und fand schließlich in der Nähe des Karlstors ein Geschäft, das einen hübschen Korbwagen samt der notwendigen Kissen und Polster ausgestellt hatte. Einen, der sich im Sommer, wenn das Baby sitzen konnte, zum Sportwagen umfunktionieren ließe, wie der Verkäufer erklärte.
»Gekauft!«, entschied Xaver kurz entschlossen. Ein besseres Weihnachtsgeschenk für seine Traudl würde er nicht mehr finden. Und während er schmunzelnd an der Kasse bezahlte, sah er im Geiste die kleine Anna in den Kissen sitzen und sich selber den Wagen durch den Englischen Garten schieben.
Der Verkäufer packte die Innenausstattung und das Zierkissen ein und verstaute beides im Wagen, den Xaver direkt »Probe fahren« wollte.
Der Heimweg zum Salon in der Amalienstraße führte über den Lenbachplatz und dann die Otto-, die Brienner und die Türkenstraße entlang. Ein Marsch von einer guten halben Stunde, aber das machte Xaver nichts aus. Er war mit seinen zweiundvierzig Jahren gut zu Fuß, und die irritierten Blicke der Passanten amüsierten ihn. Ein Mann mit Kinderwagen war für den normalen Spießbürger so unmöglich wie einer mit Dauerwelle. Doch ihn juckte das überhaupt nicht, er war ein fortschrittlicher, moderner Mann, der sich auch nicht zu schade war, seiner Traudl beim Abtrocknen zu helfen. Auch den Fußboden zu wischen fand er nicht unter seiner Würde, während seiner Lehrzeit beim Vater hatte er täglich wischen müssen. Bei den Sonnlechners, Friseure in fünfter Generation, gab es das Motto: Dem Friseur ist nichts zu schwör!
Zu Hause angekommen stellte er den Wagen samt Inhalt vorerst im Salon unter. Ihn hinauf in die Wohnung zu bringen, war zu umständlich, das Kind nach unten zu tragen war einfacher.
Als er den Schlüssel in die Wohnungstür steckte und »Ich bin zurück!« in den Flur rief, kam Traudl mit Anna im Arm aus der Küche. »Und, hast alles erledigen können?«
Sie mit dem Kind zu sehen, war ein neues, aber ganz wunderbares Gefühl. Nun, zu dritt, war die Familie komplett, das spürte er in diesem Moment bis in die Haarspitzen. Und wie die kleine Anna ihn mit ihren blauen Augen neugierig anschaute, machte ihn mindestens so froh, wie er damals gewesen war, als man ihm den Meisterbrief überreicht hatte.
»Der Grubinger lässt schön grüßen, er meint, wir hätten gute Aussichten. Die Jugendämter wären nämlich heilfroh, wenn jemand ein Findelkind behalten wolle, die Waisenhäuser seien überfüllt mit Kindern, die ihre Eltern auf der Flucht verloren haben. Er würde aber eine Meldung machen, damit alles seine Richtigkeit hat, und dann alles Weitere in die Wege leiten. Mit dem Brief sollte alles glattgehen, er würde jedenfalls sein Möglichstes tun, damit es mit einer kurzen Begutachtung von uns beiden und den Gegebenheiten getan ist. Ach, und herzlichen Glückwunsch zur Mutterschaft soll ich ausrichten.«
Traudl wartete, bis Xaver den graubraunen Wollmantel mit dem dezenten Glencheck-Muster, den braunen Hut und den grauen Schal an der Flurgarderobe abgelegt hatte. »Wie lange wird das dauern?«
»Das hab ich auch gefragt, aber er wusste es nicht, weil es Neuland für ihn ist, hat er gesagt. Wir müssen uns halt ein wenig gedulden, aber jetzt hab ich einen Mordshunger … was gibt’s zum Abendessen?«
»Linsensuppe mit Kartoffeln und für dich ein Paar Wiener Würstl.«
»Die Würstl teilen wir uns«, entschied Xaver, legte den Arm um Frau und Kind und schob sie sanft Richtung Küche.
Drei Monate später, als die ersten Krokusse in den Gärten sprossen, und Klein Anna bei den Spazierfahrten schon im Korbkinderwagen sitzen konnte, überschlugen sich die Ereignisse. Grubinger kam zu seinem monatlichen Haarschnitt und überbrachte gleichzeitig die Botschaft, dass Anna bald eine offizielle Sonnlechner sein würde. Bis der Papierkram mit den Ämtern über die Bühne sei, könne es aber noch ein paar Monate dauern.
Annas Geburtstag war wegen der fehlenden Geburtsurkunde für den 30. September festgeschrieben worden, ausgehend von der Annahme, dass sie ungefähr drei Monate alt war, als sie vor dem Salon gefunden wurde. Traudl, die sich Annas Betreuung inzwischen mit Fanny teilte, wurde vor Glück direkt schwindelig. Als sich am nächsten Morgen immer noch alles drehte und ihr auch noch speiübel wurde, suchte sie den Frauenarzt auf, der eine Schwangerschaft vermutete. Ob der Mediziner recht hatte, würde sich aber erst nach drei Tagen herausstellen. Traudl hatte eine Urinprobe für den Froschtest abgegeben, die dann im Labor einem Frosch eingespritzt wurde. Wenn der Frosch nach spätestens vierundzwanzig Stunden Laich absetzte, war der Verdacht bestätigt. Traudl hatte es nicht zu hoffen gewagt, obwohl ihre monatlichen Tage kaum spürbar gewesen waren. Es wäre ihr undankbar vorgekommen, wo der liebe Gott ihr doch ein Baby geschenkt hatte. Eines, für das sie nicht einmal Schmerzen hatte erleiden müssen.
Sie biss sich auf die Lippen, um das aufkommende Schluchzen zu stoppen, das beim Anblick ihres Kindes in den Armen von Frau Sonnlechner in ihre Kehle stieg. Wie die Frau es zärtlich an sich drückte, küsste und streichelte oder der letzten Kundin präsentierte, war kaum zu ertragen. Es war doch ihr Kind, sie sollte es wiegen und in den Schlaf singen und bewachen. Wieder und wieder sagte sie sich, dass Anna jetzt ein liebevolles Zuhause hatte, nicht hungern und auch nicht in einem Keller ohne Heizung und fließendes Wasser aufwachsen musste. Ihr Plan hatte also funktioniert. Doch die Sehnsucht nach ihrem Kind war stärker als jede Vernunft. Stärker als jedes andere Gefühl. Stärker als erklärende Worte, mit denen sie sich zu beruhigen suchte.
Seit sie Anna vor über einem Jahr auf den Stufen vor dem Salon abgestellt hatte, suchte sie bei Anbruch der Dunkelheit den Schutz der Ruine. Mit brennenden Augen starrte sie dann hinüber in den hell erleuchteten Salon, um sich jeden Abend aufs Neue zu vergewissern, das Richtige getan zu haben. Dass ihre süße kleine Anna geliebt wurde und ein wundervolles Leben haben würde. Eines Tages würde ihre Sehnsucht leiser werden und in ferner Zukunft vielleicht ganz verstummen. Nur ihr Herz würde für immer bluten.
Donnerstag, 30. September 1965
SIEBZEHNKERZENFLACKERTENauf der feinen Buttercremetorte und tauchten das Wohnzimmer in warmes Licht. Jedes Jahr nach dem Geburtstagsständchen durfte Anna die Torte zum Frühstück anschneiden und ein kleines Stück probieren. Vor einigen Jahren noch war es nur ein Gugelhupf gewesen, doch seit sie zehn geworden waren, gab es eine echte Buttercremetorte vom Konditor, auf die sich Anna jedes Jahr gefreut hatte. Heute fragte sie sich jedoch, wie alt sie eigentlich werden musste, um endlich eine eigene Torte zu bekommen und sie nicht wie jedes Jahr mit ihrer Schwester Elsie teilen zu müssen. Die Eltern waren doch nicht arm, der Salon hatte sich zu einem Geheimtipp entwickelt, aus dem Umland und sogar aus dem reichen Bogenhausen kamen Kunden. Bis heute hatte es Anna auch nie gestört, dass die Kerzenanzahl eigentlich für Elsie passte und die Mutter eine Kerze in die Mitte steckte, damit es dann auch für Anna stimmte. Am gleichen Tag geboren worden zu sein, war einfach nur gemein. Jetzt konnte sie nur hoffen, dass sich ihr sehnlichster Wunsch endlich erfüllte. Groß genug war eines der Päckchen, aber sie wollte sich nicht zu früh freuen. Letztes Jahr war sie auch enttäuscht worden. Da hatte sie sich eine Nietenhose gewünscht, bekommen hatte sie ein spießiges Hängekleidchen mit Blumenmuster.
»Wer möchte anschneiden?«
»Anna«, bestimmte Elsie leise.
Anna schüttelte stumm den dunklen Lockenkopf. Torten anschneiden war so langweilig wie gemeinsam Geburtstag feiern. Keinen Tag zu haben, an dem man ganz allein gefeiert wurde, an dem ausschließlich man selbst bedient und rundum verwöhnt wurde, war ungerecht. Schließlich waren sie keine Zwillinge, denn Elsie war ein Jahr später, aber eben blöderweise am gleichen Tag auf die Welt gekommen. Sehr zur Freude ihrer Eltern, die nicht müde wurden, es an jedem Geburtstag zu betonen.
»Willst du nicht doch …« Elsie hielt ihr das Messer hin.
»Ich würde lieber gleich das Geschenk aufmachen.«
»Aber erst die Kerzen ausblasen und was wünschen«, erinnerte Elsie sie.
»Na klar, machen wir sofort.« Anna hielt mit beiden Händen die langen Locken im Nacken zusammen und beugte sich über die Torte.
Wer nur Elsies Stimme hörte, hätte vielleicht auf ein kleines zierliches Mädchen geschlossen, mit blonden Locken und einer niedlichen Nase, das gern hübsche Kleider trug. Elsie liebte Kleider und war tatsächlich blond, allerdings waren die Haare glatt und von Mutti zu einem kinnlangen Five-Point-Cut geschnitten, der zurzeit groß in Mode war. Anna fand, der von dem Engländer Vidal Sassoon kreierte Schnitt war viel zu eckig und kantig und passte nicht zu Elsie, aber ihre Schwester stellte sich nun mal gern als Modell zur Verfügung, wenn Mutti etwas Neues ausprobieren wollte. Annas Meinung nach würde Elsie mit Locken viel hübscher aussehen, denn sie war einen ganzen Kopf größer und mit ihren sechzehn Jahren schon voll entwickelt. Die kleine Schwester hatte alles, wovon Anna nur träumen konnte. Busen, Hüften und lange Beine, und alle Jungs gafften ihr nach. Doch Elsie benahm sich, als wäre sie gerade mal zehn, und spielte manchmal sogar noch mit den Puppen aus der Kindheit, die auf ihrem Bett saßen.
Während die Eltern auf dem letztes Weihnachten angeschafften Wohnzimmersofa mit dem moosgrünen Plüschbezug saßen und beobachteten, wie Elsie konzentriert schmale Tortenstücke auf den Tellern verteilte, wechselte Anna ungeduldig von einem Bein auf das andere. »Ich will jetzt endlich meine Geschenke aufmachen …«
»Das Fräulein Ungeduld kann es mal wieder nicht erwarten«, stellte ihr Vater fest und schaute sie gespielt streng an, was bedeutete, dass sie warten sollte.
Endlich legte Elsie das Messer weg, und Mutti deutete auf die Geschenkpakete. »Die mit den Streifen sind für dich, Anna, die mit den Blumen für Elsie.«
Achtlos zog Anna vom ersten Päckchen die gelbe Schleife weg und riss das dünne Geschenkpapier auf. Was dann aus dem Karton zum Vorschein kam, machte sie so wütend, dass sie das Einwickelpapier zusammenknüllte. Flache Stiefel aus weißem Lack, wie man sie jetzt in Paris trug.
»Und, was sagst du?« Ihre Mutter schaute sie erwartungsvoll an. »Hoffentlich bist du nicht so enttäuscht wie letztes Jahr.«
Anna zwang sich zu einem Lächeln.
»Wir wissen, dass du dir etwas anderes gewünscht hast«, sagte ihr Vater.
Anna nickt stumm, innerlich schrie sie jedoch auf. Sie hatte sich eine Staffelei, Ölfarben und eine Leinwand gewünscht, oder wenigstens eines davon, und den Eltern auch den Tipp gegeben, dass sie alles bei Schachinger in der Theresienstraße bekämen, die eine riesige Auswahl an Künstlerbedarf hatten.
»Sei vernünftig, Anna, du hast keine Zeit für ein Hobby, du musst dich für die Gesellenprüfung vorbereiten«, sagte er, wohl um sie zu trösten. »Du solltest auch viel öfter am Modellkopf arbeiten oder deiner Schwester das Haar föhnen, damit dir das flotter von der Hand geht. Bisher dauert das alles noch viel zu lange. Bei der Prüfung gibt es Zeitvorgaben für jede Aufgabe.«
Hobby! Anna schluckte einen dicken Tränenkloß hinunter. Die Eltern wussten doch, dass die Malerei kein Hobby für sie war, sondern ihr großer Lebenstraum. Die blöde Prüfung konnte ihr gestohlen bleiben. Die Lehre hatte sie nur begonnen, weil sie als Minderjährige nicht gegen die Eltern ankam. Es war ihr egal, ob sie die Prüfung bestand oder nicht, sobald sie eine Möglichkeit fand, würde sie ihren Traum verwirklichen. Denn nur wenn sie malte oder auch einfach mit dem Bleistift etwas skizzierte, war sie ganz und gar glücklich. Dann vergaß sie die Welt um sich herum, sah ausschließlich das Modell oder das Objekt vor ihren Augen. Und sie hatte Talent, sogar außergewöhnlich viel Talent, das hatte ihr schon die Lehrerin in der vierten Klasse bestätigt. Ihre Zeichnungen und später die Aquarelle waren regelmäßig im Flur des Schulhauses ausgestellt und von allen bewundert worden.
Aber die Eltern versuchten mit allen Mitteln, sie davon zu überzeugen, gemeinsam mit Elsie den Salon weiterzuführen. Ein Leben lang im Salon zu stehen, jeden Tag Haare schamponieren, schneiden, auf Wickler drehen und beim Auftragen der Dauerwellenflüssigkeit den Geruch nach faulen Eiern ertragen zu müssen, löste ein beklemmendes Gefühl in ihr aus, das sie nur schwer unterdrücken konnte.
Elsie hatte inzwischen ihr erstes Päckchen geöffnet und ein Minikleid herausgeholt, das sie verzückt an den Körper presste und sich damit einmal drehte.
Das nächste Geschenk konnte Anna auch nicht begeistern: ein Kosmetiktäschchen mit Lippenstift, Wimperntusche und Stift für den Lidstrich. Sie wusste nur zu genau, dass es ein Hinweis darauf war, sich zu schminken. Eine Friseuse hat nicht nur auf dem Kopf tipptopp auszusehen, sie sollte auch gepflegt und modisch geschminkt sein. Gehörte das doch ebenfalls zur Ausbildung und Prüfung, genau wie eine perfekte Maniküre, Augenbrauen und Wimpern färben und am Ende noch das große Abend-Make-up. Ihr selbst genügten Seife und Wasser und ein Deodorant.
»Und hier noch eine Kleinigkeit für euch beide.«
Die warme Stimme ihres Vaters holte Anna zurück zur Geburtstagsfeier. Lächelnd hielt er ihnen ein ziemlich großes Paket entgegen.
Anna schaute ihre Schwester an. »Magst du es aufmachen?«
»Au ja.« Elsies Wangen liefen rosarot an vor Aufregung.
Anna nahm ihren Teller mit dem Stück Torte und sank auf einen der hellblauen Cocktailsessel, der genau wie der zweite in Senfgelb zum neuen Sofa passte. Überhaupt war das Wohnzimmer komplett neu möbliert worden, mit einer Regal-Schrank-Wand aus hellem Holz und einer Fernsehkommode. Benutzt wurde der Raum dennoch nur an Sonntagen, Feiertagen und Geburtstagen.
Sie probierte einen kleinen Bissen von der Buttercreme. Lecker war sie ja, auch wenn ihr der Appetit vergangen war. Sagen würde sie das natürlich nicht, die Eltern meinten es nur gut. Für sie schienen Glück und Friseursalon zusammenzugehören wie Wasser und Shampoo. Anna hingegen war nur glücklich, wenn sie einen Stift in der Hand hielt.
Sie erinnerte sich noch ganz genau, als sie mit drei Jahren von Oma Fanny Buntstifte und einen Malblock geschenkt bekommen und dann tagelang nur Regenbögen gemalt hatte. Vati hatte ihr die Geschichte vom Goldtopf erzählt, der am Ende des Regenbogens zu finden sein sollte. Damals hatte sie sich versprochen, den Topf eines Tages zu suchen.
Elsie kämpfte mit zahlreichen Klebestreifen, ehe sie das einfarbige Geschenkpapier entfernen konnte. Hervor kam ein Karton, auf dem in schwarzen Buchstaben das Wort DUAL prangte.
»Ein Plattenspieler …« Elsies zarte Stimme überschlug sich vor Begeisterung.
Die Eltern lachten zur Bestätigung.
Anna dauerte das alles viel zu lange. »Ich helfe dir mal.« Sie nahm das Tortenmesser und schnitt vorsichtig an der längsten Linie entlang, damit Elsie den Deckel öffnen konnte.
»Ein Plattenspieler!«, wiederholte Elsie so andächtig und leise, als könne er sich beim kleinsten Laut in Luft auflösen.
Ihre Mutter überreichte Anna ein weiteres Päckchen. »Das gehört auch noch dazu.«
Anna ahnte, dass es Platten enthielt, denn ohne die wäre das Gerät natürlich nutzlos. Für sie war es mit oder ohne Platten nutzlos, auch wenn sie Songs der Rolling Stones mochte. Elsie gefielen die angeblich netteren Beatles. Streit würde es in ihrem gemeinsamen Zimmer dennoch nicht geben, Anna liebte ihre kleine, sanfte Schwester, und wenn Elsie die Schnulzen der Pilzköpfe hören wollte, bitte schön. Sie würde sich an ihren Zeichenblock setzen und Elsie dabei zeichnen, wie sie zur Musik tanzte. Der Gedanke an dieses Motiv ließ Anna lächeln.
»So, ihr beiden Geburtstagskinder, fürs Erste ist genug gefeiert, in einer Viertelstunde müssen wir den Salon aufschließen. Putzt euch die Zähne, vergesst nicht, Lippenstift aufzutragen und die Frisur zu kontrollieren.« Traudl Sonnlechner stand auf und musterte Anna möglichst unauffällig.
Anna wusste genau, was die Mutter ihr wortlos zu verstehen gegeben hatte: Haare hochstecken. Für eine angehende Friseurgesellin gehörte es sich nicht, mit ungezähmter Lockenpracht im Salon zu stehen. Anna bedankte sich bei den Eltern mit einer Umarmung, häufte sich Stiefel, Schallplatten, Kosmetiktäschchen und Elsies Kleid auf die Arme und folgte ihrer Schwester, die das schwere Geschenk trug.
Elsie blieb mitten im Kinderzimmer stehen und drehte sich um die eigene Achse. »Wo sollen wir ihn hinstellen?«
Anna zuckte mit den Schultern. »Wo du willst, nur nicht auf den Tisch am Fenster.« Der Tisch war ihr Platz zum Träumen – von einem Leben, auf das sie leider noch einige Jahre warten musste.
»Ich weiß, das ist dein Maltisch.« Elsie stellte den Plattenspieler auf ihrem Bett ab. »Jetzt reicht die Zeit eh nicht, um ihn anzuschließen, heute Abend können wir uns überlegen, wohin damit. Eine Steckdose sollte ja auch noch in der Nähe sein.«
Anna legte das Kleid und das Kosmetiktäschchen dazu und ihre Sachen auf ihr Bett. »Du bist immer so praktisch, was würde ich nur ohne dich machen?«
Elsie lachte. »Du übertreibst. Aber jetzt müssen wir uns sputen, sonst kommen wir noch zu spät. Setz dich, ich stecke dir die Haare hoch, dann kann ich gleich mal wieder die ›Banane‹ üben.«
Anna ließ sich nicht zweimal bitten. Elsie war eine echte Haarkünstlerin, wie geschaffen für diesen Beruf, und jede von ihr gelegte oder gesteckte Frisur war makellos. Mutti hatte jedenfalls noch nie etwas daran auszusetzen gehabt.
Während Elsie mit Bürste, Kamm und Haarnadeln und geübten Handgriffen ihre Locken zusammennahm, schaute Anna aus dem Fenster. Das Haus gegenüber war vor fünf Jahren noch eine Ruine und eines ihrer ersten Studienobjekte gewesen. Stets hatte sie das Gefühl gehabt, als stecke ein Geheimnis in diesen Mauerresten. Vati hatte einmal gesagt: »Diese Steingerippe sind eine Mahnung an uns Menschen, nie wieder Krieg zuzulassen.« Wann immer sie hier am Tisch saß und das Haus zeichnete, überkam sie eine unerklärliche Sehnsucht, der sie keinen Namen geben konnte. Vielleicht hatte sie auch nur eine übertrieben bildhafte Fantasie, die in der Stunde zwischen Tag und Nacht, wenn das Licht an Kraft verlor und die Schatten länger wurden, besonders intensiv wurde. Als irgendwann die Bagger angerückt waren, um die »Mahnung an den Krieg« abzureißen, hatte sie sich zur Erinnerung einen der roten Ziegelsteine mitgenommen, in dessen Löcher sie ihre Buntstifte steckte.
»Anna, träumst du schon wieder?«
»Was? Nein, nein, ich hab nur …«
»Aus dem Fenster geguckt und von der großen Liebe geträumt.« Elsie breitete die Arme aus, drehte sich um die eigene Achse und sang I Want To Hold Your Hand.
Anna hielt sich die Ohren zu. Dieser schnulzige Beatles-Song war längst zum Gassenhauer geworden, sie konnte ihn nicht mehr hören und hielt mit dem Chanson Frag’ den Abendwind von Françoise Hardy dagegen.
Es klopfte kurz an die Zimmertür, gleich darauf erschien das Gesicht ihrer Mutter im Türspalt. »Trödelt nicht rum, Mädchen, in fünf Minuten wird der Laden geöffnet.« Die mütterliche Mahnung beendete den Gesangswettstreit.
Seufzend ergab sich Anna ihrem Schicksal, und nicht zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, in die falsche Familie hineingeboren zu sein. Als gehöre sie nicht hierher, als habe sich dieser dämliche Storch verflogen.
Oktober 1965
ANNAGELANGES, den Telefonhörer bewusst sachte aufzulegen, obwohl sie ihn zu gern mit voller Wucht auf die Gabel geknallt hätte. Immer freundlich zu sein und sozusagen durch den Hörer zu lächeln, kostete unheimlich viel Kraft. Samstags schrillte der Apparat pausenlos, und vor allem den Damen aus »besseren Kreisen« fiel immer erst in letzter Sekunde ein, dass sie eine Abendeinladung hatten und ihre Frisur zum Fürchten aussah. Dann flehten sie um einen Termin bei Frau Traudl, die sie doch sicher irgendwo dazwischenquetschen könne. Das ging seit einem knappen Jahr so.
Angefangen hatte es vergangenen Dezember, als Heidi Brühl sich von Frau Traudl das blonde Haar hatte waschen und legen lassen. Frisch geföhnt erschien die Schauspielerin im Mathäser Filmpalast zur Premiere von Old Surehand und wurde mit Stewart Granger, dem Hauptdarsteller des Karl-May-Films, fotografiert. Irgendein Reporter hatte Frau Brühl gefragt, welchem Friseur sie ihre blonde Mähne anvertraue, und das war dann in allen Tageszeitungen und später auch noch in einigen Illustrierten nachzulesen. Seitdem konnten sie sich vor Anfragen kaum retten. Anfangs hatte Anna noch mitgezählt, wie viele Neukunden sie hatte vertrösten müssen, es aber bald aufgegeben und angenommen, dass sie sich ohnehin nicht wieder melden würden. Die Eltern waren anderer Meinung und hatten vorhergesehen, dass goldene Zeiten anbrachen. Anna hatte geahnt, was diese »goldenen Zeiten« für sie als Lehrling bedeuteten: Arbeit, Arbeit und noch mehr Arbeit und immer rote Hände vom Haarewaschen.
Mit Elsie zusammen war sie für das Telefon und das Terminbuch zuständig, sie mussten zudem die Mäntel abnehmen, schamponieren und abgeschnittene Haare aufkehren. Lehrjahre sind keine Herrenjahre, pflegte ihr Vater zu sagen, wenn sie erklärte, sich den Beruf der Friseuse anders vorgestellt zu haben.
»Herzlichen Dank, Frau Direktor, beehren Sie uns bald wieder.«
Die mit einem Direktor verheiratete Frau drückte ihr zwanzig Pfennige in die Hand und stolzierte mit hocherhobener Nase aus der Tür, die Anna ihr aufhielt. Es ist einfach nur demütigend, dachte sie beim Einstecken der beiden Münzen, wie ein Lakai dazustehen, diesen Damen die Tür aufzuhalten und sie damit in ihrer Überheblichkeit auch noch zu bestätigen. Mutti predigte stets, dass manch reiche Dame im Grunde sehr arm sei, denn sie könne sich in Notzeiten ihren Lebensunterhalt nicht mit ihrer Hände Arbeit verdienen. Eine talentierte Friseuse hingegen könne niemals brotlos werden, denn Haare hörten nicht einmal nach dem Tod auf zu wachsen. Das Friseurhandwerk sei eines der ältesten und beständigsten überhaupt, und die Sonnlechners eine ehrwürdige Dynastie von Friseuren. Der Ururgroßvater habe als sogenannter Bader noch Zähne gezogen und kleine Wunden versorgt. Anna empfand es trotz Dynastie und aller Ehre erniedrigend, wie ein zweitklassiger Mensch behandelt zu werden, und manchmal war es, als spucke ihr jemand ins Gesicht.
»Anna! Träumst du schon wieder?« Ihre Mutter klatschte in die Hände. »Los, los, Frau Mittermeier waschen und bei Frau Kercher muss die Pflegepackung ausgewaschen werden. Aber gründlich, sonst ist das Haar zu schwer und die Frisur fällt zusammen.«