Die Feinde der Hansetochter - Sabine Weiß - E-Book
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Die Feinde der Hansetochter E-Book

Sabine Weiß

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Beschreibung

Lübeck 1379. Die junge Hansekauffrau Henrike ist bestürzt, als sie ein Brief aus Flandern erreicht: Ihre Familie in Brügge wird bedroht. Ausgerechnet jetzt sind Henrikes Mann Adrian und ihr Bruder Simon auf Handelsreisen - so macht sie sich kurzerhand alleine auf den Weg in die von Aufständen erschütterte Stadt. Als dann aber auch noch Adrian und Simon nur knapp Mordanschlägen entgehen, ist klar: Das kann kein Zufall sein! Gemeinsam decken sie eine Verschwörung auf, die ihre Liebe und ihr Leben zu zerstören droht ...

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Inhalt

Cover

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Personenverzeichnis

1379

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Glossar

Anmerkung und Dank

Über die Autorin

Sabine Weiß, Jahrgang 1968, arbeitete nach ihrem Germanistik- und Geschichtsstudium als Journalistin. 2007 veröffentlichte sie ihren ersten Historischen Roman, der zu einem großen Erfolg wurde und dem vier weitere folgten. Sie liebt es, im Camper auf den Spuren ihrer Figuren zu reisen und direkt an den Schauplätzen zu recherchieren, wobei sie, wie schon bei Hansetochter und Das Geheimnis von Stralsund, auch diesmal wieder mit Begeisterung in die Geschichte ihrer norddeutschen Heimat eintauchte. Sie lebt in der Nordheide bei Hamburg.

Sabine Weiß

Die Feinde der Hansetochter

Historischer Roman

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, KölnTitelillustration: © Richard Jenkins Photography; The Great Fire in the Old Town Hall, Amsterdam, 1652, 17th century, Beerstraten, Jan (1622–66)/Private Collection/Johnny Van Haeften Ltd., London/ Bridgeman Images; © akg-imagesTextredaktion: Ulrike Werner-Richter, Kai LückemeierKarte und Illustrationen: Markus Weber, Guter Punkt MünchenUmschlaggestaltung: Johannes Wiebel, punchdesign, MünchenE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-1504-2

www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de

Meiner Mutter, in Liebe und Dankbarkeit

Personenverzeichnis

LÜBECK

Henrike und Adrian Vanderen, Kaufleute aus Lübeck

Simon Vresdorp, Henrikes Bruder

Cord, Liv und Claas, Kaufgehilfen

Margarete, genannt Grete, Henrikes alte Amme, Köchin

Windele, Magd

Bosse Matys, Schiffer auf Adrians Kogge Cruceborch

Nikolas und Telse Vresdorp, Henrikes Vetter und Base

Jost, Kaufmann, Telses Geliebter

Hinrich von Coesfeld*, Kaufmann

Oda, seine Tochter und Henrikes Freundin

Tale von Bardewich, Kauffrau

Goswin Klingenberg*, Kaufmann

Ubbo Abdena, ostfriesischer Adelsspross

Detmar*, Franziskaner, Lesemeister und Beichtvater des Katharinenklosters in Lübeck

Bürgermeister und Ratsherren

Hermanus von Osenbrügghe*

Jacob Plescow*

Symon Swerting*

Gerhard Dartzow*

Hermann Dartzow*

Albert Rodenborch*, Ratsschreiber

GOTLAND, DÄNEMARK

Asta, Henrikes Tante und Gutsherrin

Katrine, ihre Tochter

Sasse, ihr Knecht

Erik, Kaufmann

Gunda, seine Frau

BERGEN, NORWEGEN

Ellin, Krämerin

Tymmo, Ellins Mann

Henk, ihr Sohn

GAUTAVIK, ISLAND

Alvar, früherer Falkner

Runa, seine Tochter

Dagur, Schiffer

Jón, sein Bruder

Einar, Steuermann

BRÜGGE, FLANDERN

Lambert, Adrians Bruder

Martine, seine Frau

Joris, Cornelius, Agniete und Gossin, ihre Kinder

Rosina, Lisebette und Lucie, Adrians und Lamberts Schwestern

Ricardo, Kaufmann aus dem italienischen Lucca und Adrians bester Freund, lebt mit seiner Frau Cecilia in Brügge

DEUTSCHORDENSSTAAT

Winrich von Kniprode*, Hochmeister

Konrad von Jungingen*, Ordensritter

Willem von Ghent, Falkenmeister

Frans, Falkenknecht

Graf Adolf I. von Kleve*

Graf EngelbertIII. von der Mark*

Sylvestre Clerbaut*, Ritter

Herr von Mastaing*, Ritter

John Russel*, Ritter

Janis, Sklave

1379

Juni bis Dezember

1

Schonen, Anfang Juni

Der Mann hastet über den Strand. Er bemerkt weder, dass Sand in seine Lederschuhe dringt und sie ausbeult, noch, dass der Strandhafer seine Seidenstrümpfe zerreißt. Die finsteren Blicke seiner Schuldner treiben ihn weiter, genau wie deren Verwünschungen. Würde man es wirklich wagen, ihn anzugreifen? Verfolgte man ihn bereits? Er will lauschen, doch sein eigenes Keuchen übertönt alle Geräusche. Eilig erklimmt er die Düne. Niemand zu sehen. Schnell auf der anderen Seite hinab! Strauchelnd fällt er in den klammen Sand. Jetzt könnte sich jemand auf ihn stürzen! Er rappelt sich auf. Weiter, nur weiter, obgleich die Flanken schmerzen. Eine Düne noch, dann durch das Buchenwäldchen, und er hätte es geschafft.

Deutlich spürt er die schweren Geldbeutel an seiner Hüfte. Die Schonische Messe fängt erst in einigen Wochen an, aber er hat schon ein kleines Vermögen verdient. Am Strand um Falsterbo und Skanör tummeln sich bereits unzählige Menschen. Kaufleute konkurrieren um die besten Lagen für ihre Buden und feilschen mit den Fischern um ein Vorkaufsrecht auf ihren Fang. Alle treffen Vorbereitungen für die bedeutendste Handelsmesse der nordischen Welt. Nicht nur die Lage am wichtigsten Schifffahrtsweg der südlichen Ostsee macht Schonen so begehrt. Ein schlanker Fisch, der in den Sommermonaten hier dicht an dicht im flachen Wasser schwimmt, hat die dänische Halbinsel zu ihrer Bedeutung gebracht: »König Hering« ist die wichtigste Speise der Christenmenschen zur Fastenzeit – und die macht insgesamt immerhin etwa ein Drittel eines Jahres aus. Kein Kaufmann kann es sich leisten, die Schonischen Messen auszulassen, und so finden sich Tausende ein und bringen Waren aus aller Herren Länder mit. Im Moment arbeiten neben den Fischern und Fischweibern vor allem Zimmerleute hier, um die von den Winterstürmen weggefegten Holzschuppen wieder aufzubauen. Die Kaufleute haben, nach Städten geordnet, eigene Vitten, um Handel zu treiben und Salz, Bier, Tuche und andere Güter zu lagern. In einigen Buden wird der Fisch verarbeitet, in anderen der Grum, die Fischabfälle, zu Tran gekocht. Und natürlich können auch die Huren ihrem Gewerbe nicht im Freien nachgehen.

Er rennt über die letzte Düne in die Senke, in der kühle Schatten zwischen den jungen Buchen hängen. Der Kaufmann fröstelt und zieht sein samtenes Wams zusammen, damit der Kragen aus weichem Marderfell seinen Hals umschließt. Er braucht seine Stimme. Sie ist sein wichtigstes Handwerkszeug.

Seine Gedanken wandern zu seinen letzten Geschäften zurück. Er hatte Stangeneisen und Holz geliefert, beides zu einem hohen Preis. Die Nachfrage war so groß, dass er noch heute sein Schiff klarmachen und zurückreisen würde. Vielleicht würde es ihm gelingen, ein weiteres Mal vor seinen Konkurrenten in Schonen einzutreffen und ebenso viel Gewinn zu machen.

Der Waldrand ist erreicht. Endlich ist die Kirche in Sicht! So hell leuchtet die weiße Fassade des Gotteshauses gegen das Blau, dass er die Augen zusammenkneifen muss. Er spürt den Himmel über sich. Gott scheint ihm nah, zu nah. Jeden Winkel seiner Seele prüft der Allmächtige, und was er erblickt, dürfte ihm nicht gefallen …

Denn der Handel ist nicht das Einzige, mit dem er Geld verdient. Oft wird er als Wucherer geschmäht. Und in einem sind sich alle einig, ob Adelige oder Tagelöhner: Geld wollen sie borgen, aber ihre Schulden nicht bezahlen. Wie der Zimmerer, der ihn vorhin mordlustig beschimpft hat. Aber warum soll er keine Entschädigung erhalten, wenn er Geld verleiht? Schließlich haben seine Kunden auch nur ihren Vorteil im Sinn.

Doch allmählich wird ihm bang um sein Schicksal. Erst letzte Nacht war er wieder aus dem Schlaf geschreckt. Ihm träumte, der Erzengel Michael habe seine Seele gewogen und für zu leicht befunden, weil er angeblich einen unrechten Zins verlangt hatte. Im Traum hatte er versucht, sich zu verteidigen, doch seine Stimme hatte versagt. Auch hatte der Engel die winzigen Teufel nicht gesehen, die sich keckernd und feixend an die andere Seite der Waage krallten und mit ihren Hufen ausschlugen. Sie wollten ihn zu sich in die Hölle reißen, wo er die Qualen der Wucherer erleiden würde. Noch immer meint er ihr Lachen zu hören. Um die Teufel auf Abstand zu halten und eine sichere Schiffsreise zu erflehen, muss er in die Kirche. Gott muss gnädig gestimmt werden.

Eine Böe peitscht Sand in seinen Nacken. Der metallische Geruch des Fischbluts hängt ihm in den Kleidern. Wie gleißend das Licht ist! Als würde er direkt vor den himmlischen Heerscharen stehen …

Erleichterung durchflutet ihn, als er durch die offene Kirchentür tritt. In Sicherheit! Hier würde ihm niemand etwas antun. Wenn er erst gebeichtet hatte, würden auch die Teufelsstimmen in seinen Ohren verstummen.

Die Kirche scheint leer. Nervös nestelt der Kaufmann das Perlenpaternoster aus seiner Tasche. Die schimmernden Kugeln des Rosenkranzes fliegen über seine Fingerkuppen. Erst als sich seine Augen an das Zwielicht gewöhnen, bemerkt er den Mönch, der bäuchlings mit ausgebreiteten Armen vor dem Altar liegt.

»Bruder Thomas?«, fragt der Kaufmann heiser. Bei ihm hatte er in den letzten Tagen gebeichtet. Der Priester hatte sich als gutwillig erwiesen und ihn nach großzügigen Spenden gerne von seinen Sünden freigesprochen. Er bevorzugt verständige Seelenhirten und meidet jene, die ihn maßregeln.

Der Priester erhebt sich. Er ist ihm unbekannt. Im Zwielicht im Gesicht des Geistlichen zu lesen, fällt ihm schwer.

»Ich will beichten. Ist Bruder Thomas nicht da?«

»Bruder Thomas hat sich zurückgezogen, um zu Gott zu sprechen. Zögert nicht, wenn Ihr Eure Seele erleichtern wollt. Wisst Ihr denn nicht: Wir sind nur Diener unseres Herrn. Jeder von uns dient ihm so gut wie der andere«, antwortet der Priester mit samtener Stimme.

Er weist auf den Stuhl, der seitlich des Altares steht. Worte und Tonfall beruhigen den Kaufmann etwas. Zögernd folgt er dem Gottesmann und lässt sich zu seinen Füßen auf die Steinplatten sinken. Wie kalt ihm ist! Aber von dem Geld, das er verdient, würde er sich etliche neue Pelze leisten können und einige Huren noch dazu, die ihm des Nachts das Bett wärmten. Noch etwas, das er beichten muss …

Die Hand legt sich auf seinen Kopf, überraschend schwer. Der Priester murmelt die lateinischen Sätze, die die Beichte einleiten. Die Anspannung des Kaufmanns lässt nach. Gleich wird er sich besser fühlen.

»Oh allerliebster Herr und allergerechtigster Gott. Meine Schuld ist groß, meiner Sünden sind viele. Meine Zeit ist kurz, und ich bin ein armer Mensch. Diese Sünden habe ich getan seit meiner letzten Beichte«, beginnt er. Zügig führt er die Vergehen auf, derer er schuldig geworden ist. Unkeusche Gedanken und unzüchtige Taten einzugestehen, fällt ihm leicht. Aber seine Geschäfte umschreibt er lieber nur. Es ist vertrackt, als Kaufmann steht man immer mit einem Bein im Fegefeuer! Der Priester ist jedoch einer von der Sorte, die es genau wissen will. Unbarmherzig bohrt er nach. Wie diejenigen Beichtiger, die sich in allen Einzelheiten den Ablauf einer Liebesnacht schildern lassen, um danach mit erhitzten Wangen die Bußsumme festzulegen.

»Ihr sprecht also von schändlichem Gewinn und Wucher, deren Ihr Euch schuldig gemacht habt?«, fragt der Priester streng.

Vielleicht hätte er doch auf Bruder Thomas warten sollen. Aber dann hätte er seine Abreise verschieben müssen. Und ohne Beichte loszusegeln, wagt er nicht …

»Ich bin ein Geschäftsmann, Bruder. Auch ich muss von etwas leben, muss meine Knechte und Mägde bezahlen«, versucht er sich herauszuwinden. Er zwinkert mit den Lidern, um Tränen herauszuquetschen. Zeichen der Reue, die von jedem Büßer bei der Beichte erwartet werden.

»Es heißt bei Mose: Wenn du Geld verleihst an einen aus meinem Volke, an einen Armen neben dir, so sollst du an ihm nicht wie ein Wucherer handeln; du sollst keinerlei Zinsen von ihm nehmen.«

»Wucher ist ein hartes Wort.«

»Windet Euch nicht: Ihr seid ein Wucherer!«

»Ich möchte eine Altarkerze spenden, um meine Sünden abzumildern. Großzügige Almosen geben. Ablass erwerben. Und für Euch …«

Der Priester fällt ihm ins Wort: »Wollt Ihr mit Gott feilschen?«, donnert er.

»Natürlich nicht. Verzeiht, Bruder.« Zerknirscht tastet der Kaufmann nach seinem Rosenkranz. Warum erlegt der Priester ihm nicht endlich die Buße auf und spricht ihn frei?

Der Priester beugt sich vor. Bevor der Kaufmann weiß, wie ihm geschieht, packt der vermeintliche Gottesmann seinen Schopf und spricht: »Gott mag dir vielleicht vergeben. Aber mein Auftraggeber tut es nicht. Jetzt zahlt er dir seine Schulden zurück.«

Der Kaufmann will aufspringen, um sich schlagen. Sich wehren. Fliehen. Aber die Angst lähmt ihn, bis es zu spät ist. Ein Ruck, und es ist vorbei. Sein letzter Blick gilt dem Gesicht, das die Schatten nun freigegeben haben. Es ist ein Allerweltsgesicht, in dem er einen beinahe amüsierten Ausdruck von Gleichgültigkeit liest. Leises, höhnisches Lachen perlt in seinen Ohren. Des Teufels Spießgesellen – da sind sie wieder. Springen an den Rand der Waagschale, in der seine Seele liegt. Reißen sie hinunter, unaufhaltsam, der Hölle entgegen …

Der Mörder zieht die Kutte über seinen Kopf und stopft sie in die Nische hinter dem Altar. Das Perlenpaternoster und den Geldbeutel des Kaufmanns steckt er ein. Er ist kein Dieb – warum aber diese Schätze zurücklassen? Der Priester würde sie sich später auch nur unter den Nagel reißen.

Er sieht nicht in das Kirchenschiff zurück, wo er den Kaufmann, einem Kreuz gleich, auf den Boden gelegt hat. Wenn die Hure mit Bruder Thomas fertig ist, wird dieser in der Kirche einen verzweifelten Sünder finden, den Gott während des Gebets zu sich gerufen hat.

Sein Schritt ist federnd. Weder Mitleid verspürt er noch Reue oder Furcht vor göttlicher Strafe. Mit Gott hat er ohnehin noch eine Rechnung offen. Er hat nichts für Wucherer übrig, für diesen schon gar nicht. Viele werden sich über seinen Tod freuen. Nicht nur sein Auftraggeber – ein Pelzhändler, den der Wucherer beinahe in den Ruin getrieben hätte –, sondern auch sein eigener Vater. Er wird natürlich nicht verraten, dass er den Wucherer mit eigenen Händen getötet, sondern lediglich, dass er für dessen Verschwinden gesorgt hat. Endlich muss der Alte anerkennen, dass er nützlich war. Er, der Bastard.

Er läuft durch die Dünen und mischt sich unter die Fischer und Zimmerleute. Von da aus macht er sich gemessenen Schrittes auf den Weg in den Ort. Nach wenigen Minuten hat er die Herberge im Landesinneren erreicht.

»Sind meine Waren ausgeliefert?«, fragt er den Knecht. Einige Kleinigkeiten hatte er an einen örtlichen Händler verkauft, damit seine Anwesenheit nicht auffällt. Für die Leute hier ist er ein einfacher Kaufmannsgehilfe, nicht mehr.

»Ganz wie Ihr wünschtet, Herr.« Er gibt dem Knecht eine Münze. Nicht zu groß, damit er sich nicht seiner Großzügigkeit erinnert, und nicht zu klein, damit er ihn nicht als Geizhals im Gedächtnis behält. Das Mittelmaß ist alles, wonach er strebt. Unscheinbar, unauffällig zu sein, einer von vielen. Unsichtbar. Im Moment zumindest. Aber eines Tages würde es anders sein. Er würde einzigartig sein, wichtig, besonders. Jeder würde ihn kennen. Jeder würde sich seine Gunst wünschen. Und jeder würde ihn fürchten.

Den Schlüssel zu seiner Kammer in der Hand – da die Handelsmesse noch nicht begonnen hat, muss er sie nicht teilen –, hält er inne. Ist da nicht ein neuer Geruch? Noch bevor er sich darüber klar wird, öffnet sich die Tür. Seine Dolchhand schnellt vor und richtet sich auf das Brustbein eines Fremden, der ihm aus seiner Kammer entgegenlächelt.

»Kommt herein, ich habe Euch schon erwartet. So hat der arme Kaufmann das Zeitliche gesegnet. Und Bruder Thomas? Lässt er es sich wohl besorgen, oder bleibt er keusch?«

Er verstärkt den Druck der Messerspitze. Jetzt zuzustechen wäre leicht. Aber woher weiß der Bärtige …? Und wer zur Hölle ist er? Er muss bei diesem Mann zweimal hinsehen: feine Kleidung und ein silberbeschlagener Stock, aber auch eine so buckelige Nase, als habe er viele Faustkämpfe ausgetragen. Von diesem Zinken kann nicht einmal der wuchernde Vollbart ablenken. Ein Haudegen im feinen Zwirn? Und dann dieser Gestank nach Heilkräutern, der von ihm ausgeht!

»Ich habe keine Ahnung, wovon Ihr sprecht. Macht, dass Ihr mein Zimmer verlasst, sonst muss ich davon ausgehen, dass Ihr mich bestehlen wollt, und Euch diesen Dolch in die Brust rammen.«

»Das wäre doch ein Jammer, edler Herr …«

Er stößt den Bärtigen in die Kammer, bevor dieser den verhassten Namen aussprechen kann. Den Namen, der ihm zusteht und den er doch nicht tragen darf. Sein Vater hat ihm nie erlaubt, den Namen von Bernevur zu tragen, ihm, dem Bastard. Aber er wird ihn sich erkämpfen. Eines Tages wird ihn jeder als Wigger von Bernevur kennen – und fürchten.

Der Bärtige stolpert rückwärts, fängt sich aber ab und stützt sich wieder lässig auf seinen Stock. »… wo ich Euch ein so lukratives Geschäft anzubieten habe. Und ich spreche nicht von der läppischen Ware, die Ihr mitgeführt habt.«

Mit dem Fuß schlägt Wigger die Tür zu. Dass er den Eindringling töten wird, ist klar. Aber erst muss er herausfinden, was dieser über ihn weiß.

»Ich bin nicht auf Geschäfte aus«, sagt er und spielt die Möglichkeiten durch, wie er den ungebetenen Besucher vom Leben zum Tod befördern kann.

Gelassen mustert der Bärtige ihn. »Bei anderen seid Ihr nicht so wählerisch.«

»Wer immer Euch das erzählt hat, lügt. Ich bin ein einfacher Kaufmannsgehilfe.«

Sein Gegenüber streicht gelangweilt über den Silberstock. Die Gravur eines Adlers ziert den Knauf. Ein schönes Stück …

»Ach bitte, müssen wir dieses Spiel wirklich spielen? Nein, lassen wir das. Wenn jemand gut ist in dem, was er tut, dann spricht sich das herum. Und Ihr seid gut im Töten.«

»Das ist Verleumdung!« Sein Dolch schießt in Richtung des Bärtigen und stoppt erst, als er auf den Brustkorb trifft. Was erlaubt er sich! Am liebsten würde er ihm die Selbstgefälligkeit aus dem Gesicht prügeln. Aber das hat wohl schon jemand vor ihm versucht. Er hat nie vorgehabt, zum Mörder zu werden. Hätte sein Vater nicht …

»Ich würde Euch abraten, mir etwas anzutun, mein Diener wartet vor der Tür«, sagt der andere ruhig.

»Ich habe niemanden bemerkt.«

»Nun, Ihr habt auch mich nicht bemerkt. Oder irre ich mich?«

Statt einer Antwort schnaubt Wigger unwillig. Genug geredet. Er will dem Eindringling den Stock wegtreten, dann die Kehle aufschlitzen. Doch als er dazu ansetzt, holt dieser blitzschnell mit dem Gehstock aus und trifft seinen Dolcharm. Ein Zweikampf entbrennt, bei dem der Bärtige trotz seines offenkundig verletzten Beines mithalten kann. Gerade als Wigger den Bärtigen endlich niederringen kann, wird die Tür aufgerissen. Ein Schrank von einem Mann steht auf der Schwelle, das Schwert erhoben. Doch als der Handlanger sieht, dass die Messerspitze des Mörders bereits den Hals seines Herrn ritzt, hält er inne.

»Verratet mir Euren Informanten«, verlangt Wigger zu wissen.

»Sicher nicht. Aber ich kann Euch etwas anderes verraten.«

Ruhig, als bemerke er das Messer nicht, gibt der Bärtige seinem Begleiter einen Wink. Ein Samtbeutel landet auf dem Boden. Er klimpert satt, die heitere Melodie vieler Goldmünzen. »Nämlich, wie viel Gold meinem Herrn Eure Dienste wert sind. Noch einmal so viel, wenn Ihr den Auftrag erledigt habt.«

»Öffnet den Beutel«, fordert Wigger. Der Diener zieht die Schnur, und unzählige Gulden kullern über die ausgetretenen Bohlen. Unwillkürlich hält Wigger den Atem an. Es ist eine größere Summe, als er erwartet hat. Damit wäre er schon bald am Ziel seiner Wünsche, sehr bald. Er lässt den Bärtigen los. Vielleicht lohnt es sich doch, zu reden …

»Was soll ich tun?«

Der Bärtige schickt seinen Diener vor die Tür und spricht erst, als dessen Schritte verklungen sind.

»Eine Familie ruinieren, auslöschen, vom Erdboden tilgen.«

Schon mit diesem Satz gewinnt Wigger seine Kaltblütigkeit zurück. Ruhig, die Lider halb geschlossen, lauscht er. Als der Bärtige endet, lässt er die Worte lange nachklingen. Eine ganze Familie töten. Eine angesehene Lübecker Kaufmannsfamilie noch dazu. Das ist beinahe unmöglich, und auch für ihn lebensgefährlich, denn das Risiko, ertappt zu werden, ist groß. Zudem bräuchte er vermutlich Helfer. Aber mit dem Blutgeld wäre er am Ziel. Seine Zukunft und die seiner Familie würde endlich so glorreich werden, wie es ihnen zustand. Niemand würde dann mehr wagen, ihn Bastard oder Mörder zu nennen. Sein Vater müsste ihn achten. Man würde ihn endlich anerkennen. Und sein eigener Sohn würde zu den einflussreichsten Familien des Landes gehören. Außerdem liebt er Herausforderungen. Die Entscheidung fällt ihm nicht schwer.

2

Gotland, Sommer 1379

Komm heraus, Katrine, es ist wunderbar hier!«

Kaum hatte Sasse das Pferd gezügelt, sprang Asta schon vom Kutschbock. Ihre bloßen Füße landeten in den Polstern aus weißen und lila Blüten, und ein betörender Duft, in den sich die herben Noten von Thymian und Kiefer mischten, stieg zu ihr auf. Asta ging immer barfuß, sogar im Winter. Erst war es ihr schwergefallen, ohne ihre Samtschuhe und die hölzernen Trippen gegen den Schmutz der Straße auszukommen. Inzwischen genoss sie das Kitzeln der Grashalme zwischen ihren Zehen, und selbst das Piksen der Kiefernzapfen unter ihren Fußsohlen machte ihr nichts mehr aus. Ihr gefiel es, sich zu spüren. Besitz lenkte nur ab vom Wesentlichen.

Den Landstrich hatte Asta sofort wiedererkannt. Vor beinahe zwanzig Jahren war sie zuletzt über diese Wiese zwischen dem lichten Haselhain und dem Nadelwald gelaufen. Damals war sie jung verheiratet gewesen und voller Träume. Ein reiches Haus hatte sie sich gewünscht und eine große Familie. Nichts davon war wahr geworden. Ein hartes Schicksal hatte sie zurechtgestutzt. Es hatte sie gelehrt, nichts mehr zu erstreben. Erst nachdem sie zum zweiten Mal dem Tod ins Auge gesehen hatte, war wieder ein Wunsch in ihr aufgekeimt. In den letzten Jahren war er gediehen, stark geworden. Er hatte sie hierhergeführt.

Wie froh sie war, dass sie sich entschlossen hatte, nach Gotland zurückzukehren! Das Gesinde auf ihrem Hof in Travemünde kam eine Weile ohne sie aus. Längst hatte sie für ihre Nachfolge gesorgt. Für Asta war es eine Reise in die Vergangenheit und der Versöhnung. Auf Gotland waren sie und ihre Schwester Clara geboren worden, hier waren sie glücklich gewesen … bis zu dem Überfall und ihrer Flucht. Als sie vor zwei Wochen den weiß leuchtenden Küstensaum der Insel wiedergesehen hatte, hatte die Erinnerung sie von den Füßen gerissen wie eine Brandungswoge. Es hatte sie niedergeschmettert, wieder vor Wisbys Mauern zu stehen, an denen so viele Hoffnungen zerschellt waren. Ihr Elternhaus zu betreten, in dem sie so viele frohe Stunden verbracht hatte. Das Schlachtfeld zu sehen, das 1361 von dem Blut des Bauernheeres und ihrer Familie getränkt gewesen war. Aber Stück für Stück hatte sie erkannt, dass sie ihren Frieden mit dem machen konnte, was geschehen war. Dass sie Neues entdeckte.

Gotland war eine Insel voller Traditionen und Geheimnisse. Ein Eiland, auf dem überall die Kraft der Natur zu spüren war. Die zahllosen Steinkreise, Hügelgräber und die hohen Bildsteine mit ihren Spiralen und Wirbeln, mit ihren Seeungeheuern und Schiffen bewiesen, wie sehr die Altvorderen mit dieser Kraft verbunden gewesen waren. Es war verständlich, dass christliche Missionare viele dieser Orte zerstört hatten. Wie mussten sie die alten Götter gefürchtet haben! Manchen Bildstein, den Asta als Kind bewundert hatte, hatte sie zerbrochen im Mauerwerk einer Kirche wiederentdeckt. Gotland hatte nur aus einem Grund mehr Kirchen als jede andere Insel: um die Macht der heidnischen Götter zu bannen. Doch Asta konnte diese Kraft noch spüren, und sie hoffte, dass es ihrer Tochter Katrine und ihrem Gefährten Sasse ebenso ging. Schade nur, dass ihre Nichte Henrike sie nicht begleitet hatte, sie wäre sicher auch empfänglich dafür. Aber die junge Kauffrau war in Lübeck unabkömmlich.

»Katrine?«

»Gleich, Mutter!«

Erneut huschte ein Lächeln über Astas Gesicht. Sie war glücklich, dass sie Katrine hatte. Ihre Tochter war eine liebenswerte, geschickte junge Frau. Nur dass sie so ängstlich war, betrübte sie. Katrine hatte ungern ihren Hof bei Travemünde verlassen. Auch jetzt blieb sie am liebsten in dem großen Kaufmannshaus in Wisbys Altstadt. Einzig die Wandmalereien in den Kirchen und die Bildsteine hatten es Katrine angetan. Stets fertigte sie in ihrem Wachstafelbüchlein Zeichnungen der Symbole an, um sie später auf ihre Stickereien übertragen zu können. Am Anfang hatte sie nur Gürtel bestickt, aber inzwischen waren manche ihrer Arbeiten ebenso kunstvoll wie groß. Sie konnte mit ihren Stickereien ganze Welten erschaffen.

Noch immer war von Katrine nichts zu sehen. Asta wurde ungeduldig. Ihre Tochter sollte heraus aus dem Wagen! Sollte etwas sehen von der Welt, die sie umgab. Nicht immer nur Sticken und Beten! Asta hatte schon über fünfzig Sommer erlebt und würde bald ihre letzten Jahre vor dem Ofen verbringen. Ihre Tochter jedoch sollte das Leben auskosten!

»Nun komm schon!«, forderte sie und schlug die Leinwand des Planwagens beiseite.

Katrine saß auf der Bank und hielt ihr Wachstafelbüchlein umklammert. Aufmunternd und unmissverständlich hielt Asta ihrer Tochter die Hand hin. Katrine war achtzehn Jahre alt, wirkte aber mit ihren langen blonden Zöpfen, der zarten Figur und den Sommersprossen auf der Nase manchmal noch wie ein Kind. Endlich erhob sie sich. Sie schob Wachstafel und Griffel in ihre Buchtasche, rückte ihren Gürtel zurecht und zupfte an ihrem Schultertuch. Es war heiß, und doch hüllte Katrine sich ein, als müsse sie ihren Körper verbergen. Asta drängte ihre Missbilligung zurück. Sie hoffte, dass Katrine irgendwann die Furcht überwinden würde, die die schrecklichen Ereignisse vor beinahe vier Jahren bei ihr hinterlassen hatten. Zwei Männer hatten Katrine Gewalt angetan. Die Kerle, die ihre Tochter geschändet hatten, waren von ihrem Gefährten Sasse bestraft worden. Ihre Tat aber würde Katrine für immer verfolgen. Wenig später war auch noch Astas Hof überfallen worden. Überall hatte es gebrannt. Als Gutsherrin hatte sie versucht, möglichst viele Menschen und Tiere zu retten. Dabei war sie selbst beinahe gestorben. Aber eben nur beinahe …

Die junge Frau nahm die Hand ihrer Mutter und kam heraus. Asta gab Sasse, der gerade ihr Pferd an einen Baum band, ein Zeichen. Nichts hielt sie jetzt mehr. Er nickte ihr in seiner ruhigen und selbstsicheren Art zu. Sasse würde nicht nur ihr Leben mit seinem eigenen verteidigen, sondern auch das ihrer Tochter schützen.

»Wollen wir nicht auf Sasse warten?«, fragte Katrine zögernd.

Asta strahlte sie an. »Sieh dich um! Was soll uns hier schon geschehen?« Tatsächlich war kein Mensch zu sehen. Nicht in jedem Wäldchen trieben sich Unholde herum!

Sie lief zum Waldsaum und zog Katrine mit sich. Wie wunderbar die Zweige unter ihren Füßen knackten! Hier war es irgendwo, sie wusste es noch genau. Nicht zu weit entfernt von Wisby und doch weit genug. Hier war der Hof ihrer Eltern gewesen. Hier mussten die Bildsteine sein. Und die verborgene Höhle. Ein verstecktes Labyrinth. Manches Liebespaar hatte es als Treffpunkt genutzt … Auch sie. Asta lächelte bei dem Gedanken daran. Ob Sasse ahnte, was sie mit diesen Orten verband?

Doch schon strich ein Schatten über ihr Gemüt. In Zeiten der Not hatten sich die Altvorderen in den Höhlen verborgen. Ob auch ihre Mutter und ihr Vater vor dem Angriff in die Höhle geflohen waren? Asta hatte es nie herausfinden können. Während sie selbst sich in der nahe gelegenen Stadt Wisby aufgehalten hatte, war der Hof ihrer Eltern von dänischen Söldnern überfallen, geplündert und niedergebrannt worden. Bei dem Kampf waren viele Bewohner ums Leben gekommen – auch ihre Eltern. Der Hof war so gründlich zerstört worden, dass kaum noch etwas von dem Mauerwerk übrig geblieben war.

Bedrückt lief Asta jetzt die Wiese ab. Erst als sie das Fundament des hohen Ringkreuzes unter Grasbüscheln fand, konnte sie sich wieder orientieren. An diesem Hofheiligtum hatten sich allmorgendlich die Hofbewohner zur Andachtsstunde versammelt, unter ihm war gefeiert und getrauert worden. Vom Ringkreuz aus waren es fünfzehn, vielleicht zwanzig Schritte zur Kammer gewesen, die sie mit ihrer Schwester Clara geteilt hatte. Noch einmal ging sie auf gut Glück über die Wiese und entdeckte schließlich tatsächlich das rußgeschwärzte Fundament, doch es waren nur noch vereinzelte Mauerstücke zu sehen. Ihr Herz zog sich zusammen bei dem Gedanken an das Grauen, das sich hier zugetragen hatte. Wenn diese Steinbrocken doch sprechen könnten! Wenn sie ihr berichten könnten, was damals geschehen war!

In der Nähe waren andere Höfe entstanden, deren Bewohner die fruchtbare Erde dieser Gegend nutzten. Asta hatte die Bauern zu dem damaligen Überfall befragt, doch keiner hatte sich an ihre Eltern erinnert. Sie hatte sich nie verziehen, dass sie selbst sich zum Zeitpunkt des Überfalles in Wisby versteckt hatte, überzeugt, dass die Stadtmauern sie schützen würden. Sie war eines Besseren belehrt worden.

Die feinen Bürger und Räte Wisbys hatten damals die Stadttore geschlossen, ohne die flüchtenden Bauern einzulassen. Eine Unmenschlichkeit, die sie noch immer aufwühlte. Den Bauern war nichts anderes übrig geblieben, als sich dem Kampf gegen das dänische Heer zu stellen. Nur mit Holzforken bewaffnet, ohne Harnische und Schilde, zogen sie gegen gut ausgerüstete Soldaten ins Feld. Die Dänen metzelten alle nieder, ob alt oder jung. Verzweifelt hatte Astas Ehemann mit einigen anderen Bürgern versucht, Wisbys Räte zu überzeugen, den Flüchtenden die Stadttore zu öffnen. Erst als das Schlachtfeld von den Leibern der Bauern bereits übersät war, hatten sich die Wisbyer entschlossen, ihnen zu Hilfe zu eilen. Ihr Mann war auch darunter gewesen. Doch es war zu spät. König Waldemar wollte Wisby bereits einnehmen, als die Stadträte sich ergaben. Sie schenkten dem Dänenkönig Wisbys gesamtes Gold, und dennoch fielen einige seiner Truppen in die Stadt ein. Sie plünderten, prügelten und nahmen Frauen mit Gewalt, auch sie …

Die Erinnerung daran war eine offene Wunde in ihrer Seele. Aber Asta hatte gelernt, damit zu leben. Nach der Eroberung hatte sie Gotland Hals über Kopf verlassen. Verwirrt und geschändet, dem Tode nahe. Plötzlich verwaist, ohne Eltern und ohne ihren Ehemann, der in der Schlacht um Wisby gefallen war. Nur ihre Schwester Clara hatte sie noch gehabt. Doch auch Clara hatte sie kurz darauf verloren, denn sie erlag den schweren Verletzungen, die sie sich bei ihrer Flucht aus Gotland zugezogen hatte. Jetzt ruhten Astas Hoffnungen auf Katrine und Claras Tochter Henrike, die bei Claras Tod gerade einmal ein Jahr alt gewesen war. Die beiden Mädchen und Henrikes Halbbruder Simon sollten glücklicher sein, als sie es gewesen waren! Wenn es göttliche Gerechtigkeit gab, musste es einfach so sein …

Asta schob einige Zweige beiseite. Dort war die Lichtung! Hoch ragten die Bildsteine vor ihr auf. Katrine, die sie die ganze Zeit hinter sich hergezogen hatte, beschleunigte den Schritt. Nicht schnell genug konnten sie den schlanken Felsbrocken erreichen. Dort angekommen, blieben sie beinahe andächtig stehen. Jemand hatte die Ritzungen im Stein nachgezeichnet. Die Kohlestriche waren teilweise verwaschen, doch die Schattenwürfe des hellen Sonnenlichts ließen die Kerben hervortreten. Ein vergoldetes Heiligenbild in einer Kirche könnte nicht schöner sein, fand Asta. Wie viele Hundert Jahre es wohl her war, dass ein Steinmetz die Bilder hineingearbeitet hatte! Wie genau er seine Motive vor Augen gehabt haben musste! Eine Geschichte von Leben, Kampf und Tod hatte er auf diesem hoch aufragenden Stein erzählt. Beinahe wie ihre eigene Geschichte …

Ihre Fingerkuppen strichen über die raue Oberfläche des Bildsteins und zogen die Umrisse der in den Stein gehauenen Männer und Frauen nach. Der Schiffe und des Adlers. Und da, das Pferd … Oft hatte sie bei der Erinnerung an ihren Ehemann, der so tragisch im Kampf gefallen war, an dieses Ross denken müssen. So gebannt war Asta, dass sie die Schritte hinter sich kaum hörte.

»Ein ungewöhnliches Pferd!«, sagte Sasse, der ihnen gefolgt war.

Sie ließ die Finger auf der Figur ruhen. »Das ist Sleipnir, das achtbeinige Ross Odins. Es bringt die toten Krieger im Sturmeswind in die Wohnung der Gefallenen nach Walhall«, erzählte sie. Auf Gott allein zu vertrauen, war ihr schon immer zu unsicher erschienen. Auch flößte ihr das Fegefeuer Schrecken ein. Odin hingegen sorgte für seine Krieger, er hatte es seit Jahrtausenden getan.

Katrine ging um den Stein herum. »Wer hat diese Steine wohl aufgestellt? Und wie? Sie müssen doch sehr schwer sein. Oder standen sie schon immer hier? Und wer ist Odin?«, fragte sie staunend.

Asta ließ sich neben einem violetten Thymianpolster ins Gras sinken. Schon bei der leichtesten Berührung sandten die Blüten ihren Duft aus. Sie löste ihr Kopftuch und strich über die gelben Rosen darauf, die Katrine für sie aufgestickt hatte. Und während Sasse ihren Proviant auspackte und Katrine auf ihrer Wachstafel die Motive des Bildsteins einritzte, begann sie von den nordischen Göttern zu erzählen.

Nach einer Weile unterbrach ihre Tochter sie. »Aber es heißt doch in den Geboten Gottes, dass wir keine Götter neben ihm haben sollen! Und dass wir uns kein Gottesbild machen sollen!« Katrine ließ die stumpfe Seite ihres Bronzegriffels, mit der man das Wachs glättete, über der Tafel schweben. Würde sie ihre Zeichnung wegwischen, um nicht weiter gegen die Gottesgebote zu verstoßen? Es war nicht der erste Bildstein, den sie sahen, aber bislang hatte sich Asta mit Erklärungen zurückgehalten. Sie wusste, wie tiefgläubig ihre Tochter war und wie genau sie sich an die Gebote hielt. Der Glaube hatte Katrine in schweren Stunden Halt gegeben. Er hatte sie getröstet, als ihre Mutter nicht für sie da gewesen war. Reue überfiel Asta, wie so oft. Sie hatte ihre Tochter gleich nach der Geburt weggegeben, weil sie ihren Anblick nicht ertragen hatte. Zu sehr hatte Katrine sie an die Gräueltaten von Wisby und an die Schändung durch den Söldner erinnert. Erst vor drei Jahren hatte Katrine erfahren, dass Asta ihre leibliche Mutter war. Seitdem hatte Asta sich bemüht, die verlorenen Jahre wiedergutzumachen. Sie wollte Katrine nicht verunsichern. Andererseits gab es in der Welt mehr, als in der Bibel stand und die Priester predigten.

»Diese Steine gab es auf Gotland schon lange, bevor die ersten Kirchen gebaut wurden. Wir wissen nicht, ob die Menschen damals hier beteten. Ich glaube aber, dass sie hier zusammenkamen, um sich Geschichten zu erzählen. Und ihre wichtigsten Geschichten drehten sich nun mal um den Göttervater Odin.« Unschlüssig drehte Katrine den Griffel zwischen den Fingern. »Du siehst ja, wie verlassen dieser Ort ist. Die Kirchen aber sind voll. Der heilige Olaf brachte den ›Guten‹, also den Menschen von Gotland, den rechten Glauben. Odin hingegen ist heute kaum mehr als eine Sage. Zeichne also weiter, damit machst du nichts falsch«, ermunterte sie ihre Tochter. Das würden die Priester sicherlich anders sehen. Aber die Gottesmänner mussten ja nichts davon wissen.

Noch einen Augenblick überlegte Katrine, dann setzte sie ihre Griffelspitze wieder auf die Tafel. Astas Worte hatten gewirkt. Außerdem schienen sie die Bilder mehr zu faszinieren, als das Verbot sie schreckte.

Noch lange saßen sie vor dem Stein zusammen, redend, schweigend und lachend. Erst als die Sonne ein weites Stück gewandert war, brachen sie in Richtung Wisby auf. Sie wollten nicht außerhalb der Stadtmauern übernachten.

Gegen Ende des friedlichen Nachmittags war Asta nachdenklich geworden. Sie könnten auf dem Rückweg an der Höhle haltmachen. Sollten sie wirklich …? »Ich möchte, dass wir noch zur Steilküste fahren, von hier aus ist das nicht weit. Da gibt es eine Höhle«, sagte sie.

Sasse blinzelte in die Sonne und wandte sich ihr vom Kutschbock aus zu. »Es wird Zeit, dass wir nach Wisby zurückkehren, Herrin.«

Die zärtliche Besorgnis in seinem Blick rührte sie an. Schon lange waren sie mehr als nur Herrin und Knecht. Aber niemand durfte von ihrer Liebe wissen. Der Standesunterschied war zu groß. Asta spürte einen Wunsch in sich aufkeimen. Konnten sie beide nicht einfach hierbleiben, auf Gotland, wo sie niemand kannte? Einen kleinen Hof kaufen? Was würde Katrine dazu sagen? Ahnte sie ihre Verbindung nicht ohnehin schon längst? Außerdem würde auch ihre Tochter irgendwann heiraten und eine eigene Familie gründen …

»Wir werden bald nach Hause zurückreisen. Ich glaube kaum, dass uns Zeit bleibt, noch einmal hierherzukommen«, beharrte sie.

»Sasse meint, dass es bald dunkel wird, Mutter!«, mischte Katrine sich aus dem hinteren Teil des Wagens ein.

Asta wandte sich zu ihr um. »Diese Höhle … sie war ein wichtiger Ort für alle Menschen, die hier lebten. Auch für unsere Familie.«

»Aber Mutter …«

»Ich beeile mich auch!«

Nach einem kurzen Blickwechsel ließ Sasse die Zügel schnalzen, und das Pferd trabte schneller. Als sie angekommen waren, kletterte Asta vom Kutschbock und sah die Steilküste hinunter, die an dieser Stelle recht hoch war. Unter ihr fraß das Meer am grauweißen, zu Buckeln und Beulen aufgeworfenen Gestein. Manche Felsen schienen Gesichter zu haben und aufs Meer hinauszublicken. Sie sahen aus, als ob sie, wie Asta und Clara als Kinder, den Horizont absuchten. Da dieser Küstenabschnitt dem Hof ihrer Eltern am nächsten lag, hatten sie bei einer Senke mit ihren Booten an- und abgelegt. Ganze Tage hatten sie mit dem Gesinde hier verbracht. Wenn sie und die anderen Kinder nicht beim Fischen helfen mussten, hatten sie die Felsen erklommen – und die Höhle entdeckt. Später hatten auch die Erwachsenen die Höhle zu nutzen gewusst. Asta hatte das oft zum Grübeln gebracht. Ihr damaliger Knecht hatte nach dem Angriff auf ihren Hof gesagt, dass die dänischen Krieger zornig gewesen waren, weil es auf dem Landgut kaum etwas zu plündern gegeben hatte. Hatten ihre Eltern ihr Silber vielleicht vorher in die Höhle gebracht? Aber warum waren sie dann zum Hof zurückgekehrt und nicht zu Clara und ihr nach Wisby geflohen?

Asta setzte den ersten Fuß auf die scharfen Felskanten. Sie kraxelte hinunter, noch immer in Gedanken bei den letzten Stunden ihrer Eltern. Letztlich wusste sie genau, warum Vater und Mutter zurückgekehrt waren: Weil sie die Menschen schützen wollten, die ihnen anvertraut waren. So wie sie es an ihrer Stelle ebenfalls getan hätte.

Asta rutschte ab, die Erinnerung war einfach zu viel für sie. Ein Felsgrat ratschte ihr Knie auf. Schmerzerfüllt sog sie die Luft ein. Sie war so aufgewühlt! Vielleicht sollte sie auf Sasse warten. Andererseits war es ihr Weg, und sie musste ihn alleine gehen. Sie würde bald sein Ende erreichen. Dass sie jetzt die Höhle aufsuchte, war der letzte Schritt ihrer Reise in die Vergangenheit. Sie wollte wissen, was damals geschehen war. Verstehen. Ihren Geist reinigen, wie es Priester bei einer Teufelsaustreibung taten. Und dann nach vorne schauen, nur noch nach vorne. Was wohl Sasse zu ihrem Gedanken sagen würde, hier einen Hof zu übernehmen?

Sie griff in eine Spalte und tastete sich Fuß um Fuß hinunter. Neben sich hörte sie Steine kollern. Waren das Sasse und Katrine? Vorsichtig wandte sie den Kopf. Nichts zu sehen. Ein Stück noch. Da war schon der Felsvorsprung auf halber Höhe der Steilküste, hinter dem sich der Eingang der Höhle befand. Ihre Arme und Beine zitterten, als sie sich das letzte Stück hinunterließ. Endlich geschafft. Hinter Felssäulen befand sich der Eingang. Er war so gut versteckt, dass man ihn nur fand, wenn man wusste, dass er da war. Sie sah auf das Meer hinaus. Sanft glitzerte es im Sonnenlicht. Goldener Schimmer hatte sich auf die Felsen gelegt. Ein herrlicher Anblick! Da ließ ein Knirschen sie herumfahren. Hatten ihre Gefährten sie eingeholt?

Doch was sie sah, ließ sie erstarren. Entsetzt musste Asta feststellen, dass nicht alle Geister der Vergangenheit gebannt waren.

3

Lübeck, Sommer 1379

Henrike horchte auf. Leise perlte die Flötenmelodie der Spielleute durch das offene Fenster. Lachen und Reden hallten durch die Mengstraße. Der Gesang des Wächters trieb die letzten Nachtschwärmer heim. War da ein weiteres Geräusch gewesen? Im Haus? Ein hölzernes Kratzen? Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Sie lauschte. Henrike war gerade erst zwanzig Jahre alt, hatte in der Vergangenheit aber schon lernen müssen, auf das Schlimmste gefasst zu sein. Jetzt war alles still. Verdächtig still.

Sie legte die Feder ab, mit der sie gerade einen Brief geschrieben hatte, und tastete nach ihrem Dolch. Da war er, griffbereit, in einem Fach ihres Tisches. Fahrig wedelte sie die Mücke weg, die sie, angelockt vom Schein ihrer Kerze und dem Duft ihres Blutes, umsirrte. Sie hatte es tagsüber nicht ausgehalten, in der stickigen Schreibkammer zu sitzen. Doch selbst jetzt, zu dieser nachtschlafenden Zeit, war es in der Dornse noch heiß. Wie sollte erst der nächste Tag werden?

Normalerweise genoss Henrike es, in den vielen Stunden, in denen ihr Ehemann unterwegs war, Briefe zu schreiben und die Geschäftsbücher auf Vordermann zu bringen. Ihr gefiel die Ordnung, die in den Aufzeichnungen steckte. Wie sich eines zum anderen fügte. Wie manches festgehalten wurde und anderes durchgestrichen und vergessen werden konnte. Klar und übersichtlich. Ohne Wenn und Aber. Nicht wie in ihrem Inneren, wo manche Erinnerungen unvermittelt auftauchten und sie des Nachts hochschrecken ließen. Unaustilgbar eingeprägt in ihre Seele.

Da – ein Tapsen! Hatten ihre Gehilfen und Knechte nichts gehört? Doch der Flügelanbau mit ihren Schlafkammern war wohl zu fern. Kam Adrian etwa früher von seiner Reise zurück? Die Stadttore waren doch geschlossen! Außerdem hätte sie den Klang seiner Schritte sofort erkannt, sie hatte schon oft genug sehnsüchtig auf ihn gewartet. Aber warum schlug Laurin nicht an? Ihr Wolfshund müsste doch die Tür bewachen. Das war kein gutes Zeichen. Sie musste an ihren ersten Hund Griseus denken, den ihr Vetter Nikolas kaltblütig getötet hatte.

Henrike umklammerte den Dolch und schlich zur Tür. Wie dunkel es in der hohen Diele war! Wer sich alles in den Schatten verbergen konnte! Nur nicht darüber nachdenken. Flugs die Treppe hinunter. Nichts zu sehen. Das Klappern einer Tür zum Hinterhof. Nutzten Diebe vielleicht den Trubel, der wegen der bevorstehenden Eröffnung des Hansetages in der Stadt herrschte, um sie zu bestehlen? So viele Fremde waren in Lübeck. Jede Gesandtschaft hatte Diener bei sich, manche mehr, manche weniger. In allen Herbergen und Gaststätten waren zusätzliche Helfer angeheuert worden.

Cord hatte das Geräusch offenbar nicht gehört. Der Gehilfe ihres Mannes schlief zwar direkt am Haupthaus, aber er hatte einen gesegneten Schlaf. Wie er überhaupt alles gemächlich angehen ließ. Je älter er wurde, desto langsamer wurde er. Sie konnte ihn gut leiden, aber manchmal trieb sie seine Behäbigkeit zur Weißglut.

Auf Zehenspitzen lief sie weiter, und plötzlich schälte sich eine Gestalt aus der Dunkelheit. Henrike reckte den Dolch vor. Ihre Hand bebte. Trotz der Hitze war ihr auf einmal eiskalt. Ein Schrei.

»God helppe und beware my!« Die kleine Gestalt taumelte zurück.

»Grete, was machst du denn hier?!«

Henrike ließ den Dolch fallen und konnte die alte Frau gerade noch auffangen. Sie legte den Arm um sie und führte sie zu einem Schemel, der neben den Warenfässern in der Diele stand. Ihre Köchin Margarete, Grete genannt, bekreuzigte sich und stammelte ein Gebet, als sie sich niedersinken ließ. Das Haar klebte feucht an ihrem Gesicht; es wirkte klein und schrumpelig wie eine Walnuss. Henrike hockte sich neben sie und umfasste beruhigend ihre Hand. Mitleid und ein schlechtes Gewissen erfüllten sie. Die Greisin hätte der Schlag treffen können! Und sie wäre schuld daran gewesen! Dabei war Grete nach dem Tod ihrer Mutter ihre Amme gewesen und hatte sie aufgezogen. Inzwischen war sie sehr alt. Oft schon hatte Henrike ihr gesagt, dass sie für sie sorgen würde, wenn sie nicht mehr arbeiten könne. Dass Grete ihren Lebensabend in einem Beginenhaus verbringen könnte, wie sie es sich einmal gewünscht hatte. Aber Grete überhörte ihre Worte geflissentlich. Wenn Henrike ehrlich war, freute sie sich darüber. Grete war ein Teil ihrer Familie, sie mochte sie nicht missen.

»Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich habe dich für einen Dieb gehalten!« Plötzlich brach Henrikes Anspannung sich Bahn, und sie musste lachen.

Grete kniff entrüstet die Augen zusammen, aber dann zupfte doch ein Lächeln an ihren Mundwinkeln. »Mik? Ene olde vrouwen persone?«

»Ich hab dich ja nicht einmal gesehen«, entschuldigte sich Henrike.

»Aber erst mal zustechen?«, fragte Grete ernst.

Das Lächeln verkümmerte auf Henrikes Gesicht. »Ich habe nicht … Ich wollte nicht … Aber seit …«, versuchte sie sich zu entschuldigen.

Grete drückte verständnisvoll Henrikes Hand. »Ick wet wol.«

Jetzt kam auch Laurin angelaufen. Schwanzwedelnd umkreiste er sie. Kein Wunder, dass er nicht angeschlagen hatte, kannte er Grete doch gut. Henrike kraulte ihren zottigen, weißgrauen Gefährten zur Begrüßung hinter dem Ohr.

Ein wenig schämte sie sich ihrer Überreaktion, aber sie konnte ihre Ängste manchmal nicht im Zaum halten. Sie wusste nicht, ob auch Grete die Erinnerungen an die Ereignisse vor knapp vier Jahren noch plagten, sie sprachen nie darüber. Damals, nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters, hatte ihr Onkel Hartwig die Vormundschaft für Henrike und ihren Bruder Simon übernommen. Stück für Stück hatte er ihr Erbe verschleudert. Als Henrike sich dagegen wehrte, hatte er sie hart bestraft – und alle, die ihr lieb waren, Grete eingeschlossen. Wenn Adrian ihnen nicht zu Hilfe gekommen wäre, hätten sie nicht überlebt. Sie drängte die Erinnerung zurück. Warum war Grete eigentlich im Haus unterwegs? Einen Nachttopf müsste sie doch haben. Ging es ihr nicht gut? Besorgt fragte sie die alte Frau nach ihrem Befinden.

Grete lächelte müde. »Die Hitze, Kind. Nicht auszuhalten. Hab wohl schlechtes Wasser getrunken. Wollte in den Hof …« Sie brach ab.

Henrike sprang auf. Laurin tänzelte um sie herum. Glaubte er etwa, sie ginge jetzt mit ihm hinaus?

»Brauchst du etwas? Ein Stück Brot vielleicht? Einen Schluck Bier?«

Schnell lief sie in die Küche und brachte beides mit. Grete nagte an dem Brot, trank einen Schluck. Dann erhob sie sich, schwankte. Henrike hakte sie unter, um sie in den Flügelanbau des Hauses zu bringen.

Im gleichen Moment hörte sie, wie ein Schlüssel im Schloss gedreht wurde. Laurin sprang zum Eingang und japste aufgeregt. So freudig würde er wohl keinen Einbrecher empfangen. Die Tür ging auf – es war Adrian! Auch im dritten Jahr ihrer Ehe schlug Henrikes Herz noch schneller, wenn sie ihren Ehemann sah. Seine kräftige und hohe Gestalt. Die feinen Gesichtszüge, die durch seine schulterlangen schwarzen Haare noch hervorgehoben wurden. Das Grübchen im Kinn. Und seine Lippen, die nicht zu voll und nicht zu schmal waren. Zum Küssen genau richtig …

Henrike wollte ihm entgegeneilen, aber war Grete schon wieder sicher auf den Beinen? Adrian bemerkte sie sogleich. Er ließ seinen Seesack neben der Tür fallen und stürzte zu ihnen.

»Was ist denn hier los? Ich dachte, alle schlafen schon. Ist etwas mit dir, Liebste? Oder mit Grete? Braucht ihr Hilfe?«, fragte er, als wäre er nur kurz weg gewesen.

Die alte Frau winkte ab und versuchte sich loszumachen. Sie wollte sich vor ihrem Herrn keine Schwäche anmerken lassen, doch Henrike hielt sie fest.

»Die Hitze lässt uns nicht schlafen. Ich begleite Grete schnell, dann komme ich nach. Wie schön, dass du da bist!«, rief Henrike strahlend.

Adrian schien zu verstehen, dass er nicht weiter fragen sollte. Auf dem Weg in die Schreibkammer warf er den mit hellblauem Taft gefütterten Tappert ab und öffnete das Hemd. Zu dieser Jahreszeit konnte die angemessene Kaufmannstracht eine Qual sein.

Noch einmal drehte er sich zu ihnen um. Sein Lächeln war verheißungsvoll. »Lasst euch nur Zeit. Ich warte …«

Als Henrike in die Dornse kam, saß Adrian am Schreibtisch und war in die Unterlagen vertieft. Rührung übermannte Henrike. Wie müde er aussah! Unermüdlich arbeitete er zum Wohl seiner Familie. Allein der viele Schreibkram! Mit über hundert Geschäftspartnern von Brügge bis Nowgorod, von Bergen bis Florenz korrespondierten sie. In diesen Briefen wurden Geschäfte ausgehandelt, aktuelle Preise mitgeteilt, aber auch Neuigkeiten ausgetauscht. Sie staunte oft darüber, wie detailliert und folgenreich diese Nachrichten waren. Seeräuber schlugen besonders heftig an der Küste Frankreichs zu? Dann wurde wenig französisches Baiensalz in den Norden geliefert, und die Nachfrage nach Lüneburger Salz würde zunehmen. Auch in Schonen würde man zum Haltbarmachen der Fische auf das bessere und teurere Salz ausweichen müssen. Der Preis für Hering würde steigen. Wenn aber die Hauptspeise der unzähligen Fastentage teurer wurde, blieb den Menschen weniger Geld für andere Waren. Darauf musste ein Kaufmann sich einstellen und beispielsweise günstigere Stoffsorten bestellen.

In den letzten Jahren war es in Europa zu einigen Veränderungen gekommen, die die Lage allgemein unsicher machten. In Rom konkurrierten seit dem Tode Gregor xi. im Frühjahr 1378 zwei Päpste um die Herrschaft über die Kirche. Manche lübischen Gottesmänner sprachen sich für den gewählten Italiener, andere für den französischen Gegenpapst aus – und viele Bürger wussten nicht mehr, wem sie überhaupt noch glauben sollten. Der römisch-deutsche Kaiser Karl IV. war im letzten Jahr verstorben. Er hatte zwar bereits zu Lebzeiten seinen Sohn zum Rex Romanorum, zum römisch-deutschen König, ernannt, doch der gerade einmal achtzehnjährige König Wenzel schien sich nicht für die Reichsangelegenheiten zu interessieren. Die abseits des kaiserlichen Dunstkreises gelegene Stadt Lübeck wurde zwar gemeinhin in Ruhe gelassen, hing jedoch von manchen Entscheidungen des Kaisers ab.

Und das war noch nicht alles. Zwischen Frankreich und England tobte nach wie vor ein Krieg und erschwerte den Handel. Keine Einigung war in Sicht, was auch nicht erstaunlich war, wenn man bedachte, dass zwei Jahre zuvor ein Zehnjähriger, König Richard II., den englischen Thron bestiegen hatte. Zudem war in diesem Frühjahr Herzog Albrecht II., der Herrscher des an Lübeck angrenzenden Herzogtums Mecklenburg, gestorben. Noch wusste niemand, ob sein Nachfolger den Kampf um den dänischen Thron – und damit den Kaperkrieg, der die Ostsee unsicher machte – fortsetzen würde, weshalb Henrike Nachrichten aus dem Mecklenburgischen besonders aufmerksam las.

Auch wenn Adrian inzwischen viele Handelsreisen ihrem Bruder Simon oder seinen Gehilfen überließ, gab es doch Geschäfte, die er am liebsten persönlich erledigte. Wie jetzt, wo er in Schweden gewesen war. Wie erleichtert sie war, ihn gesund wiederzusehen! Dabei war auch ihr Vater Kaufmann gewesen. Sie sollte sich damit abgefunden haben, dass die Kaufleute jedes Jahr von Februar bis November die meiste Zeit unterwegs waren. Aber bei ihrem eigenen Mann fiel es ihr schwer, ihn ziehen zu lassen. Zu gefährlich waren die Kauffahrten. Seeräuber, Strauchdiebe, Stürme – der Tod lauerte überall.

Adrian bemerkte sie jetzt. Ohne seine Korrespondenz eines weiteren Blickes zu würdigen, kam er auf sie zu. Stürmisch fielen sie sich in die Arme und küssten sich. Es machte Henrike glücklich, dass auch er ihrem Wiedersehen entgegengefiebert hatte. Doch Adrian beendete den Kuss schneller, als ihr lieb war. Er löste sich sanft von ihr und fragte, ob es Grete besser ginge.

»Ich denke, dass sie morgen wieder wohlauf sein wird. Ihr Alter macht sich bemerkbar. An Tagen wie diesen ist ihr die Arbeit einfach zu viel«, sagte Henrike, doch dann brach sich ihre Neugier Bahn, und sie sprudelte los: »Aber lieber zu dir! Ich freue mich so, dass du wieder da bist! Ich hatte erst in ein paar Tagen mit dir gerechnet! So sind die Geschäfte gut gelaufen? Ihr hattet eine gute Fahrt? Wie hast du es geschafft, an den Stadtwachen vorbeizukommen – die Tore sind doch geschlossen! Wenn du da bist, können wir ja morgen Abend das Johannisfest zusammen feiern – wie herrlich!«

Adrian lachte, und die bernsteinfarbenen Sprenkel in seinen blauen Augen schienen zu strahlen. »Genau damit habe ich die Wache am Stadttor erweicht: dass ich es nicht erwarten kann, zu meiner neugierigen Frau zu kommen!«

»Und dann haben sie für dich die Tore geöffnet?«, fragte sie errötend, fügte aber hinzu: »Etwas Geld hat es doch sicher auch gebraucht.«

Adrian strich die honigblonden Locken von ihrer Schulter. Langsam wanderten seine Lippen über ihre Halsbeuge. Henrike erschauerte wohlig und sah glücklich in die Nacht hinaus. Die Musik und das Stimmengewirr waren verstummt, die Lichter erloschen. Nur die Sterne funkelten noch über den Backsteingiebeln Lübecks. Sie spürte ihren Mann neben sich und nahm seinen Duft und seine Wärme in sich auf.

»Was bedeutet schon Geld, wenn ich früher bei meiner Liebsten sein kann?«

Bei diesen Worten hätte sie platzen mögen vor Glück. Sie zog ihn in Richtung Kammer, doch er zögerte. Sein Blick flackerte zum Tisch. Die Schatten unter seinen Augen waren im Kerzenlicht deutlich zu sehen. Er war lange unterwegs gewesen, und doch mochte er sich keine Ruhe gönnen.

»Die Briefe …«

Henrike umfasste ihn zärtlich und hauchte in sein Ohr: »Die können warten! Ich nicht! Ich habe dich schon zu lange entbehrt …«

Das Bett war neben ihr leer, als Henrike vor dem Morgengrauen aufwachte. Etwas enttäuscht stand sie auf. Wie gerne wäre sie mal wieder neben ihrem Mann aufgewacht! Aber Adrian hatte eben viel zu tun. Henrike schob die Vorhänge beiseite, die wie der Baldachin des Bettes aus bemaltem Leinen waren, und schlüpfte hinaus. Kaum stand sie nackt vor der Waschschüssel, da hörte sie das Tapsen bloßer Füße auf dem Holzboden. Warme Hände legten sich auf ihre Schultern, tanzten ihre Seiten hinab, brachten ihre Haut zum Prickeln. Henrike wandte sich zu Adrian um und wölbte sich ihm entgegen. Seine Bartstoppeln piksten sanft, als ihr Kuss leidenschaftlicher wurde und sie ihn mit sich auf das Bett zog. Ihre Hände strichen über seinen kräftigen Körper, der so gar nicht wie der eines Kaufmanns wirkte. Vor allem die Narbe auf seiner Brust, die von einem Kampf mit Piraten herrührte …

»Ich musste schnell meinen Hudevat holen«, murmelte Adrian etwas atemlos und griff nach seinem Reisesack aus Seehundfell, der auf dem Boden lag. Deshalb hatte er sie also allein gelassen! Henrike war neugierig, was er wohl daraus hervorholen würde.

»Schließ die Augen«, bat er sie und bedeckte mit der feinen Leinendecke ihre Blöße.

Es klackerte leise, und Henrike hielt es kaum aus, die Lider geschlossen zu halten. Sie liebte Überraschungen! Oft brachte Adrian ihr etwas von seinen Reisen mit, zuletzt war es eine herrliche Kette aus weißem Bernstein gewesen. Die Berührung seiner Lippen erlöste sie, und sie schlug die Augen auf. Adrian kniete vor ihr auf dem Bett, eine kleine, fein polierte Holzschachtel in den Händen.

»In diesem Sommer habe ich das Glück, drei Jahre mit dir verheiratet zu sein. Du weißt, mein Herz gehört dir. Du bist eine wunderbare Frau, und du führst unser Haus besser, als ich es könnte«, sagte er ungewohnt förmlich.

Henrike beugte sich vor. Am liebsten würde sie ihn wieder an sich ziehen – aber sie war auch so gespannt! Was hatte er nur für sie?

»Es gibt nur eines, das dir fehlt.« Er lächelte geheimnisvoll. Was meinte er nur? Adrian reichte ihr endlich die Schachtel. »Wir hatten einen einfallsreichen Schiffszimmerer an Bord. Ich ließ ihn etwas für dich anfertigen.«

Vorsichtig öffnete Henrike die Schachtel. Sie war verwirrt. Kein Schmuck war darin, sondern mehrere kleine Holzstückchen. Henrike nahm eines heraus und betrachtete die Einritzungen darauf. Es war ein Kaufmannszeichen, wie sie Waren beigelegt wurden, um den Eigentümer zu kennzeichnen. Auf dem Holzstück war Adrians Merke zu sehen: Ein Kreuz mit Pfeil – der Glaube und das Ziel, Bewegung und Halt. Aber das Zeichen war erweitert worden: Über dem Motiv prangten zwei Bögen wie die Schwingen eines Vogels.

»Dir fehlt deine eigene Kaufmannsmerke … Oder sollte ich sagen Kauffrauenmerke? Wie auch immer: Ich finde sie sehr gelungen. Die Schwingen bringen deine Leichtigkeit in mein Zeichen ein.« Sein Lächeln war etwas unsicher und dadurch besonders hinreißend. »Was meinst du?«

Was sie meinte?! Sie fand es großartig! Noch nie hatte sie gehört, dass eine Frau ihre eigene Handelsmerke besaß. Sie müsste ihre Freundin Tale mal danach fragen. Dass ihm das eingefallen war! Henrike flog Adrian in die Arme. Nun brauchte sie nichts mehr zu sagen …

Als sie wieder aufwachte, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Sie musste nach ihrem Liebesspiel noch einmal eingeschlafen sein. Hatte sie etwa die Morgenmesse verpasst? Was würde das Gesinde von ihr denken! Beim Anziehen warf sie noch einmal einen Blick auf die Holzschachtel mit dem Geschenk. Sie freute sich schon darauf, die nächste Warensendung zusammenzustellen und die Merken beizulegen. Was für eine wunderbare Idee!

Adrian war erneut in der Scrivekamer. Mit seiner Feder übertrug er Ein- und Verkäufe aus dem kleinen Reisebuch in den dicken Folioband. Er wirkte ausgeruht und glücklich.

»Ich staune darüber, was du alles erreicht hast, während ich fort war. Ein beachtliches Geschäft mit dem Kaufmann aus Riga! Alle Achtung! Manchmal fürchte ich, du brauchst mich gar nicht«, sagte er lächelnd.

»Wie kannst du das sagen! Wer sollte mir sonst Handelsmerken verehren? Oder mit mir ausreiten? Ganz zu schweigen vom Schachspiel! Niemand außer dir könnte so elegant meine Fehlzüge übersehen.« Sie legte die Arme um seinen Hals.

»Deine sogenannten Fehlzüge fordern mich heraus. Ich bin sicher, in Wirklichkeit handelt es sich um durchdachte Fallen, um mich mattzusetzen.« Er klappte den Pergamenteinband des Geschäftsbuches zu und verschloss es mit der Lederlasche. »Komm, wir gehen hinunter. Ich habe mit dem Mahl auf dich gewartet. Dann kannst du mir berichten, was hier vorgefallen ist. Die Morgenmesse haben wir ohnehin verpasst …«

Das Sonnenlicht gleißte durch die Fenster in die hohe Diele. Henrike sah nach Grete, der es besser zu gehen schien, denn sie werkelte eifrig in der Küche, und bat die Magd, das Essen in den Hinterhof zu bringen.

Als Adrian das Haus in der Mengstraße gekauft hatte, war es baufällig gewesen. Er hatte Mauern erneuern, wurmstichige Balken austauschen und die Wände frisch verputzen lassen. Da die Steuer anhand der Hausfront berechnet wurde, war diese, wie bei den meisten der Lübecker Giebelhäuser, schmal und hoch wie ein Laken. Dahinter aber zogen sich die Grundstücke weit hin. Ein Großteil ihres mehrstöckigen Gebäudes wurde für Lagerräume und Speicherböden benötigt, deshalb gab es zum Wohnen einen Flügelanbau im Hinterhof, an den sich die Ställe und der Garten anschlossen. Henrike hatte das Haus liebevoll und praktisch eingerichtet, aber auch darauf geachtet, dass es etwas hermachte, schließlich bekamen sie oft Besuch. Zuletzt hatte sie angefangen, sich um den Garten zu kümmern. Während viele Familien ihr Wasser aus einem der städtischen Brunnen heranschleppen mussten oder über hölzerne Wasserleitungen versorgt wurden, hatten sie das Glück, einen eigenen Brunnen zu besitzen, was es ihr leichter machen würde, verschiedenste Gewächse anzupflanzen. Einen Kräutergarten und einige Obstbäume gab es schon. Vor den Mauern schossen die robusten und wunderschönen Stockrosen in die Höhe. Weitere Beete sollten angelegt werden, aber noch hatte sie nicht die Zeit dafür gefunden, sie zu planen.

In einiger Entfernung von den Ställen standen unter der weiten Krone eines alten Apfelbaumes Tisch und Bänke, wo Henrike und Adrian sich in den Schatten setzten. Während ihre Magd Windele, ein junges Mädchen, das Henrike von der Straße aufgelesen und wegen ihrer scheuen Freundlichkeit bei sich aufgenommen hatte, das Essen auftrug, begann Henrike mit der Nachricht, die sie besonders erfreute: »Denk dir nur, Oda wird heiraten!«

Ihre Freundin Oda war etwas älter als sie, aber noch immer ledig. Odas Vater, ein Kaufmann, machte sich und seiner Familie durch langes Taktieren nicht nur im Geschäftlichen das Leben schwer.

»So hat Hinrich endlich einen jungen Mann gefunden, der seinen Vorstellungen entspricht?«

»Ja, und Oda gefällt er auch gut. Ich helfe ihr beim Zusammenstellen der Aussteuer!«

Es machte ihr besonderen Spaß, anderen eine Freude zu bereiten. Im reichen Lübeck waren oft nur die schönsten Stoffe und Schleier für Eheschließungen gut genug. Laken, geschnitzte Brauttruhen und alles andere, was ein neuer Haushalt brauchte, gaben Henrike und Adrian ebenfalls in Auftrag. Henrike hatte bereits ein paar Mal Brautausstattungen zusammengestellt, und die vielbeschäftigten Lübecker Bürger waren dankbar dafür gewesen, dass jemand ihnen die Arbeit abgenommen hatte.

»Was gibt es sonst noch?« Odas Heiratspläne schienen Adrian im Moment nicht so brennend zu interessieren.

Henrike kam auf einen Brief, den er bestimmt noch nicht gelesen hatte. »Der Tuchhändler aus Braunschweig hat angefragt, ob wir ihm lübisches Grauwerk liefern können«, berichtete sie. Lübeck war für diesen robusten Stoff bekannt. Sie und Adrian ließen auf ihrem Hof bei Travemünde das Grauwerk herstellen. Die Gutsherrin, Henrikes Tante Asta, achtete auf hohe Qualität. Einer ihrer besten Kunden war der Braunschweiger gewesen, der sie nun wieder um Nachschub gebeten hatte. Doch vor einigen Jahren hatte es in der Stadt einen Aufstand gegeben. Die einfachen Leute hatten gegen die Politik der Patrizier und die hohe Verschuldung protestiert, die zu immer neuen Steuern führte. Sie hatten den Rat besetzt und acht Ratsleute getötet. Daraufhin war Braunschweig – bis dahin eine der bedeutendsten Städte der Hanse – aus dem Handelsbund ausgeschlossen worden, und damit durften sie dem Tuchhändler keine Stoffe mehr verkaufen.

»Ich werde mich mal umhören. Die Verhansung Braunschweigs wird eines der Themen auf dem Hansetag sein. Du weißt ja, dass ich der Meinung bin, dass es damit ein Ende haben muss. Die Braunschweiger Kaufleute haben lange genug gebüßt!«, sagte Adrian überzeugt.

»Genützt hat der Aufstand nichts, im Gegenteil. Unser Geschäftsfreund schreibt, dass noch mehr Bewohner in Not geraten sind, seit die Hansekaufleute weder Waren liefern noch den Braunschweigern abkaufen dürfen«, fügte Henrike hinzu.

Ihr Hund trottete heran. Laurin blickte Henrike sehnsüchtig an, aber als sie keinen Leckerbissen vom Tisch fallen ließ, rollte er sich zu Adrians Füßen ein und ließ seine Schnauze auf dessen Füße sinken.

Henrike fuhr fort: »Die meisten Gesandten des Hansetages sind bereits angekommen. Über zwanzig Städte haben Männer nach Lübeck entsandt. Es scheint eine wichtige Tagfahrt zu sein.«

»Ja, Cord hat mir von der Versammlung erzählt. Ich habe ihn zum Hafen geschickt, um das Abladen der Waren zu beaufsichtigen«, sagte Adrian und aß gedankenverloren weiter. Vermutlich ging er schon die Pläne für den Tag durch.

Sie strich über seinen Unterarm. »Du hast noch gar nichts von deiner Reise erzählt.«

Ihr Mann schob den Teller von sich. »In Schweden ist alles sehr gut gelaufen. Ich habe endlich den Verwalter des Kupferbergwerks in Falun treffen können. Ich soll ihm einige Stoffe zur Probe schicken. Wenn er zufrieden ist, könnten wir ins Geschäft kommen«, berichtete er. Die Arbeiter des Bergwerks im schwedischen Dalarna erhielten ihren Lohn nicht nur in Münzen, sondern zum Teil in Form von Stoffen. Adrian hoffte, diese Stoffe liefern zu können und im Gegenzug die gefragten Handelsgüter Osmund und Kupfer günstiger zu bekommen. »Einige Last Stangeneisen und Kupfer habe ich schon mitgebracht. Gute Qualität, du wirst sehen. Auch mit dem Gehilfen des schwedischen Reichsrates habe ich sprechen können. Es sieht aus, als ob es einen Waffenstillstand zwischen Schweden und Dänemark geben könnte«, verriet er.

»Dann wird die See endlich wieder sicher!«, rief Henrike erleichtert.

»Hoffen wir es«, murmelte Adrian.