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In ihrem neuesten historischen Liebesroman beschreibt die beliebte Autorin Ingrid Kretz die spannende Geschichte der als Kindsmörderin verurteilten Dienstmagd Elsa Petry und dem Stadtbrand Dillenburgs von 1723. Mitten in der Nacht wird die Magd Philippa von ihrer Freundin Elsa geweckt. Diese hat furchtbare Neuigkeiten: Sie wird wegen Kindsmordes an ihrem unehelichen Säugling gesucht! Philippa muss miterleben, wie die Freundin verhaftet wird. Doch damit nicht genug: Einige Tage später, in der Nacht des 14. Mai 1723, bricht ein Brand in Dillenburg aus, der beinahe die gesamte Stadt zerstört. Zudem will jemand die Heirat von Philippa und dem Gerichtsschreiber Caspar verhindern. Philippa und Caspar kämpfen für ihre Liebe und fragen sich gleichzeitig: Wie ist der Brand entstanden? Was hat Elsa damit zu tun? Und warum wird sie "die Feuermagd von Dillenburg" genannt? Eine ergreifende Geschichte von der Sehnsucht nach Liebe und der Zerbrechlichkeit von Zukunftsträumen vor dem Hintergrund einer wahren Tragödie.
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Seitenzahl: 483
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Ingrid Kretz
Die Bibelstellen sind der gemeinfreien Bibelübersetzung Elberfelder 1905 entnommen.
© 2023 Brunnen Verlag GmbH, Gießen
Lektorat: Carolin Kotthaus
Umschlagfoto: Stephen Mulcahey / Arcangel (Frau);
www.lagis-hessen.de (Dillenburg und Wappen)
Umschlaggestaltung: Laura Kosevski / Daniela Sprenger
ISBN Buch: 978-3-7655-3654-0
ISBN E-Book: 978-3-7655-7674-4
www.brunnen-verlag.de
Zum 300. Gedenkjahr des Dillenburger Stadtbrandes 1723
DRAMATIS PERSONAE
ZEITTAFEL
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
NACHWORT
Ein Schmankerl zum Schluss
Aus meinem vorigen Hausjagt mich Gott mit Feuer aus,er rettet mir damals das Lebenund hat mir dieses neue Haus dafür gegeben.Gott bewahr es vor Feuer, Armut und Not …
INSCHRIFT AM GASTHAUS ZUM HIRSCH
Sei mir gnädig, o Gott, nach deiner Güte:nach der Größe deiner Erbarmungentilge meine Übertretungen!
PSALM 51,1
Ich sehe Feuerzeichen aufsteigen in Dillenburggleich hier in Haiger
PROPHEZEIUNG VON JOHANN THÖNGES SCHNABEL8. MAI 1723
De Leu de Mäuler ze stoppe miß mr vill Struh ho.
ALTES NASSAUISCHES SPRICHWORT
Dillenburg – Haiger: ca. 6,5 km / Dillenburg – Herborn: ca. 8 km© Kim Lilly Burmester / TSK Film und Video Thomas Kaulich
Historische Personen sind mit einem * versehen.
Wilhelm II*, Fürst und Regent von Nassau-Dillenburg, genannt Der Gute
Dorothea Johanna*, Fürstin und seine Frau
Philippa Schwarz, Magd der Hohensteins und Freundin von Elsa
Caspar Vogt, Ratsschreiber und Philippas Verlobter
Matthias Vogt, Ratsherr, Bergwerksbesitzer, Witwer und Vater von Caspar
Katharine, Haushälterin und Gesindemeisterin der Vogts
Thea, Küchenmagd der Vogts
Ulrich von Hohenstein, Magister, Ratsherr und Dienstherr von Philippa
Sybilla, seine Frau und ihre Kinder Marie, Melusine, Georg, Jakob und
Severin
Enners, Diener der Hohensteins
Hiltgunt, Haushälterin der Hohensteins
Grete, Magd der Hohensteins
Johannes L. von Spina*, Schlosskommandant und Nachbar der Hohensteins
Simon Horn, Ratsherr und Freund von Ulrich von Hohenstein
Gertraud Horn, seine Frau und Freundin von Sybilla von Hohenstein
Andreas Schäfer, Ratsherr und Zunftmeister der Wollweber
Arnold Wolmar*, fürstlicher Kurschmied, Pferdearzt und Freund von Caspar
Johann Philipp Dilthey*, Kanzleidirektor
Betradis, Magd von Dilthey
Alexander Eisentraut, Ratsherr und Zunftmeister der Bäcker
Johann Daniel*, Ratsherr
Johann Philipp Weller, Stadtwachtmeister und Wirt
Heydersdorff*, Wirt vom Gasthaus Zur Krone
Reichmann, Kammerrat
Schramm, Ratsherr
Kuhmichel, Hausbesitzer
Lugardis, Hebamme
Johann Konrad Neuendorff*, Oberpfarrer
Philipp Daniel Brand*, II Pfarrer von Dillenburg
Johann Heinrich Arndorf*, Hofprediger und Burgkaplan
Johann Henrich Tilemann II*, Amtmann und Richter
Ludwig Henrich Göst*, der jüngere Bürgermeister und Zunftmeister der Pfeifenmacher
Johann Jost Weis*, der ältere Bürgermeister und Schöffe
Burkhard Philipp Hoffmann*, Rentmeister
Jost Henrich Stahl*, Wundarzt, lat. Chirurgus
Dapping*, Kammerrat
Gottfried Craft, Advokat und Verteidiger von Elsa
Kromm*, Landmesser
Susewind*, Hofmaler
Georg Wilhelm Friedrich*, Hof- und Stadtapotheker
Meister Hermann, Wagnermeister
Vier Präzeptoren*, Habicht, Horch, Knipper und Otterbein
Johannes Weitzel*, Müller
Elsa Petry, Magd der Baldus’, genannt Das Mensch*
Christian Baldus, Ratsherr, Zunftmeister der Uhrmacher und Dienstherr von Elsa und Hedwig
Minna, seine Frau
Hedwig, Magd der Baldus’
Kunn, Magd und Schwester von Elsa
Thies Küster, Tagelöhner und Liebhaber von Elsa
Irma Westerhof, Kräuterfrau
Johannes Meckel*, Hufschmied
Bilscher*, Stadtfähnrich und Löschhelfer
Schneider, Stadtphysikus
Weid*, Wundarzt, lat. Chirurgus
Johann Sebastian Bach wird Thomaskantor in Leipzig.
In Russland wird die Stadt Jekaterinenburg gegründet.
Karl IV ist Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und Großmeister des Ordens vom Goldenen Vlies.
Der berühmte britische Architekt Sir Christopher Wren starb in hohem Alter. Er baute 51 Kirchen, darunter die St Paul’s Cathedral, nach dem Großen Brand von London in 1666 wieder auf. Der neue Erzbischof von Köln heißt Clemens August I von Bayern.
Das Fürstentum Nassau-Dillenburg, dessen Sitz im Schloss Dillenburg ist, wird von Fürst Wilhelm II, genannt Der Gute, regiert. Eine Brandkatastrophe zerstört am 8. Mai die gesamte Innenstadt von Haiger.
Nur eine Woche später, am 15. Mai, erleidet die Nachbarstadt Dillenburg eine große Feuersbrunst.
Wiederaufbau der Altstadt und des Rathauses von Dillenburg.
Dillenburg, 1723
Das Schreien war nicht zu überhören. Die Stimme klang schrill und verzweifelt zugleich. Philippa Schwarz, die junge Magd im Haus des Magisters von Hohenstein, stand am Küchentisch und hatte bis gerade mühsam den Teig auf dem mehlbestäubten Holztisch geknetet. Erschrocken hielt sie nun inne und fuhr sich mit dem Ärmel über die verschwitzte Stirn.
„Mach auf, Philippa!“
Wer rief denn nach ihr? Da! Jetzt hämmerte diese Person auch noch an die wuchtige Haustür aus Eiche. Philippa blies sich eine widerspenstige, hellbraune Haarsträhne aus dem Gesicht und das markante Gesicht von Caspar Vogt, dem jungen Ratsschreiber der Residenzstadt Dillenburg, von dem sie eben noch fantasiert hatte, verflüchtigte sich vor ihrem inneren Auge. Wie gut, dass niemand ihre Gedanken lesen konnte!
Noch immer klopfte es laut. Wer mochte das sein?
Sie zog die Augenbrauen zusammen. Ihre Herrschaften, Magister und Ratsherr Ulrich von Hohenstein und seine Frau Sybilla waren bestimmt noch nicht zurückgekehrt. Nach dem Mittagsmahl waren sie mit allen fünf Kindern aufgebrochen, um der kranken Tante in Donsbach einen Besuch abzustatten. Aber wenn sie es nicht waren, wer bat dann am frühen Nachmittag so vehement um Einlass?
Für einen Moment war es nun still. Noch nicht mal eine Fliege surrte. Doch dann setzte das durchdringende Pochen wieder ein und Philippa hörte erneut ihren Namen. Die Stimme musste zu einer Frau gehören. Sie klang nicht mehr so laut wie zuvor, aber immer noch deutlich hörbar. Vielleicht war es eine Nachbarin, die dringend Butter oder Eier borgen wollte, weil Gäste unangekündigt eingetroffen waren?
„Grete!“, rief Philippa.
Nichts rührte sich.
Warum mussten ausgerechnet heute Nachmittag ihre Haushälterin Hiltgunt und der alte Diener Enners gleichzeitig weg sein? Die Herrin hatte ihnen vorhin etliche Aufträge erteilt, die sie auf dem Markt erledigen sollten. Normalerweise mussten sie vormittags einkaufen, aber heute waren seltene Händler in der Stadt, sodass die Hausherrin entschieden hatte, die beiden nachmittags nochmals loszuschicken, um ein Tuch aus Flandern und ganz bestimmte Gewürze aus dem Orient zu kaufen.
Das Tuch hatte die Herrin am Vormittag ausgesucht und weil es so teuer war, sollte es jetzt mit von der Schneiderin vorgegebenen Maßen gekauft werden. Die Frau Magister sei dekadent, flüsterte man hinter vorgehaltener Hand, was das auch immer bedeuten sollte. Gertraud, die junge Ehefrau des Ratsherrn Horn, hatte jenen Ausdruck einmal beiläufig mit einer Spur von Bewunderung erwähnt.
Als Gewürze waren Pfeffer und Muskatnuss gewünscht. Gertraud, die beste Freundin der Herrin, wünschte sich seit langem ein Kind, und wie Philippa mitbekommen hatte, sollte eine um den Hals gehängte Muskatnuss dabei helfen.
Verwirrt dachte sie darüber nach, dass man hinter vorgehaltener Hand die merkwürdigsten Dinge flüsterte, wie man eine Kinderschar bekam. Philippa hatte gehört, dass eine Muskatnuss, die wie ein Talisman getragen wurde, Wunder wirken sollte. Von derart magischen Dingen hielt sie aber nichts. Sie vertraute auf die christliche Lehre und was Oberpfarrer Neuendorff in der einen oder anderen Predigt verkündet hatte: Kinder seien ein Segen und die Leibesfrucht eine Gabe Gottes.
Blitzschnell gingen ihr all diese Gedanken durch den Kopf, während das Klopfen weiterhin ertönte.
„Grete, da ist jemand an der Haustür!“, versuchte es Philippa noch einmal.
Doch die andere Magd gab keine Antwort. Wahrscheinlich jätete sie hinter dem Haus Unkraut. Philippa seufzte. Es würde ihr wohl nichts anderes übrigbleiben, als selbst nachzusehen. Mühsam befreite sie ihre Hände vom Teig, der pappig und wie ein leidiges Insekt an ihnen haftete, und wischte sich mit dem Handrücken nochmals über die Stirn. Das Kneten war und blieb eine mühselige, schweißtreibende Arbeit.
„Ich komme ja schon.“ Sie sagte es mehr zu sich selbst und blickte neugierig zum Küchenfenster, das zum Hof ging. Wie praktisch wäre es, läge die Küche neben der Haustür statt im Untergeschoss. Wie bei Ratsherr Horn, mit dem der Hausherr befreundet war. Dann hätte man gleich jeden Besucher im Blick.
Philippa versuchte mithilfe ihrer Schürze die Teigreste abzukriegen, aber der kleistrige Sauerteig ließ sich nicht restlos abwischen. Über ihrem braunen Rock und der leinenen Bluse trug sie eine bis eben mustergültig geplättete Schürze, die jetzt hoffnungslos ruiniert war.
„Philippa!“
Sie fuhr zusammen. „Jaaa!“ Sie starrte auf ihre klebrigen Hände. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als in diesem Zustand die Tür zu öffnen. Sie verließ die Küche und eilte die Treppe hoch. Mit dem Ellenbogen drückte sie auf den Türgriff, rutschte jedoch ab, sodass die Klinke gegen ihren Arm knallte. Ihr entfuhr ein Schrei, es tat böse weh.
Die schwere Tür schwang auf. Das Gesicht, das sie anstarrte, wirkte verzerrt und die weit aufgerissenen Augen ließen Philippas Herz rasen.
„Elsa? Was … was machst du denn hier?“
War das wirklich ihre Freundin aus Breitscheid, die sie seit Kindertagen kannte? Jetzt waren sie beide neunzehn Jahre alt, im heiratsfähigen Alter und dienten als Mägde. Was war passiert, dass Elsa wie vom Teufel gejagt mit verkrampftem Blick vor ihr stand? Eigentlich war sie das bezauberndste Mädchen im Dorf, aber nun klebten die tiefschwarzen Haare feucht und wirr am Kopf und ihre Haube hing wie ein abgeworfener Reiter an ihr herunter. Der elegante Glanz ihrer Mähne war verschwunden. Nie hatte Philippa Elsa derart aufgewühlt erlebt.
Elsa keuchte mehr als dass sie sprach. „Kann ich reinkommen?“
„Reinkommen?“ Philippas Mund blieb offen stehen. „Wie stellst du dir das denn vor? Das darf ich nicht!“ Nicht auszudenken, was Hiltgunt und Enners ihr an den Kopf werfen würden, wenn sie mitbekamen, dass jemand Fremdes die Türschwelle überschritten hatte. Verwirrt starrte Philippa auf die junge Frau vor ihr. „Aber was machst du hier in Dillenburg? In diesem Aufzug?“ Abgekämpft, mit Tränen in den Augen und blass. Außerdem war sie irgendwie merkwürdig angezogen. Ein seltsam anmutender erdfarbener Rock, der sie wie eine Matrone aussehen ließ, und mit schmutzigem Saum. Die helle Bluse und das Mieder waren fleckig und verschwitzt. Das Licht der Nachmittagssonne zeichnete Elsas Umrisse deutlich ab und malte lange Schatten auf den Fußboden.
Elsas Hände griffen nach Philippas. „Du musst mir helfen!“, flehte sie und sah sie aufgewühlt an.
Als erwache sie aus einer Ohnmacht, löste sich Philippa aus ihrem Griff und wich einen Schritt zurück, um das Gesicht ihrer Freundin zu betrachten. Meergrüne Augen unter hochgezogenen, fein geschwungenen Brauen verrieten Verzweiflung und Angst. Ihr Mund stand offen, wobei ihre makellosen Zähne sichtbar waren.
Mit einem Schluchzer schlug Elsa die Hände vors Gesicht. Instinktiv legte Philippa die Arme um sie und drückte sie an sich. Elsas Herzschlag jagte wie ein Pferd im Galopp. Sie roch verschwitzt, und dazu schien ein merkwürdig, süßlicher Geruch in der Luft zu schweben, den Philippa nicht zu deuten vermochte und der sich mit der Ausdünstung vermischte. Elsa schluchzte immer wieder laut auf und klammerte sich an Philippa wie ein Mieder, das zu eng geschnürt war.
„Aber was ist denn nur los?!“ Sie befreite sich aus Elsas Umklammerung und trat einen Schritt zurück „Was willst du hier? Musst du nicht arbeiten? Es ist Mittwoch!“
„Philippa, ich brauch deine Hilfe!“ Es klang mehr als bestürzt. Verstohlen sah sie sich nach allen Seiten um und senkte die Stimme. „Kann ich nicht doch reinkommen?“
Philippa hob den Kopf und ließ ihren Blick über die Straße schweifen, auf der ein Pferdekarren entlangholperte. Sonst war niemand zu sehen. Selbst von dem meist schreienden Kind des Schlosskommandanten nebenan drang kein Laut herüber. Doch ob jemand hinter einem Fenster verborgen Elsas Besuch beobachtete, konnte sie nicht ausmachen. Das Schicksal ihrer Vorgängerin kam ihr in den Sinn, als sei es gestern gewesen.
„Das geht nicht. Was denkst du, was passiert, wenn die Herrschaften erfahren, ich lasse jemand rein, während sie unterwegs sind? Dann kann ich auf der Stelle meinen Beutel packen!“
„Du musst mir helfen!“ In Elsas Augen standen Tränen. „Bitte! Das kriegt doch niemand mit.“
„Woher weißt du, dass ich alleine bin?“
Elsas Stimme klang zerknirscht. „Ich hab das Haus beobachtet.“
Irgendwo schlug eine Tür, dass Philippa zusammenfuhr. In ihrem Kopf arbeitete es. Sie konnte Elsa auf keinen Fall hereinlassen, wenn sie nicht ihre Stelle riskieren wollte. Wie sollte sie das begründen, wenn die Hohensteins zurückkehrten und Elsa in diesem desolaten Zustand antrafen? Hiltgunt und Enners würden ebenfalls eine Erklärung verlangen und an die Befehle erinnern, die Ulrich von Hohenstein den Bediensteten in seinem Haus gegeben hatte. Dazu gehörte, dass sie Bettler und überraschende Besucher nicht ins Haus lassen durften. Vor allem nicht, wenn die Herrschaften nicht zu Hause waren.
Elsas Aussehen gab ihr zu denken. Hier stimmte etwas nicht. Jetzt fing sie auch noch an zu zittern. Sollte sie nicht doch …? Nochmals glitten ihre Blicke an der Freundin entlang. Trostlosigkeit stand Elsa ins Gesicht geschrieben. Bluse und Rock waren zwar nicht zerrissen, der Rock aber mit bräunlichen Flecken übersät. Was hatte das alles zu bedeuten? So ungepflegt und zerlumpt hatte sie sie noch nie gesehen. Allerdings lag ihr letztes Treffen auch über ein halbes Jahr zurück. Ob sie überfallen worden war? Ja, so musste es gewesen sein. Dann musste sie ihr beistehen!
Eine innere Stimme wollte sie warnen, doch dann kam ihr eine Idee. Zögernd nickte Philippa und senkte die Stimme. „Komm bei Einbruch der Dämmerung in den Hof. Ich lasse die Küchentür angelehnt, die nach hinten führt. Meine Kammer, besser gesagt mein Bett, ist in einer Nische beim Herd.“ Beschwörend senkte sie die Stimme. „Sieh zu, dass dich niemand dabei beobachtet.“
„Ich danke dir!“, seufzte Elsa und zog sich geschwind mit beiden Händen die Haube tief ins Gesicht. Noch bevor Philippa etwas erwidern konnte, drehte sie sich um und hastete weg Richtung Stadtkirche, bis sie hinter einer Hausecke aus Philippas Blickfeld entschwand.
Der schwere Brotteig lag wie ein böses Omen vor ihr auf dem Tisch, als Philippa zurückkehrte. Sofort machten sich Bedenken breit, falsch entschieden zu haben. Aber wer würde eine Freundin zurückweisen, wenn sie Hilfe brauchte? Daran zweifelte sie nicht. Diesen flehentlichen Blick konnte man nicht vortäuschen. Nicht Elsa. Sie war ihre Spielgefährtin gewesen, seit sie denken konnte.
Als sie vierzehn waren, ging Elsa nach Herborn als Magd und sie selbst diente bei einem Ehepaar, das sie ständig wegen Nichtigkeiten schlug. Dank einer göttlichen Fügung kam sie zu den Hohensteins. Schnell war sie sich bewusst, dass sie damit viel Glück gehabt hatte. Andere Dienstmägde litten jahrelang, ohne dass sie an ihrem Dilemma etwas ändern konnten. Sybilla von Hohenstein war streng, aber freundlich und gnädig, was man nur von wenigen Herrinnen behaupten konnte.
Philippa griff ins Mehl und formte aus dem Teig gleichmäßig große Kugeln, die sie mit dem Handballen und kreisenden Bewegungen zu Laiben flachdrückte. Bevor sie die Brote auf ein flaches, langes Holzbrett setzte, ritzte sie mit einem Messer ein H für „Hohenstein“ in die Mitte eines jedes Laibes.
Was war Elsa passiert? Hatte sie etwas Verbotenes getan? Freche Worte geäußert? Möglicherweise sogar etwas gestohlen?
„Das riecht aber gut!“ Enners stand plötzlich in der Tür. Sie hatte ihn gar nicht heimkommen hören. „Stell dir vor, die Händlerin hat mir sogar ein Stück von der Zimtstange geschenkt!“ Er hielt das kleine Gewürzstück vor Philippas Nase. „Na? Riecht doch gut, oder?“
Der Schrecken hätte nicht größer sein können. Hatte sie dermaßen lang Tagräume gehabt oder war es erst eben gewesen, dass Elsa an der Tür gewesen war?
„Äh … Zimt? Der muss teuer gewesen sein!“
Der alte Knecht grinste. „Soll die Köchin doch …“
Weiter kam er nicht, denn Hiltgunt steckte den Kopf zur Tür herein und sah von einem zum anderen. „War was?“
„Nein. Warum fragst du?“ Philippa war die Lüge zu schnell über die Lippen gekommen – jetzt stockte sie und wurde sich dessen bewusst. Ihre Wangen wurden heiß.
Hiltgunt musterte mit strengem Blick die Brotlaibe. „Du warst noch nicht im Backes?“ Jeder Ort hatte ein gemeinschaftliches Backhaus, durch das Holz eingespart und die Brandgefahr gemindert werden sollte. Philippa, wie auch viele der anderen Frauen liebten es, dort Brot zu backen, weil es immer wieder Gelegenheit für einen geselligen Plausch lieferte.
Philippa schüttelte den Kopf. „Ich gehe, wenn ich hier fertig bin.“
„Du musst mit dem Aufheizen sofort anfangen. Wie willst du das Feuer sonst noch rechtzeitig auf die richtige Temperatur kriegen?“ Hiltgunt trat neben sie und senkte die Stimme. „Hast du mir nichts zu beichten?“
Philippa schluckte und senkte den Kopf.
Die pausbäckige Haushälterin stupste sie sanft in die Seite und hob das Kinn. „Enners, nun sieh mal nach den Hühnern! Sie haben noch nichts zu fressen gekriegt. Die Abfälle stehen immer noch rum.“ Als Enners keine Anstalten machte, die Küche zu verlassen, wurde sie bestimmender. „Nun geh schon, wir müssen mal ein Frauengespräch führen.“
Der Knecht griff nach einem Eimer neben dem Herd und schlich aus der Küche. Hiltgunt sah der abgezehrten, vornüber gebeugten Gestalt hinterher, dann packte sie Philippa am Arm. „Ich hoffe für dich, dass er nicht gesehen hat, dass ein Weibsbild aus der Tür kam. Du kannst Gott danken, dass seine Augen trübe sind. Sonst würden hier die Kochtöpfe wackeln. Also sag mir, wer hier bei dir war.“ Sie strich ihre Schürze glatt und sah sie eindringlich an.
Ihre schlimmste Befürchtung war eingetreten. Philippa biss sich auf die Unterlippe. Ihr blieb nichts anderes übrig, als die Wahrheit zu sagen, zumindest annähernd. In kurzen Worten gestand sie, dass eine Freundin einen Rat gebraucht habe und sie danach gegangen sei. „Ich habe sie nicht reingelassen!“
„Kind, wenn ich nicht wüsste, dass du ein achtbares Mädchen bist, würde ich es der Herrin melden.“ Kopfschüttelnd fuhr sie mit einem Seufzen fort: „Nun sieh zu, dass du keine Dummheiten machst und geh wieder an die Arbeit!“
„Danke, Hiltgunt.“ Sie nickte der Haushälterin zu, deren Haar vollständig unter der Leinenhaube verhüllt war, was ihre roten Apfelbäckchen auffallend hervorhob. Mit ihrem weißen, tadellosen Kragen über der Weste machte sie dem Haus Hohenstein alle Ehre. Vielleicht kam ihr zugute, dass ihre Mutter Näherin gewesen war – deshalb duldete Hiltgunt auch weder einen abgesprungen Knopf noch eine aufgetrennte Naht. Sie ging als leuchtendes Beispiel voran, was die Herrin lobenswert fand.
Philippa respektierte die Herrin. Sie hatte eine Art, die es ihr leicht machte, Anordnungen zu befolgen. Andererseits erwartete sie unbedingten Gehorsam von der Dienerschaft. Vor einiger Zeit hatte es mal eine Magd gegeben, die eine Landstreicherin reingelassen hatte. Die Magd war mit Schimpf und Schande und ohne Lohn aus dem Haus gejagt worden. Niemand, der das mitgebekommen hatte, wollte das gleiche Schicksal erleiden. Sie am allerwenigsten. Doch wer würde seiner besten Freundin in einer Notlage nicht helfen? Irgendwie fühlte sie sich hilflos und ihre Kehle war trocken. Sie schlug die Augen nieder und erklärte mit kratziger Stimme: „Die Laibe sind backfertig. Ich hole nur schnell die Reisige im Schuppen.“
Die Familie war bereits zu Hause, als Philippa vom Backes zurückkehrte. Sie hatte den Ofen angeheizt und morgen früh würde die Glut nochmals richtig entfacht, bis das Backen losgehen konnte. Die jüngeren Kinder hüpften an ihr hoch und wollten auf den Arm genommen werden, was sie gern tat.
Schnell bereitete sie den Abendbrottisch und sorgte dafür, dass die Jüngsten ihre Milchsuppe und ihr Brot ohne Einwand aßen. Jakob und Georg, vier und fünf Jahre alt, zappelten gern am Tisch, was ihr Vater nicht duldete.
Nachdem sie die Kinder zu Bett gebracht hatte, das Geschirr gespült und die Küche gefegt war, wusch sie die Kaminseiten ab, die mit Delfter Kacheln umkleidet waren. Der Magister hatte sie von einem befreundeten Niederländer geschenkt bekommen, der im Fürstenhaus zu Gast gewesen war.
Die verwandtschaftlichen Beziehungen des Fürsten mit der Niederlande gingen auf den berühmten Ahnen Wilhelm von Oranien zurück und seitdem, hatte der Magister erwähnt, kamen immer wieder Niederländer ins Schloss zu Besuch.
Philippa betrachtete beständig fasziniert und staunend die Kacheln mit ihren blauen, religiösen Motiven aus dem Markusevangelium auf weißem Hintergrund. Ebenso stolz wie auf die ausländischen Keramiken war die Herrin auf ihre vielen blank geputzten Kessel, Kasserollen, Töpfe und Waffeleisen, die über dem Herd hingen.
Nachdem sie die Kacheln blitzblank poliert hatte, schaute Philippa nochmals nach dem Herdfeuer. Es war ihre oberste Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es nicht ausging. Deshalb schlief sie auch nicht wie das übrige Gesinde unter dem Dach oder im Stall, sondern hatte ihr Nachtlager gleich neben dem Herd. Diese klitzekleine Schlafecke – es war nicht viel mehr als eine Lücke – ließ Philippa fast wie eine Hausherrin vorkommen. Möglicherweise deshalb, weil sie nicht wie andere Mägde zu dritt oder viert in einem Bett schlafen musste.
Es war bereits dämmrig, als sie erschöpft unter ihre Strohdecke schlüpfte. Wie abgemacht sperrte sie die Küchentür nach draußen nicht ab. Während sie so dalag, senkte sich die Dunkelheit über die Stadt. Teller auf den Holzborden an den Wänden zeichneten sich schemenhaft ab. Ein Teil des wuchtigen Holztisches, der Platz genug bot, dass Küchenmägde und Köchin gleichzeitig arbeiten konnten, erschien ihr wie eine schwarze Absperrung. Wie gern würde sie jetzt schlafen. Sie war todmüde. Irgendwann wurden ihre Augenlider schwerer und schwerer und die Nacht versenkte mit ihrer Schwärze sämtliche Gegenstände.
Ein Geräusch ließ sie hochschrecken und in die Nacht lauschen, doch es blieb still. Sie musste doch wach bleiben! Würde Elsa kommen? Würde sie tatsächlich unbemerkt bleiben? Was wäre, wenn Philippa einschlief und Diebe durch die unverschlossene Tür ins Haus gelangten? Oder die Hausherrin gerade in dem Moment noch mal nach einem Getränk fragte, wenn Elsa in der Tür stand?
Fragen über Fragen stürzten mit Gewissensbissen auf sie ein. Je näher der verabredete Zeitpunkt kam, desto wilder klopfte Philippas Herz. Erschöpft betete sie darum, dass Gott ihr verzeihen würde und ein Einsehen mit der Not ihrer Freundin haben mochte. Versprach der allmächtige Vater im Himmel nicht in einem der Psalmen, allen Menschen ein Retter zu sein, die ihn darum baten? Und rufe mich an am Tag der Bedrängnis; ich will dich erretten, und du wirst mich verherrlichen. Wie tröstend waren ihr heutzutage diese Bibelverse, obwohl es ihr als Kind keinen Spaß gemacht hatte, den Befehlen des Pfarrers zu gehorchen und die vorgegebenen Texte auswendig zu lernen.
Es war nur ein Schatten, der am Küchenfenster vorüberhuschte, doch um ein Haar hätte Philippa vor Furcht laut aufgeschrien. In dieser mondlosen Nacht war alles finster, mysteriös und beklemmend. Gerade in dem Moment, als die Kirchturmglocke die volle Stunde schlug, öffnete sich wie von Geisterhand die Tür. Das Quietschen ließ Philippas Atem stocken.
„Phillie?“
Es war nur ganz zart, beinahe ein Flüstern, doch Philippa war plötzlich hellwach, sprang von ihrem Lager auf und tapste mit nackten Füßen zur Tür.
„Komm rein“, wisperte sie und schob ihre Freundin Richtung Bett. Elsa, die offensichtlich nichts sah und ins Stolpern geriet, griff nach einem nicht vorhandenen Halt. Mit Getöse krachte ein irdenes Gefäß auf den Boden, was Philippa schockiert innehalten ließ. Mit eisigem Griff hinderte sie ihre Freundin am Weitergehen und lauschte in die Düsternis. Die Geräuschlosigkeit im Haus dröhnte in ihren Ohren. Als alles ruhig blieb, flüsterte sie: „Bleib erst mal hier. Du kannst jetzt deine Kleidung ablegen.“
„Nein“, entschied Elsa, „das ist zu gefährlich.“
Philippa verlangte: „Dann zieh aber wenigstens deine Schuhe aus. Hier“, sie wies mit einer Hand zu einer Wandvertiefung, „schlafen wir.“ Sie drückte Elsa sanft an der Schulter, um anzudeuten, sich auf dem Strohsack niederzulassen. Dann glitt sie neben sie und starrte an die niedrige Zimmerdecke.
Schweigend lagen die beiden jungen Frauen nebeneinander. Nach einer Weile hielt es Philippa nicht mehr aus. „Was ist mit dir?“, raunte sie. „Bist du nicht mehr bei den Baldus’?“
„Ich musste weg.“
„Musste? Was ist passiert?“
Es kam keine Antwort. Nur ihre Atemzüge durchbrachen die Stille. Warum wollte sie ihr nichts erzählen? Sie waren doch Freundinnen! Oder war es so schlimm gewesen, dass es unaussprechlich blieb? Ihre Gedanken rasten.
Sie erinnerte sich, dass sie als Kinder unzertrennlich gewesen waren und sich damals am Ufer des Rolsbach einen ewigen Freundschaftsbund geschworen hatten. Wie Elsa heute dazu stand, wusste sie nicht, doch für sie blieb Elsa, auch wenn sie sich nicht mehr oft sehen konnten, ihre Freundin. Für sie war die Zusammengehörigkeit ein wahres Versprechen.
Breitscheid war ihrer beider Heimatdorf. Nur ganz selten kam Philippa noch heim. Wenn sie sonntags nach dem Kirchgang den Wunsch verspürte, nach Hause zu gehen, war ihr bei genauem Überlegen klar, dass sie kaum Zeit hätte, sich bei den Eltern aufzuhalten. Der Weg war fast drei Wegstunden weit und manchmal wollte sie sich sonntags einfach nur ausruhen.
Während sie grübelte, vernahm sie ein leises Schluchzen, das mehr und mehr anschwoll. Philippa spürte, wie Elsa von einem Weinkrampf geschüttelt wurde. Impulsiv schlang sie die Arme um sie und hielt sie ganz fest. Es war eine gefühlte Ewigkeit, in der Elsa wiederholt schniefte und heiße Tränen ins Kissen fielen. Schockiert von Elsas Gefühlsausbruch, drängte Philippa auf eine Erklärung: „Jetzt sag mir endlich, was los ist!“
Das Schluchzen, wenn auch nun etwas verhaltener, wollte nicht aufhören. Doch dann hörte Philippa Elsas zarte, aber verzweifelte Stimme: „Ich kann doch nichts dafür. Ich wollte das nicht.“
„Was? Was wolltest du nicht?“
„Ich kann das nicht sagen!“
„Was denn?“
Elsa gab keine Antwort. Welches Geheimnis mochte sie umgeben?
Philippa ergriff ihre Hand. „Vertraue mir. Ich halte dicht.“
„Wirklich? Schwörst du es?“ In Elsas schwach zu erkennenden Augen lag ein tiefes Bitten.
„Die Heilige Schrift verbietet Schwören, das weißt du genau. Aber ich verspreche dir, nichts und niemandem was zu verraten.“
Für einen Moment war es totenstill.
„Das Kind …“ Ein erneuter Schluchzer verschluckte den Rest des Satzes.
„Was für ein Kind?“ Philippa zog die Augenbrauen zusammen. „Du … du bist doch wohl nicht schwanger?“
„Nein … ja … nein, also ich habe das Kind bereits gekriegt.“
„Du hast was?“ Philippa stöhnte auf und in ihrem Kopf pochte es wie Hammerschläge. „Wann?“
Draußen kläffte irgendwo ein Hund. Dann war wieder alles ruhig.
„Vorgestern … hab ich es geboren.“
„Was sagst du da?“ Bestimmt redete Elsa wirres Zeug.
Die Stimme klang piepsig. „Doch.“
Philippa schluckte. Hier stimmte etwas nicht. Warum war sie nach Dillenburg gekommen? Wie hatte sie das nur geschafft? Sie musste doch von der Geburt geschwächt sein. „Eine Wöchnerin gehört ins Bett. Warum hat die Hebamme dir erlaubt aufzustehen? Und was um Himmels willen willst du hier?“
„Ich hatte keine.“
Das konnte sie nicht glauben. Ihr Puls klopfte heftig. „Warum nicht? Wer hat dir geholfen?“
„Niemand. Ich war allein.“
„Warum? Wo war die Hebamme?“
Philippa spürte förmlich, wie Elsas unschuldiges Gesicht sich zu Angst verzerrte und hörte ihr bitteres Seufzen. „Wer weiß davon?“
„Ich habe mit niemandem darüber gesprochen.“
Das klang unglaublich, und doch ahnte Philippa, dass es wahr war. Sie verstand nur nicht die Zusammenhänge. Ihre Stimme wurde lauter. „Wo ist dein Kind? Und warum bist du hier?“
Es kam keine Antwort. Elsas Gesicht hatte sich in die Armbeuge von Philippa gegraben und benetzte sie mit Tränen. Philippa ließ Elsa zunächst weinen, doch als eine beklemmende Stille entstand, wurde sie drängender. „Erzähl mir, wo dein Kind ist!“ Sie rüttelte an ihrer Freundin. „Und warum erfahre ich erst jetzt, dass du längst verheiratet bist?“
Mehr und mehr wurde Philippa von hilfloser Furcht erfasst. Hier war etwas ganz und gar nicht in Ordnung. Vielleicht war Elsa auch einfach verwirrt? Wahrscheinlich wusste sie selbst nicht, was sie da redete.
Elsas Kopf fuhr hoch. „Ich weiß nicht ein noch aus!“
Ihr Schrei hatte bestimmt alle im Haus geweckt. Philippa versteifte sich, ihr Mund blieb vor Schreck offen und sie wagte nicht mehr zu atmen. Nur Elsas erneutes Schluchzen erhob sich in die Ruhe der Nacht. Philippa sah sich bereits mit ihren wenigen Habseligkeiten aus dem Haus schleichen. Aber sie hatte keinen Mut, Elsa nochmals zu sagen, sie möge leise sein – schließlich hatte sie selbst eben die Stimme erhoben. Aber wie sollte man auch über diesem Geständnis ruhig bleiben?
Wo war das Neugeborene? Es gehörte doch zu seiner Mutter! Der Schrecken über die Beichte saß tief. Er hatte alle Hoffnungen zerstört, dass es eine überzeugende Erklärung für Elsas Auftauchen gab. Jetzt war offensichtlich alles zu spät.
Philippa lauschte wieder in die Nacht hinein, doch nichts geschah. Niemand erschien in der Küche. Kein Enners, keine Hiltgunt und auch keine Herrin. Im Haus war alles gespenstisch leise.
Endlich wagte sie, sie weiter auszuforschen. „Sag endlich, wo ist dein Kind?“
Elsas Antwort war kaum vernehmbar. „Im Himmel.“
Ungläubig und mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ins Dunkle. „Du meinst, es ist tot?“, schrie Philippa erschrocken. „Jetzt erklär mir endlich, was du von mir willst.“ Sie rüttelte wild an ihrer Freundin. Es war nicht ungewöhnlich, dass ein Kind die Geburt nicht überlebte, aber dass Elsa jetzt hier bei ihr war, verstand sie ganz und gar nicht. „Warum bist du auf der Flucht?“
„Ich bin nicht verheiratet!“
„Oh!“ Philippa schlug sich mit der Hand vor den Mund. Das erklärte manches. Allerdings nicht alles. „Wer ist der Kindsvater?“
Elsa schwieg.
„Komm, jetzt sag’s!“ Sie rückte von Elsa ab. Voller Mitgefühl sah sie ihre Freundin an und Tränen stiegen in ihr hoch. „Und warum ist es tot?“
Plötzlich wurde die Küchentür aufgestoßen und in der Dunkelheit drohte eine Stimme. Sie gehörte zu Hiltgunt. „Was ist das für ein Krach hier? Philippa! Was ist los?“ Ein schwaches Licht schwang hin und her.
Schockstarre ergriff Philippa. Sie stierte mit offenem Mund auf den Schattenriss. Jetzt war alles zu spät. Sie gab Elsa einen Schubs und spürte, wie sie neben den Strohsack rollte, wobei sie die Decke über sich zog.
Auf einmal schaukelte das Licht über Philippa. Hiltgunts Mondgesicht wirkte wie eine Fratze. Der Besatz der Schlafhaube umrahmte ihre aufgeregte Miene. „Ich warte auf eine Erklärung!“
„Ein Albtraum“, keuchte Philippa und ihre Stimme klang aufgebracht, was sie in Wahrheit auch war, „ich muss ganz schlecht geträumt haben. Wahrscheinlich hab ich da laut um Hilfe gerufen.“
„Mach gefälligst nicht so einen Lärm!“ Ein Seufzen entglitt der Haushälterin. „Und schlaf wieder. Du weckst ja sonst das ganze Haus auf.“
Philippa nickte brav und spürte, wie ihre Muskeln verkrampften. Ihr Körper fühlte sich wie in Leichenstarre an. Als Hiltgunt weg war und die Küche wieder in völliger Dunkelheit lag, lauschte sie in die Nacht. Es war wieder ganz ruhig im Haus. Vorsichtig zog sie an ihrer Decke.
„Ich … ich wollte das nicht … glaub mir, ich wollte das wirklich nicht!“ Die Verzweiflung in Elsas erstickter Stimme hätte nicht schlimmer sein können. „Du musst mir glauben, Phillie, du bist doch meine Freundin!“
Sie würde so gerne glauben, wenn sie wüsste, was. „Was wolltest du nicht? Sag bloß, du hast da was gemacht?!“ Philippa wurde heiß und kalt. Sie fürchtete sich vor der Antwort.
Elsa fing wieder an zu zittern und schlug sich die Hände vors Gesicht. „Ich habe nichts gemacht! Es lag einfach so da, so blau. Da, da wusste ich auch nicht … – was sollte ich denn tun? Ich war doch allein!“
Auf das Eingeständnis war sie nicht vorbereitet. Allein. Elsa hatte ein Kind ohne Hilfe der Amme oder sonstiger Frauen auf die Welt gebracht. Dass sie das überhaupt überlebt hatte, grenzte an ein Wunder. Aber warum war sie von Herborn nach Dillenburg entflohen? Und was hatte sie nicht gemacht?
Es kostete sie größte Überwindung, es auszusprechen. „Hast du ihm was angetan?“ Sie meinte, der Kopf neben ihr werde geschüttelt. Doch es kam keine Antwort.
„Sag!“
Die Antwort kam zögernd. „Nein.“
„Warum bist du jetzt hier?“
„Sie suchen mich.“
„Allmächtiger Gott!“ Es war ihr rausgerutscht, obwohl sie wusste, dass Blasphemie bestraft wurde. „Warum hast du dich nicht als Witwe ausgegeben?“
„Das glaubt mir doch niemand. Hier auf dem Land spricht es sich schneller herum, als ein Geier sein Opfer packen kann.“
Reiche waren reich. Arme arm. Dazwischen war nichts. Fast nichts, bis auf eine Schwangerschaft, diesmal die von Elsa – und die Geburt eines Kindes, das nicht mehr lebte.
„Hat es denn gelebt? Bei der Geburt, meine ich?“ Sie kam sich vor wie der Richter beim Peinlichen Verhör gemäß der Constitutio Criminalis Carolina, der gültigen Rechtsprechung von Strafverfahren. Kaiser Karl V hatte sie vor zweihundert Jahren erfunden und seitdem war sie die Richtschnur für Prozesse – etwas, das es bis dahin noch nicht gegeben hatte.
Philippa richtete sich auf und rüttelte ihre Freundin an der Schulter. „War es ein Mädchen oder Junge?“
Elsa bewegte den Kopf hin und her, was Philippa nur ganz schwach erkennen konnte.
„Ein Junge. Der Kleine kam ganz blau auf die Welt. Ich wusste doch gar nicht, was ich da tun sollte. Da war noch so ein Band dran …“ Offensichtlich hatte Elsa genauso wenig Ahnung vom Kinderkriegen wie sie selbst. „Ich glaube, er hat nicht geatmet.“
„Er war tot?“
„Nein“, gestand sie zögernd und kaum hörbar, „er hat schon geatmet, aber nur ein bisschen. Ich hab ihn bloß angesehen. Immerzu musste ich ihn anschauen.“ Sie zog die Nase hoch. „Ein echtes Menschenkind. Als er zu wimmern begann, kriegte ich Panik, weil ich hörte, wie eine Magd nach mir rief. Ich … ich hab ein Stück Stoff, das ich zum Abseihen der Kuhmilch dabei hatte, über ihn gelegt. Dann war er still.“
„Still? Was hast du gemacht?!“
„Nichts.“ Elsa schniefte. „Ich hab doch das Stück Stoff bald wieder weggenommen. Aber da war er schon tot.“
„Und die andere Magd?“
„Sie hat mich nicht gefunden und ist dann wieder weg. Aber das Kind hing noch an dieser Schnur dran, die in meinen Leib ging. Also habe ich dran gezogen. Ein glitschiges Gespinst kam da raus. Mit Blut und so.“ Ihre Stimme wurde immer leiser. „Dann war alles still. Alles.“
Merkwürdig klang das, was Elsa berichtete. Für einen Moment dachte sie an Caspar Vogt. Ein Hoffnungsschimmer brach hervor. Sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn er endlich ihr Ehemann sein würde. Dann wäre sie vielleicht auch eines Tages schwanger. Wie es dazu kam, darum rankten sich rätselhafte Geschichten, von denen sie nicht alles glauben wollte, was ihr zu Ohren gekommen war und ihr flammende Röte ins Gesicht trieb.
Gleichzeitig zog sich das Geheimnisvolle rund um die Entstehung eines Kindes bis zur Geburt. Schon immer hatten die Gebärenden in einem abgeschirmten Zimmer ihr Kind zur Welt bringen müssen. Mit Hebamme und Mutter, Schwiegermutter, anderen weiblichen Verwandten oder Nachbarinnen. Noch nie hatte ein Mann dabei sein dürfen, denn das sei ein schlechtes Omen, hieß es.
Niemand hatte ihr erzählt, was da passierte. Irgendwann holten sie heißes Wasser, saubere Leintücher und man hörte Schreie. Erst von der Schwangeren, dann die eines Neugeborenen, wenn es denn lebte. Was aber dazwischen geschah, war nebulös und fremd. Kein Wunder, dass Elsa unter Schock stand. Ihr hatte bei der Geburt weder jemand geholfen noch das Kind versorgt. Jetzt war es tot und Elsa auf der Flucht.
Augenblicklich wurde Philippa klar, dass man Elsa für eine Kindsmörderin hielt. Ob sie es nun tatsächlich war oder nicht.
„Du darfst heute Nacht hier bleiben. Vor Tagesanbruch musst du aber verschwinden, hörst du?“
„Ja.“ Elsa drückte Philippa einen Kuss auf die Wange. „Danke. Ich danke dir von Herzen.“
Bald hörte sie gleichmäßige Atemzüge. Wie erschöpft musste Elsa sein, dass sie auf der Stelle eingeschlafen war. Mitleid und Entsetzen angesichts des Berichts wechselten sich ab. Verzweifelt faltete Philippa die Hände und bat Gott, er möge Elsa einen Weg zeigen, wie es für sie weitergehen konnte. Und wenn sie Schuld auf sich geladen hatte – oder Blut vergossen hatte, was Philippa nicht glauben wollte und Elsa niemals zutrauen würde –, möge der allmächtige Gott ihr vergeben. Es klang alles ungeheuerlich – wie ein echter Albtraum. Und wo sie das Kind hingetan hatte, darüber hatten sie gar nicht mehr sprechen können. Würde es Sinn machen, wenn Elsa sich morgen dem Pfarrer anvertraute? Oder sollte sie lieber weglaufen? Aber wohin sollte sie gehen?
Schemenhaft erkannte Philippa den Herd, dessen Knistern verstummt war. Heiliger Georg! Fast hätte sie das Feuer vergessen. Schnell stand sie auf und legte noch einen Scheit auf die kleine Glut, bevor sie wieder zu Elsa unter die Decke kroch.
Wie lange Philippa noch wach gelegen hatte, konnte sie am nächsten Morgen nicht mehr sagen. Nur, dass in ihren wirren Träumen die Gerichtsknechte das Haus der Hohensteins auf den Kopf stellten und sie, Philippa, gebunden wegführten. Erst beim Anbruch des neuen Tages fiel sie erschöpft in einen unruhigen Schlaf.
Geräusche von draußen ließen sie aufschrecken. Mit der Morgendämmerung verschwommen die Ängste der Nacht und ein neuer Tag zog herauf. Vogelgezwitscher mahnte sie, dringend nach dem Herdfeuer zu sehen. Sie tastete nach Elsa, doch der Platz neben ihr war leer. Fast schien es, als habe sie den nächtlichen Besuch nur geträumt.
Bei genauerem Hinsehen bemerkte sie eine große, noch nicht ganz eingetrocknete Blutlache auf dem Leinen. Vorsichtig, als könne sie sich an einer ansteckenden Krankheit infizieren, beugte sie sich über das Laken und roch daran. Es war der gleiche Geruch, der ihr gestern Nachmittag aufgefallen war – das Blut von Elsa. Das Blut des Todes! Philippa schüttelte sich.
Was hatte sie nur getan, dass sie Elsa Unterschlupf gewährt hatte? Ging ihre Freundschaft hier nicht zu weit? Wenn das herauskam, würde sie nicht nur ihre Stellung verlieren. Vielleicht drohte ihr das gleiche Schicksal, vor dem Elsa auf der Flucht war. Nein, sie würde nichts und niemandem etwas erzählen. Sie war zum Schweigen verurteilt.
*
Im Verlauf des Tages wurde sie von den Vorbereitungen für ein feierliches Abendessen abgelenkt, die ihre Gedanken an Elsa in den Hintergrund rückten.
Der Magister hatte wieder mal Gäste angekündigt, wie es öfters vorkam. Den ganzen Tag über hatten Philippa, Grete und Hiltgunt damit zu tun, eine delikate Ochsenschwanzsuppe mit Fleischklößchen, Hühnerpastete, einen Schmorbraten, saure Kartoffeln und verschiedene Gemüse vorzubereiten. Eine Hausmachersülze holten sie aus dem Vorrat im Erdkeller.
Die Gäste, zwei Niederländer und ein Beamter vom Schloss, machten keinen Hehl daraus, dass sie die Kochkunst im Hause Hohenstein bewunderten, und entschädigten damit die Hausangestellten für die viele Mühe.
Philippa half beim Auftragen und beim Bewirten, schenkte Wein aus einer vergoldeten Weinkaraffe ein, was Enners wegen seiner zittrigen Hände schon länger nicht mehr gelang, und machte große Augen, als einer der Männer von der beschwerlichen und langen Reise erzählte.
Philippa schnappte ein paar Worte wie Paardenkoets, Prinsenmolen und Kolen auf, die ihr fremd waren. Zum Glück verabschiedeten sich die Gäste nach einem höflichen Blick auf die Uhr so frühzeitig, dass sie es nach dem Aufräumen noch schaffte, sich in der Abenddämmerung am Dillufer mit Caspar zu treffen.
Er wartete bereits in der Nähe des Wicktors, umgeben von Obstbäumen und ein paar Büschen. Offenbar war sonst niemand hier draußen. Je näher sie kam, umso heftiger ging ihr Puls.
„Wie schön, dass du noch kommen konntest“, sagte er, während sie in gebührendem Abstand vor ihm stehen blieb.
Sie nickte und sog die kühle Abendluft ein. Seine Augen blieben liebevoll auf ihr ruhen. Wie immer wühlte seine Nähe sie auf. Ob sie das als ein Zeichen von Liebe deuten durfte?
„Entschuldige! Wartest du schon lange?“, fragte sie und nestelte fahrig an den Bändern ihrer Haube. „Wir hatten noch Gäste zum Abendessen.“
„Philippa“, schmunzelte er und Grübchen zeigten sich unter seinem Bart, „du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen. Keine Zeit ist mir zu lange. Waren es namhafte Besucher?“
Sie lächelte ihn an – ihr Herz machte einen kleinen Sprung bei seinen liebevollen Worten. „Ja. Zwei Niederländer, ein Patrizier aus Rotterdam und der Besitzer einer Porzellanmanufaktur aus Delft, die mein Herr von Besuchen beim Fürsten kennt. Dazu ein Hofbeamter zum Übersetzen. Der Magister kann nur teilweise Niederländisch.“ Sie kicherte. „Kennst du die Sprache? Ich dachte zuerst, ihnen wäre was im Hals steckengeblieben. Ganz hinten.“
Sie lachten beide. Caspar räusperte sich. „Du meinst, es war wirklich der Besitzer dieser weltberühmten Keramik bei euch?“, fragte er.
Philippa nickte. „Und die Herrin war von seinem Gastgeschenk, einer Schale in edelster Ausführung, mehr als entzückt.“
„Sieht das Porzellan wirklich so einzigartig aus, wie man hört?“
Sie breitete die Arme weit aus und sah zum Himmel, dessen Farben gerade verblassten „Es ist wunderschön und das Blau leuchtet regelrecht.“ In ihrer Begeisterung hatte die Herrin Grete die Schale gegeben, als diese die Hand danach ausgestreckt hatte, und ihr im gleichen Augenblick wieder entrissen. Es war kurios gewesen, denn jeder im Haus wusste, wie ungeschickt die Magd manchmal sein konnte. „Weder Grete noch ich durften das teure Teil spülen. Hiltgunt höchstpersönlich musste es tun. Die niedere Arbeit. Du hättest mal ihr Gesicht sehen sollen!“
Er grinste und seine Augen strahlten sie an, dass sie sich diesem Moment kaum entziehen konnte. Sie erwiderte seinen Blick und ihr Herz wurde weit. Was für ein wunderbarer, vollkommener Abend!
Ein Geräusch riss sie aus dem Zauber. Ganz in der Nähe stampfte eine Wache am Stadttor vorbei Richtung Ufer und verschwand aus ihrem Blickfeld. Dann war es wieder ruhig bis auf das leichte Rauschen des Wassers, das sie jetzt nur noch erahnen konnte.
Der Wind wehte ihr eine Strähne ins Gesicht und sie blinzelte. Sie musste wieder an die Abendgesellschaft im Haus denken. „Ich wusste gar nicht, wie viele Fuhren Kohle aus unserer Gegend nach Rotterdam verkauft werden. Die Herren haben sich darüber unterhalten.“
„Ich hörte davon. Augenscheinlich ist das ein einträgliches Geschäft. Gibt es auch Händler in Breitscheid?“
„Nein. In unserem Dorf leben fast nur Bauern, bis auf ein paar Häfner. Die Winter sind eisiger und länger. Aber im Sommer, wenn die Felder leuchten und der Duft von Kräutern die Luft durchdringt, gibt es kein schöneres Fleckchen Erde.“
Caspar sah sie nachdenklich an. „Gibt es denn dann wenigstens genug Feuerholz?“
Sie schüttelte den Kopf. „Die Eisblumen bleiben über Monate an den Fenstern, dass man nicht nach draußen sehen kann. Sogar der Dorfbrunnen vereist manchmal.“
„Man schmelzt Schnee, wenn Wasser fehlt, habe ich gehört“, sagte er mitfühlend. „Ich habe keine Ahnung, wie schwer das Leben der einfachen Leute ist.“
Sie dachte daran, wie erschöpft man abends einschlief und vor der Morgendämmerung aufstand, um sein Tagwerk zu meistern. Hier war es auch nicht anders. Sie sog die Abendluft tief ein, als müsse sie die trüben Gedanken abschütteln. „Und nun lass uns von etwas Schönem reden.“
Er nickte. „Würde es dir gefallen, wenn ich dir ein Gedicht schreibe? Ich hörte“, schmunzelte er, „dass Frauen Poesie mögen.“
Sie lachte überrascht auf, kam aber nicht mehr dazu, ihm zu antworten. Plötzlich hörten sie ein Schnaufen ganz dicht bei ihnen. Philippas Kopf fuhr herum.
Beide hatten die große, kräftige Gestalt mit dem zerzausten Haarschopf, die unvermittelt bei ihnen auftauchte, nicht kommen sehen. Blitzartig bog sich ein Arm wie ein Schraubstock um ihren Hals. Philippa stockte der Atem und sie zuckte zurück. Ein Messer blitzte vor ihren Augen, das der Fremde ihr nun an die Kehle hielt. Schreckensstarr brachte sie kein Wort raus. Der Kerl stank erbärmlich. Mit aufgerissenen Augen starrte sie Hilfe suchend zu Caspar.
Doch er war ebenso von Furcht betäubt wie sie. Zwischen seine Brauen hatte sich eine tiefe Falte gegraben. Doch irgendetwas in seinem Blick, der auf den Kerl gerichtet war, irritierte sie. Was war mit ihm? Kannte er den Mann etwa?
„Her mit der Kohle!“, befahl der Hüne nahe an ihrem Ohr. Sie wand sich, wobei sein filziger Bart sie streifte. Abscheu überkam sie. „Sonst werde ich dem Täubchen hier einen Garaus machen. Und dir ebenso.“
Himmel steh uns bei! Nach einer Schrecksekunde schnellte Caspar nach vorn, holte aus und traf mit der Faust den Kopf des Fremden. Der geriet ins Taumeln, dass sie fast mit ihm hingefallen wäre, während er dabei mit dem Messer in der Hand durch die Luft fuchtelte.
Todesangst ergriff sie! Philippa schloss die Augen. Sie war wie erstarrt und versuchte, sich auf den Beinen zu halten, während sie gleichzeitig ein weiteres Stoßgebet nach oben schickte. Sie rechnete mit dem Schlimmsten. Als sie vorsichtig blinzelte, taumelte Caspar gerade zurück und sein Hut fiel auf den Weg. Er schien unverletzt zu sein, nur der Ärmel seines Gehrocks klaffte auseinander. In Caspars Augen war keine Angst zu sehen, vielmehr eine wilde Entschlossenheit. Noch immer klemmte der Arm des Mannes wie ein abgebrochener Ast um ihren Hals.
Trotzdem wollte sie „Lauf weg, Caspar“, rufen, aber es drang nur ein Schluchzen aus ihrer Kehle. Ihre Stimme war wie verstummt. Wo war die Wache, die eben noch hier entlanggegangen war? Gab es niemanden in der Nähe, der ihnen helfen konnte? Tränen stiegen in ihr auf.
Der Fremde knurrte verächtlich und verstärkte den Würgegriff. Es schnürte ihr das Herz zu, als Caspar erneut mutig einen Schritt auf ihn zu machte, aber sofort glänzte das Messer jetzt vor seinem Gesicht.
„Verschwinde!“, forderte Caspar ihn unerschrocken auf, doch als nichts passierte, rief er: „Und gib sie frei, du Feigling! Schäm dich! Eine wehrlose Frau als Pfand.“
War Caspar doch verletzt? Aus seinem Ärmel tropfte Blut!
„Geld!“, forderte erneut der Hüne entschieden.
„Lass sie los, dann gebe ich dir was“, keuchte Caspar. Nur zögernd lockerte der Mann den Griff. Caspar knöpfte seinen Rock auf und tastete nach einem kleinen Beutel, dem er Geldstücke entnahm. Seine Hände zitterten. „Da!“, hielt er ihm ein paar Münzen hin. „Mehr habe ich nicht.“
Eine fleischige behaarte Tatze raffte das Geld und ließ es in seinem Wams verschwinden. Dann stieß er Philippa mit solcher Wucht von sich, dass sie stolperte und hinfiel. Der Boden war hart und kalt. Ihr Arm bekam das meiste ab. Sie verzog das Gesicht, rieb sich den Ellbogen und bewegte ihn. Er schien nicht gebrochen.
„Wehe, ihr rührt euch vom Fleck“, drohte der Mann, bevor er mit einem anderen Kerl, der nach einem Wink wie aus dem Nichts hinter einem Busch vortrat, Richtung Gerberviertel flüchtete.
Caspar sah ihnen einen Moment hinterher, dann beugte er sich zu ihr und half ihr auf die Beine. „Philippa, bist du verletzt?“ Seine Stimme klang heiser und voller Sorge.
„Nein.“ Sie klopfte sich den Staub ab und reckte den Hals, ob die Männer wirklich verschwunden waren. Die Kehle tat noch ein bisschen weh. Ihre Empörung war größer als der Schmerz und sie schüttelte den Kopf. „Der Halunke gehört hinter Gitter. Ebenso sein Kumpan.“
„Viel wichtiger ist, dass er dir nichts getan hat.“ Caspar griff wie selbstverständlich nach ihrer Hand und hielt sie fest. Seine war warm und gab ihr ein Stück Vertrauen. „Dir ist wirklich nichts passiert?“
„Nein“, tat sie ab, „es gibt höchstens blaue Flecke.“ Sie sah ihn mit klopfendem Herzen an.
„Und du? Hattest du keine Angst?“
„Doch.“ Er lächelte dünn. „Wohl war mir nicht, aber die Sorge um dich war größer als die Furcht.“
„Oh, Caspar!“ Seine Worte legten sich wie Balsam auf ihr Herz. „Wo war denn die Wache?“
„Anscheinend beim Kartenspiel.“
„Wir brauchen mehr Leute, die für Sicherheit sorgen.“
Er seufzte. „Philippa, selbst wenn wir noch mehr Wachleute hätten, gibt es keinen wirklichen Schutz. Einzig unser Herr im Himmel hat alles in der Hand, davon bin ich überzeugt. Auch dein Leben und meines.“
Sie kaute nachdenklich auf der Unterlippe. „Dein Vertrauen möchte ich haben“, sagte sie leise. „Ich dachte immer, mich könnte nichts erschüttern.“
Ihr Herz machte einen Satz, als Caspar den Kopf neigte und für einen Augenblick glaubte sie, er würde sie küssen. Doch dann sagte er: „Ich weiß auch nicht, woher ich den Mut hatte. Dabei hasse ich Gewalt.“
Sie nickte und schlang die Arme um sich. Plötzlich fing sie zu schlottern. War es wegen der Kühle? Oder auch ein wenig wegen des Schrecks? Sie erinnerte sich an Caspars Gesichtsausdruck von eben und blickte zu ihm hoch. „Du hast eben so merkwürdig geschaut. Sag mal, kanntest du den Hünen?“
Caspar zögerte, dann gestand er: „Der Kerl stand schon mal vor Gericht. Jetzt trägt er einen Bart, aber ich habe ihn an der Stimme erkannt. Er ist nicht von hier. Den anderen hab ich noch nie gesehen.“
„Dann werden sie hoffentlich bald gefasst sein und im Gefängnis verschwinden“, erwiderte Philippa. „Was fällt denen ein!“
Er fältelte die Stirn und sah sie einfühlsam an. „Ich glaube nicht, dass sie das aus Habgier gemacht haben. Das hat der Hüne damals auch nicht. Er hatte nur Hunger.“
„Caspar“, fragte sie verwundert und wurde sich mit einem Mal bewusst, dass er noch immer ihre Hand hielt. Sie entzog sie ihm mit glühendem Kopf. „Willst du damit sagen, du hast noch Mitleid mit denen? Doch wohl nicht.“
„Philippa, dir ist Gott sei Dank nicht viel passiert. Das ist das Wichtigste.“ Er hielt inne. „Ich habe kein Mitleid mit den Männern, aber ich hege auch keinen Groll. Bestimmt brauchen sie das Geld zum Überleben. Da kann ich ihnen noch nicht mal Schlechtes wünschen.“ Er bückte sich, hob den Hut auf und klopfte den Staub ab, bevor er den Dreispitz wieder aufsetzte.
Sein Geständnis rührte sie an. Trotzdem empörte sie sich: „Aber er hat dich verletzt!“ Sie trat einen Schritt vor und berührte ihn sanft am Unterarm. Der Hunger war auch in ihrer Familie ständiger Begleiter. Aber deshalb wurde niemand bestohlen oder überfallen. „Da!“
Erstaunt starrte er auf das Blut an ihren Fingern. „Oh, hab ich nicht gemerkt.“ Vorsichtig betastete er die Wunde. „Ist wirklich nicht schlimm. Du brauchst dich nicht sorgen.“ Er zog ein Tuch aus seiner Weste und wischte ihr über die Hand.
„Danke.“ Sie wunderte sich über seine Ruhe und sah ihn verunsichert an. „Bist du wirklich kein Stück wütend auf ihn?“
„Man muss sein Hassgefühl verscharren, sonst verfolgt es einen.“
„Ich weiß nicht.“ Sie schüttelte den Kopf und schimpfte. „Das war ein Straßenräuber! Ich will mir nicht vorstellen, was hätte passieren können.“
„Ist doch nur ein Kratzer“, tat er ab und schluckte, „und den Rock lasse ich nähen.“
Das klang vernünftig, trotzdem zwang sie sich, erneut aufsteigende Tränen der Enttäuschung wegzublinzeln. Es hätte so ein romantischer Abend werden können. Ihre Augen wanderten an ihm entlang. Der Gehrock hatte offenbar nur einen kleinen Blutfleck abbekommen. Anders dagegen sein Hemd, dessen Ärmel besudelt aussah.
Caspar bemerkte ihr Zögern und warf einen Blick zum Wicktor. Es lag jetzt fast vollständig im Dunkeln. „Wenn du darauf bestehst, werde ich den Vorfall melden, aber ich habe wenig Hoffnung, dass man die Kerle findet. Männer wie sie kennen Winkel, von den selbst wir nicht wissen, dass sie aus der Stadt führen.“
Philippa nickte und rang sich ein Lächeln ab. Der Wind hatte aufgefrischt und sie zog das Umschlagtuch enger. „Ich werde noch darüber nachdenken.“
Als spürte er ihr Frösteln, zog er seinen Gehrock aus und legte ihn um ihre Schultern. Das strahlend weiße Hemd beeindruckte sie, wenn man von dem desolaten Ärmel absah. „Wollen wir Richtung Dillturm gehen? Für einen Spaziergang bis ins Feldbachwäldchen ist es jetzt zu spät, fürchte ich. Die Stadttore schließen, bevor wir zurück sind.“
„Danke.“ Der schwere Brokat umschloss wärmend ihre Schultern. Das weitläufige Gebiet um die St.-Nikolaus-Kirche war nur von Feldern und einem Hof umgeben. Vor allem war man dort um diese Zeit allein. „Mmh.“ Während sie kurz überlegte, ob es in der Nähe des Gerberviertels stank, ergriff er wie selbstverständlich ihre Hand und zog sie mit sich.
Sie genoss es. An seiner Seite zu gehen, erfüllte sie mit einem großen Glücksgefühl. Vergessen war der Albtraum von eben. Nirgendwo wollte sie heute lieber sein. Wie mochte es sich erst anfühlen, wenn man in aller Öffentlichkeit als Paar auftreten durfte? Gab es etwas Kostbareres?
Unweit des Dillturms, nicht von den Wachposten zu erkennen, zog er sie zu einer alten Bank nahe der Stadtmauer, ohne sie loszulassen. Eigentlich saßen sie viel zu nahe beieinander. Verwirrt sah sie ihn an. Ihr Herz klopfte bis zum Hals und ihr Atem ging flach.
Er wirkte verlegen. „Ich kann an nichts anderes mehr denken, seit ich dich das erste Mal sah.“
Sie erinnerte sich an den Tag, als sie auf dem Markt eingekauft hatte und ihr der vollbeladene Korb aus der Hand gerutscht war. Der junge Herr Gerichtsschreiber war plötzlich da und hatte ihr, der Magd, geholfen, das Gemüse wieder aufzulesen. Das hätte er nicht tun brauchen, schließlich gehörte er zu den höhergestellten Bürgern der Stadt. „Mir geht es genauso“, gestand sie mit klopfendem Herzen. „Dabei hatte ich nicht geglaubt, dass diese Begegnung mein Leben auf den Kopf stellen würde.“
„Weiß jemand, dass wir uns treffen?“
„Nein“, gestand sie und blickte auf ihre verschlungenen Hände. „Ich habe Angst, dass es nur ein Traum ist.“ Sie ahnte Bedenken, denn auf den Dörfern war das unausgesprochene Abkommen – Feld bei Feld, Hof bei Hof – allgegenwärtig.
Caspar zog ihre Hand an seine Brust. „Ich möchte mehr von dir erfahren. Ob wir die gleichen Dinge mögen, ob der Glaube für dich wichtig ist und ob du von einem Zeichen vom Himmel träumst, dass du mit mir ins Licht trittst.“
Meinte er das wirklich ernst? Aus dem Dunkel der Ungewissheit in das Licht der gemeinsamen Zukunft? Spürte er die Sehnsucht in ihrem Herzen? „Da, wo ich herkomme, ist das Leben nicht sorgenfrei. Der Kampf ums tägliche Brot hat schon manchen Traum zerplatzen lassen.“
„Doch es darf nie verhindern, dass es einen geliebten Menschen gibt, der einen in den Arm nimmt, wenn man sich einsam fühlt oder der einem Zuversicht und Trost gibt. Philippa“, bat er, „lass meine Hand nie mehr los. Lass uns herausfinden, welchen Weg wir gehen sollen.“
Sie hielt den Atem an und lächelte beherzt. Es war zu schön und seine Worte zu innig. Durfte sie ihm wirklich glauben oder würde er sie irgendwann wie eine gebrauchte Halsschleife durch eine andere ersetzen? Und dann belächeln? Schließlich war sie nur eine arme Dienstmagd.
Caspar ließ die Rathaustür hinter sich ins Schloss fallen und trat auf die Straße. Die Nachmittagssonne hatte den Zenit bereits überschritten und blendete ihn. Für einen Moment schloss er die Augen und straffte die Schultern. Jetzt wirkte seine hochgewachsene, schlanke Gestalt noch eindrucksvoller. Mancher war der Meinung, er habe die Figur von seinem Vater geerbt. Aus Erzählungen wusste Caspar, dass seine verstorbene Mutter eher klein und zierlich gewesen sein musste, und ihre Familie keine Hünen hervorgebracht hatte.
Von dem sonnigen Frühlingstag hatte er in der Amtsstube kaum etwas mitbekommen. Als Gerichtsschreiber lag seine Aufmerksamkeit auf der Niederschrift von Verhandlungen. Heute waren es nur zwei kleine Prozesse gewesen, einer wegen eines Diebstahls und der andere wegen Verleumdung. Bei erstem hatte Amtmann und Richter Tilemann Gnade walten lassen und dem Angeklagten lediglich ein paar Jahre im Stockhaus aufgebrummt. Das hätte viel schlimmer ausgehen können. Im Gefängnis, das sich im Dillenburger Schloss befand, würde er hoffentlich zur Besinnung kommen und künftig die Hände von anderer Hab und Gut lassen. Und der andere Angeklagte, als Lästermaul berüchtigt, kam mit einer Geldstrafe davon und musste sich bei seinem Opfer entschuldigen.
Caspars Gedanken waren während der langweiligen Verhandlungen immer wieder abgeschweift. Zu Beginn seiner Amtstätigkeit hatte ihn jede noch so geringfügige Anklage oder Verteidigung interessiert, doch inzwischen waren kleine Vergehen für ihn zur Gewohnheit geworden.
Seine Augen wanderten zur Dillenburg, die sich auf einer steilen Hochfläche über der Stadt erhob. Der Sitz von Fürst Wilhelm II von Nassau-Dillenburg wirkte wie ein gewaltiges Versprechen auf seine Untertanen. Jeder Dillenburger wusste um die Begeisterung des Fürsten, neue Gebäude bauen zu lassen.
Zwar herrschte Kaiser Karl VI über das Heilige Römische Reich, doch Wilhelm besaß alle Insignien, das Land Nassau-Dillenburg zu regieren und ihm vorzustehen. Der Kaiser habe sogar einen Beruf erlernt, flüsterte man sich unter der Hand zu. Das Handwerk des Büchsenmachers habe er sich angeeignet und Caspar vermutete, dass er das nur auf Befehl seines Vaters getan hatte. Denn die Habsburger hatten so ihre eigenen, nicht unbedingt weltfremden Ansichten, was ein künftiger Kaiser beherrschen sollte.
Unauffällig stellte sich das Stockhaus dar, das sich gegen Osten unter den zahlreichen Gebäuden und Türmen des Schlosses regelrecht mit der Mauer verwob. Als Fenster dienten nur wenige kleine Öffnungen, die schon beim bloßen Betrachten Beklemmungen hervorriefen. Wie mochte es erst hinter den Gefängnismauern aussehen!
Am Fuß der Mauer, die den gesamten Schlossberg zur Stadtseite umarmte, stand die evangelische Stadtkirche. Direkt daneben hatte man das Pfarrhaus gebaut, dessen Fachwerk typisch für die Häuser im gesamten nassauischen Gebiet war: aus Holz im Skelettbau gezimmert, die Gefache mit Lehm und Stroh ausgefüllt und weiß getüncht. Wer genug Geld besaß, ließ noch bunte Schnitzereien und einen Spruch ins Gebälk ritzen. Gewöhnlich waren die meisten Dächer hier in der Stadt ebenso wie in den Dörfern mit Stroh gedeckt. Nur reiche Leute konnten sich Schindeln oder Schiefer leisten.
Auf der anderen Seite der Kirche südwestwärts standen noch ein paar Häuser. An einem davon blieb sein Blick hängen. Es war gepflegt und gehörte der Familie Hohenstein. Irgendwo dort drin ging Philippa sicher gerade ihrer Arbeit nach.
„Kommst du noch mit in den Hirsch?“ Freundschaftlich legte sich eine Hand auf Caspars Schulter. „Wir sind heute ja ausnahmsweise mal früher fertig.“
Die Stimme von Ratsherr Schäfer riss ihn aus seinen Gedanken. „Da hast du recht“, erwiderte Caspar und sah ihn von der Seite an. „Morgen vielleicht. Ich muss heute Abend mit meinem Vater eine wichtige Sache bereden.“
„Das kannst du ein andermal auch noch. Komm endlich mal mit. Du bist der Einzige, der nie dabei ist!“
„Bitte verzeih, ich schätze euch alle, aber es ist eine dringende Angelegenheit.“ Er spürte, wie ihm das Blut bis unter den Scheitel emporstieg und fühlte sich ertappt. In Wahrheit lag ihm nichts an den Wirtshauswahrheiten, die dort bei starkem Trunk und Stunden später noch in weinseliger Laune diskutiert wurden.
„Dir gehen wohl nie die Ausreden aus?“ Die dunklen, eng beieinanderliegenden Augen Schäfers schienen ihn zu durchdringen. Sein würdiger Gesichtsausdruck wechselte ins Reizbare. „Sind wir dir nicht genehm?“, höhnte er. „Wenn du eines Tages wie dein Vater im Rat sitzen willst, solltest du dich frühzeitig kümmern!“
Caspar bemerkte die hochgezogenen Augenbrauen, die mit seiner steilen Stirnfalte Schäfer nicht sympathischer machten. Allerdings hatte er drei Töchter zu verheiraten und das mochte wohl ein Grund für seinen Tadel sein. Unter Stand dürften sie auf keinen Fall vermählt werden, hatte er mal angemerkt. Schließlich sitze er nicht nur im Rat, sondern sei auch Zunftmeister der Wollweber.
In Caspars Hals klebte ein unsichtbarer Kloß, der ihn am Schlucken hinderte. Keine dieser heiratsfähigen Weiber interessierte ihn. Sie waren ausnahmslos schrill, ohne jegliches Mitgefühl und als Mutter seiner zukünftigen Kinder unvorstellbar.
Stumm sahen sich die beiden ungleichen Männer an und Caspar senkte verlegen den Blick.
Der Schatten, der auf Schäfers Gesicht gefallen war, verschwand. Offenbar hatte er seine Hoffnung, ihn als Schwiegersohn zu bekommen, noch nicht ganz aufgegeben. Schweißperlen rannen unter seiner gepuderten Perücke von der Schläfe dicht am Ohr entlang. Zu Caspars Erstaunen zwinkerte Schäfer nun. „Ach, so ist das! Darf man erfahren, wer die Auserwählte ist?“