Die Felder von Sú Talún - Patrick Bernickel - E-Book

Die Felder von Sú Talún E-Book

Patrick Bernickel

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Beschreibung

Das grüne Land Aquilon ist zerrissen, denn seine Magie ist Fluch und Segen zugleich. Die Äxte der Sturmküste trachten nach der Vernichtung der Magier in ihrer Festung aus Eis. Und im Schnee der Berge erhebt sich ein Schatten gegen das höchste aller Gesetze. Ein Paladin, eine Gastwirtin, ein Novize und ein Krieger betreten den Pfad des Ersten Magiers auf der Suche nach der sagenumwobenen Quelle der Magie ... Eine düstere Geschichte, handelnd von mythischen Gestalten, ewigen Feinden, unverhofften Gefährten und der erbarmungslosen Vergänglichkeit.

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Zu diesem Buch

Das grüne Land Aquilon ist zerrissen, denn seine Magie ist Fluch und Segen zugleich. Die Äxte der Sturmküste trachten nach der Vernichtung der Magier in ihrer Festung aus Eis.

Und im Schnee der Berge erhebt sich ein Schatten gegen das höchste aller Gesetze.

Ein Paladin, eine Gastwirtin, ein Novize und ein Krieger betreten den Pfad des Ersten Magiers auf der Suche nach der sagenumwobenen Quelle der Magie ...

Eine düstere Geschichte, handelnd von mythischen Gestalten, ewigen Feinden, unverhofften Gefährten und der erbarmungslosen Vergänglichkeit.

Kapitel

Aquilon

Der Tod der Stunden

Geschichte

Janis

Mit Schwert und Axt

Cerewain

Kundschafter

Brückengeld am Ludleith

Blutige Botschaft

Feigling

Ein Hauch von Furcht

Glühwürmchen

Feuerblüte

Ein ungebetener Gast

Zufluchtsstein

Cathair Ríg

Éan Bán

Heimkehr

Schlafender Winter

Stäbe und Äxte

Eine schwarze Nacht

Die Krähe, die Taube und der Falke

Von Anfang und Ende

Salz in der Suppe

Tír na Taoide

Gwyn

Zur Abgetrennten Hand

Stilles Herz

Besuch im Kerker

Ein Name

Aiséirí

Die verlorenen Schwestern

Asche zu Blut

Foraois Folá

Eine Scherbe Erinnerungen

Wanderer im Schnee

Der Sturz eines Königs

Silberfeder

Blut zu Asche

Solas na Gealaí

Unheilvolle Botschaften

Eine Sonne im Regen

Amhrán na Mara

Dún sa Dorchadas

Schatten der Vergangenheit

Amygdala

Rún

Fallende Feder

Ostwall

Kjartas

Ein letzter Pfeil

Die Felder von Sú Talún

Die Alte Sprache

Danksagung

Aquilon

Amducias starrte in einen Sturm aus Schnee. Unbändig blies der Wind die Flocken über die Hänge und verhüllte die Gestalt, nach der Amducias Ausschau hielt. Kälte kroch in den Leib des hochgewachsenen Mannes. In eine schlichte Robe gekleidet, mit einem Proviantbeutel in der einen Hand und einem hölzernen Stab in der anderen, weilte er auf einem Vorsprung und schien sich der Macht des Winters entgegenzustellen. Der Sturm zerrte an seinem langen Haar, das so schwarz wie der Raben Federn war und an deren Enden Eiskristalle wuchsen.

Zwei Tage lang hatten sie vor Augen, was sich nun hinter all dem Weiß versteckte. Ein Gebirgszug, höher und mächtiger als alle Berge, die sie in ihrer Heimat kannten. Und war ihre Reise über das Graue Meer und die Sümpfe weit im Osten bisher nicht beschwerlich genug, schien sich nun der Berg selbst gegen sie gewandt zu haben.

Doch jenes Land, das sie suchten, lag hinter seinen Gipfeln, die wie die Zacken einer Krone in den Himmel ragten. Aquilon nannte man es, und es waren nur die Erzählungen weniger Reisender, die von ihm sprachen. Von einem Land, dessen Gräser nach einem Regenschauer wie Smaragde in der Sonne glänzten und wo sich Meer und Fels in einem ewigen Kampf fanden. Sie erzählten von einem Land, an das man sein Herz verlor, wenn man seine Magie fand.

Amducias bemerkte einen Schatten, der sich aus dem Schneesturm schälte und sein Atem beruhigte sich, als Xerdian endlich im Schneetreiben auftauchte. Xerdian stach das Ende seines Stabes in die verschneite Erde, um den rechten Weg zwischen den Abgründen zu finden.

»Wenn der Sturm nicht bald nachlässt, werden wir diesen Berg nie bezwingen«, rief der Mann Amducias entgegen. Der reichte Xerdian die Hand hinab und zog ihn auf seinen Vorsprung hinauf.

»Ich sah Euch nicht mehr und dachte bereits, Ihr hättet einen anderen Pfad genommen«, sprach Amducias und Erleichterung lag in seiner Stimme. Xerdian, von ähnlich schlanker Statur wie Amducias, lediglich einen Kopf kleiner, wies mit einem entnervten Gesichtsausdruck in die Richtung, aus der er soeben gekommen war.

»Caedmon verlangte wieder nach einer Rast. Ihr wart bereits zu weit weg, als ich Euch rief«, erklärte er sein Verschwinden und strich sich den Schnee aus dem hellen Haar. Xerdian ließ seinen Blick über die kaum sichtbaren Hänge des Gebirges streifen. Einen Aufstieg, eine Treppe, oder wenigstens eine Zuflucht vor dem Unwetter suchten seine blauen Augen. Aber sie fanden nichts. Da erschien eine weitere Gestalt im Schnee, auf einen krummen Ast gestützt, stapfte sie langsam dem Vorsprung entgegen.

»Helft ... helft mir hinauf«, schnaufte Caedmon und trotz der Kälte perlten Schweißtropfen von seiner Stirn. Gemeinsam zogen Amducias und Xerdian den Mann, der dem Essen selten abgeneigt war, zu sich hinauf. Statt einer Robe trug Caedmon eine abgewetzte Lederhose und ein Lederwams, darunter zwei Schichten Wollhemden. Ein Langschwert ruhte an seinem Gürtel. Hoffnungsvoll sah er in die Gesichter seiner beiden Begleiter, doch als er die Ratlosigkeit darin sah, ließ er sich auf einen Felsen sinken. Eine Eiskruste bedeckte den Stein. Amducias und Xerdian setzten sich neben ihn und erst jetzt fiel Amducias der festgefrorene Schnee an seiner Robe auf.

Eine Weile saßen sie dort auf dem Felsen im Sturm, klopften den Schnee von ihren Kleidern und schützten ihre Gesichter vor dem eisigen Wind. Dann erhob sich Amducias und er stellte sich dem Fels des Berges entgegen. Der Mann mit den grauen Augen hob seinen Stab. Und da schien der Schneesturm um ihn herum gegen eine unsichtbare Wand zu prallen. Mit seinem Stab lenkte Amducias diesen unwirklichen Schild, er trieb ihn an den Hängen des Berges entlang und es war, als könne der Sturm den Fels nicht länger berühren.

»Dort! Eine Höhle!«, rief Caedmon und zeigte auf einen Spalt im grauen Gestein. Die Erschöpfung schien mit einem Mal von ihm abgefallen, mit raschen Schritten eilte er auf die ersehnte Zuflucht zu.

»Werft erst einen Blick hinein, möglicherweise ist sie bereits bewohnt«, gab Amducias seinem Begleiter mit, doch der hörte ihn kaum mehr. Caedmon verschwand in der Höhle, und Amducias und Xerdian beschlossen ihm zu folgen. Der Eilende hatte es sich schon bequem gemacht, als sie den Unterschlupf erreichten.

»Keine Sorge meine Freunde, hier ist niemand«, begrüßte Caedmon sie und grinste. Amducias sah sich um. »Jedenfalls gerade nicht«, entgegnete er und zeigte auf die Reste von Holzkohle an einem kärglichen Lagerfeuer.

»Vermutlich von einem der Reisenden, die vor uns hier entlangkamen«, sprach Xerdian. »Wir sollten die Nacht hier bleiben und warten, bis der Sturm vorüber ist.« Keiner widersprach.

Die drei Männer verstauten ihren Proviant in der Höhle, die gerade groß genug für sie war. Mit Strohresten, altem Holz, das herum lag, und einigen ihrer Vorräte entzündeten sie gar ein kleines Feuer, welches bald sanft vor sich hin knackte. Caedmon streckte die Beine von sich und stieß einen gähnenden Laut aus. »Nach den letzten Nächten in der Kälte fühle ich mich jetzt fast wie ein König«, warf er ein und wärmte ein Stück Brot am Feuer.

»Wie Ihr Euch erst fühlen werdet, wenn wir diesen Berg hinter uns haben«, regte Xerdian die Vorstellung an und öffnete das Band, welches seine schulterlangen Haare zusammenhielt. Trotz seines Alters von mehr als drei Jahrzehnten lag etwas jugendliches, träumerisches in Xerdians Antlitz.

Amducias’ dunkle Augen fanden derweil Caedmon. »Ihr müsst auf dem Rest unseres Weges Schritt halten«, sprach er zu seinem Begleiter. »Es ist keine Zeit, um ständig zu rasten.« Caedmon schnaubte.

»Wenn ich von diesen Mühen geahnt hätte, ich hätte den König wieder fortgeschickt«, gab der Mann trotzig zurück.

»Uns gegenüber war der König sehr aufgeschlossen, was die Gefahren und Bürden anbelangte«, erwiderte Amducias. Caedmon schürzte die Lippen.

»Schön. Er erwähnte etwas von Bergen und Eis und Schnee. Aber in dem Sack, den der König dabei hatte, befand sich annäherend soviel Gold, wie ich in dreißig Jahren bei der Stadtwache verdiente. Seine beiden Magier scheinen ihm viel wert zu sein.«

»Der Auftrag des Königs ist wichtig. Wichtiger als jene, die ihn ausführen«, kam es von Xerdian nur knapp.

Dann schwiegen die Männer, sie sahen in das Feuer und versanken in den Gedanken daran, was sie in dieser fremden Welt erwartete. Es war Caedmon, der zuerst in den Schlaf fiel, Xerdian folgte ihm nur wenig später. Doch in Amducias’ Augen tanzte die Flamme umher, unruhig, gierend, auf der Suche nach Unbekanntem.

Da kroch ein Käfer, nicht größer als ein Daumen, unter dem Reisig hervor. Das Licht des Lagerfeuers brach sich auf seinem eisblauen Panzer in den Farben des Regenbogens. Mit einer raschen Bewegung fing Amducias das Tier und begutachtete es ohne Regung. Der Käfer hielt still. Doch als Amducias ihn etwas näher an das Feuer führte, da strampelte er wild mit seinen Beinen, suchte einen Ausweg aus der Hand, die ihn gefangen hatte. Amducias zog ihn fort von der Wärme der Flamme und der Käfer beruhigte sich. Und ein Lächeln zeigte sich auf dem schmalen Antlitz des Magiers, als er das Tier entließ und es eilig im Reisig verschwand.

»Wacht auf«, zerrte die harsche Stimme des Magiers Caedmon und Xerdian aus ihrem Schlaf.

»Verdammt sollt Ihr ...«, stammelte der alte Wachmann, bevor er seine Augen öffnete und die Ruhe des Morgens vernahm. Xerdian stand derweil schon neben Amducias und beide sahen sie nach Osten. Denn dort, an den Hängen des Gebirges, wand sich eine Treppe hinauf. In der Nacht hatte der Schneesturm seinen Zorn verloren und gab nun den Berg und seinen eisigen Stein frei.

Es dauerte nur einen Augenblick, da war der Proviant gepackt und die Roben geschnürt. Erleichterung erwachte unter den drei Wanderern und beflügelte jede ihrer Bewegungen. Nach einem kurzen Marsch durch den Schnee erreichten sie das dunkle Gestein, in welches die Stufen gehauen waren. Die Treppe war schmal, nur ein Mann konnte sie betreten und Eis und Schnee bedeckte ihren Fels. Amducias zog ein Seil aus seinem Proviantbeutel und band es sich um die Hüfte, ehe er es Xerdian weiter reichte. Der tat es seinem Begleiter gleich. Caedmon wickelte sich den Rest des Seiles um den Bauch, die besorgten Blicke Amducias’ und Xerdians entgingen ihm dabei nicht.

»Seht es doch so; wenn ihr stürzt, werde ich wahrscheinlich euch beide halten können«, entgegnete Caedmon mit einem falschen Grinsen.

Dann setzte Amducias den ersten Schritt auf die Treppe, die so alt aussah, als wäre sie bei der Geburt des Berges entstanden. Die Stiefel des Magiers fanden Halt und achtsam erklommen die Reisenden die Treppe, die, wie sie hofften, sie bis zum Gipfel führen würde.

Die Ebene unter ihnen wurde immer kleiner, je höher sie stiegen und Caedmon zog es nach einer Weile vor, seinen Blick auf die Felswände zu richten. Die Finger der Wanderer, gerötet durch die Kälte, suchten im rissigen Schiefergestein nach Halt. Sie traten soeben aus dem Schatten eines kleineren Gipfels, da erhellte die Morgensonne ihren mühsamen Aufstieg. Die Reisenden hielten inne, denn der Anblick vom Rand des Berges aus über die Gebirgsebene und Täler bis hin zum östlichen Meer bannte ihre Geister. Die Treppe wand sich jetzt von Ost nach West, Amducias setzte den Aufstieg fort. Da knackte es im Fels, ein Teil des Gesteins brach unter seinem Stiefel weg. Ein Brocken, groß wie der Kopf eines Menschen. Amducias brachte sich mit einem Sprung in Sicherheit, doch das Bruchstück stürzte geradewegs Xerdian entgegen.

»Gebt Acht!«, hallte der Ruf Amducias’ im Gebirge wider. Ein kurzes Zischen erfüllte die Luft, Schnee wirbelte auf. Xerdian harrte auf der Treppe unterhalb seines Gefährten, seinen Stab erhoben. Doch von dem Steinbrocken war nichts zu sehen, er war in die Tiefe gestürzt.

Amducias’ Gesichtszüge entspannten sich, die beiden Magier nickten sich zu, dann setzten sie ihren Weg fort. Nur Caedmon verweilte noch einen Augenblick an der Felswand. Seine Hand krallte sich an seiner linken Brust fest. Zitternd folgte er den Magiern.

Die Treppe führte sie weiter hinauf, unter dem gleißenden Licht der Sonne hatten sie bald das Gefühl, dem Himmel näher als der Erde zu sein. Doch wann immer sie versuchten, den Gipfel zu erhaschen, verbarg ihn ein Vorsprung oder eine kleinere Bergspitze. Auf einmal wand sich der Treppenpfad und leitete sie durch eine Schlucht nach Norden in den Berg hinein. Knorrige Büsche krallten sich hier mit ihren Wurzeln an den kargen Stein. Der Weg verbreiterte sich und Caedmon wagte es, wieder tief durchzuatmen. Seiner Kräfte beraubt, ließ sich der Wachmann gegen die Felswand sinken.

»Gebt mir einen Moment oder lasst mich hier«, stöhnte er. Scheppernd flog sein Proviantbeutel zu Boden. Amducias sah zu Xerdian herüber, dessen Blick Nachsicht forderte. Caedmon erhielt einen Augenblick, um zu ruhen, während Amducias mit der Hand über das Gestein strich. Er fühlte das Alter des Gebirges, doch seine Geschichten hielt es vor dem Magier verborgen.

Xerdian folgte weiter dem Pfad, Neugierde ließ seine Stiefel wie von Geisterhand beschworen, schweben. Ein sanfter Wind wehte über den Kamm des Berges und als der Weg den Magier um eine Biegung führte, blieb Xerdian stehen und sein Herz tat es ihm gleich.

Ein Land in all erdenklichen Grüntönen erstreckte sich unter seinem Blick bis zum Horizont. Hell wuchs das Gras auf den sanften Hügeln und dunkle Blätter säumten die Bäume der kleinen Wälder. Wie ein silbernes Band wanderte ein Fluss durch seine Erde, teilte sie entzwei. Der Wirklichkeit enteilt, so erschien Xerdian dieses Land und ein Glanz lag in seinen Augen. Amducias und Caedmon traten an die Seite des Magiers, und sie mussten genauso empfinden wie er, denn sie sprachen kein Wort.

Es war Xerdian, der als Erster den Pfad hinab betrat. Da bemerkten sie einen Schatten, der rasch und lautlos über die Hänge des Berges eilte. Die Wanderer sahen hinauf zum Himmel. Ein Adler flog dort über ihnen, seinen Blick fest auf die Fremden gerichtet, zog er seine Kreise. Sein Gefieder glänzte in der Sonne, so rein wie die Bäche, die dem Gebirge entsprangen. Doch am meisten erstrahlte eine Feder an seinem Schweif, denn sie war silbern. Die kräftigen Flügel beförderten das Tier wieder in die Höhe und nach einem Schrei, der am Hang widerhallte, zog der Adler in Richtung Norden davon.

Die Füße der Wanderer schmerzten und brannten und doch trugen sie ihre Herren rascher als je zuvor über die Steine. Hinab in das Tal eilten sie und die Freude, die der Anblick Aquilons in ihnen erwachsen ließ, vereinigte sich mit dem Sieg über den Berg. Caedmon bemerkte es nicht, doch mit jedem Schritt den Amducias und Xerdian taten, wuchs ihre Kraft. Nachdem sie einen reißenden Wasserfall passiert hatten, erreichten die Reisenden endlich den Fuß des Gebirges. Gräser und Büsche, kräftig genährt von Regen und Sonne, begrüßten sie zwischen schweren Felsbrocken, die der Berg einst verloren hatte. Xerdians Hand strich über das noch feuchte Gras.

»Ihr spürt es auch?«, fragte er Amducias. »Ich fühle mich befreit, so als wären zentnerschwere Gewichte von meinem Leib abgefallen.« Amducias sog die kühle Luft ein, dann führte er seinen Stab hinab zur Erde. Der Boden erzitterte, als die magische Kraft über ihn hinweg stürmte und eine Schneise in die Gräser riss.

»Die Erzählungen sind wahr. Die Macht dieses Landes ist wundersam und mir zugleich ein Rätsel. Wofür man in unserer Heimat große Anstrengung aufbringen muss, geschieht hier mit dem Zeig eines einzelnen Fingers«, sprach Amducias ehrfürchtig. »Der König wird zufrieden sein, wenn wir ihm davon berichten.« Caedmon klatschte in die Hände.

»Sehr schön«, rief er freudig. »Dann können wir hier einige Tage verweilen, zu Kräften kommen und uns dann auf den Rückweg machen.« Stille legte sich über das kleine Tal, in dem die Reisenden weilten. Die Magier wandten ihre Blicke zu Boden.

»Nun ...«, begann Xerdian zögerlich. »... Die Aufgabe, die der König uns gab, sie ist noch nicht beendet.« Caedmon starrte ihn aus finsteren Augen an.

»Was meint Ihr damit?«, verlangte er zu wissen.

»Wir reisten nicht nur hierher, um mit eigenen Augen zu sehen, wie mächtig die Magie Aquilons ist. Der Krieg wird über unsere Heimat kommen, der König sah es und er weiß, dass seine Streitmacht unterliegen wird. Er braucht mehr Männer. Er braucht mehr Magier«, antwortete Xerdian. Caedmon runzelte die Stirn.

»Xerdian und ich, wir werden in Aquilon bleiben«, sprach es Amducias dann aus. »Wir werden die Magier ausbilden, die dem König so dringlich fehlen.« Der Wachmann rang nach Worten. Ob es die Hinterlist des Königs war oder das tollkühne Vorhaben der Magier, was ihm die Sprache verschlug, war nicht zu sagen.

»Aber hier ist doch niemand!«, herrschte Caedmon die Magier an. »Wen wollt ihr denn ausbilden? Die Bäume? Die Vögel?«

»Es gibt ein Dorf, es soll auf halbem Weg des Flusses liegen«, sagte Xerdian. Caedmon fasste sich mit beiden Händen an den Kopf und setzte sich auf einen Felsen.

»Das kann nicht wahr sein«, stammelte er vor sich hin, Xerdian legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Es ist nicht Eure Aufgabe, es steht Euch frei zurückzukehren«, sprach der Magier. Caedmon starrte ihn mit geweiteten Augen an. »Und durch diese Kälte, diesen Alptraum eines Berges allein wandern, das soll ich?«, fragte er erzürnt.

»So bleibt dann hier«, sprach Amducias mit knapper Gleichgültigkeit. Caedmon sah hinauf zum grauen Gebirge, dann folgte sein Blick dem Fluss, der unweit von ihnen das Land hinab strömte. Zwei Seelen, die eines alternden Mannes und die eines Abenteurers, kämpften in seiner Brust und es war ungewiss, welche obsiegen würde. »Verdammt sollt ihr und der König sein!«, fluchte Caedmon mit einem Male und sprang von seinem Felsen auf. Er stapfte davon, in die Richtung, die der Fluss zeigte.

Die Magier folgten dem Mann der Königswache. Xerdian wusste ebenso wie Amducias um die List, die der König damals gewählt hatte, doch schien nur sein Gewissen deswegen bedrückt.

Sie holten Caedmon am Fluss ein. Das Wasser, das er führte, war so rein, dass man die algenbewachsenen Steine in seinem Bett sah und die Schwärme kleiner Fische, die vor den drei Gestalten davon huschten. Schwertlilien und junge Erlen säumten die Auen des Stromes, der sanft vor sich hinfloss. Doch kein Wort hörten die Magier von Caedmon. So folgten sie eine Weile dem Wasser und erst, als die Sonne beschloss, sich niederzulegen, brach der Wachmann sein Schweigen.

»Es wird gleich dunkel, wir sollten uns nach einem Lager umsehen«, sprach er nüchtern. Xerdian zeigte auf einen Baum, der unweit des Ufers wuchs.

»Unter seinen Ästen werden wir sicherlich einen ruhigen Platz finden«, sagte der Magier. Eine Rinde, die wie altes Eisen anmutete, bedeckte den Baum. Er erhob sich in einem kleinen Tal, welches Schutz vor Wind und neugierigen Augen bot. Im roten Licht der schwindenden Sonne richteten sie ihre Zelte auf und es dauerte nicht lange, da trug die Müdigkeit und Erschöpfung die drei Wanderer in den Schlaf.

Ein verführerischer Duft stieg Xerdian in die Nase. Halb wach, halb im Traum, versuchte der Magier zu ergründen, was es war, dass so köstlich roch. Er vernahm das Brutzeln heißen Öls, schob den Stoff seines Zeltes beiseite und blinzelte in den Morgen. Am Feuer saß Caedmon und briet zwei Fische.

»Oh, welch willkommenes Frühstück«, rief der Magier und ein Lächeln zeigte sich auf den Lippen des Wachmannes.

»Nicht wahr«, sprach dieser. »Leider sind diese beiden hier für mich. Ihr müsst Euch heute eigene Fische fangen.« Damit war die freundliche Miene Caedmons verschwunden. Xerdian streifte sich seine Robe über und sah hinaus auf die Auen des Flusses. Der Nebel der Nacht war noch nicht gänzlich vergangen und in der Morgensonne erschienen die Bäume wie Geister, die sich am Fluss trafen. Amducias saß dort am Ufer und las in einem Buch. Er klappte es zu und verstaute es rasch in seinem Proviantbeutel, als er merkte, dass jemand sich ihm näherte.

»Konntet Ihr etwas ruhen diese Nacht?«, fragte Xerdian.

»Ein wenig«, antwortete Amducias und starrte auf die sanften Bewegungen des Wassers. »Es ist nicht das Zelt oder die Fremde. Es ist die Erwartung, die mein Herz rascher schlagen und mich keine Ruhe finden lässt. Ich will mehr über dieses Land und seine Magie erfahren.« Xerdian nickte. »Ich denke das gleiche. Wir brechen bald auf.«

Nachdem Caedmon seine beiden Fische verspeist und Xerdian die Reste seines trockenen Brotes hinunter gezwungen hatte, brachen die Reisenden ihr Lager ab und setzten ihren Weg fort. Der Fluss sollte weiterhin ihr Wegweiser sein. Sie folgten seinen Biegungen und Windungen, verließen ihn, sobald er sich hinter dichten Wäldern versteckte und sie bestaunten ihn, wenn er zwischen Felsen hinab rauschte. Immer wieder rasteten die Wanderer an kleinen Buchten und wunderten sich über die sonderbaren Blüten der Pflanzen, die dort wuchsen. Mal war es ihre Farbe, die danach strebte, alle anderen zu übertreffen. Oder es war ihre Form, die manchmal gar der eines Schmetterlings glich. Doch auch das Land wandelte sich. Weite Felder tiefgrüner Gräser wichen einer bergigen Landschaft, die hier und dort ihren blanken Stein in die Höhe reckte. Und bald schien erneut das goldene Licht der Abendsonne auf Aquilon herab. Mit der letzten Kraft ihrer Beine erklommen die Wanderer einen Hügel. An seinen Hängen wuchsen junge Bäume, die rötliche, runde Früchte trugen.

»Selbst die Erdbeeren wachsen in diesem Land nicht mehr auf dem Boden«, stellte Xerdian verwundert fest. Der Magier trat näher an einen der Büsche und pflückte eine Frucht. Ihre Haut war rau, fast schon warzig. Mit einer raschen Bewegung schob er sich die Beere in den Mund.

»Und?«, fragte Caedmon gespannt.

»Etwas sauer, aber nicht schlecht«, kam es vom Magier schmatzend zurück. Da eilte der Wachmann selbst zu einem der Bäume und griff nach einer Frucht. Doch bevor er sie pflückte, hielt er inne. Denn sein Blick fiel hinab in ein weites Tal, aus dem sich eine Rauchsäule in den Himmel empor schlängelte. Sie entstieg einem hölzernen Haus, thronend auf einem Berg, der vom Fluss umarmt wurde. Zu seinem Fuße lag eine Ansammlung windschiefer Hütten.

»Ich glaube, wir haben das Dorf gefunden«, rief Caedmon den Magiern zu.

Schmerz und Müdigkeit waren vergessen. Die Wanderer eilten die Anhöhe hinab, rascher, als ihre Füße sie zu tragen vermochten. Caedmon stürzte mehrmals und riss sich an garstigen Dornen die Haut auf. Aber dies nahm der Wachmann nur am Rande wahr. Am Fuß des Hügels angekommen, fanden sie sich geradewegs in einem Wald von Erdbeerbäumen wieder. Drei, viermal so hoch wie ein Mensch wuchsen die Bäume mit der rotbraunen Rinde und neben Früchten trugen sie weiße Blüten, die wie Glocken anzusehen waren. Sie verbreiteten einen süßlichen Duft, Insekten flogen summend zwischen ihnen umher. Im Schatten der Äste wanderten schmale Pfade durch den eigenartigen Wald. Amducias trat zuerst ein und auch wenn die Wege sich kreuzten, sich um schief gewachsene Stämme schlangen, nach einer Weile erreichten sie den Rand des Dorfes.

Verwundert sahen sich die Wanderer um, denn nirgends erblickten sie die Bewohner der strohbedeckten Behausungen, noch schützte ein Wall das kleine Dorf. Allein das Schlagen eines Hammers auf Eisen erklang im Wind. Die Magier verdeckten ihre Stäbe und Caedmon sein Schwert und langsam näherten sie sich einem Platz, auf dem eine Kochstelle eingerichtet war. Dann verstummten die Hammerschläge. Aufgeregte Stimmen riefen durcheinander, eine Horde Kinder rannte hinter einer Scheune hervor. Sie liefen zum Fluss, über eine Brücke und die Stufen zu dem Langhaus auf dem Berg hinauf. Verdutzt sahen die drei Wanderer ihnen hinterher. In diesem Moment trat ein bärtiger Mann auf den Platz, er hielt einen Schmiedehammer in der Hand. Der Mann musterte die Fremden, Neugierde und Argwohn zugleich lagen in seinen alten Augen. Er sagte etwas, es klang wie eine Frage, doch seine Worte waren unverständlich und seltsam anzuhören.

»Was spricht er denn da? Man versteht ja kein Wort«, flüsterte Caedmon Xerdian zu, doch auch der Magier kannte die Sprache nicht. Der Mann wiederholte seine Worte, dann gab er mit einem Schulterzucken auf und sah zum Haus auf dem Berg hinauf. Denn dort kam die vermutlich gesamte Dorfgemeinschaft die Stufen herabgeeilt. An ihrer Spitze lief ein Mann, gekleidet in eine Robe aus Farnblättern, Efeu und anderem Gewächs. In der Hand führte er einen hölzernen Stab, auf dem Moos gedieh und sein Bart sprach von den vielen Jahrzehnten, die dieser Mann schon gesehen haben musste. Doch als er die Wanderer erreichte, sahen sie in junge Augen.

»Beannachtaí«, sprach der Mann mit warmer Stimme und sah in verwirrte Gesichter. »Ich grüße Euch«, sagte er dann mit einem Lächeln. »Verzeiht, ihr kommt wohl nicht von hier.« Es war Caedmon, der zuerst seine Scheu verlor. »Euch auch Grüße, Herr«, sprach er und reichte dem Mann die Hand. »Ich bin Caedmon, Wachmann des Königs und dies sind Amducias und Xerdian, Magier und meine beiden Begleiter.« Amducias’ Blick verdunkelte sich, mit seinem Stab schob er Caedmon beiseite.

»Nun kennt Ihr unsere Namen, dürfen wir auch Euren erfahren, Herr?«, sprach Amducias zu dem Mann.

»Eochaid Ollathair ist mein Name«, antwortete er. »Doch verwenden ihn nur Fremde. Hier nennt man mich den Ältesten und dies sollt auch ihr tun.« Caedmon drängelte sich an Amducias vorbei. »Sehr schön, nachdem wir uns nun alle kennen, wir hatten eine wahrlich beschwerliche Reise. Eine Mahlzeit und ein warmes Feuer würde uns zu größtem Dank verpflichten«, sprach der Wachmann. Eochaid lächelte.

»Gewiss. Oben in unserer großen Halle sollt ihr meine Gäste sein.« Mit einer einladenden Geste wies der Älteste die Reisenden an, voranzugehen. Sie verließen den Platz mit der Kochstelle, passierten eine hölzerne Brücke und stiegen die Stufen zum Berg hinauf.

Die Tore des Langhauses standen weit offen, der Duft gebratenen Fleisches kroch in die Nasen der Wanderer. Xerdian hatte zunächst nur Augen für die prachtvollen Erdbeerbäume, die Sonne und die Regenwolken, die meisterlich in das Holz des Eingangstores geschnitzt waren. Eochaid und die Reisenden traten ein in die Halle, die so groß war, dass sie vier Dutzend Menschen beherbergen konnte. Feuer brannten in eisernen Schalen zu ihren Seiten, spendeten Licht in dem sonst so düsteren Haus. Auch hier fanden sich Schnitzereien und Figuren an den Wänden, die einzig der Natur Aquilons huldigten. Farnblätter und Moose hingen von den Balken, welche das Dach des Langhauses auf ihren Schultern trugen. Der Älteste geleitete sie zu einer langen Tafel, auf der bereits silberne Teller, gefüllt mit Brot und Fisch und tönerne Krüge warteten.

»Setzt Euch, genießt die Früchte, die uns dies Land schenkte«, sprach Eochaid. Caedmons Augen strahlten, als er die gedeckte Tafel erblickte. Der Wachmann stürzte an den Tisch, schob sich das Brot in den Mund wie einer, der seit Tagen nichts gegessen hatte. Dann nahmen Amducias und Xerdian Platz und als sie saßen, ließ sich Eochaid nieder. Der Älteste ließ seine Gäste essen, doch keine Geste, kein Blick entging seiner Neugier. »

Sagt, wie heißt das Land, wo eure Reise begann?«, fragte Eochaid dann. Caedmon setzte schon zur Antwort an, da griff Amducias unsanft an seinen Arm.

»Wir kommen aus einem Land hinter dem Grauen Meer, unser König regiert es und mehr sollt Ihr in diesem Moment nicht wissen«, sprach der Magier. Eochaid hob eine Braue.

»Verzeiht mir, wenn ich Euch mit meiner Frage verärgerte. Doch Besuch aus fremden Ländern ist selten in unserem kleinen Dorf und als Ältester ist es meine Pflicht, die Absichten meiner Gäste zu erfahren.« Die beiden Magier warfen sich einen kurzen Blick zu. Dann sprach Xerdian: »Wir reisen im Auftrag unseres Königs zu Euch. Krieg steht seinem Land, unserem Land bevor und wir hoffen, in Aquilon zu finden, was uns zum Sieg in diesem Streit verhelfen wird.«

»Was würde ein König hier finden wollen?«, fragte der Älteste und sein Haupt neigte sich zu Boden.

»Magie«, sagte Amducias. »Aquilon besitzt große Kraft. Wir werden jene, die sie spüren, lehren sie zu lenken.« Stille legte sich auf die Halle, nur das unstete Knacken des Feuers war zu hören. Die Freundlichkeit in Eochaids Antlitz verschwand.

»Dann wollt ihr mein Volk für euren König in den Krieg ziehen lassen?«, rief er. Amducias erhob sich von der Tafel. Er schritt durch das Haus, vorbei an jenen Gestalten, die sich im Schatten verbargen.

»So ist es«, sprach Amducias nur. Da traten die Figuren aus dem Dunkel, Frauen und Männer, die ebenfalls in Blätter gekleidet waren. Eine junge Frau mit kantigem Gesicht und schwarzem Haar stellte sich dem Magier in den Weg.

»Und ihr glaubt, wir werden euch gewähren lassen?«, zischte sie.

»Lasst gut sein, Morrígan«, rief Eochaid ihr zu. Die Älteste trat an Amducias vorbei und ihre Blicke trafen sich im wilden Zorn.

»Mein König wird seine Magier bekommen und wenn seine Männer erst nach Aquilon ziehen müssen«, verkündete Amducias und die Ältesten schwiegen, doch tief in ihnen, da weinten ihre Geister.

»Dann soll es so sein«, sprach Eochaid mit brüchiger Stimme. »Ihr werdet bekommen, was ihr braucht. Doch eines. Begegnet diesem Land mit der Demut, die es verdient. Auf das seine Geister euch empfangen mögen. Ihr nennt es Aquilon. Wir nennen es Gaoth Aniar Aduaidh, das Land des Nordostwindes.«

Der Tod der Stunden

»Für die meisten Menschen ist es nur ein Hauch auf der Haut, ein flüchtiges Kribbeln in ihrem Innern. Sie schreiten durch sie hindurch wie durch Nebel an einem kühlen Herbstmorgen«, sprach Xerdian zu den Versammelten. »Doch wir«, er hob beide Hände in die Höhe und ballte die Fäuste. »Wir begreifen die Magie, spüren ihre Kraft in uns und wenn wir lernen, sie zu verstehen, dann wird sie unserem Willen folgen.«

Ein Dutzend Augenpaare ruhten gebannt auf Xerdian. Der Magier sprach vor Jungen und Mädchen, Frauen und Männern. Die einen vollendeten gerade das erste Jahrzehnt ihres Lebens, während die anderen die Hälfte ihrer Zeit schon verlebt hatten. Aber trotz der vielen Jahre, die die Versammelten trennten, ihnen allen war es gegeben, Magie zu wirken.

»Unsere Magie ist rätselhaft«, sprach Xerdian weiter. »In ihrer Gegensätzlichkeit gleicht sie der Natur, sie schützt und heilt, und sie zerstört. Wir haben sie dreigeteilt, Zerstörungsmagie, Heilmagie und Schutzmagie nennen wir die einzelnen Lehren und um Magier genannt zu werden, müssen sie alle beherrscht werden«. Ein Mann hob die Hand.

»Ja, sprich«, bat Xerdian ihn.

»Meister Amducias sprach von vier Lehren. Er sagte, es gab eine letzte, vergessene Lehre. Nekromantie.«

Xerdians Atem stockte, als er das Wort vernahm. Mit steinernem Blick sah er seine Novizen an.

»Es stimmt, es gab eine vierte Lehre. Vor langer Zeit. Der letzte Nekromant, der Magie zu solch scheußlichem Werk missbrauchte, wurde vor hundert Jahren hingerichtet. Seitdem ist sie vergessen und es ist gut so«, sagte der Magier. »Nun habt ihr davon gehört, doch hängt nicht dem Vergangenen nach, wenn es im Heute so viel Wichtigeres gibt.«

Der Unterricht endete zum bald beginnenden Sonnenuntergang. Die Novizen verließen die Lehrstätte, die man auf Geheiß Eochaids errichtet hatte. Sie eilten zu ihren Familien, und Xerdian wartete wie jeden Abend auf Caedmon. Ein halbes Jahr war vergangen, seitdem sie über den Gipfel des Gebirges stiegen und Aquilon betreten hatten. Der Herbst hielt nun Einzug im Land, und er färbte die Blätter der Erdbeerbäume, die Bäume Sú Talúns, rot.

»Eilt Euch«, rief Xerdian dem Wachmann freudig entgegen, als der endlich um die Ecke geschlendert kam.

»Warum die Hast, Amducias ist doch auch noch nicht hier«, kam es von Caedmon zurück. Die beiden Männer begrüßten sich mit einem Handschlag.

»Er begleitet uns nicht. Er zog sich zurück, sitzt in seiner Hütte oder streift allein durch die Felder.« Der Wachmann zuckte mit den Schultern.

»Selbst Ihr könnt nicht abstreiten, dass er ein wahrlich seltsamer Kauz ist.« Xerdian lächelte.

»Kommt nun«, sprach er und die beiden verließen das Dorf, um in den Erdbeerbaumfeldern von ihrem Tag und ihrem Gemüt zu erzählen. Denn in den Abendstunden, wenn die letzten warmen Sonnenstrahlen durch das dichte Blätterdach drangen, da kamen die Geister zur Ruhe und fanden neue Kraft.

Caedmon verließ sein Bett noch vor dem Morgengrauen. Der Wachmann haderte über viele Wochen mit sich und der Entscheidung, in die Heimat zurückzukehren. Aber mit jedem Tag, den er in Aquilon lebte, grübelte er weniger darüber nach und bald gar nicht mehr.

Er schnappte sich sein Werkzeug, eine Kelle und einen Hammer und marschierte mit einem Lächeln in den kühlen Morgen. Sein Wissen als Wachmann und Schwertkämpfer war im Dorf nicht vonnöten, doch für kräftige Hände gab es dafür umso mehr zu tun. Caedmon blieb vor dem hölzernen Gerüst stehen, welches an einer Wand der Lehrstätte aufgebaut war. Zu seinen Füßen lagen Schiefersteine, darauf wartend in der Mauer verewigt zu werden.

»Guten Morgen Caedmon«, rief ein dürrer Mann vom Gerüst herab und grinste mit einem Lächeln voller Zahnlücken.

»Guten Morgen Fionn«, grüßte Caedmon zurück und kletterte das Gerüst hinauf. Den ersten Stock des Anbaus der Lehrstätte hatten sie fertiggestellt, jetzt folgte der zweite.

»Heute ist der Giebel dran, mein Freund«, sagte Fionn. »Am besten gibst du mir die Steine an. Ich fürchte, hier oben ist nicht genug Platz für uns zwei.«

Caedmon sah hinunter und seine Augen weiteten sich, als er sah, welche Brocken dort auf ihn warteten. Doch der Wachmann war die Arbeit, die den Schweiß trieb und die Muskeln brennen ließ, mittlerweile gewohnt. So stieg Caedmon wieder hinab und begann Fionn den Schiefer nach oben zu reichen.

Wolken verdeckten den Morgen und den Mittag, und mit jedem Blick, den Caedmon zum Himmel tat, kam es ihm vor, als wenn er immer dunkler wurde. Der Regen kam bald, mit Tropfen so fein, dass man sie kaum hörte. Die Männer arbeiteten weiter, denn man legte die Werkzeuge erst nieder, wenn man vor lauter Wassergüssen nichts mehr sah.

Die beiden Männer hoben und schoben die Steine, ihre Gedanken aber waren bei sonnigeren, müheloseren Tagen. Da reichte Caedmon einen weiteren Schieferstein hinauf. Der Wachmann schnaufte, denn dieser war ungewöhnlich schwer. Fionns Hände packten den Brocken, aber diesmal zogen sie ihn nicht hinauf. Der Maurer rutschte auf dem nassen Holz des Gerüstes aus, er verlor sein Gleichgewicht und fiel Caedmon kopfüber entgegen.

»Fionn!«, schrie der Wachmann vor Schreck und versuchte, den Freund irgendmöglich zu packen. Doch seine Hände griffen ins Leere. Mit einem Schmatzen schlug der Schieferstein auf die nasse Erde und Fionns Kopf auf den Fels. Blut vermischte sich mit dem Regen, während sein Leib regungslos dalag.

»Fionn, verdammt«, rief Caedmon und kniete sich neben den Maurer auf die Erde. Fionns Lippen färbten sich blau, sein Blut rann mit dem Regen davon. Und Caedmon sah sich in seiner Hilflosigkeit um.

»Xerdian!«, hallte sein Ruf durch das Dorf. »Xerdian!« Es waren zuerst Dorfbewohner, die die Schreie hörten und herbeieilten. Aber sie starrten nur auf den Mann, den das Leben verließ. Caedmon presste seine Hände auf die Wunde an Fionns Kopf, da kniete sich jemand neben ihn. Er war gekleidet in eine blaue Robe.

»Es ist gut, Ihr könnt die Hände wegnehmen, Caedmon«, sprach Xerdian. Der Magier legte seine Hände auf das blutende Loch im Kopf des Mannes. Und es war, als würde die Luft um sie herum für einen Moment erzittern. Xerdian senkte den Blick, langsam schloss sich die Wunde. Der rote Strom versiegte. Doch da atmete Fionn schon nicht mehr. Xerdian erhob sich.

»Es tut mir Leid«, sagte er. »Seine Verwundung war zu stark, er verlor zu viel Blut.« Caedmon sah ungläubig zwischen Xerdian und Fionn hin und her, als suche er noch immer nach einem Einfall, der das Leben seines Freundes rettete. Da tauchten Amducias und Eochaid am Rande der Menschentraube auf, die sich mittlerweile gebildet hatte.

»Was ist hier geschehen?«, fragte Amducias, seine wissenden Augen auf den stillen Leib Fionns gerichtet. Caedmon sah ihn nicht an.

»Ein Unfall. Ein Unglück«, sagte der Wachmann nur, weiter in der nassen Erde kniend.

Amducias und Eochaid trugen den Leichnam in die Halle auf dem Berg. Xerdian begleitete Caedmon in sein Heim und bis zum Abend verließ er ihn nicht. Der Wachmann sprach kaum, ertränkte seinen Kummer lieber in einer Flasche Beerenschnaps.

»Trauert um ihn, wenn er seine letzte Reise zu den Hügelgräbern antritt«, sprach Xerdian und legte Caedmon ein Abendmahl zurecht. »Und dann macht Euch gewiss, dass manches nie in unseren Händen liegen wird. Esst nun und schlaft diese Nacht.« Mit diesen Worten trat der Magier zur Tür hinaus und verschwand in den verregneten Abend. Die Wege des Dorfes waren verlassen. Kein Lachen erklang und keine Becher klirrten an den Tischen vor den Häusern, welche Fionn zur Hälfte selbst erbaut hatte. Xerdian schlug den Pfad hinauf zur langen Halle ein, denn er beabsichtigte mit Amducias zu sprechen. Und mit jeder Stufe, die er nahm, wuchs sein Unbehagen.

Der Magier öffnete die Tore zum Haus auf dem Berg, entledigte sich seines durchnässten Mantels. Amducias, Eochaid und Morrígan weilten an einem Tisch, der inmitten der Halle stand. Er trug den Leichnam Fionns.

»Welch trauriger Tag«, sprach der Älteste. »Ich werde morgen die Geister befragen, was sie so erzürnte, dass sie solch Unglück zuließen.«

»Ist es sicher ein Unfall gewesen?«, fragte Morrígan kühl und Xerdian entglitten die Gesichtszüge ob dieser Anschuldigung. Doch bevor der Magier antwortete, sprach Amducias: »Caedmon ist unschuldig. Hätte er Fionn vom Gerüst herabgezogen, so wäre die Verletzung noch schlimmer als ohnehin schon. Sein Schädel wäre dann gebrochen.«

»Ich sehe es ähnlich wie Amducias«, pflichtete Eochaid dem Magier bei. Der Älteste legte ein Tuch, gewebt aus Farnblättern, auf das Gesicht des Toten. »Im Dorf ist es Brauch, dass die Familie des Verstorbenen den Leichnam auf den Weg zu den Hügeln vorbereitet. Ihn salbt und kleidet. Doch Fionn hatte keine Angehörigen mehr.«

»Ich werde es machen«, sprach Amducias. »Der Tod schreckt mich nicht.« Morrígan hob eine Augenbraue. Noch vor wenigen Wochen hätte sie sich dem Wunsch Amducias’ widersetzt. Doch das Wissen und das in sich ruhende Wesen des Magiers beeindruckte die Älteste.

»Dann soll es so sein«, sagte Eochaid und zusammen mit Morrígan ließ er die beiden Magier allein.

»Ich sehe Euch kaum mehr«, sprach Xerdian dann zu seinem Gefährten. »Ihr haltet Euren Unterricht, und dann verschwindet Ihr in Eurer Hütte oder wandelt auf einsamen Pfaden umher.« Xerdian fand den Blick des Magiers und in seinen grauen Augen sah man, wie er nach einer Antwort suchte.

»Es ist nicht wegen Euch«, kam es von Amducias nur knapp. »Eine Aufgabe fesselt mich. Ich lerne und verstehe und vergesse die Zeit.«

»Was für eine Aufgabe ist es?«, fragte Xerdian. Amducias senkte den Blick, in seinem Inneren kämpften zwei Stimmen.

»Ich kann es Euch nicht sagen«, sprach der Magier dann und wandte sich ab, um das Langhaus zu verlassen. Aber vor dem Tor blieb Amducias stehen, blickte zurück zu Xerdian.

»Doch ich kann es Euch zeigen«, rief er. »Kommt morgen Abend zu mir in mein Haus.«

Xerdian wusste nach all der Zeit um die Eigenheiten Amducias’. Von seinem Verschwinden, wenn er von der Welt genug hatte und die Einsamkeit ersuchte. Von seinen Empfindungen und Gedanken, die er nur mit jenen wenigen teilte, denen er sein Vertrauen schenkte. Doch an diesem Abend zerbrach sich selbst Xerdian den Kopf über das Rätsel, welches Amducias war.

Der Magier hatte seine feinste Robe übergestreift, das Haar zurückgebunden. Und doch war da ein Gefühl in seinem Leib, dass ihn kurz daran hinderte, an das Holz der Türe zu klopfen. Xerdian atmete tief ein, dann berührten seine Handknöchel die Tür zu Amducias’ Heim. Nach einer Weile öffnete der Gastgeber.

»Xerdian, kommt doch herein«, begrüßte Amducias seinen Gefährten und empfing ihn mit einer Umarmung, wie er es lange nicht mehr getan hatte.

Amducias trug eine Robe, die in dem spärlichen Licht seiner Behausung fast schwarz wirkte. Trat er aber in den Schein einer Kerze, so verwandelte sie sich in das dunkle Blau des Meeres. Ein Feuer zuckte im Kamin und erwärmte die steinerne Hütte des Magiers, in dessen Mitte ein Tisch, gedeckt mit Speis und Trank, stand.

»Setzt Euch bitte«, sprach Amducias, während er zu seinem Schrank eilte und mit zwei Flaschen zurückkehrte.

»Ich habe uns Fisch zubereitet, Kartoffeln und Kraut und ich habe diese beiden noch in meinem Keller gefunden«, sagte er weiter und stellte freudig die Flaschen auf den Tisch. Die Umrisse von Erdbeerbäumen waren in ihr Glas eingraviert.

»Sú Talúns«, lachte Xerdian, denn der Magier war nicht unschuldig daran, dass es dieser Tage kaum mehr Flaschen des Bieres zu kaufen gab. Mit einem Zischen befreite Xerdian seine Flasche von dem Korken und atmete den Duft der wilden Beeren ein, die auf den Wäldern und Feldern um das Dorf geerntet wurden.

»Habt Dank!«, freute sich Xerdian und die Kälte in seinem Inneren wurde von der Wärme der Zweisamkeit verdrängt. Die Magier aßen ihren Fisch und die Kartoffeln, sie tranken Bier und Schnaps und sie lachten, bis sich ihre Wangen so rot wie die Früchte färbten, die sie verschlangen. Sie erzählten von vergangenen Zeiten, die aber an diesem Abend so nah waren, als wären sie gestern erst geschehen. Und Amducias’ Gedanken eilten an jene ferne Winternacht.

Regen rann von den Dächern. Gleißendes Licht erhellte die Nacht für einen Augenblick. Und eine Türe schwang auf. Er sah das Blut an seinen Händen.

Xerdian sah die Melancholie, welche aus dem Antlitz seines Gefährten sprach.

»Vermisst Ihr unsere Heimat manchmal?«, fragte Xerdian sanft. »Vermisst Ihr Eure Gefährtin nicht?« Amducias blickte auf. Ein Meer aus Gedanken und Gefühlen lag hinter seinen grauen Augen, verschleiert für alle Anderen.

»Ich ... wir fanden nie recht zueinander, fürchte ich«, sprach Amducias. »Wir sahen uns nicht mehr, lange bevor ich auf diese Reise aufbrach.«

»Es tut mir Leid«, entgegnete Xerdian.

»Das muss es nicht. Manchmal bedarf der Geist eines langen Weges, bevor er endlich ankommt.« Xerdian lächelte. Er wünschte, etwas zu erwidern, doch wie ein Stein lag es auf seiner Stimme und auf seinem Herzen.

Dann erhob sich Amducias und sprach: »Kommt nun. Ich möchte Euch zeigen, was ich Euch gestern versprach.« Der Magier in der dunklen Robe griff nach einer Kerze und öffnete die Bodentüre, die in den Keller des Hauses führte. Xerdian folgte Amducias die Stufen hinab und der Geruch der Fäulnis, vermischt mit süßlichen Aromen, stieg ihm entgegen. Das Licht der Kerze fiel auf Zeichnungen und Schriften, die an der Wand des Kellers hingen. Abbildungen menschlicher Glieder und Organe klebten neben gekritzelten Notizen.

»Was tut Ihr hier?«, sprach Xerdian verwundert. Amducias entzündete eine Fackel, sie erleuchtete den Keller und Xerdian erschrak. Auf einem Tisch, bedeckt mit Farnblättern, ruhte der leblose Leib eines Menschen.

»Fionn ...«, hauchte Xerdian. »Warum habt Ihr ihn mit zu Euch in das Haus genommen?« Aber Amducias antwortete nicht. Raschen Schrittes trat er an den Toten heran und zog die Decke aus Blättern von seinem Leib.

Und da erhob Amducias seine Arme, hielt sie über den Kopf und das stille Herz des Verstorbenen und der Leib des Magiers erzitterte. Xerdian bemerkte die Magie, die sich urplötzlich in dem Keller ansammelte. Furcht stieg in ihm auf.

»Nein, was tut Ihr da? Das darf nicht sein!«, rief Xerdian. Die Luft erzitterte. Die Lichter der Kerzen erloschen, die Gläser und Phiolen in den Schränken klirrten. Amducias senkte seine Arme auf den Leichnam herab, ein kurzer Stoß und dann empfing sie Stille.

Der Magier atmete schwer, Xerdian stand wie angewurzelt da und begriff erst, was er soeben gesehen hatte. Da zerriss ein Röcheln die Ruhe des Kellers. Der Kopf Fionns hob sich, seine knochigen Finger suchten Halt am Tisch. Und mit triumphierendem Blick stand Amducias vor seinem dunklen Werk.

»Steht auf«, befahl der Magier. Verloren bewegten sich die Augen in Fionns leerem Antlitz. Keine Regung, kein Gefühl lag mehr darin.

»Steht auf!«, wiederholte Amducias seinen Willen. Stöhnend setzte sich Fionn aufrecht, seine Beine fielen hinab, baumelten wie traurige Pendel vor dem Tisch. Dann erhob sich der Tote. Vor Amducias, seinem Herrn, blieb er stehen und sah ihn aus bleichen Augen an.

»Knie nun nieder«, lautete der Wille des Nekromanten und langsam, wankend und mit den Armen abstützend sank der Erweckte vor den Magiern auf seine Knie. Fionn hob seinen Kopf und Xerdian sah in ein Antlitz, dessen Verlorenheit und Schmerz sein Herz zerriss.

Xerdian rannte. Er eilte die Treppe des Kellers hinauf, stürzte aus dem Heim des Mannes, von dem er nicht mehr wusste, wer er war. Der Magier floh in die Nacht, hinein in den Wald, und er blieb erst stehen, als seine Beine schmerzten und brannten.

Xerdian warf einen Blick zurück, Tränen sammelten sich in seinen Augen. Etwas zerrte im Inneren seiner Brust und ließ ihn nicht atmen. Der Magier hielt sich an einem Ast fest, sank dann langsam auf den Waldboden hinab. Bald vernahm er Schritte auf den gefallenen Blättern. Sie kamen näher. Und Amducias blieb vor ihm stehen und sah auf ihn herab.

»Ich hoffte auf Euer Verständnis, doch wusste ich, dass es so kommen würde«, sprach der Mann mit dem schwarzen Haar. »Ich will nicht, dass Ihr Euch fürchtet.« Xerdian sah auf.

»Wie konntet Ihr?«, schrie er und seine Wut schallte hinaus über das Dach des schlafenden Waldes. »Alles, was ich in Euch sah, was ich in Euch sehen wollte. Ihr habt es mit dieser einen Tat vernichtet.« Ein Hauch des Bedauerns wehte über Amducias’ Antlitz, ehe es kalt und hart wie Eis wurde.

»Ich werde fortgehen«, sprach der Nekromant. »Bestattet Fionn, ich brauche ihn nicht mehr.« Xerdian suchte nach seinem Gefährten in dem Mann, der vor ihm weilte. Aber er sah einen Fremden, der rastlos und getrieben war von schwarzen Gedanken und sich dem höchsten aller Gebote widersetzte.

»Nein, Ihr braucht niemanden«, sagte Xerdian. »Geht, ich werde Euch auf diesem Pfad nicht begleiten.« Amducias wandte sich von ihm ab. Ehe er im Wald verschwand, drehte er sich um.

»Es tut mir Leid«, rief er. »Verurteilt mich für das, was ich tat, denn ich weiß um den Preis, den ich bezahle. Aber ich werde nicht aufhören zu hoffen, dass Ihr mich eines Tages verstehen werdet.« Mit diesen Worten trat der Magier in den Wald und seine Gestalt verschmolz mit den Schatten.

Und Xerdian blieb zurück. Seine Gedanken waren gefangen, er wagte es nicht, diesen Ort zu verlassen. Erst als die Nacht verging und der Morgen sein Licht zeigte, erhob sich der Magier.

Obwohl jede Faser seines Leibes widerstrebte, betrat Xerdian das Heim von Amducias’. Die Schränke standen offen und leer, überall lagen Gegenstände auf dem Boden verstreut. Aber erst als Xerdian den Stab des Magiers nirgends sah, kehrte allmählich Ruhe in seinen Geist ein. Amducias war fort. Mit Schmerz schaute Xerdian auf den Tisch, an dem sie beide gestern gegessen hatten. Dann stieg er hinab in den Keller. Fionn lag dort aufgebahrt, die Decke aus Farnblättern bedeckte seinen Leib. Die Schwarze Magie verweigerte ihm nicht länger seinen Schlaf.

Xerdian trug den Leichnam zurück in die Hohe Halle. Dort salbte und kleidete er den Toten, wie es Amducias versprochen und dann schändlich gebrochen hatte. Nun vermochte Fionn die lange Reise zu den Hügelgräbern anzutreten, denn sie lagen im Nordosten, viele Stunden Fußmarsch entfernt. Aber Xerdian war erschöpft, er sehnte sich nach Ruhe, um das Geschehene zu bedenken, und nach seinem Bett.

Der Magier trat aus dem Tor der Hohen Halle. Gedankenverloren stieg er die Stufen des Berges hinab, da nahm er erst die Stimmen und Rufe wahr. Auf dem Platz des Dorfes liefen die Menschen hastig umher. Sie schauten in die Häuser, in die Schuppen und in die Lehrstätte. Unter den Karren sahen sie nach und am Ufer des Flusses.

»Was geht hier vor, was sucht ihr?«, fragte Xerdian, als er unten im Dorf ankam. Der Schmied blieb stehen.

»Eabhas Junge, Eoin, er ist verschwunden«, rief er und lief dann weiter, um die Suche fortzusetzen. So sah der Schmied nicht, wie Xerdians Antlitz kreidebleich wurde. Für einen Moment sah der Magier die Welt verschwommen, die immer lauter werdenden Rufe erreichten kaum mehr seine Ohren. Erst als er die vertraute Stimme Caedmons vernahm, kehrten seine Sinne langsam zurück.

»Xerdian. Xerdian. Ist Euch nicht wohl?«, sprach der Wachmann und stützte seinen Freund.

»Es geht wieder. Danke, Caedmon«, entgegnete der Magier, dessen Magen sich in diesem Moment umdrehte. Das ganze Dorf war mittlerweile auf den Beinen und suchte nach dem Jungen. Und Xerdian wusste, dass sie ihn hier nicht finden werden.

»Xerdian«, sprach Caedmon erneut und sein sonst so freundliches Gesicht war wie versteinert. »Amducias ist ebenfalls verschwunden.«

Die Dorfbewohner fanden sich auf dem Platz zusammen, denn Eochaid und Morrígan waren gekommen. Schwere Tränen rannen Eabha vom Gesicht.

»Eabha, wir werden Deinen Jungen finden«, sprach der Älteste ihr Mut zu und nahm sie in den Arm. »Wen traf Eoin gestern, wo war er heute Nacht?« , fragte Eochaid. »Erzählt alles, auch wenn es Euch unwichtig erscheint.«

»Er ... er kam gestern Abend vom Unterricht«, schluchzte die Mutter. »Er spielte noch eine Weile mit seinen Freunden, aber bevor es dunkel wurde, kam er heim.«

»Amducias, Eoin ist einer Eurer Novizen, hat er etwas Ungewöhnliches erzählt in letzter Zeit?«, sprach der Älteste in die Menge, doch niemand antwortete.

»Amducias?«, rief Eochaid erneut nach dem Magier. Da trat Xerdian aus der Menschentraube hervor.

»Amducias ist fort«, sprach er und ein Raunen zog durch die Menge. »Ich kann nur erahnen, an welchen Ort er ging, doch fürchte ich, dass wir auch Eoin dort finden werden.« Schweigen legte sich über das Dorf am Fluss und seine Bewohner.

Xerdian zog sich mit Caedmon, Eochaid und Morrígan in die Hohe Halle zurück, denn was er zu sagen hatte, sollte nur für ihre Ohren sein. Und das Blut verschwand aus ihren Gesichtern, als der Magier von der dunklen Tat Amducias’ erzählte.

»Der Junge«, hauchte Caedmon. »Er ist in größter Gefahr.« Die Ruhe verließ jetzt selbst Eochaid. Seine Augen blitzten und Xerdian fühlte die Wut, die in ihm aufkam. »Holt Eure Stäbe und Schwerter!«, rief er. »Wir brechen auf zu den Hügelgräbern.«

Der Nebel des Morgens hing noch über dem Fluss, als sie die Brücke in Richtung Osten überquerten. Sie eilten und redeten kein Wort mit den Bewohnern, und doch waren ihnen ihre Blicke und Hoffnungen gewiss. Nur mit Eabha sprach der Älteste. Er gab der Mutter ein Versprechen und Xerdian wünschte nur, er würde es halten können. Dann verließen die vier das Dorf in Richtung Nordosten.

Wolken verdeckten den Himmel, nur selten gestatteten sie der Sonne, die Erde zu erreichen. Doch für das Land und das Wetter hatten die Ältesten, der Magier und der Wachmann keine Blicke übrig. Erst eilten sie mit raschen Schritten, aber der Gedanke zu spät zu kommen, ließ sie bald rennen. Caedmon keuchte unter der Anstrengung und Xerdian kämpfte mit dem Schmerz in seiner Lunge und seinen Beinen. Nur Eochaid und Morrígan rannten ohne jegliches Anzeichen einer Erschöpfung.

Mit den Stunden wandelte sich das Land. Die Ältesten führten sie vorbei an Gewässern, die aus der Ferne wie kleine Seen anmuteten, von Nahem aber waren es Moore, die schwarz und faulig das Land teilten. Dann, als sie die Tümpel hinter gelassen hatten, sahen sie in ein verborgenes Tal hinab, welches Dutzende Hügel beherbergte. Auf ihnen wuchsen die weißen Blüten Aquilons. Man sagte, dass sie nur auf jenen Hügeln gediehen, unter denen reine Herzen ruhten.

Seit jeher bestattete man die Verstorbenen in den Hügelgräbern im Nordosten. Ihre sterblichen Hüllen wurden Teil der Erde und ihre Geister zogen über das Land, so lange, bis sie das Rauschen des Meeres vernahmen.

Xerdian und Eochaid fassten ihre Stäbe fester, Caedmon zog sein Schwert und Morrígan führte gar Stab und Schwert in ihren Händen. Achtsam näherten sie sich dem Ort, der einzig den Ruhenden und Trauernden dienen sollte. Inmitten der Hügelgräber lag der Grabhügel der Ältesten. Ein kleiner Berg, der die steinernen Grabkammern der Frauen und Männer schützte, die vor Eochaid und Morrígan gelebt hatten. Zwei riesige Felsen, die einen dritten trugen, bildeten das Portal zu der Ruhestätte der Ältesten.

Die vier wählten nun jeden Schritt mit Bedacht, auf das er sie nicht verraten würde. Sie erreichten den Eingang des Grabberges, und sein dunkler Schlund stand offen, darauf wartend, sie zu verschlucken und in die Unterwelt zu zerren. Xerdian trat zuerst ein in den Gang, der kaum höher war als er selbst. Der Weg war kerzengerade, Steinplatten, in welche wundersame Kreise und Bögen gemeißelt worden waren, säumten seine Wände. Und am Ende des Weges leuchtete das Feuer der Fackeln. Xerdian fasste sich an die Brust, denn das Gefühl, das ihn ihm zerrte und seinen Atem nahm, bemächtigte sich seiner erneut. Sie durchschritten den Gang. Die Kälte der Steine kroch in ihre Leiber.

Amducias wartete am Ende des Weges. Der Nekromant stand mit dem Rücken zu den Ankömmlingen, er starrte auf eine Steintafel an der Wand. Sie zeigte eine Abbildung der Sonne.

»Bei Sonnenaufgang, wenn der Winter beginnt und die Tage kurz sind, da findet das Licht der Sonne in diesen Gang und es lässt die Kammer erstrahlen, als wäre es das goldene Haus eines Königs«, sprach Amducias. »Und nur wenige Minuten bleiben, bevor die Magie vergeht.« Dann wandte sich der Magier um. Er sah in Gesichter, in denen Sorge und Wut zugleich lag.

»Der Junge, den ihr sucht. Er liegt draußen in einem leeren Grab. Er lebt«, sagte der Nekromant.

»Caedmon! Seht nach ihm«, rief Eochaid und der Wachmann eilte den Gang hinaus. Und Xerdian richtete seinen Stab auf Amducias.

»Warum?«, fragte er nur, wissend, dass kein Wort des Magiers etwas ändern würde. Der Blick des Nekromanten schien durch Xerdian und die Ältesten hindurchzusehen.

»Die Zeit der Worte ist vorbei, Xerdian. Geht aus dem Weg. Denn Euch will ich keinen Schmerz zufügen«, sprach der Magier. Aber Xerdian blieb vor Eochaid und Morrígan stehen. Amducias senkte seinen Stab und sein Haupt und die Hoffnung Xerdians flammte auf, für einen Augenblick.

Da riss der Nekromant seinen Stab hoch. Eine Woge magischer Kraft traf Xerdian, Eochaid und Morrígan mit der Wucht einer unbändigen Welle, die auf Fels schlägt. Der Angriff schleuderte sie durch den Gang, hinaus aus dem Grabberg. Im Gras zu seinen Füßen blieben sie liegen und ihre Lippen verfärbten sich nachtblau, während sie um Atemluft flehten. Eochaid kroch auf allen vieren zu der wimmernden Morrígan und zog sie hinter einen Hügel. Dann humpelte der Älteste Xerdian entgegen, doch er war zu langsam. Amducias trat aus dem steinernen Portal und richtete seinen Stab auf Eochaid. Wie ein Sturm kam nun die Wut des Nekromanten über das Tal der Hügelgräber. Stein, Strauch und Gras wurden fortgerissen und die Blüten Aquilons in alle Himmelsrichtungen verstreut. Doch der Älteste blieb unberührt. Er wirkte einen Schild und erreichte so Xerdian.

»Gebt mir Eure Hand, Magier«, schrie Eochaid durch das Getöse und Xerdian reichte sie ihm. Sie stürzten dem Hügel entgegen und flüchteten zu Morrígan in seinen Schutz.

»Ihr Geister, steht uns bei!«, rief Eochaid.

»Die bringen Euch nun nichts mehr«, entgegnete Morrígan harsch. »Wir müssen zusammen kämpfen, allein wird ihm ein jeder unterliegen.« Der Magier und der Älteste stimmten ihr zu. Die Erschöpfung war Xerdian anzusehen, die schlaflose Nacht und der lange Marsch an diesen Ort zehrten an seinen Kräften.

Da endete der Sturm. Amducias näherte sich dem Grabhügel, um zu beenden, was er begonnen hatte. Doch als er in den Schatten des Hügels sah, waren Xerdian und die Ältesten verschwunden. Mit verwirrtem Blick sah Amducias um sich. Jäh traf ihn ein Schlag in den Magen, der den Magier keuchen und sich vor Schmerz krümmen ließ. Xerdian sandte seinen Gegenschlag aus dem Schutz eines anderen Hügels und eilte sogleich weiter zum nächsten. Der Stoß Eochaids zischte heran, gewillt, in die Flanke des Magiers zu schlagen. Aber der Nekromant parierte mit einer abwehrenden Geste seines Stabes.

»Kommt heraus aus euren Löchern«, fauchte Amducias und zog seine Robe zurecht, die zu seinen Stiefeln hin eingerissen war. Der dunkle Blick des Magiers jagte über die Hügel des Tals und bald er sah ihre Schatten. Doch hörte er nicht, wie sich Morrígan in seinen Rücken schlich. Lautlos, mit den Pfoten eines Luchses, glitt die Älteste an dem Grabberg entlang. Sie beobachtete Amducias, wie er sich in Stellung brachte, um zuzuschlagen. Dann war Morrígans Moment gekommen. Die Älteste preschte auf den Nekromanten zu. Mit ihrem Stab entließ sie eine Welle, geschaffen aus ihrem Zorn und in der erhobenen Klinge spiegelte sich ihr wildes Wesen.

Amducias wandte sich um. Die unbändige Magie der Ältesten prallte auf seinen Leib, fegte ihn von den Beinen. Da rauschte schon das Schwert Morrígans heran, es zielte auf den Schädel des Magiers. Ein dumpfes Knacken ertönte. Die Klinge schwebte eine Handbreit vor Amducias’ Haupt, aufgehalten durch seinen Stab. Heiße Wut stieg nun in dem Nekromanten auf. Mit einem Schrei stieß er das Schwert der Ältesten davon und erhob sich. Seine Bewegungen waren rasch und Morrígan bleib keine Zeit, sich zu verteidigen. Die Rache des Magiers traf sie mit ganzer Härte und schleuderte sie in Richtung des Grabberges. Schwert und Stab entglitten ihren Händen. Amducias setzte nach und jedes Mal, wenn Morrígan aufstand, warf der Magier sie erneut zu Boden. Bald lag sie zu Füßen des steinernen Portals, sie sah den angsterfüllten Blick Eochaids.

»Steht auf!«, befahl Amducias, doch die Älteste antwortete damit, ihr Blut auf die Stiefel des Magiers zu spucken. Da richtete der Nekromant den Stab auf ihren Leib. Morrígan war gefangen. Amducias zwang sie gegen den Fels des Portals. Und die Älteste schrie, und das Gesicht des Magiers verwandelte sich mit jedem ihrer Schmerzensschreie mehr zu einer düsteren Fratze. Blut rann aus der Nase Morrígans und das Knacken ihrer Rippen ertönte.

Xerdian und Eochaid eilten der Ältesten herbei. Der Magier schlug seinen Stab in den Rücken Amducias’, auf das er seine Folter beende. Und so kam es. Der Nekromant stürzte. Auch Morrígans Leib sackte zu Boden, die Älteste verlor das Bewusstsein unter ihrem Schmerz. Eochaid trug sie davon.

Xerdian fasste seinen Stab mit beiden Händen und er legte das Holz an die Kehle Amducias’, der mit dem Rücken zur Erde lag. Dann drückte Xerdian zu. Seine Wut zwang den Stab fest auf den Hals des Nekromanten, bis dessen Atem verging. Aber Xerdians Schmerz ließ seine Arme wieder zurückweichen, denn die Qual, die er Amducias beibrachte, war auch seine. Tränen traten in die Augen Xerdians, als er merkte, dass er zu dieser Tat nicht fähig war.

Amducias’ knöcherne Faust schoss empor. Sie schlug gegen die Stirn des Magiers. Dann ein zweites Mal und ein drittes Mal. Blut quoll aus der Wunde an seinem Haupt. Und wie rote Tränen rann es hinab von Xerdians Wangen.

»Tut es!«, zischte Amducias. »Tut es oder lasst es. Wie Ihr Euch entscheidet, es wird nie wieder sein wie zuvor.« Xerdian wandte sein Gesicht ab, damit Amducias sein Leid nicht sah.

Da eilten Eochaid und Caedmon herbei. Unter dem gezogenen Schwert des Wachmanns fesselte der Älteste den Nekromanten. Amducias wehrte sich nicht, mit einem Antlitz, das all seiner Regungen beraubt war, starrte er zu Boden. Xerdian aber kniete weiter in der Erde. Und von allem, was ihn peinigte, Leib und Geist, war es sein Herz, das am lautesten schrie.

Eochaid wachte über den besiegten Nekromanten und Caedmon eilte zurück zu dem Hügelgrab, welches er während des Kampfes beschützt hatte. Denn in ihm fand der Wachmann Eabhas Jungen, Eoin. Caedmon hob ihn behutsam aus dem Grab und trug ihn in die Mitte des Tals. Sie traten aus dem Schatten des Berggrabes und da sah Xerdian den Arm des Jungen.

Sein linker Arm hing herab, schwarz und verdorrt gleich einem Ast, der im Feuer verbrannte. Eoin rührte sich nicht.

»Sein Arm ...«, sagte Caedmon und seine Augen suchten nach Hilfe, aber alles, was sie sahen, war Entsetzen. Eochaid strich sanft mit der Hand über den Arm des Jungen. Was einst warme Haut gewesen, war nun kalt und rissig wie verbranntes Pergament. Die Finger des Ältesten suchten den Hals Eoins. Ein Hauch Freude zuckte über Eochaids Antlitz, er fand den Lebensschlag des Jungen.

»Er lebt, wenn auch sein Herz schwach ist«, sprach der Älteste. »Eilen wir uns. Caedmon, tragt den Jungen. Xerdian, helft Morrígan auf. Ich werde Amducias’ Fesseln tragen.«

Die Sonne lag in blutroten Gewändern, als sie das Dorf am Fluss erreichten. Und ihre Gemüter waren gehüllt in Schatten, denn Eoin lebte nicht mehr. Das Meiste des Weges hatten sie zurückgelegt, da schwieg sein Herz. Xerdian hatte versucht, sein Leiden zu lindern, doch er war gescheitert, wie auch Eochaid. Schwarze Magie hatte den Leib des Jungen vergiftet.

Eabha erwartete sie am Rand des Dorfes. Sie sah in die Gesichter Eochaids und Morrígans und ihre Hoffnung erlosch. Sie nahm den Jungen in ihre Arme, Tränen rannen über ihre Wangen.

»Eoin, mein Junge ... was ist ihm geschehen?«, weinte sie und ihre Augen, verloren im Schmerz, fanden Amducias. Aber der Nekromant starrte zu Boden und sagte kein Wort.

»Es tut mir Leid, Eabha«, sprach der Älteste. »Wir konnten ihm nicht helfen und ich gebe mir die Schuld. Gehe nun, trauere um deinen Sohn.« Und Eabha zeigte ihm Dank, dann wandte sie sich ab und trug ihren Jungen in ihr Heim. Eochaids Hand fuhr an das Kinn des Nekromanten und zwang es nach oben, und der Älteste sah in die grauen Augen Amducias’.

»Eure Strafe wird kommen, Magier. Morgen, noch vor dem Mittag, soll über Euch und Eure Taten entschieden werden«, sprach Eochaid mit brodelnder Stimme. »Sperrt ihn ein!«