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Nicolai Carpathia ist es gelungen, Christen und Juden in der Felsenstadt Petra in die Enge zu treiben. Mit dem Rücken zur Wand sehen sie sich den Streitkräften des Weltregenten gegenüber, der sie durch den Einsatz von Waffengewalt ein für allemal vernichten will. Unterdessen starten Chloe, Mac McCullum und Hannah Palemoon eine Rettungsaktion. Ein Mitglied der Tribulation Force soll aus der Gewalt seiner griechischen Entführer befreit werden, die bereits mehrere Anhänger Ben-Judas ermordet haben. Auf der ganzen Welt befinden sich die Gegner des Antichristen auf der Flucht. Armageddon, die entscheidende Schlacht zwischen Gut und Böse, rückt immer näher ...
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Seitenzahl: 464
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Tim LaHaye • Jerry B. Jenkins
Die Felsenstadt
Die letzten Tage der Erde
Roman
Die amerikanische Originalausgabe erschien im Verlag
Tyndale House Publishers, Inc., Wheaton, Illinois, USA,
unter dem Titel „The Remnant“.
© 2002 by Tim LaHaye und Jerry B. Jenkins
© der deutschen Taschenbuchausgabe 2007 by Gerth Medien GmbH, Dillerberg 1, 35614 Asslar
Aus dem Englischen von Eva Weyandt mit Genehmigung
von Tyndale House Publishers, Inc.
Left Behind © ist ein eingetragenes Warenzeichen
von Tyndale House Publishers, Inc.
Die Bibelstellen wurden der Einheitsübersetzung entnommen.
© 1980 Katholische Bibelanstalt, Stuttgart.
Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart
Taschenbuch ISBN 978-3-86591-279-4
eBook ISBN 978-3-96122-102-8
Umschlaggestaltung: Michael Wenserit; Julie Chen
Umschlagfoto: Barry Beitzel
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
Zur Erinnerung an
Dr. Harry A. Ironside
Mit besonderem Dank an
David Allen
für seine technische Beratung
43 Monate nach Beginn der Trübsalszeit – einen Monat nach Beginn der Großen Trübsalszeit
Die Christen
Rayford Steele, Mitte 40, flog als Flugkapitän für die Fluglinie Pan-Continental und verlor bei der Entrückung Frau und Sohn. Nach den dramatischen Ereignissen wurde er Flugkapitän der Weltgemeinschaft und gehörte zu den ersten Mitgliedern der Tribulation Force. Mittlerweile ist er ein international gesuchter Flüchtling. Er hält sich unter falschem Namen als Ägypter verkleidet in Petra auf.
Cameron „Buck“ Williams, Anfang 30, ehemaliger Chefreporter des Global Weekly und früherer Herausgeber des Global Community Weekly, gehörte zu den ersten Mitgliedern der Tribulation Force. Mittlerweile ist er Herausgeber einer Internet-Zeitung mit dem Namen „Die Wahrheit“. Seine falsche Identität als Jack Jensen ist aufgeflogen und er hält sich als Flüchtling im Strong-Gebäude in Chicago auf.
Chloe Steele Williams, Anfang 20, war vor den Ereignissen Studentin an der Stanford-Universität und hat Mutter und Bruder bei der Entrückung verloren. Sie ist die Tochter von Rayford, Ehefrau von Buck und Mutter des 15 Monate alten Kenny Bruce. Darüber hinaus ist sie Leiterin und Initiatorin der „Internationalen Handelsgesellschaft“, einem Untergrundnetzwerk von Christen. Auch sie gehörte zu den ersten Mitgliedern der Tribulation Force. Sie hält sich als Offizier der Friedenstruppen der Weltgemeinschaft verkleidet in geheimer Mission in Griechenland auf.
Tsion Ben-Judah, Ende 40, ist Rabbi und ehemaliger israelischer Staatsmann. Er sprach im israelischen Fernsehen öffentlich über seinen Glauben an Jesus als den Messias, woraufhin seine Frau und seine beiden Kinder ermordet wurden. Danach floh er in die USA und wurde zum geistlichen Führer der Tribulation Force. Über das Internet kommuniziert er täglich mit mehr als einer Milliarde Menschen. Im Augenblick besucht er die jüdischen Flüchtlinge in Petra.
Dr. Chaim Rosenzweig, Ende 60, israelischer Nobelpreisträger, Botaniker und Staatsmann und vom Global Weekly zum „Mann des Jahres“ gekürt. Er verübte den Anschlag auf Carpathia. Als Micha verkleidet, führte er die jüdischen Flüchtlinge nach Petra.
Lea Rose, Ende 30, war bis vor kurzem Oberschwester im Arthur Young Memorial Hospital in Palatine. Sie hält sich im Strong-Gebäude in Chicago auf.
Al B. (Albie), Ende 40, gebürtig aus Al Basrah im Norden Kuwaits. Er ist Pilot und ein international tätiger Schwarzmarkthändler. Da seine falsche Identität als Deputy Commander der Weltgemeinschaft Marcus Elbaz entlarvt wurde, hat er im Strong-Gebäude in Chicago Zuflucht gesucht.
Mac McCullum, Ende 50, ist der Pilot Carpathias. Viele Menschen waren Zeuge, als sein Flugzeug abstürzte. Er befindet sich, als hochrangiger Offizier der Weltgemeinschaft getarnt, auf einer Mission in Griechenland.
Abdullah Smith, Anfang 30, war früher jordanischer Kampfflieger und ist heute Erster Offizier der Phoenix 216. Auch er saß vermeintlich in dem abgestürzten Flugzeug, befindet sich aber in Wahrheit als Ägypter verkleidet in Petra.
Hannah Palemoon, Ende 20, arbeitete als Krankenschwester in dem Krankenhaus der Weltgemeinschaft in Neu-Babylon. Auch sie saß angeblich in dem abgestürzten Flugzeug, befindet sich aber als indischer Offizier der Weltgemeinschaft verkleidet auf einer Mission in Griechenland.
Ming Toy, Anfang 20, früherer Wachoffizier in einem belgischen Frauengefängnis, hat sich unerlaubt vom Dienst entfernt. Sie hält sich im Strong-Gebäude in Chicago auf.
Chang Wong, 17, ist Ming Toys Bruder. Er ist Maulwurf der Tribulation Force im Hauptquartier der Weltgemeinschaft in Neu-Babylon.
Gustaf Zuckermandel jr. (Zeke oder Z.), Anfang 20, ist Urkundenfälscher und Verkleidungsspezialist. Sein Vater starb durch die Guillotine. Er hält sich im Strong-Gebäude in Chicago auf.
Enoch Dumas, Ende 20, geistlicher Führer der 31 Mitglieder von The Place in Chicago, spanischer Abstammung, zog vor kurzem mit seinen Freunden in das Strong-Gebäude in Chicago.
Steve Plank (Pinkerton Stephens), Mitte 50, war früher Herausgeber des Global Weekly und arbeitete nach der Entrückung für Carpathia als Leiter der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit. Informationen zufolge ist er bei dem großen Erdbeben ums Leben gekommen; er arbeitet jedoch unter falschem Namen bei den Friedenstruppen der Weltgemeinschaft in Colorado.
Georgiana Stavros, 16, entkam mit der Hilfe von Albie und Buck in Ptolemais, Griechenland, der Hinrichtung durch die Guillotine. Sie wurde von der Weltgemeinschaft gefangen genommen. Über ihren Aufenthaltsort und ihren Zustand ist nichts bekannt.
George Sebastian, Mitte 20, ehemaliger Kampfhubschrauberpilot der in San Diego stationierten US-Luftwaffe. Er wurde während einer Mission für die Tribulation Force von der Weltgemeinschaft gefangen genommen und wird nordöstlich von Ptolemais, Griechenland, festgehalten.
Die Feinde
Nicolai Jetty Carpathia, Mitte 30, war während der dramatischen Ereignisse Präsident von Rumänien und wurde dann Generalsekretär der Vereinten Nationen. Carpathia war bis zu seiner Ermordung in Jerusalem selbst ernannter Potentat der Weltgemeinschaft. Drei Tage später kehrte er auf dem Palastgelände der Weltgemeinschaft in Neu-Babylon ins Leben zurück. Er hält sich im Palast der Weltgemeinschaft in Neu-Babylon auf.
Leon Fortunato, Anfang 50, ist Carpathias rechte Hand. Augenblicklich ist er der allerhöchste geistliche Führer des Carpathianismus und verkündet den Potentaten als den auferstandenen Gott. Er hält sich ebenfalls im Palast der Weltgemeinschaft in Neu-Babylon auf.
Viv Ivins, Mitte 60, ist schon lange mit Carpathia befreundet und arbeitet für die Weltgemeinschaft. Sie hält sich im Palast der Weltgemeinschaft in Neu-Babylon auf.
Suhail Akbar, Anfang 40, Carpathias Sicherheits- und Geheimdienstchef. Er hält sich im Palast der Weltgemeinschaft in Neu-Babylon auf.
Prolog
Hätte Rayford nicht so große Angst gehabt, hätte er sich vielleicht darüber gefreut, mit Tsion unbeschadet in der jordanischen Sonne zu stehen. Rayford und Abdullah hatten ihr Aussehen durch die Gewänder vollkommen verändert und sie gingen ohne Schwierigkeit als Männer aus dem Mittleren Osten durch.
„Wer ist Ihr Pilot?“, fragte ein Beamter der Weltgemeinschaft.
Tsion deutete auf Abdullah. Daraufhin wurden sie zu einem Hubschrauber geführt. Als sie in der Luft waren, rief Rayford Chloe an.
„Wo seid ihr?“, fragte er.
„Wir sind unterwegs, aber irgendetwas stimmt nicht, Dad. Mac musste dieses Fahrzeug kurzschließen.“
„Chang hat dem Mann nicht aufgetragen, die Schlüssel dazulassen?“
„Offensichtlich nicht. Aber du kennst ja Mac. Er macht sich nichts daraus. Wir fahren fröhlich in die Stadt und versuchen, uns als Abgesandte aus Neu-Babylon auszugeben, die die Überfälle auf die Judahiten überprüfen sollen.“
„Bist du bereit?“
„Ob ich bereit bin? Warum hast du nicht dafür gesorgt, dass ich in Chicago bei meiner Familie bleibe? Was für ein Vater bist du überhaupt?“
Sie machte Spaß, das war klar, aber er konnte nicht darüber lachen. „Pass nur auf, dass ich mir nicht wünsche, ich hätte es getan.“
„Keine Sorge, Dad. Wir werden hier nicht ohne Sebastian verschwinden.“
Als Abdullah sich Petra näherte, befand sich Chaim mit einer Viertelmillion Menschen oben an der Opferstätte. Die restlichen 750000 Juden hatten sich um den Platz verteilt und winkten dem Hubschrauber zu. Ein Landeplatz war vorbereitet worden, und die Leute zogen ihre Gewänder vor das Gesicht, um sich vor der Staubwolke zu schützen, die der Hubschrauber aufwirbelte. Applaus ertönte, als der Motor abgestellt wurde und die Staubwolke sich allmählich legte. Tsion stieg aus und winkte schüchtern.
Chaim verkündete: „Dr. Tsion Ben-Judah, unser Lehrer und Mentor und ein Mann Gottes!“
Rayford und Abdullah stiegen unbemerkt aus dem Flugzeug und setzten sich auf einen Felsvorsprung in der Nähe.
Tsion bedeutete der Menge zu schweigen und begann: „Meine lieben Brüder und Schwestern in Christus, der unser Messias, Erlöser und Herr ist. Ich möchte zuerst ein Versprechen erfüllen, das ich Freunden gegeben habe, und die Asche einer Frau verstreuen, die für den Glauben sterben musste.“
Er holte die kleine Urne aus seiner Tasche, hob den Deckel und überließ die Asche dem Wind. „Diese Frau besiegte den Antichristen, indem sie den Mut hatte, ihm entgegenzutreten, denn diese Wahrheit war ihr wichtiger als ihr Leben.“
Abdullah stieß Rayford in die Seite und blickte nach oben. In der Ferne näherten sich zwei Jagdbomber. Schon bald hörten auch die anderen Anwesenden den Motorenlärm und wurden unruhig.
Chang saß in Neu-Babylon an seinem Computer und verfolgte die Ereignisse, die für Carpathia aus dem Cockpit eines der Bomber übertragen wurden. Über die Wanze in Carpathias Büro konnte Chang auch hören, was dort gesprochen wurde. Leon, Viv, Suhail und Carpathias Sekretärin hatten sich um den Monitor im Büro des Potentaten geschart.
„Ziel erfasst, Bomben scharf“, meldete einer der Piloten. Der andere wiederholte seine Meldung.
„Und los!“, rief Nicolai mit hoher Stimme. „Und los!“
Tsion hob die Hände. „Lasst euch nicht ablenken, meine Freunde, denn wir können den Verheißungen des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs vertrauen. Wir wurden von ihm an diesen Ort der Zuflucht geführt und der Feind seines Sohnes wird nicht hierher durchdringen können.“ Er unterbrach seine Rede und wartete ab, bis der Lärm der Bomber geringer wurde. Sie donnerten über sie hinweg und verschwanden in der Ferne.
„Ja!“, quietschte Nicolai. „Zeigt euch und schießt, wenn ihr zurückkommt!“
Als die Bomber einer 180-Grad-Kurve folgten und schließlich zurückkehrten, bat Tsion die Menschen: „Bitte kniet mit mir zusammen nieder, neigt den Kopf und richtet euer Herz auf Gott aus. Vertraut seiner Verheißung, dass euch das Reich und die Herrschaft und die Größe unter dem ganzen Himmel gegeben wird, denn sein Reich ist ein immer währendes Königreich, und alle Gewalten werden ihm dienen und gehorchen.“
Rayford kniete nieder, doch sein Blick war auf die Bomber gerichtet. Als sie zurückkamen, ließen sie gleichzeitig ihre Bombenladung über der Opferstätte fallen, mitten in eine Million kniender Menschen hinein.
„Jaaaa!“, jubelte Carpathia. „Ja! Ja! Ja! Ja!“
„Darum jubelt, ihr Himmel und alle, die darin wohnen. Weh aber euch, Land und Meer! Denn der Teufel ist zu euch hinabgekommen; seine Wut ist groß, weil er weiß, dass ihm nur noch eine kurze Frist bleibt.“
Offenbarung 12,12
1
Rayford Steele hatte dem Tod oft genug ins Auge geblickt, um zu wissen, dass stimmte, was man sich erzählte: In einem solchen Augenblick zog das ganze Leben in Sekundenschnelle an einem vorüber und alle Sinne waren aufs Äußerste angespannt. Während er unbeholfen auf dem harten Felsen der Stadt Petra im alten Edom kniete, dachte er an alles, was in seinem Leben passiert war, erinnerte er sich an jeden, den er je kennen gelernt hatte.
Über den Lärm der Jagdbomber hinweg, die die größten waren, die er bisher gesehen hatte, hörte er das Klopfen seines Herzens und das Zischen seiner Lungen. Da er nicht daran gewöhnt war, die für einen Ägypter typische Kleidung zu tragen, waren seine Knie und Zehen wund gescheuert. Rayford konnte den Kopf nicht abwenden, konnte seinen Blick nicht vom Himmel und den Bomben nehmen, die im Fallen immer größer zu werden schienen.
Neben ihm lag sein Gefährte Abdullah Smith ausgestreckt auf dem Boden und barg seinen Kopf in den Händen. Rayford fühlte sich für Smitty verantwortlich, genau wie für die anderen Mitglieder der Tribulation Force. Einige hielten sich in Chicago auf, einige in Griechenland und einige waren hier bei ihm in Petra. Und einer saß in Neu-Babylon. Der Jordanier stöhnte und drückte sich an ihn. Rayford spürte, dass Abdullah zitterte.
Auch Rayford hatte Angst. Das konnte er nicht leugnen. Wo war der Glaube, der eigentlich da sein sollte, nachdem er erlebt hatte, wie Gott ihn so oft schon vor dem Tod bewahrt hatte? Nicht, dass er an Gott zweifelte. Aber irgendetwas tief in seinem Innern, vermutlich sein Überlebensinstinkt, sagte ihm, er würde sterben.
Die meisten Menschen hatten die Zweifel längst überwunden … es gab nur noch wenige Skeptiker. Falls sich jemand bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht für Christus entschieden hatte, dann hatte er vermutlich beschlossen, sich gegen Gott zu stellen.
Rayford hatte keine Angst vor dem Tod oder dem Leben nach dem Tod. Seine Kinder in den Himmel zu holen, war eine Kleinigkeit für den Gott, der sich jetzt Tag für Tag in Wundern zeigte. Es war das Sterben, vor dem Rayford sich fürchtete. Gott hatte ihn zwar bisher beschützt und ihm das ewige Leben nach dem Tod versprochen, doch er hatte Rayford nicht vor Verletzung und Schmerzen bewahrt. Würden Brandverletzungen sehr schmerzhaft sein?
Bestimmt wäre es ein schneller Tod, das war sicher. Rayford kannte Nicolai Carpathia gut genug, um zu wissen, dass er den direkten Weg wählen würde. Eine Bombe würde sicherlich die eine Million Menschen töten können, die alle ihre Köpfe zwischen die Knie gelegt hatten. Doch bei zwei Bomben würde von ihnen nichts mehr übrig bleiben. Würden die Lichtblitze ihn blenden? Würde er die Explosionen hören? Die Hitze spüren? Würde er merken, wie sein Körper zerfetzt würde?
Was auch immer passierte, Carpathia würde daraus politisches Kapital schlagen. Vielleicht würde er die unbewaffneten Menschen vor dem Bombeneinschlag nicht zeigen. Aber er würde den Einschlag zeigen, die Explosion, das Feuer, den Rauch, die Verwüstung. Er würde zeigen, wie sinnlos es war, sich der neuen Weltordnung zu widersetzen.
Rayfords Gedanken widersprachen seinem Instinkt. Dr. Ben-Judah war davon überzeugt, dass ihnen nichts passieren würde, dass dies die Stadt der Zuflucht war, der Ort, den Gott ihnen verheißen hatte. Und doch hatte Rayford erst vor wenigen Tagen genau hier einen Mann verloren. Auf der anderen Seite war der Bodenangriff der Weltgemeinschaft auf wundersame Weise im letzten Augenblick abgewendet worden. Warum konnte Rayford nicht vertrauen, glauben, zuversichtlich sein?
Weil er wusste, was Bomben anrichten konnten. Und während diese Ungeheuer zur Erde fielen, öffneten sich Fallschirme an ihnen, damit sie langsamer und zur gleichen Zeit in die versammelten Menschen einschlagen konnten. Rayfords Herz sank, als er den schwarzen Kopf an den Bomben bemerkte. Die Weltgemeinschaft hatte nichts dem Zufall überlassen. Sobald die Nasen der Bomben den Boden berührten, würden sie explodieren.
Chloe Steele Williams war von Hannahs Fahrstil beeindruckt. Das Fahrzeug war ihr nicht vertraut, sie kannte das Land nicht und doch handhabte die Indianerin, die sich in eine Inderin verwandelt hatte, den beschlagnahmten Jeep der Weltgemeinschaft, als wäre es ihr eigener. Sie fuhr sicherer als Mac McCullum, aber natürlich hatte er sich während der ganzen Zeit mit ihnen unterhalten.
„Ich weiß, das ist alles neu für euch“, hatte er gesagt. Daraufhin hatte Chloe Hannah zugezwinkert. Falls man jemandem seinen Chauvinismus durchgehen ließ, dann dem erfahrenen Piloten und ehemaligen Militärangehörigen, der alle Frauen der Tribulation Force „meine Damen“ nannte. Doch bei ihm wirkte dies keinesfalls herablassend.
„Ich muss zum Flughafen“, erklärte er ihnen, „und ihr müsst in Ptolemais die Handelsgesellschaft suchen.“ Er fuhr an den Straßenrand und stieg aus. „Wer von euch übernimmt das Steuer?“
Hannah in ihrer blütenweißen gestärkten Uniform eines Offiziers der Weltgemeinschaft kletterte von hinten auf den Fahrersitz.
Mac schüttelte den Kopf. „Ihr zwei seht aus wie zwei Armeehelferinnen, aber natürlich werden sie nicht mehr so genannt.“ Er blickte die Straße hinauf und hinunter. Chloe sah sich ebenfalls um. Es war Mittag, die Sonne stand direkt über ihnen und brannte auf die Straße herab. Nicht eine Wolke war am Himmel zu finden. Weit und breit war kein anderes Fahrzeug zu entdecken. „Macht euch um mich keine Sorgen“, fügte Mac hinzu. „Irgendjemand wird schon kommen und mich mitnehmen.“
Er nahm seine Reisetasche aus dem Kofferraum und hängte sie sich über die Schulter. Mac hatte auch noch eine Aktentasche dabei. Gustaf Zuckermandel jr., den alle nur Zeke oder Z. nannten, hatte an alles gedacht. Der junge Mann in Chicago hatte sich zum besten Fälscher und Verkleidungskünstler der Welt entwickelt, und Chloe fand, dass er bei ihnen ganz besonders gute Arbeit geleistet hatte. Ohne die roten Haare und seine Sommersprossen sah Mac ganz ungewohnt aus. Sein Gesicht war jetzt dunkel gefärbt, seine Haare braun, und er trug eine Brille, die er eigentlich gar nicht brauchte. Sie hoffte nur, dass Z.s Bemühungen an ihrem Dad und den anderen, die sich in Petra aufhielten, ebenso wirkungsvoll waren.
Mac stellte seine Taschen ab und legte die Arme auf die Fahrertür des Wagens. Sein Gesicht war nur Zentimeter von Hannahs entfernt. „Ihr Mädels habt alles auswendig gelernt?“ Hannah blickte Chloe an. Nur mit Mühe konnte sie ein Grinsen unterdrücken. Wie oft hatte er das während des Fluges von den Staaten hierher und der Autofahrt jetzt schon gefragt. Beide nickten. „Zeigt mir noch mal eure Namensschilder.“
Das von Hannah steckte unmittelbar vor ihm an ihrer Brust. „Indira Jinnah aus Neu-Delhi“, las Mac. Chloe beugte sich vor, damit er auch ihres sehen konnte. „Und Chloe Irene aus Montreal.“ Er legte die Hand auf sein Namensschild. „Und ihr gehört zu wessen Gruppe?“
„Senior Commander Howie Johnson aus Winston-Salem“, antwortete Chloe. Sie waren es schon so oft durchgegangen. „Du bist jetzt der höchstrangige Offizier der Weltgemeinschaft in Griechenland, und wenn jemand Zweifel daran hat, werden sie sich mit dem Palast in Verbindung setzen und das überprüfen.“
„Also gut dann“, seufzte Mac. „Habt ihr eure Pistolen? Dieser Kronos oder zumindest ein Verwandter von ihm verfügt über weitere Waffen.“
Sie brauchten zusätzliche Waffen, da sie keine Ahnung hatten, was auf sie zukommen würde. Bevor sie in den Staaten aufgebrochen waren, hatten sie den Umgang mit der Luger und der Uzi geübt, die ihnen die griechische Untergrundbewegung, wie sie wussten, besorgen konnte, und das hatte vollkommen ausgereicht.
„Ich bin noch immer davon überzeugt, dass die Mitglieder der Handelsgesellschaft dichtmachen werden, wenn sie unsere Uniformen sehen“, meinte Hannah.
„Dann zeigt ihr ihnen halt euer Zeichen, Süße“, schlug Mac vor.
Das Funkgerät, das unterhalb des Armaturenbretts angebracht war, meldete sich. „Achtung, Friedenstruppen der Weltgemeinschaft. Der Sicherheits- und Geheimdienst hat einen Luftangriff auf mehrere Millionen bewaffnete Gegner der Weltgemeinschaft in einer Gebirgsenklave gestartet, die von den Bodentruppen etwa 50 Meilen südöstlich von Mizpe Ramon in der Negev-Wüste entdeckt worden waren. Die Aufrührer haben zahllose Angehörige der Bodentruppen ermordet und sich einer unbekannten Anzahl an Panzern und Schützenwagen bemächtigt.
Suhail Akbar, der Leiter des Sicherheits- und Geheimdienstes der Weltgemeinschaft, gibt bekannt, dass zwei Bomben gleichzeitig abgeworfen wurden, auch wird eine Rakete vom Auferstehungs-Flughafen in Amman abgeschossen werden. Das erwartete Ergebnis wird die Vernichtung des Rebellenhauptquartiers und aller sich dort befindlichen Personen sein. Zwar gibt es noch immer Widerstandszellen auf der Welt, doch Direktor Akbar ist der Meinung, dass durch diese Maßnahme 90 Prozent der Anhänger der verräterischen Judahiten und auch Tsion Ben-Judah und sein engster Kreis ausgelöscht werden.“
Chloe legte die Hand auf den Mund. Hannah ergriff ihre andere Hand. „Betet, Mädchen“, forderte Mac sie auf. „Wir alle wussten, dass das kommen würde. Entweder wir glauben oder wir glauben nicht.“
„Wir haben gut reden“, wandte Chloe ein. „Wir könnten vier unserer Leute dort verlieren und natürlich die Israelis, die zu schützen wir versprochen hatten.“
„Ich nehme das nicht auf die leichte Schulter, Chloe. Aber wir haben eine Aufgabe zu erledigen und unser Vorhaben ist bestimmt nicht leichter. Und darum müsst ihr versuchen, euch jetzt nicht von dem Gedanken an die anderen ablenken zu lassen. Wir werden erst wissen, was in Petra tatsächlich passiert ist, wenn wir es mit eigenen Augen gesehen oder von unseren Leuten erfahren haben. Ihr habt die Lügen doch gehört. Die Weltgemeinschaft lügt ihre eigenen Truppen an! Wir wissen mit Sicherheit, dass nur eine Million Menschen in Petra sind und –“
„Nur?!“
„Na ja, im Vergleich zu den mehreren Millionen, von denen sie gesprochen haben. Und bewaffnet? Natürlich nicht! Und haben wir Soldaten der Weltgemeinschaft getötet? Ermordet, meine ich? Und was ist mit diesen Panzern und –“
„Ich weiß es ja, Mac“, besänftigte Chloe ihn. „Es ist nur –“
„Sie fangen besser an, mich bei meinem neuen Namen zu nennen, Miss Irene. Und denkt an alles, was wir in Chicago durchgesprochen haben. Vielleicht werdet ihr kämpfen, euch verteidigen, sogar jemanden töten müssen.“
„Ich bin bereit“, sagte Hannah. Erstaunt über diese Bemerkung, legte Mac den Kopf zur Seite. Auch Chloe war verblüfft. Sicher, Hannah war von dieser Aufgabe begeistert gewesen, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass Hannah jemanden töten wollte, genauso wenig wie sie sich so etwas wünschte. „Jetzt ist es sowieso zu spät“, erklärte Hannah. Sie sah zuerst Chloe an, dann Mac. „Die Zeiten für Diplomatie sind vorbei. Wenn es darum geht, zu töten oder getötet zu werden, dann werde ich meinen Gegner töten.“
Chloe konnte nur den Kopf schütteln.
„Ich sage ja nur“, fuhr Hannah fort, „wir befinden uns im Krieg. Denkst du, sie würden Sebastian nicht ohne mit der Wimper zu zucken umbringen? Vielleicht ist er ja schon tot. Auch rechne ich nicht damit, dieses Mädchen lebendig zu finden.“
„Und warum sind wir dann überhaupt hier?“, fragte Chloe.
„Nur für den Fall“, erklärte Hannah in dem indischen Tonfall, den Abdullah ihr in Chicago beigebracht hatte.
„Richtig, nur für den Fall“, bestätigte Mac und nahm erneut seine Taschen auf. „Unsere Telefone sind abhörsicher. Achtet darauf, dass die Solarakkus tagsüber genügend Sonnenlicht bekommen –“
„Komm schon, Mac“, unterbrach ihn Chloe. „Trau uns doch ein bisschen was zu.“
„Oh, das tue ich“, erwiderte Mac. „Ich traue euch eine ganze Menge zu. Um ehrlich zu sein, ich bin beeindruckt von eurem Mut, hier für jemanden herüberzukommen, den ihr noch nie gesehen habt, na ja, zumindest du nicht, Chloe. Und Hannah, äh, Indira, auch du kennst George nicht gut genug, um dir um sein – äh, Wohlergehen Gedanken zu machen.“
Hannah schüttelte den Kopf.
„Aber wir sind trotzdem hier, nicht?“, fuhr Mac fort. „Jemand hat hier für uns einen Auftrag ausgeführt, und soweit wir wissen, steckt er in Schwierigkeiten. Ich habe zwar keine Ahnung, wie es euch geht, aber ich werde nicht ohne ihn hier abfliegen.“
Mac drehte sich um und starrte zum Horizont. Chloe und Hannah taten unwillkürlich dasselbe. Eine schwarze Wolke näherte sich. „Ihr fahrt jetzt besser“, erklärte Mac. „Und wir bleiben in Verbindung.“
Rayfords erster Gedanke war, dass er in der Hölle war. Hatte er sich getäuscht? War alles umsonst gewesen? War er getötet worden und doch nicht in den Himmel gekommen?
Die unterschiedlichen Explosionen nahm er gar nicht wahr. Die Bomben hatten ein so helles Licht erzeugt, dass er, obwohl er seine Augen ungewollt so fest er konnte zugekniffen hatte, geblendet wurde. Es war, als fülle das helle Licht ihn aus und strahle von ihm aus. Er wappnete sich gegen den Lärm der Explosion und die Hitze, die unwillkürlich folgen würden. Bestimmt würde er in die anderen Leute hineingeschleudert und schließlich getötet werden.
Der Donnerschlag folgte auch tatsächlich, aber Rayford wurde nicht fortgeschleudert, auch hörte er keine Steine fallen, keine Felsformationen auseinanderreißen. Instinktiv streckte er die Hände aus, um Halt zu suchen, aber das war unnötig. Die Menschen begannen zu stöhnen, jammern und schreien, aber aus seiner Kehle drang kein einziger Laut. Obwohl er die Augen geschlossen hielt, sah er das Weiß, das schließlich ersetzt wurde durch Orange, Rot und Schwarz und jetzt, oh, der Gestank nach Feuer und Metall, Öl und Stein! Rayford zwang sich, die Augen zu öffnen, und während der Donnerschlag durch Petra hallte, wurde ihm klar, dass er in Flammen stand. Er hob die Arme vor sein Gesicht und zumindest kurzfristig spürte er nichts von der sengenden Hitze. Er wusste, sein Gewand, sein Fleisch und seine Knochen würden innerhalb von wenigen Sekunden verbrannt sein.
In dem wütenden Feuersturm konnte Rayford nicht weit sehen, aber alle anderen Pilger um ihn herum standen ebenfalls in Flammen. Abdullah rollte sich zur Seite und lag mit angezogenen Knien auf dem Boden, das Gesicht und seinen Kopf noch immer in den Armen verborgen. Weiß, gelb, orange, schwarz züngelnde Flammen schlossen ihn ein, als wäre er ein menschlicher Docht für einen dämonischen Holocaust.
Einer nach dem anderen erhoben sich die Menschen in Rayfords Nähe und streckten die Arme in die Höhe. Ihre Kapuzen, ihr Haar, ihre Bärte, Gesichter, Arme, Hände, Gewänder, Kleider waren von der Feuersbrunst eingehüllt, doch es sah so aus, als würde das Feuer von einer anderen Quelle gespeist. Rayford sah nach oben, konnte den wolkenlosen Himmel jedoch nicht erkennen. Sogar die Sonne wurde von dem großen Feuermeer verdeckt. Der Berg, die Stadt, das ganze Gebiet brannten und der Rauch und die Flammen reckten sich Hunderte von Metern in die Luft.
Wie musste das für die Welt aussehen? Auf einmal wurde ihm klar, dass die Israeliten genauso verblüfft waren wie er. Sie taumelten, betrachteten einander mit erhobenen Armen, umarmten sich, lächelten! War dies irgendein seltsamer Albtraum? Wie konnten sie, von der tödlichen Macht dieser modernsten Massenvernichtungstechnologie umgeben, trotzdem in der Lage sein, zu stehen, zu sehen und zu hören?
Rayford öffnete und schloss, nur Zentimeter von seinem Gesicht entfernt, seine rechte Faust und wunderte sich über die zischenden, lodernden Flammen, die von jedem Finger sprangen. Abdullah kämpfte sich auf die Beine und drehte sich im Kreis, als wäre er betrunken. Er ahmte die anderen nach, hob die Arme und sah zum Himmel hoch.
Er wandte sich zu Rayford um und sie umarmten sich; das Feuer an ihrem Körper verschmolz und wurde zu einem Ganzen. Schließlich löste sich Abdullah von Rayford und sah ihn an. „Wir stehen im Feuerofen!“, freute sich der Jordanier.
„Amen!“, rief Rayford. „Hier stehen eine Million Schadrachs, Meschachs und Abednegos!“
Chang Wong gesellte sich zu den anderen Technikern seiner Abteilung. Ihr Vorgesetzter, Aurelio Figueroa, führte sie zu einer riesigen Leinwand. Darauf war die Liveübertragung aus dem Cockpit von einem der Jagdbomber zu sehen, der hoch über Petra kreiste. Die Aufnahmen wurden über das Global Community News Network weltweit ausgestrahlt. Später würde Chang sich die Aufzeichnung der Wanze in Carpathias Büro anhören, um die Reaktion von Nicolai, seiner neuen Sekretärin Krystall, Leon, Suhail und Viv Ivins zu verfolgen.
„Mission beendet“, berichtete der Pilot. Er überflog das Ziel und zeigte ein Flammenmeer, das mehrere Quadratmeilen groß war. „Schlage vor, den Raketenabschuss auszusetzen. Unnötig.“
Chang biss die Zähne aufeinander. Wie konnte jemand so etwas überleben? Die Flammen loderten, und der schwarze Rauch war so dicht, dass der Pilot ihm ausweichen musste, um überhaupt ein Bild zu bekommen.
„Negativ“, ertönte die Antwort von der Kommandostelle der Weltgemeinschaft. „Raketenabschuss, Amman.“
„Das ist doch viel zu viel“, murmelte der Pilot, „aber es ist Ihr Geld. Ich kehre zur Basis zurück.“
„Wiederholen Sie!“ Das klang so, als käme es von Akbar höchstpersönlich.
„Verstanden. Kehre zur Basis zurück.“
„Erneut negativ. Bleiben Sie auf Ihrer Position für die Übertragung.“
„Wenn eine Rakete im Anmarsch ist, Sir?“
„Halten Sie genügend Abstand. Die Rakete wird ihr Ziel finden.“
Das zweite Flugzeug bekam die Erlaubnis, nach Neu-Babylon zurückzukehren, während das erste in Position blieb, um der Welt das brennende Petra zu zeigen.
Chang wünschte, er wäre in seinem Zimmer, um mit Chicago zu sprechen. Wie hatte Dr. Ben-Judah sich in Bezug auf Petra so irren können? Was würde jetzt aus der Tribulation Force werden? Wer würde die übrigen Gläubigen auf der Welt jetzt noch um sich scharen? Und wohin würde Chang fliehen können, wenn der Zeitpunkt gekommen war?
In Chicago war es vier Uhr morgens. Buck saß vor dem Fernseher. Lea und Albie gesellten sich zu ihm, Zeke holte gerade Enoch.
„Wo ist Ming?“, fragte Buck.
„Bei dem Baby“, erklärte Lea.
„Was haltet ihr davon?“, fragte Albie und starrte auf den Bildschirm.
Buck schüttelte den Kopf. „Ich wünschte, ich wäre dort.“
„Ich auch“, erwiderte Albie. „Ich fühle mich wie ein Feigling, ein Verräter.“
„Wir haben irgendetwas übersehen“, stellte Buck fest. „Wir alle haben etwas übersehen.“ Immer wieder versuchte er, Chloe zu erreichen. Er konnte sich nur vage vorstellen, was sie durchmachte.
„Ist das denn zu fassen?“, fragte Lea. „Es reicht nicht, eine Million Menschen abzuschlachten und eine der schönsten Städte der Welt zu zerstören. Jetzt jagt er sie auch noch mit einer Rakete.“
Buck hatte den Eindruck, dass Leas Stimme gepresst klang. Und warum auch nicht? Vermutlich dachte sie, was er dachte – dass sie nicht nur ihren Führer verloren und zugesehen hatten, wie eine Million Menschen verbrannt worden waren, sondern dass alles, was sie zu wissen glaubten, falsch gewesen war.
„Hol Ming, ja?“, bat er. „Sag ihr, sie soll Kenny schlafen lassen.“
Lea eilte aus dem Zimmer, als Zeke mit Enoch hereinkam. Zeke ließ sich auf den Boden sinken, aber Enoch blieb stehen. „Ich kann nicht lange bleiben, Buck“, erklärte er. „Meine Leute sind ziemlich erschüttert.“
Buck nickte. „Bei Tagesanbruch wollen wir alle zusammenkommen.“
„Und –?“, fragte Enoch.
„Ich weiß auch nicht. Beten, denke ich.“
„Wir haben lange genug gebetet“, erklärte Albie. „Jetzt ist es Zeit zurückzuschlagen.“
Rayford konnte nicht mehr aufhören zu lachen. Tränen strömten ihm über die Wangen, als die Leute in Petra zu jubeln, singen und tanzen begannen. Spontan bildeten sie große Kreise, legten sich gegenseitig die Arme auf die Schultern und hüpften und warfen die Beine in die Luft. Abdullah hing an Rayfords Seite, er lachte und rief: „Preist den Herrn!“
Sie tanzten inmitten eines Feuers, das so dicht und hoch war, dass sie nur einander und die Flammen sehen konnten. Keinen Himmel, keine Sonne, nur ihre unmittelbare Umgebung. Sie erlebten das größte Feuer in der Geschichte und doch konnte es ihnen nichts anhaben.
„Werden wir irgendwann aufwachen, Captain?“, rief Abdullah mit krächzender Stimme. „Dies ist der seltsamste Traum, den ich je gehabt habe!“
„Wir sind wach, mein Freund“, rief Rayford zurück, obwohl Abdullah nur wenige Zentimeter von ihm entfernt war. „Ich habe mich gezwickt!“
Das brachte Abdullah noch mehr zum Lachen, und während sich ihr Kreis drehte und immer größer wurde, fragte sich Rayford, wann die Flammen wohl erlöschen und die Welt erfahren würde, dass Gott wieder einmal über das Böse gesiegt hatte.
Ein älteres Ehepaar neben ihm sah sich staunend an, als der Kreis sich drehte. Sie strahlten über das ganze Gesicht. „Ich stehe in Flammen!“, rief die Frau.
„Ich auch!“, schrie der Mann und hüpfte unbeholfen umher. Er warf sie und andere beinahe um, als er ein Bein in der Luft behielt, um ihr zu zeigen, dass sein gesamtes Bein vom Feuer eingeschlossen war.
Rayford blickte an ihnen vorbei. Er merkte, dass etwas Ungewöhnliches geschah, und fragte sich, was wohl ungewöhnlicher sein konnte als das hier. Hier und da konnte er innerhalb seines Blickfelds Kleiderbündel auf dem Boden erkennen, was bedeutete, dass immer noch Menschen auf dem Boden zusammengekauert hockten.
Rayford löste sich von Abdullah und einem jungen Mann auf seiner anderen Seite und begab sich zu einem Mann, der auf dem Boden lag. Er kniete nieder, legte dem Mann die Hand auf die Schulter und versuchte ihn dazu zu bringen, aufzustehen oder zumindest aufzusehen. Der Mann entwand sich ihm jammernd und zitternd und rief: „Gott, rette mich!“
„Sie sind doch gerettet“, beruhigte Rayford ihn. „Sehen Sie doch nur! Wir stehen in Flammen, doch die Flammen können uns nichts tun! Gott ist bei uns!“
Der Mann schüttelte den Kopf und sank noch mehr in sich zusammen.
„Sind Sie verletzt?“, fragte Rayford. „Haben die Flammen Sie verbrannt?“
„Ich bin ohne Gott!“, klagte der Mann.
„Das kann nicht sein! Sie sind in Sicherheit! Sie sind am Leben! Sehen Sie sich doch nur um!“
Aber der Mann wollte sich nicht trösten lassen. Rayford traf auch noch andere Männer, Frauen und einige Teenager in derselben Verzweiflung an.
„Leute! Leute! Leute!“ Das war die Stimme von Tsion Ben-Judah. Rayford hatte das Gefühl, dass sie ganz aus der Nähe ertönte, doch er konnte den Rabbi nicht entdecken. „Es wird die Zeit kommen, wo wir uns freuen und den Gott Israels loben und ihm danken werden! Doch jetzt hört mir zu!“
Das Tanzen und Singen brach ab, aber viele konnten ihre Freude und ihren Überschwang kaum unterdrücken. Die Leute lächelten und umarmten sich und sahen sich nach der Quelle der Stimme um. Doch schließlich gaben sie sich damit zufrieden, ihn zu hören. Aber auch die Verzweiflungsschreie setzten sich fort.
„Ich weiß nicht“, begann Dr. Ben-Judah, „wann Gott den Vorhang aus Feuer heben wird und wir den klaren Himmel wieder sehen werden. Ich weiß nicht, wann oder ob die Welt erfahren wird, dass wir beschützt wurden. Für den Augenblick reicht es, dass wir es wissen!“
Die Leute jubelten, doch bevor sie wieder anfangen konnten zu singen und zu tanzen, fuhr Tsion fort.
„Wenn der Antichrist und seine Ratgeber zusammenkommen, werden sie erkennen, dass das Feuer keine Macht über unseren Körper hat; die Haare auf unseren Häuptern wurden nicht verbrannt, auch hat das Feuer unseren Kleidern nichts anhaben können, und nicht einmal Brandgeruch hängt uns an. Sie werden das natürlich auf ihre Weise interpretieren. Vielleicht werden sie nicht einmal zulassen, dass der Rest der Welt davon erfährt. Aber Gott wird sich auf seine Weise und zu seiner Zeit offenbaren, wie er es immer tut.
Und er hat ein Wort für euch heute, meine Freunde. Er sagt: ‚Ich habe dich geläutert, doch nicht wie Silber: Im Schmelzofen des Elends prüfte ich dich. Nur um meinetwillen handle ich jetzt, denn sonst würde mein Name entweiht; ich überlasse die Ehre, die mir gebührt, keinem andern. Jakob, höre auf mich, höre mich, Israel, den ich berief: Ich bin es, ich, der Erste und auch der Letzte. Meine Hand hat die Fundamente der Erde gelegt, meine Rechte hat den Himmel ausgespannt; ich rief ihnen zu, und schon standen sie alle da. Versammelt euch alle und hört – wer von den Göttern hat so etwas jemals verkündet? –: Der, den der Herr liebt, wird meinen Willen an Babel vollstrecken. Ich habe gesprochen.‘
So spricht der Herr, euer Erlöser, der Heilige Israels: ‚Ich bin der Herr, euer Gott, der euch den Weg führen wird, den ihr gehen sollt. Oh, dass ihr meine Gebote befolgen würdet! Dann wäre euer Friede wie ein Strom gewesen und eure Gerechtigkeit wie die Wellen des Meeres. Verkündet dies dem Ende der Erde, dass der Herr seine Diener erlöst hat und dass sie keinen Durst leiden mussten, als er sie durch die Wüsten führte. Er ließ Wasser aus dem Felsen für sie kommen; er teilte den Felsen und Wasser kam heraus.‘“
Über den Bildschirm verfolgten die Mitglieder der Tribulation Force in Chicago, wie der Pilot des Jagdbombers bestätigte, Sichtkontakt zu der von Amman aus abgeschossenen Rakete zu haben. Und an der rechten Seite des Bildschirms tauchte das eine dichte weiße Rauchfahne hinter sich herziehende Geschoss auf. Es näherte sich dem Flammenmeer in Petra.
Das Geschoss tauchte außer Sichtweite in das Flammenmeer ein, und Sekunden später ereignete sich eine weitere Explosion, unmittelbar gefolgt von einer riesigen Wasserfontäne, deren Wasser eine Meile in den Himmel spritzte.
„Ich –“, begann der Pilot, „ich sehe – ich weiß nicht, was ich sehe. Wasser. Ja, Wasser. Es, äh, es wirkt sich auf Feuer und Rauch aus. Das Wasser spritzt in die Höhe und regnet auf das Gebiet hinab. Es ist, als hätte die Rakete irgendeine Quelle getroffen, die, äh – das ist verrückt, Kommandostelle. Ich sehe – ich kann sehen … die Flammen erlöschen jetzt, der Rauch verschwindet. Dort unten sind Menschen am L–“
Buck sprang auf und kniete vor dem Fernsehgerät nieder. Seine Freunde jubelten und klatschten. Die Übertragung wurde abgebrochen und GCNN entschuldigte sich bereits für die technischen Schwierigkeiten.
„Habt ihr das gesehen?“, rief Buck. „Sie sind am Leben! Sie haben überlebt!“
Chang zog die Augenbrauen hoch. Seine Kinnlade klappte herunter. Seine Kollegen fluchten, deuteten zum Bildschirm und starrten hinein. Sie stöhnten, als die Übertragung unterbrochen wurde. „Das kann doch gar nicht sein! Das sah ja aus – nein, das ist doch unmöglich. Wie lange hat es dort gebrannt? Zwei Bomben und eine Rakete? Nein!“
Chang eilte an seinen Computer zurück, um zu überprüfen, ob nach wie vor aus Carpathias Büro aufgezeichnet wurde. Er konnte es kaum erwarten, sich das Gespräch zwischen Akbar und dem Piloten anzuhören.
Rayford stand wieder neben Abdullah. Er hörte auf das, was Tsion sagte, als sich die Erde mit einem lauten Krachen öffnete und eine mindestens drei Meter breite Wasserfontäne so hoch in den Himmel spritzte, dass es eine ganze Minute dauerte, bis das Wasser auf sie hinabregnete.
Die Flammen wurden erstickt und der Rauch zog ab. Das Wasser war sehr erfrischend, und Rayford bemerkte, dass andere dasselbe taten wie er. Sie hoben ihre Hände und ihre Gesichter zum Himmel, dem Wasser entgegen. Rayford befand sich nur etwa 100 Meter von Chaim und Tsion entfernt, die am Rande der gewaltigen Erdspalte standen, aus der die Wasserfontäne gekommen war.
Wie es schien, versuchte Tsion erneut, die Aufmerksamkeit der Menschenmassen auf sich zu ziehen, aber es war zwecklos. Sie rannten, hüpften, sie umarmten sich, sangen, tanzten, schüttelten den Kopf, lachten und schon bald dankten sie Gott.
Trotzdem entdeckte Rayford hier und da noch immer trauernde und weinende Menschen. Waren das Ungläubige? Wie hatten sie überleben können? Hatte Gott sie trotzdem beschützt, nur weil sie hier waren? Rayford konnte es nicht verstehen. War es wichtig zu wissen, wer beschützt wurde und wer nicht und aus welchem Grund? Würde Tsion dieses Thema einmal ansprechen?
Nach mehreren Minuten gelang es Chaim und Tsion, die Menschen zur Ordnung zu rufen. Es war ein Wunder, dass Tsion ohne Verstärker zu so vielen Menschen sprechen konnte und jeder ihn verstand, aber ein noch größeres Wunder war es, dass er sogar das Rauschen des Wassers und den Freudentaumel der Menschen übertönte.
„Ich bin bereit, einige Tage bei euch zu bleiben“, verkündete Tsion. „Um mit euch zu beten. Gemeinsam werden wir Gott danken. Ich werde euch das Wort Gottes auslegen. Ach, seht nur, das Wasser lässt nach.“
Der Lärm nahm ab: Die Spitze der Fontäne kam langsam in Sicht. Sie ragte nun nur noch 300 Meter in den Himmel. Schon bald war sie nur noch etwa 100 Meter hoch, dann 50, dann zehn. Schließlich erstarb sie in einem kleinen See, der durch die Eruption entstanden war, und mitten in dem Teich sprudelte die Quelle, als würde das Wasser kochen. Sie würde zusätzlich die Wasserversorgung der vielen Menschen sicherstellen.
„Einige von euch weinen und sind beschämt“, fuhr Tsion fort. „Und das aus gutem Grund. Während der folgenden Tage werde ich mich in besonderer Weise euer annehmen. Denn ihr habt zwar nicht das Zeichen des Bösen angenommen, aber ihr habt euch auch nicht auf die Seite des einen wahren Gottes gestellt. In seiner Gnade war er bereit, euch zu beschützen und euch eine weitere Gelegenheit zu geben, sich für ihn zu entscheiden.
Viele von euch werden dies tun, noch heute, noch bevor ich anfange, euch von den unerforschlichen Reichtümern des Messias und seiner Liebe und Vergebung zu erzählen. Doch viele von euch werden in ihrer Sünde verharren, werden riskieren, dass ihre Herzen verhärtet werden, sodass sie ihre Meinung nie wieder ändern können. Aber diesen Tag werdet ihr nie vergessen, dieses Wunder, diesen unwiderlegbaren Beweis, dass der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs alles in seiner Hand hält. Ihr könnt eure eigene Entscheidung treffen, aber nie werdet ihr bestreiten können, dass der Glaube der Sieg ist, der die Welt überwindet.“
2
In Chicago versuchte Buck weiterhin, Chloe zu erreichen, danach Rayford und dann Chang. Nichts. Er legte sein Telefon zur Seite, konnte jedoch nicht still sitzen bleiben. „Wo ist Ming?“, fragte er. „Weiß sie darüber Bescheid?“
„Sie ist fort“, erklärte Lea.
„Unten? Sag ihr, sie soll Enochs Leute schlafen lassen und hier heraufkommen.“
„Meine Leute können jetzt nicht schlafen“, erwiderte Enoch.
„Sie ist nicht unten“, informierte Lea ihn. „Sie hat eine Nachricht hinterlassen.“
„Was?“
„Ihr Bruder hat ihr irgendetwas erzählt von –“
„Wo ist Kenny?“
„Er schläft, Buck. Jetzt hör zu. Ihr Bruder hat ihr irgendetwas von ihren Eltern erzählt, und sie ist entschlossen, sie zu holen.“
„Oh Mann!“, stöhnte Zeke.
„Weißt du darüber Bescheid, Z.?“, fragte Buck.
„Nein, aber ich hätte es eigentlich voraussehen müssen. Gerade heute Morgen habe ich ihre Papiere fertig bekommen. Habe ihr die Haare geschnitten und solche Sachen. Ihre Papiere sind die besten, die ich je angefertigt habe. Ich habe sie in einen Jungen verwandelt. Ich meine, natürlich nicht richtig, sie sieht nur so aus – ach, ihr wisst schon.“
Buck konnte es sich allerdings vorstellen. Ming war sehr zierlich. Sie sah alles andere als jungenhaft aus, aber Zeke hatte ihr die Haare geschnitten, ihr gezeigt, wie ein Mann sich bewegt, ihr die Nägel geschnitten, die Farbe aus ihrem Gesicht entfernt. Aus seinem Kleiderfundus und mit ein paar Änderungen an ihrer alten Uniform aus der Zeit, als sie noch für die Weltgemeinschaft gearbeitet hatte, hatte er sie in einen jungen Mann verwandelt, einen Angehörigen der Friedenstruppen.
„Welcher Name?“, fragte Buck.
„Der ihres Bruders“, antwortete Z. „Chang. Nachname Chow. Ich wusste nicht, dass sie hier verschwinden würde, sobald sie fertig war.“
„Das ist nicht deine Schuld. Wie lange ist sie schon weg? Vielleicht können wir sie noch einholen.“
„Buck!“, mahnte Lea. „Sie ist erwachsen, sie ist Witwe. Wenn sie nach China fahren möchte, kannst du sie nicht aufhalten.“
Buck schüttelte den Kopf. „Wie lange, meint ihr, sind wir hier in Sicherheit, wenn jeder nach Lust und Laune durch die Straßen läuft, wann immer ihm danach zumute ist? Chang hat uns bereits darüber informiert, dass der Palast Verdacht geschöpft hat. Wenn sogar Steve Plank in Colorado schon davon gehört hat, dann wird es nicht lange dauern, bis jemand hier herumschnüffelt.“
„Vermutlich hat sie dir nicht erzählt, was sie vorhat, weil sie wusste, du würdest versuchen, es ihr auszureden.“
„Ich hätte ihr vielleicht irgendwie helfen können. Ihr zum Beispiel eine Fahrgelegenheit besorgen können.“
„Ja, vermutlich hättest du ihr ein Flugzeug samt Pilot bereitgestellt.“
Bei dieser sarkastischen Bemerkung warf Buck Lea einen verärgerten Seitenblick zu. Sein Schwiegervater hatte sich schon über ihren Sarkasmus geärgert, aber Buck hatte ihn bisher noch nicht zu spüren bekommen. „Das hilft uns nicht weiter, Lea“, mahnte er.
„Es hätte ihr geholfen, wenn Albie sie begleitet hätte.“
„Ich wusste ja gar nicht, was sie vorhat!“
„Nun, jetzt weißt du es.“
„Und ich wäre ja auch dazu bereit“, warf Albie ein, „aber –“
„Wir können dich nicht entbehren“, widersprach Buck. „Außerdem ist deine Deckung aufgeflogen und noch haben wir keine neue Identität für dich.“
„Die kann ich innerhalb von 24 Stunden beschaffen“, erbot sich Zeke eifrig.
„Nein! Wir können nur hoffen, dass sie sich meldet und uns auf dem Laufenden hält.“ Buck trat nach einem Stuhl. „Wie um alles in der Welt will sie sich als Mann ausgeben? Sie hat eine so sanfte, zarte Stimme.“
„Nicht, wenn sie im Gefängnis Befehle gebrüllt hat“, gab Lea zu bedenken.
„Dann brüllt sie sich besser den Weg frei nach China“, erwiderte Buck. „Stellt euch nur vor, was passiert, wenn sie gefasst wird. Man wird feststellen, dass sie sich unerlaubt von ihrem Posten entfernt hat, man wird sie mit ihrem Bruder in Verbindung bringen und – peng! Dann ist er Geschichte. Und was ist mit uns?“
Chloe hatte keine Ahnung gehabt, was sie erwarten würde, aber Ptolemais sah ganz und gar nicht so aus, als hätte es einen Krieg hinter sich. Bisher hatte die Weltgemeinschaft Griechenland größtenteils in Ruhe gelassen. Dass es zu den Vereinigten Carpathiatischen Staaten gehörte, war natürlich ein Grund dafür, dessen war sie sicher. Bestimmt durfte nicht bekannt werden, dass es in Nicolais eigener Region Judahiten gab. Aber das Netzwerk der Gläubigen war so gewachsen, dass es nun nicht mehr möglich war, im Verborgenen zu operieren. Nachdem die erste Welle von Carpathias Beschlüssen über das Land hinweggerollt war und viele vor die Entscheidung gestellt worden waren, entweder den Tod durch die Guillotine zu erleiden oder Carpathias Loyalitätszeichen anzunehmen, war der Kampf zwischen der Weltgemeinschaft und den Christen im Untergrund eskaliert. Mit der Verteilung des Loyalitätszeichens hatte man zuerst bei den Gefangenen begonnen, aber das war nicht gut gelaufen. Zwei junge Gefangene waren befreit worden. Doch nachdem der größte Teil der Hinrichtungen vorüber war, hatte der Druck auf die Gläubigen ein wenig nachgelassen.
Eine der stärksten Zweigstellen der Internationalen Handelsgesellschaft Co-op, Chloes Erfindung, hatte ihr Hauptquartier in der Stadt. Sie war zum geheimen Treffpunkt der Gläubigen geworden. Aber durch den Hinterhalt hatte die Gemeinde dort nicht nur Lukas „Laslo“ Miklos, sondern auch Kronos, eines ihrer älteren Mitglieder, und den Teenager Marcel Papadopoulos verloren. Und falls das Mädchen, das behauptet hatte, Georgiana Stavros zu sein, tatsächlich eine Betrügerin mit Namen Elena war, wie Steve Plank gehört hatte, dann war Georgiana sicher ebenfalls tot.
Bei Tageslicht befanden sich nur wenige Menschen auf der Straße und die meisten davon gehörten der Weltgemeinschaft an. Sie salutierten pflichtschuldig vor den hochrangigen Offizieren. Albie hatte Hannah und Chloe gezeigt, wie man korrekt salutierte, und schon bald wurde ihnen klar, dass sie korrekter salutierten als die Soldaten der Friedenstruppen. Gleichgültigkeit war ihre Maske. Kein Blickkontakt, kein persönliches Gespräch, mit Ausnahme von Gesprächen, die alle hören konnten. Ein ernster Blick, der einem Stirnrunzeln gleichkam, ließ sie höchst beschäftigt aussehen. Sie wussten, wohin sie gingen und mit wem sie sprechen wollten. Ihr Verhalten schloss jegliche Art der Herzlichkeit und des freundlichen Geplauders aus.
Aus dem Palastkomplex in Neu-Babylon hatte Chang durch sorgfältig platzierte vertrauliche Memos von angeblich hochrangigen Offizieren der Friedenstruppen das Gerücht verbreitet, die Führungsspitze würde einen Top-Mann nach Griechenland senden, der das Chaos dort beseitigen solle.
Chloe war davon überzeugt, dass die Männer, die einen zweiten Blick auf Hannah und sie warfen, ihre Uniformen abschätzten und zwei und zwei zusammenzählten. Sicher gingen sie davon aus, dass sie zu der Begleitung dieses neuen Mannes gehörten, wer immer er war und wo immer er sein mochte.
Hannah hatte sich einen perfekten Gang angewöhnt, und Chloe hätte sich über „Indira“ amüsiert, wenn sie nicht so nervös gewesen wäre. Sie eilten zu einem schmuddeligen Laden, dessen Schaufenster mit Klebeband notdürftig repariert worden war. Ein verstaubtes Fernsehgerät stand auf einem Regal und etwa ein halbes Dutzend Soldaten drängten sich vor dem Schaufenster und sahen sich die Übertragung an. Einer von ihnen bemerkte Chloes und Hannahs Spiegelbilder im Schaufenster und räusperte sich. Sofort nahmen die anderen Haltung an und salutierten.
„Machen Sie Platz, meine Herren“, forderte Hannah in ihrem antrainierten Akzent.
Nur mit Mühe bewahrte Chloe Haltung, als sie sah, dass Petra in Flammen stand, und schließlich mitbekam, aus welchem Grund GCNN die Übertragung abgebrochen hatte. Die Soldaten beugten sich vor und starrten auf das Fernsehgerät, dann sahen sie sich ungläubig an.
„Was war das?“, fragte einer. „Überlebende?“
Andere lachten und boxten ihn in die Rippen. „Du bist verrückt, Mann.“
„Zurück an die Arbeit“, forderte Hannah sie auf.
„Jawohl, Sir, Madam“, erwiderte einer und die anderen lachten.
„Kennen Sie den Unterschied zwischen einem männlichen und einem weiblichen Offizier, Kleiner?“, fuhr Chloe ihn an.
„Jawohl, Madam“, erwiderte er und nahm Haltung an.
„Halten Sie das für witzig?“
„Nein, Madam. Ich entschuldige mich.“
„Wo ist hier die nächste Kneipe?“
„Madam?“
„Sind Sie schwerhörig?“
„Nein, Madam. Drei Straßen geradeaus und dann die zweite links.“ Er zeigte ihr mit dem Arm die Richtung.
„Sind Sie im Dienst, Soldat?“
„Jawohl, Madam.“
„Wo sollten Sie sich jetzt aufhalten?“
„Im Hauptquartier, Madam.“
„Dann los.“
Die beiden Frauen hatten ihre Telefone abgeschaltet. Sie hatten sich mit Mac darauf verständigt, sie erst wieder einzuschalten, nachdem sie den ersten Kontakt mit dem Untergrund hergestellt hatten, oder in einem Notfall. Nach dem, was sie im Fernsehen gesehen hatte, wusste Chloe, ihr Vater und ihr Mann würden versuchen, sich mit ihr in Verbindung zu setzen, aber das musste warten.
Kurze Zeit später erreichten sie die Kneipe. Ein junger Mann saß vor dem Lokal und las den Global Community Weekly. Chloe schätzte ihn auf Anfang 20. Er sah sie erwartungsvoll an. Chloe fragte sich, ob der junge Mann wohl glauben würde, dass ihr Mann früher Herausgeber dieser Zeitung gewesen war. Der Junge rutschte auf seinem Stuhl hin und her, zog sich seine Kordmütze tiefer in die Stirn und legte den Fuß gegen ein Schaufenster.
„Hast du gesehen, was ich gesehen habe?“, fragte Hannah flüsternd.
„Ja. Halte dich an den Plan.“
Die Frauen ignorierten den Jungen und betraten die Kneipe. Die Rollos waren heruntergelassen, und es dauerte eine Weile, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. In der Kneipe stank es nach abgestandenem Alkohol.
An einem Tisch in der Ecke saßen ein paar Soldaten der Friedenstruppen, die bei ihrem Anblick sofort durch eine Hintertür verschwanden. Chloe und Hannah taten so, als hätten sie es nicht bemerkt. Der Eigentümer begrüßte sie auf Griechisch.
„Sprechen Sie Englisch?“, fragte Chloe. Er schüttelte den Kopf.
Ein Mann mit einem Turban erhob sich und wandte sich in einem indischen Dialekt an Hannah. Chloe staunte über Hannahs Reaktionsvermögen. Sie sah den Mann an und blinzelte ihm zu. Unmerklich schüttelte sie den Kopf. Das schien ihn irgendwie zufrieden zu stellen, denn er nahm wieder Platz.
Der Wirt ließ seine Hand über die Flaschen hinter ihm gleiten. Chloe schüttelte den Kopf. „Coca-Cola?“, fragte sie.
„Coca-Cola!“, wiederholte er strahlend und griff unter die Theke. Instinktiv fuhr Chloes Hand an die Luger an ihrer Seite. Hannah hatte die Hand ebenfalls an den Lederriemen ihres Holsters gelegt.
Der Mann hinter der Theke hielt seinen Blick auf sie gerichtet, während er eine alte Glasflasche unter der Theke hervorholte. Er hielt einen Finger hoch, deutete auf die Flasche und schob zwei Gläser über die Theke. Chloe legte zwei Geldstücke auf den Tresen und trug die Flasche und die Gläser zu einem Tisch.
Die lauwarme Cola schmeckte scheußlich. Chloe sah sich in dem Lokal um. Die Leute, die sie angestarrt hatten, wandten sich schnell ab. „Englisch?“, fragte sie. „Spricht jemand Englisch?“
Ein Stuhl wurde zurückgeschoben, und ein Mann, der mehrere Kleidungsstücke übereinandertrug, kam zögernd auf sie zu. Er salutierte höflich, obwohl er ganz eindeutig nicht zur Weltgemeinschaft gehörte. „Ein wenig Englisch“, sagte er.
„Sie sprechen Englisch?“, fragte Chloe. „Sie verstehen mich?“
Er bedeutete ihr mit den Fingern, dass er nur ein wenig Englisch sprach.
„Ein wenig?“, fragte sie.
Er nickte. „Wenig.“
„Unten“, versuchte es Chloe. „Wo ist unten?“
Der Mann runzelte die Stirn. Er hatte eine 216 auf die Stirn tätowiert. „Unten?“, wiederholte er.
Sie deutete nach unten. „Unten. Keller?“
Er hielt seine fleischige Hand hoch und schüttelte den Kopf. „Sauber“, erklärte er. „Waschen. Wäsche.“
„Eine Wäscherei?“, fragte sie. Sie spürte Hannahs Blick auf sich gerichtet. Das war es.
Er nickte.
„Danke“, sagte sie.
„Danke“, wiederholte er, doch er blieb mit gefalteten Händen stehen. Chloe fischte eine Münze aus ihrer Tasche und reichte sie ihm. Mit einer Verbeugung nahm er sie entgegen und ging dann damit zur Bar.
„Ich frage mich, was sie wissen“, flüsterte Hannah. „Die anderen scheinen darauf zu warten, dass wir etwas unternehmen.“
„Hmm“, erwiderte Chloe. „Wir bleiben noch eine Weile sitzen, dann stehlen wir uns hinaus. Die Wäscherei ist zwar Tarnung, aber bestimmt bringen die Leute tatsächlich ihre Wäsche dorthin.“
Hannah zuckte die Achseln. „Muss man hier durch, um dorthin zu kommen? Ich denke, nur wenige Gläubige würden es riskieren, dieses Lokal aufzusuchen.“
Die Frauen tranken ihre Cola und sahen auf die Uhr. Außer den beiden Soldaten der Weltgemeinschaft hatte seit ihrer Ankunft niemand dieses Lokal verlassen. Auch war niemand hereingekommen. Der junge Mann, der ihnen geholfen hatte, schlenderte zweimal an der Tür vorbei. Mindestens zwei Fußgänger sahen die beiden Frauen an der Kneipe vorbeigehen, aber sie kamen nicht herein.
Chloe und Hannah erhoben sich und verließen das Lokal auf der Suche nach einem anderen Eingang, der nach unten führen könnte. „Englisch?“, fragte Chloe den jungen Mann, der vor dem Lokal saß. Er starrte sie achselzuckend an. „Gibt es einen zweiten Eingang zu diesem Haus?“
Er schüttelte den Kopf.
„Nicht hinten? Nicht durch diese Gasse?“
Er schüttelte erneut den Kopf.
„Ich habe gehört, dass es hier eine Wäscherei gibt“, erklärte sie. „Ich habe ein paar Wäschestücke zu waschen.“
Er starrte sie an. „Ich sehe keine Wäsche.“ Er sprach mit griechischem Akzent.
„Wir tragen sie nicht mit uns herum“, entgegnete sie. „Wie komme ich zu dieser Wäscherei?“
„An der Toilette vorbei“, antwortete er mit belegter Stimme. „Hintere Tür, diese Seite.“ Er deutete auf den Ausgang, durch den die Soldaten der Weltgemeinschaft verschwunden waren. Er kippte mit seinem Stuhl gegen die Wand zurück. „Aber sie ist geschlossen.“
„Mitten am Tag? Warum?“
Er zuckte die Achseln, zog sich seine Kappe tiefer in die Stirn und wandte sich wieder seiner Zeitung zu.
„Na gut“, seufzte Chloe. Hannah folgte ihr zur Ecke und somit aus der Sichtweite des Jungen. „Ich gebe ihm 30 Sekunden“, meinte sie.
Nach kurzer Zeit spähte Hannah um die Ecke. „Du hast wie üblich recht“, sagte sie. „Er ist fort.“
Die Frauen eilten zu der Kneipe zurück, gingen durch die Hintertür hinein, an den Toiletten vorbei und eine alte Holztreppe hinunter. Eine schlanke Frau mittleren Alters in einem weiten grauen Pullover und einem Strohhut, der ihr Haar und den größten Teil ihres Gesichts verdeckte, stand vollkommen verängstigt vor dem Fenster.
„Wäscherei?“, fragte Chloe.
Die Frau nickte. Sie hatte ihre Hand an den Hals gelegt.
„Können wir unsere Wäsche hierherbringen?“
Erneut nickte sie. Durch einen Spalt in dem dicken Vorhang, der hinter der Frau im Türrahmen hing, entdeckte Chloe den jungen Mann. Seine Augen waren weit aufgerissen. Sie winkte ihn mit dem Finger zu sich heran.
„Nein!“, rief die Frau verzweifelt und wich zur Wand zurück.
Langsam kam der junge Mann heraus. Unter seinem Hemd zeichnete sich eine Waffe ab.
„Eine Uzi?“, fragte Chloe.
„Ja, und ich werde Gebrauch davon machen“, erwiderte er trotzig.
„Nimm deine Kappe ab“, forderte Chloe ihn auf.
„Zuerst werde ich euch erschießen“, antwortete er und griff nach seiner Waffe.
Die Frau stöhnte. „Costas, nein.“
Als er seine Waffe hervorholte, zogen Chloe und Hannah ihre Kappen ab. Während sie ihre Stirnen zeigten, flüsterten sie einstimmig: „Jesus ist auferstanden.“
Der Junge schloss die Augen und ließ hörbar die Luft entweichen. Die Frau glitt langsam an der Wand entlang zu Boden. „Er ist wahrhaftig auferstanden“, brachte sie mühsam heraus.
„Ich hätte Sie beinahe getötet“, stöhnte Costas. Er wandte sich an die Frau. „Bist du in Ordnung, Mama?“
Seine Mutter hatte ihr Gesicht in den Händen vergraben. „Sie kommen als Soldaten der Weltgemeinschaft verkleidet hierher?“, fragte sie mit schwerem Akzent. „Was tun Sie hier?“
„Ich bin Chloe Williams. Dies ist meine Freundin Han–“
„Das kann nicht sein!“, unterbrach sie die Frau. Sie fuhr sich über das Gesicht und rappelte sich hoch. Dann eilte sie zu Chloe und umarmte sie. „Ich bin Pappas. Man nennt mich Mrs P.“
„Dies ist meine Freundin Hannah Palemoon.“
„Sie gehören auch der Handelsgesellschaft an?“, fragte Mrs P.
Hannah schüttelte den Kopf.
„Sie kommen aus Indien?“
„Nein, aus Amerika.“
„Sie haben sich verkleidet?“
Hannah nickte lächelnd und sah Costas an. „Sind wir hier sicher?“
„Wir sollten gehen“, sagte er und führte sie durch den Vorhang in einen großen Lagerraum mit Vorräten aus der ganzen Welt. „Die Handelsgesellschaft funktioniert hier genauso gut wie überall sonst“, erklärte er. „Aber wir haben Schwierigkeiten. Von uns sind nur noch wenige übrig geblieben.“
„Die Leute über Ihnen lassen Sie in Ruhe?“
„Wir geben ihnen Lebensmittel. Sie stellen keine Fragen. Sie haben ihre eigenen Geheimnisse. Eines Tages, wenn es ihnen in den Kram passt, werden sie uns verraten.“
„Die Leiterin der Handelsgesellschaft ist bei mir zu Besuch“, flüsterte Mrs P., die Hand auf ihr Herz gelegt. „Das wird mir niemand glauben.“
„Sie dürfen nicht lange bleiben“, warnte Costas sie. „Wie können wir Ihnen helfen?“
Zwei junge Soldaten der Friedenstruppen machten eine obszöne Geste, als sie in einem kleinen Lieferwagen an Mac vorüberfuhren; dann bemerkte Mac den Ausdruck auf dem Gesicht des einen, nachdem er anscheinend seine Uniform erkannt hatte. Das Fahrzeug kam schlingernd zum Stehen, der Rückwärtsgang wurde eingelegt und dann setzte der Fahrer rückwärts auf ihn zu.
„Wir haben gewunken!“, rief der Beifahrer, als der Wagen zum Stehen kam. Er sprang heraus. „Wir haben Ihnen gewunken, Sir! Haben Sie uns gesehen?“
„Das habe ich und ich bedanke mich sehr herzlich.“ Der Fahrer stieg nun ebenfalls aus und Mac erwiderte ihren Gruß. „Meine Leute hatten in der anderen Richtung etwas zu erledigen und ich muss zum Flugplatz.“
„Wir können Sie dort absetzen. Sollen wir Sie mitnehmen? Wir bringen Sie gern dorthin.“
„Das wäre sehr nett“, erwiderte Mac, als er seine Taschen vor sich in den Wagen schob und einstieg. „Was ist in Petra los?“
„Wir haben sie, Sir“, strahlte der Fahrer und drehte das Radio lauter. Mac legte die Stirn in die Hand, als würde er aufmerksam zuhören. Doch im Grunde betete er inbrünstig für seine Gefährten. „Wir haben Asche aus ihnen gemacht. Es wird nicht mehr viel übrig bleiben, das man begraben kann.“
„Lasst mich das hören, Jungs“, forderte Mac und die beiden schwiegen. Kurz bevor die Übertragung abgebrochen wurde, hörte Mac die Worte des Piloten, die ihm Mut machten.
„Na, das sind doch gute Neuigkeiten, nicht wahr?“, fragte er.