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Die Seele trauert, wenn sie ihre Bestimmung verfehlt.
Warum verspüre ich keine Lebensfreude? Wieso fehlt mir der Sinn? Seit Jahren kämpft die junge Leona gegen Angstgefühle an und hat allen Mut verloren. Auf der Suche nach innerem Frieden reist sie in ein tibetisches Kloster. Die Begegnung mit dem weisen Mönch Tenzin Chime lässt sie ihr Leben ganz neu überdenken. Er lehrt sie Achtsamkeit, Gelassenheit und wertfreies Wahrnehmen. Als er sie nach ihren tiefsten Wünschen fragt, wird Leona klar: Jahrelang hat sie ihren Traum, als Ärztin in Afrika kranken Kindern zu helfen, verleugnet, nach fremden Vorstellungen gelebt und ihre Seele darüber verkümmern lassen. Aber was wäre, wenn ihr Traum doch noch nicht verloren wäre?
Julian Hermsens inspirierende Erzählung basiert auf einer wahren Geschichte. Sie ist ein herzöffnender Appell dafür, dem Ruf der inneren Stimme zu vertrauen und unbeirrt den eigenen Weg zu gehen.
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Seitenzahl: 264
Zum Buch
Warum verspüre ich keine Lebensfreude? Wieso fehlt mir der Sinn? Seit Jahren kämpft die junge Leona gegen Angstgefühle an und hat allen Mut verloren. Auf der Suche nach innerem Frieden reist sie in ein tibetisches Kloster. Die Begegnung mit dem weisen Mönch Tenzin Chime lässt sie ihr Leben ganz neu überdenken. Er lehrt sie Achtsamkeit, Gelassenheit und wertfreies Wahrnehmen. Als er sie nach ihren tiefsten Wünschen fragt, wird Leona klar: Jahrelang hat sie ihren Traum, als Ärztin in Afrika kranken Kindern zu helfen, verleugnet, nach fremden Vorstellungen gelebt und ihre Seele darüber verkümmern lassen. Aber was wäre, wenn ihr Traum doch noch nicht verloren wäre?
Julian Hermsens inspirierende Erzählung ist ein herzöffnender Appell dafür, dem Ruf der inneren Stimme zu vertrauen und unbeirrt den eigenen Weg zu gehen.
Zum Autor
Julian Hermsen, geboren 1987, ist Psychologe, Coach und Berater mit Wohnsitz Essen. Nach dem Studium war er als Berater für Führungskräfte und bei Change-Prozessen tätig, erkannte aber schnell, dass er nach Antworten auf die großen Lebensfragen suchte. Ausgedehnte Reisen führten ihn in die Hochburgen fernöstlicher Weisheit von Indien bis Thailand, wo er Suchende, Mönche, Gelehrte nach dem Geheimnis eines sinnhaften Lebens fragte. Die Antworten waren der Ausgangspunkt für seine persönliche Transformation, aber auch für seinen ganzheitlichen Coaching-Ansatz, mit dem er heute Klienten berät.
Mit seinem Erstlingswerk »Der Millionär und der Mönch« erreichte Julian Hermsen aus dem Stand eine große Leserschaft.
Julian Hermsen
Die Frau,
die ihre
Träume
wiederfand
Eine wahre Geschichte über das,
was wirklich zählt im Leben
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© 2022 Kailash Verlag, München
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Lektorat: Anne Nordmann
Covergestaltung: Daniela Hofner, ki 36 Editorial Design, München
Covermotiv: Motiv: Landschaftsmotiv Nepal © Emad aljumah/ getty images, Motiv: Buddha © Leontura/istockphoto
Foto des Autors: © Julian Hermsen
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-29767-1V003
www.kailash-verlag.de
Für Helga und Walter
Inhalt
1 Gefangen in mir selbst
2 Der Beginn meiner Reise
3 Meine Begegnung mit Tenzin Chime
4 Fremde Welt
5 Die Tafel abwischen
6 Der heilige Berg
7 Wir sind bereit geboren
8 Die unglaubliche Geschichte
9 Zur rechten Zeit am rechten Ort
10 Gesellschaft weitergedacht
11 Von Dankbarkeit erfüllt
12 Dem Traum ganz nah
Über den Autor
1
Gefangen in mir selbst
Ein neuer Tag, keine neue Hoffnung. Ich fühlte mich ausgelaugt.
Mein Mann und ich lebten seit vier Jahren in einem wundervollen Haus in einem Vorort von Bremen. Wir hatten lächerlich viel Platz zu zweit. Im Obergeschoss reihten sich diverse Schlafzimmer mit je einem separaten Bad an mehrere Ankleidezimmer und ein großes Büro. Im Erdgeschoss wirkte der offene Ess- und Wohnbereich wie die Lobby eines arabischen Luxushotels. Im Keller hatte mein Mann ein eigenes Kino installiert, in dem ich in den vier Jahren keinen einzigen Film gesehen hatte. In unserem Garten gab es eine große, holzvertäfelte Terrasse mit Sonnenliegen und Markise und eine riesige, penibel gestutzte Rasenfläche.
Thomas, mein Mann, führte ein erfolgreiches Sternerestaurant, in dem sich regionale Größen aus Politik und Sport die Klinke in die Hand gaben. Er war hervorragend vernetzt und über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. Er saß im Vorstand des ortsansässigen Fußballvereins, war ein enger Vertrauter des Bürgermeisters, und in seinem Telefonbuch fand man die Namen unzähliger Sportler, Politiker und einflussreicher Unternehmer. Thomas’ Tag begann morgens um halb sechs und endete meist erst gegen 23 Uhr – wenn er überhaupt endete. Vermutlich hatte er in den letzten Jahren mehr Zeit auf Geschäftsreisen in irgendwelchen Luxushotels als zuhause mit mir verbracht. Unser Kontakt beschränkte sich auf unregelmäßige Telefonate hier und da und etwas gemeinsame Zeit am Wochenende.
Unter einer glücklichen Ehe stellte ich mir definitiv etwas anderes vor.
Mein Tag begann ebenfalls um halb sechs Uhr. Ich legte Thomas seinen Anzug samt Krawatte auf einem Stuhl im Ankleidezimmer zurecht und stieg dann die Treppe in die Küche hinab, um Kaffee aufzusetzen. Thomas gesellte sich wenige Minuten später dazu, schlürfte hastig den meist noch zu heißen Kaffee und verabschiedete sich mit einem Kuss auf die Wange von mir – meist ohne mich wissen zu lassen, wann oder ob überhaupt er am Abend heimkommen würde.
Dann war es still in unserem großen Haus.
An einem dieser Tage – sie liefen fast alle genau gleich ab – überlegte ich wie üblich, was ich mit meiner Zeit anfangen sollte. Ich hatte keinen Beruf, denn Thomas wollte, dass ich mich um den Haushalt und den Hund kümmerte.
Also setzte ich mich meist erst einmal in unseren Ohrensessel, hielt meine Kaffeetasse mit beiden Händen fest und fragte mich, wie so oft, was in meinem Leben schiefgelaufen war. Ich war vierundzwanzig Jahre alt. Nach dem Abitur hatte ich große Pläne gehabt. Ich hatte Medizin studieren wollen. Nicht um eine steile Karriere als plastische Chirurgin oder Zahnärztin zu machen, sondern um nach dem Studium nach Afrika auszuwandern und dem unfassbaren Leid der Menschen entgegenzuwirken. Es berührte mich jedes Mal zutiefst, wenn ich die Bilder der ausgehungerten Kinder dort sah. Gleichzeitig machte es mich wütend. Ich konnte mir nicht erklären, warum die Politik, die großen Unternehmen und die Mehrheit der Menschen ihre Augen vor so viel Leid verschlossen. »Als gäbe es nicht genug Geld und Wissen auf der Welt, um das zu beenden!«, sagte ich wütend, mit zusammengepressten Lippen. Wie gern hätte ich dazu beigetragen, dieses unnötige Elend zu beseitigen, wie gern hätte ich geholfen, den Ärmsten der Armen ein besseres, gesünderes Leben zu ermöglichen.
Stattdessen saß ich hier in diesem riesigen leeren Haus und war – jung und tatkräftig, wie ich mich fühlte – zum Nichtstun verdammt.
Melancholisch schaute ich durch die großen bodentiefen Fenster hinaus auf die Terrasse. Die Sonne war inzwischen über den Horizont gestiegen, und ich dachte: Na dann, auf einen neuen Tag voller Sinnlosigkeit. Ich fragte mich, wozu ich mich eigentlich aus diesem Sessel erheben sollte, und spürte, wie die Gravitation meine Beine regelrecht am Boden festhielt. Das Haus war makellos sauber, wie immer. Ich benötigte am Tag ungefähr eine Stunde für den Hausputz. Wo niemand ist, entsteht auch kein Schmutz. Benny, unser brauner Labrador, war mit dem Auslauf im Garten fürs Erste völlig zufrieden. Termine hatte ich keine. Also blieb ich für weitere dreißig Minuten sitzen und dachte an gar nichts. Alles fühlte sich einfach nur taub und einsam an. Der Klingelton meines Handys beendete meine Selbstbemitleidung. »Maria« leuchtete auf dem Display auf, darunter der Knopf mit »Annehmen« und »Ablehnen«. Mist. Aber da muss ich wohl rangehen. Ich war genervt bei dem Gedanken an ein weiteres unerfreuliches Telefonat mit meiner Mutter. Sie rief täglich an und kannte dann nur ein Thema. Wenn nicht sie anrief, war es mein Vater. Auch er hatte nur ein Thema. Und das seit mehr als sechs Jahren.
»Hallo, Mama.«
»Leona, schön, dich zu hören. Wie geht es dir heute?« An der Tonlage meiner Mutter konnte man erkennen, wie angestrengt sie sich um Freundlichkeit bemühte.
»Na ja, wie immer. Und euch?«
Ich hörte ein deutliches nasales Ausatmen, gefolgt von einer kurzen Pause.
»Der Papa und ich haben einen Termin beim Notar ausgemacht, weißt du …?«
Ich spürte, wie mir unmittelbar ein allzu bekanntes Gefühl in den Kopf stieg, eine Mischung aus Wut, Hass, Verzweiflung und Unverständnis, die alle anderen Gedanken oder Gefühle in mir sofort zum Schweigen brachte. Natürlich weiß ich …, dachte ich voller Wut.
»Mama, ich weiß nicht mehr, wie ich auf eure Anrufe reagieren soll. Ich sage es euch seit Jahren: Das ist nicht das, was ich möchte.« Ich atmete tief durch und schwieg, da ich spürte, dass mich diese Gespräche sonst irgendwann zu einem Schlaganfall führen würden.
Am anderen Ende der Leitung herrschte ebenfalls Stille. Im Hintergrund hörte ich meinen Vater leise sprechen, konnte aber nicht verstehen, was er sagte.
Meine Mutter setzte wieder an: »Leona, du bist unsere einzige Tochter. Uns ist es sehr wichtig, dass du in unsere Fußstapfen trittst. Wer sonst käme denn in Frage? Ohne unseren Namen? Weißt du, dein Urgroßvater …«
Stille.
Ich hatte aufgelegt und mein Telefon ausgeschaltet.
Ich wusste, wie der Satz geendet hätte. Mein Urgroßvater hatte das Möbelgeschäft, das für meine Eltern mehr leiblicher Nachkomme war als ich, gegründet und zum Erfolg geführt. Mein verstorbener Opa hatte es weitergeführt, bis meine Eltern es in ihren Dreißigern übernommen hatten. Nun war also ich dran, die logische Nachfolge. Das Problem war: Ich hasste alles an dieser Vorstellung. Ich hatte keinerlei Interesse an Möbeln, keinerlei Interesse an einem Job, in dem ich zwölf Stunden täglich Tische, Stühle und Wandschränke an irgendwelche Menschen verkaufen sollte, und vor allem nicht an einer Kanzlerdemokratie mit mir in der Position des Bundespräsidenten. Ich wäre auf dem Papier zwar die Geschäftsführerin und Inhaberin gewesen, aber ich kannte meine Eltern – niemals hätten sie mich schalten und walten lassen, wie ich es für richtig hielt.
Nach dem Beenden des Gespräches fühlte ich mich elend und schuldig. Wie immer. Also griff ich erneut zum Telefon, schaltete es wieder an und rief meine Mutter zurück. Ebenfalls wie immer.
»Leona.«
»Mama, ich wollte dich nicht abwürgen. Aber mir wird das einfach zu viel. Wir haben nur dieses eine Thema. Ihr wisst, was ich wirklich mit meinem Leben tun möchte, doch ihr wollt es einfach nicht akzeptieren.«
»Als Ärztin nach Afrika gehen? Was denkst du, wie lange du dort überlebst? Hast du mal die Kriminalitätsstatistiken gesehen? Da geht es zu wie in den Slums von Rio. Bei uns hast du ein erfolgreiches Unternehmen, mit Stammkunden, mit einem Ruf, mit Prestige. Ich verstehe dich nicht. Wirklich nicht.«
Pause.
Statt meine Antwort abzuwarten, kündigte meine Mutter ihren Besuch an und fragte, ob ich etwas aus dem Supermarkt bräuchte.
Ich gab mich geschlagen und antwortete: »Nein danke, dann bis gleich.«
Ich ließ mich in den Sessel zurückfallen und legte das Kinn auf die Brust. Ich fühlte mich ohnmächtig. Nach fünfzehn Minuten klingelte es. Langsam stand ich auf und schlurfte in meinen Hausschuhen zur Tür.
Meine Mutter begrüßte mich tadellos zurechtgemacht, im Designerkleid mit exklusiver Handtasche und perfektem Make-up.
»Schatz, wie siehst du denn aus? Was, wenn deine Nachbarn dich so sehen!« Entsetzt zeigte sie auf meine kurze Schlafhose und die pinken Pantoffeln mit Fellbesatz. Ich nickte mit einem gezwungenen Lächeln und wies sie mit einer einladenden Handbewegung an mir vorbei ins Haus.
Mein Vater, wie immer im feinen Anzug, umarmte mich und gab mir einen Kuss auf die Wange. Er sagte nichts zu meinem Outfit. Er war generell eher ruhig. In der Beziehung meiner Eltern war meine Mutter eindeutig die Bundeskanzlerin.
Ich schloss die Haustür hinter den beiden und sah, wie meine Mutter in der Küche an der Kaffeemaschine hantierte. »Das ist so ein tolles Haus, Leona. Albert, schau mal. Diese Aufteilung. Wunderschön. Das hat der Thomas ganz toll hinbekommen. Und wie ist ihm das gelungen? Weil er sich auf sein Geschäft konzentriert und sich nicht mit Albernheiten abgibt. Er ist strebsam und erfolgreich. Du könntest dir ruhig mal etwas von ihm abschauen, Leona«, sagte sie und strich sich eine gefärbte Haarsträhne hinters Ohr. Ich schwieg und nickte. Wir setzten uns an den großen Esstisch. Meine Eltern auf die eine Seite und ich gegenüber. Wie vor Gericht. Das entsprach genau meinem Gefühl bei diesen Besuchen. Angeklagt und doch unschuldig. Meine Mutter schaute mich erwartungsvoll an.
»Ja?«, fragte ich, sichtlich genervt.
Meine Mutter schloss die Augen und holte tief Luft, um mit einem Stöhnen durch den Mund auszuatmen, und sagte dann: »Dein Vater und ich haben uns Gedanken gemacht. Wir glauben, dass du deine Vergangenheit noch nicht verarbeitet hast. Richtig, Albert?« Sie schaute ihn mit erwartungsvollem Blick an und hob die Augenbrauen, um das Zepter der Gesprächsführung an meinen Vater zu übergeben.
Mein Vater war ein sehr geduldiger und offener Mensch, und für ihn hatte der Familienfrieden immer oberste Priorität.
»Leona, wir haben dir für heute einen Termin bei Frau Dr. Menger gemacht und möchten, dass du ihn wahrnimmst. Du kennst ja …«
»Papa!«, unterbrach ich ihn. »Ich war drei Jahre lang bei Frau Dr. Menger, als es mir damals so schlecht ging. Das ist vorbei. Ich bin heute ein anderer Mensch. Ich möchte keine Therapie machen, ich möchte einfach ein eigenes Leben.«
Meine Mutter sah mich mit versteinerter Miene an und sagte: »Ich möchte auch so vieles nicht, trotzdem muss es getan werden. So geht es jedenfalls nicht weiter mit dir. Jede andere Tochter würde sich reißen um so eine solche Möglichkeit, wie wir sie dir seit Jahren anbieten.«
»Ich bin halt nicht jede andere Tochter, Mama«, erwiderte ich erbost. »Ihr wisst doch, was ich machen möchte, und ich wünsche mir nichts mehr als eure Zustimmung dazu. Ihr seid mir sehr wichtig, und ich möchte nicht, dass wir uns zerstreiten oder den Kontakt verlieren. Nur deshalb bin ich immer noch hier, aus keinem anderen Grund. Aber ich will euer Möbelgeschäft einfach nicht fortführen, und es macht es nicht besser, wenn ihr mich wieder und wieder dazu drängen wollt. Seht doch endlich ein, dass ich mir etwas anderes wünsche für mein Leben!«
Mein Vater schaute an mir vorbei in die Küche. Meine Mutter fixierte mich mit strengem Blick. Plötzlich stand sie auf, nahm ihre Handtasche vom Boden, zog einen kleinen Zettel heraus und schlug ihn mit der flachen Hand auf den Esstisch. Dann packte sie meinen Vater am Ellbogen, und die beiden verließen wortlos das Haus.
Ich blieb allein zurück, wieder einmal, und wieder einmal kullerten mir die Tränen über die Wangen. Warum ließ es meine Eltern so kalt, welche Träume ich hatte, welches Leben ich führen wollte?
Manchmal wünschte ich mir, ich hätte nicht dieses so starke Bedürfnis gehabt, es meinen Eltern recht zu machen, mit ihnen in Harmonie zu leben. Ich spürte in mir diese Verpflichtung, eine »gute« Tochter zu sein. Ich wollte, dass sie stolz auf mich waren. Ich wollte ihre Anerkennung und ihre Aufmerksamkeit.
Nach einer Weile zog ich den kleinen Zettel auf dem Esstisch langsam zu mir rüber. Darauf war das Logo einer Praxis zu sehen. »Dr. med. Katharina Menger – Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie« stand in geschwungener Schrift darunter. Auf den drei kleinen Linien weiter unten stand das Datum vom heutigen Tage und Leona, 14:30 Uhr. Ich starrte die Karte an.
Vor vier Jahren war ich dort in Behandlung gewesen. Nachdem mir meine Eltern klargemacht hatten, dass ich für ein Medizinstudium keinesfalls ihre Unterstützung haben würde, und auch von meinem Mann keinerlei Hilfe diesbezüglich zu erwarten war, war ich immer tiefer in meinen Kummer versunken. Ich war nicht mehr ausgegangen, hatte mich nicht mehr verabredet, und nach und nach hatten sich auch meine Freunde immer mehr zurückgezogen. Zutiefst enttäuscht von der Welt und vor allem von meiner Familie hatte ich irgendwann allen Lebensmut verloren. Einem aufmerksamen Passanten, der mich von den Bahnschienen am Ortsrand zog, ist es zu verdanken, dass ich heute noch am Leben bin.
Was dann folgte, war die schlimmste Zeit meines Lebens. Für meine Umwelt war ich nur noch die Verrückte, die sich umbringen wollte. Die wenigen Freunde und Bekannte, die mir noch geblieben waren, mieden mich nun auch. In einem kleinen Vorort spricht sich ein derartiger Vorfall schnell herum, und ich merkte, dass niemand etwas mit mir zu tun haben wollte. Die Psychologin, Frau Dr. Menger, hat mir in dieser Zeit sehr geholfen, die Geschehnisse nachzuvollziehen und einzuordnen. Ich hatte mich so bedrängt und ausgenutzt gefühlt, dass ich keinen anderen Ausweg mehr gesehen hatte.
In vielen, für mich mühsamen Stunden hatte Frau Dr. Menger versucht, mir klarzumachen, dass es okay war, am Ende zu sein. Dass ich das Recht hatte, mich enttäuscht und verletzt zu fühlen.
Ich frage mich oft, was wohl gewesen wäre, wenn der Passant an diesem Abend nicht mit seinem Hund an den Bahnschienen entlanggelaufen wäre. War es Schicksal, dass er dort war? War es Zufall? Oder einfach Glück? War es im Endeffekt gut so, oder hätte es besser vorbei sein sollen?
Seit diesem Vorfall war ich jedenfalls nicht mehr dieselbe. Früher, in der Schule, war ich ein fröhliches und aufgeschlossenes Mädchen gewesen, hatte viele Freundinnen und Freunde gehabt. Meine Lehrer hatten mir schon in der Grundschule ein ausgeprägtes Sozialverhalten und einen aufopferungsvollen Einsatz für andere attestiert. Ich war gern in die Schule gegangen, hatte mein Abitur mit Bestnote bestanden und war voller Vorfreude auf das gewesen, was kommen sollte. Das Medizinstudium. Mein Umzug nach Afrika. So weit mein Plan. Doch er war nicht aufgegangen.
Erschöpft von den quälenden Gedanken an meine Vergangenheit und an das Gespräch mit meinen Eltern nahm ich den kleinen Terminzettel, hängte ihn an den Kühlschrank und beschloss, den Termin wahrzunehmen. Da ich noch etwas Zeit hatte, erledigte ich den Hausputz, zog mich um und rief Benny für einen Spaziergang zu mir. Aufgeregt kam er aus seinem Spiel- und Essbereich im hinteren Teil des Hauses angerannt und sprang an mir hoch, sodass seine Pfoten auf meinen Schultern lagen. Ich musste lachen. Diese Momente, wenn Benny mir so vorbehaltlos seine Zuneigung zeigte, waren die einzigen, die mich ein wenig Freude und Glück empfinden ließen.
Unser Haus lag direkt an einem großen Waldgebiet, das einen See in der Mitte hatte. Dort machten Benny und ich unsere tägliche Runde. Auf dem schmalen Pfad in den Wald hinein hielt ich nach Tess, meiner Nachbarin und Freundin, Ausschau. Sie lief täglich dieselbe Route mit ihrem Mops, und da wir einen ähnlichen Rhythmus hatten, trafen wir uns häufig beim Spaziergang. Tess war mein großes Glück. Die Einzige, mit der ich über alles reden konnte und von der ich mich nie verurteilt gefühlt hatte. Meine einzige Freundin. Sie wusste alles. Über meinen Mann, der nie da war. Über meine Eltern, die mir selbstsüchtig und rücksichtslos ihr Möbelgeschäft aufdrängen wollten, und auch über meinen Suizidversuch.
»Leona, huhu«, schallte es aus einiger Entfernung. Tess lief strahlend auf mich zu und umarmte mich lange. Ich drückte sie ganz fest an mich. Sie schien immer zu spüren, wie es mir ging.
»Erzähl mal, Schatz, wie war dein Tag bisher?«, fragte sie.
Ich warf ihr einen Blick zu, der unter Freundinnen nicht misszuverstehen ist.
»So schlimm?«, fragte sie. »Thomas oder deine Eltern?«
Wir setzten uns langsam in Bewegung und liefen tiefer in den Wald hinein.
Ich antwortete: »Wie immer beides, Tess. Ich halte es kaum noch aus. Heute kam meine Mutter und hat doch tatsächlich einen Termin bei meiner alten Psychologin für mich gemacht. Als wäre ich vierzehn!« Ich schaute Tess auffordernd an.
»Oh Mann, Leona, das würde mich auch stören, wenn man mich bevormunden würde. Sorgt sie sich jetzt plötzlich um dich, oder was?«
Ich musste laut und verächtlich lachen: »Im Leben nicht. Sie und mein Vater haben einen Notartermin vereinbart, um mir das Geschäft zu überschreiben, und da ich, wie immer in den letzten Jahren, meinen ausdrücklichen Unwillen diesbezüglich kundgetan habe, versuchen sie es nun auf diesem Weg. Na ja, ich werde wohl trotzdem hingehen. Ich sehe es als Chance. Vielleicht kann mir Frau Dr. Menger erklären, wie ich mit dieser Situation umgehen kann. Denn ich bin wirklich ratlos. Ich will weder meine Eltern noch Thomas enttäuschen, und dennoch tue ich es.«
Tess blieb kurz stehen, hielt mich sanft an der Schulter fest und sah mir in die Augen.
»Leona, es ist dein Leben. Nur du solltest entscheiden, was du machst, warum du es machst und wie du es machst. Aber ich finde es gut, dass du die Hilfe in Anspruch nimmst. Es zeugt von Stärke, anzuerkennen, dass es andere Menschen gibt, die durchaus in der Lage sind, einem zu helfen.« Sie nahm mich fest in den Arm.
Mir kullerte eine Träne die Wange herunter. Ich war unendlich froh, trotz allem noch einen Menschen wie Tess in meinem Leben zu haben. Wir liefen eine große Runde um den See und sahen den Hunden dabei zu, wie sie miteinander spielten und kämpften. Es war angenehmes Frühlingswetter, und die Sonne schien durch die zarten Laubkronen. Augenblicke wie diese genoss ich sehr, gaben sie mir doch für einen kurzen Moment ein Gefühl von Glück und Geborgenheit.
Zum Abschied flüsterte Tess mir ins Ohr: »Ruf mich heute Abend an und erzähl mir alles. Bleib stark, Leona.«
Zurück am Haus, traf ich unseren Briefträger, der mir die Tagespost in die Hand drückte und mir einen schönen Tag wünschte. Wir bekamen sehr viel Post. Na ja, Thomas bekam sehr viel Post. Ich sortierte die Briefe in der Hand. Anwalt, Hotelrechnungen, Schreiben von der Stadt und vom Sportverein. Für mich war mal wieder nichts dabei. Ich legte die Post vor Thomas’ Bürotür und zog mich für den Termin bei der Psychologin um. Jeans und T-Shirt sollten okay sein, dachte ich mir, legte den Terminzettel in meine Handtasche und verließ das Haus. Nach fünfundzwanzig Minuten Autofahrt kam ich bei der Praxis an. Als ich die vertraute Einfahrt zum Hinterhof sah, die engen Parkplätze, die drei Stufen bis zum Hintereingang, kamen schlagartig die Erinnerungen an damals zurück. Ein Gefühl der Beklemmung stieg in mir hoch. Damals hatte Tess mich gefahren, da ich nicht in der Lage dazu gewesen war.
Ich öffnete die Eingangstür und trat ins Foyer. Die Praxis war schön. Sie lag in einem Altbau mit hohen Wänden und Stuck an der Decke. Eine Arzthelferin begrüßte mich, und ich zeigte ihr meine Terminkarte. Sie bat mich, kurz im Aufenthaltsraum Platz zu nehmen. Dort saßen zwei weitere Personen. Ein älterer Herr, ich schätzte ihn auf ungefähr siebzig, sah mich durchdringend an. Er fixierte mich regelrecht mit seinem Blick. Ich war ein Mensch, der umgeben von vielen Vorurteilen aufgewachsen ist, doch ich distanzierte mich immer mehr davon. Also versuchte ich auch hier, den Mann nicht gleich abzuwerten, fühlte mich aber dennoch unwohl. Auf mich wirkte er verrückt, wie er mich da so schweigend anstarrte. Ich nahm mir eine Zeitung von dem kleinen Beistelltisch und hoffte, dass diese unangenehme Situation schnell enden würde. Nach einigen Momenten schaute ich auf und sah, wie er nun den Herrn neben sich anstarrte. Einerseits war ich erleichtert, dass seine eindringlichen Blicke anscheinend nichts mit meiner Person zu tun hatten, auf der anderen Seite aber fragte ich mich, warum ich im selben Raum mit so einer Person saß. War ich so am Ende? War ich geistesgestört? Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, stand die freundliche Arzthelferin in der Tür und signalisierte mir mit einem Nicken, dass ich nun an der Reihe wäre.
Sie führte mich in einen hübsch eingerichteten Praxisraum, den ich bei meinen ersten Sitzungen nicht gesehen hatte. In einem Sessel saß Frau Dr. Menger mit übergeschlagenen Beinen. Sie trug einen langen schwarzen Rock und eine hochgeschlossene Bluse mit floralem Muster. Mir gefiel ihr Kleidungsstil sehr. Sie lächelte mich an und deutete mit der Hand auf den Sessel schräg neben sich. Ich setzte mich, stellte meine Handtasche auf meinen Schoß und hielt sie mit beiden Händen fest.
»Leona, es freut mich sehr, Sie zu sehen. Sie sehen richtig gut aus.«
»Danke, Frau Doktor, den Termin haben meine Eltern gemacht«, antwortete ich etwas nervös.
»Ihre Mutter. Ja genau«, erwiderte Frau Dr. Menger und fragte dann: »Warum sind Sie heute hier, Leona?«
Etwas verwirrt blickte ich sie an: »Na ja, meine Mutter hat diesen Termin gemacht.«
Frau Dr. Menger lächelte: »Das stimmt. Die Entscheidung zu kommen lag aber bei Ihnen. Sie sind jetzt vierundzwanzig Jahre alt, richtig? Unser letztes Gespräch ist ja schon eine Weile her. Erzählen Sie mal, wie geht es Ihnen?« Sie nahm ihre Brille ab, hielt sie am Rahmen in der linken Hand und schaute mich an. Sehr freundlich und offen. Ich mochte Frau Dr. Menger und fühlte mich wohl in ihrer Gegenwart. Dennoch bereitete mir der Anlass unseres Treffens ein ungutes Gefühl.
»Es ist alles wie immer. Leider. Mein Mann ist nie da. Sportverein, Restaurant, Konferenzen, Meetings, irgendwelche Geschäftsreisen … Meine Eltern setzen mir die Pistole auf die Brust. Beinahe täglich kommen sie mit der Forderung, dass ich ihr Geschäft übernehmen soll. Ich ertrage es nicht mehr. Ich möchte einfach keine Möbel verkaufen, doch das verstehen sie nicht. Oder besser – sie lassen es nicht gelten. Das einzig Gute sind meine Freundin Tess und mein Hund Benny. Ohne die beiden, ich weiß auch nicht, dann wäre ich… «
Frau Dr. Menger unterbrach mich mit einem Räuspern.
»Das sind tatsächlich dieselben Themen wie damals. Was hält Sie davon ab – nach diesen unzähligen misslungenen Klärungsversuchen –, den Kontakt zu Ihren Eltern zu beenden?«
»Das möchte ich nicht!«, rief ich entschlossen, kaum hatte sie ihren Satz beendet. »Es sind doch meine Eltern! Ich kann sie nicht enttäuschen. Und sie verstehen sich so gut mit Thomas – wenigstens das habe ich in ihren Augen richtig gemacht.«
Frau Dr. Menger setzte ihre Brille wieder auf, öffnete ihr Notizbuch und schrieb einige wenige Wörter hinein, bevor sie es zuklappte und beiseitelegte.
War es das jetzt? Diagnose: nicht behandelbar? Ich merkte, wie leichte Unruhe in mir hochstieg.
Frau Dr. Menger sah mich einige Sekunden lang an und fragte dann: »Leona, wen enttäuschen Sie denn?«
Ich verstand die Frage nicht. Das hatte ich ihr doch gerade gesagt.
»Ich enttäusche meine Eltern, weil ich in ihren Augen einen gefährlichen Beruf ohne finanzielle Sicherheit ausüben möchte. Und noch mehr enttäusche ich sie, indem ich ihren ach so tollen Namen nicht als Inhaberin des Möbelgeschäftes fortführen möchte. Thomas enttäusche ich ebenfalls, weil er sich darauf verlässt, dass ich zuhause bleibe, mich um das Haus kümmere und irgendwann einmal um die Kinder, die wir geplant haben. Also ich enttäusche alle, wenn ich tue, was ich möchte.«
Frau Dr. Menger blickte mich an und sagte lächelnd: »Kinder haben Sie auch geplant? Das ist ja wundervoll.«
Ich antwortete: »Er hat sie geplant. Ich möchte auch Kinder haben, definitiv. Nur bin ich mir mittlerweile nicht mehr sicher, ob er der Richtige dafür ist. Ob er ein guter Vater sein wird. Er ist doch nie da. Tut mir leid, das war jetzt sehr privat.«
»Dafür sind Sie hier, Leona. Sie können in diesem Raum über alles sprechen. Niemand verurteilt Sie, und niemand richtet über Sie. Haben Sie Ihrem Mann von Ihren Bedenken erzählt?«
»Nein, das geht nicht. Ich will mich nicht schon wieder mit ihm streiten und mir anhören müssen, nicht hinter ihm und seiner Arbeit zu stehen. Also behalte ich es lieber für mich.«
Frau Dr. Menger nickte mehrmals hintereinander und blickte mich mit großen Augen an. Dann sagte sie: »Sie sagten, Sie enttäuschen Ihre Eltern und Ihren Mann. Wen enttäuschen Sie noch?« Ihr Blick fixierte mich, und sie wirkte, als warte sie mit Spannung auf meine Antwort. Mir fiel aber keine ein. Ich blickte mich suchend in den großen Raum um und zuckte leicht mit den Schultern.
Frau Dr. Menger nahm erneut ihre Brille ab, drehte ihren Sessel in meine Richtung und saß mir nun direkt gegenüber.
Sie sagte: »Eine Person haben Sie vergessen, Leona: Sie enttäuschen allen voran sich selbst. Das, was Sie möchten. Ihren Traum, als Ärztin in Afrika zu arbeiten. Was ich im Übrigen für ein wundervolles Ziel halte. Sind Ihre Wünsche, Ihre Bedürfnisse und Ihre Sehnsüchte weniger wert als die Ihrer Mitmenschen? Lassen Sie sich von einem Mann, der nie zuhause ist, der keine Zeit für Sie findet, fremdbestimmen? Lassen Sie sich von Ihren Eltern sagen, wie Ihre Zukunft aussehen soll? Was ist, wenn es Ihre Eltern in einigen Jahren nicht mehr gibt? Wer wird dann die Kontrolle über Ihr Leben übernehmen? Der für Sie wichtigste Mensch müssen Sie selbst sein. Wenn Sie nicht glücklich sind, werden Sie keinen anderen Menschen glücklich machen können. Wenn Sie sich selbst nicht die Erlaubnis geben können, alles zu tun, was Sie möchten, werden Sie aus diesem Teufelskreis nicht mehr herauskommen.«
Frau Dr. Menger sah, wie mir eine Träne nach der anderen die Wange hinunterlief, und reichte mir eine Box mit Taschentüchern.
Sie erhob sich aus ihrem Sessel, stellte sich neben mich und hielt mich mit beiden Händen an den Schultern fest. Dabei sprach sie kein Wort.
Als ich mich etwas gefangen hatte, schniefte ich: »Thomas muss nun mal viel arbeiten. Er hat einfach keine Zeit. Und meine Eltern meinen es ja auch nicht böse.«
Frau Dr. Menger antwortete: »Nein, sie meinen es nicht böse. Aber auch gutgemeinte Ratschläge können Sie auf den falschen Weg bringen. Und Ihr Mann hat natürlich Zeit. Das lasse ich nie als Ausrede durchgehen. Es tut mir leid, das so schonungslos zu sagen, aber wenn Sie ihm wirklich wichtig wären, würde er sich die Zeit einfach nehmen. Er setzt Prioritäten, und so bitter es erscheinen mag, zieht er seine Arbeit Ihnen vor. Im Umkehrschluss bedeutet es aber auch, dass Sie sich das klar vor Augen führen und für sich Konsequenzen daraus ziehen können.«
Auch wenn es sehr weh tat, ich spürte, dass sie recht hatte.
»Was soll ich nur tun?«, fragte ich mit flehendem Blick. Ich fühlte mich völlig hilflos. Wenn ich mit Thomas darüber reden würde, wäre er unfassbar wütend, und unsere Beziehung würde noch weiter kaputtgehen. Und meinen Eltern verständlich zu machen, dass ich ihren Laden unter keinen Umständen fortführen wurde, schien mir einfach nicht möglich, ohne sie ganz zu verlieren. Ich hatte es doch schon so oft versucht.
Frau Dr. Menger lief durch den Raum bis zur entgegengesetzten Wand und nahm einen Bilderrahmen aus dem Regal. Damit kam sie zurück zu unseren Sesseln. Sie gab mir den Rahmen in die Hand und nickte leicht. Ich sah mir das Bild darin an. Es war ein Foto, auf dem augenscheinlich sie selbst in jungen Jahren zu sehen war. Neben ihr stand ein Mönch in einem dunkelroten Gewand, deutlich kleiner als sie selbst. Ich schaute fragend zu ihr hoch.
»Ich denke wirklich, dass dies das Richtige für Sie ist, Leona.«
Ich erwiderte ironisch: »Soll ich Nonne werden und mich vor meinen Problemen in einem Kloster verstecken?« Sie muss mir meine Skepsis angesehen haben.
Frau Dr. Menger ließ sich in ihren Sessel zurückfallen und sagte: »Im Gegenteil. Ich bin der Meinung, dass Sie Ihre Probleme dort lösen werden. Dieses Bild entstand vor knapp vierzig Jahren in Tibet. Es muss nicht Tibet und der Himalaya sein. Wichtig ist, dass Sie sofort aus Ihrer Umgebung herauskommen. Sie brauchen ein neues Setting, um die Dinge aus einem anderen Blickwinkel sehen zu können. Sie brauchen Abstand. Sie brauchen andere Menschen um sich herum. Sie sind festgefahren und sehen keinen Ausweg aus dieser Situation. Und das ist verständlich. Mir fiel sofort Tibet ein, da ich als Studentin dort war, und ich versichere Ihnen, dass ich bis heute von den Erfahrungen und Erlebnissen dort profitiere. Ich baue sie sogar manchmal in meine Arbeit mit ein. Dort ist es mit einem Wort: atemberaubend. Nicht nur die Landschaft, die für mich zu den schönsten dieser Erde zählt, auch die Menschen, die Kultur, die Ruhe sind es. Die Menschen dort haben eine Sichtweise auf viele Dinge, die so einleuchtend ist und uns in der westlichen Welt doch oft so fern scheint.«
Ich war sprachlos. Ich wusste buchstäblich nicht, was ich sagen sollte. Ihre Ausführungen waren so jenseits von allem, was ich von dieser Sitzung erwartet hatte.
Frau Dr. Menger ließ mich eine Weile schweigend in meinem Sessel sitzen und sagte dann: »Das müssen Sie nicht heute entscheiden, Leona. Ich bin mir aber sicher, dass dies für Sie der beste und vielleicht auch der einzige Weg in ein selbstbestimmtes Leben ist. Raus aus der gewohnten Umgebung. Ihre Gewohnheiten und Ängste zurücklassen. Wenn Sie für sich entscheiden, dass Sie die Bestimmerin über Ihr Leben sein möchten, kann ich Ihnen guten Herzens nur dazu raten.«
In antwortete: »Meine Eltern werden doch durchdrehen, wenn ich jetzt weggehe. Und Thomas. Was ist mit Thomas? Wie soll ich ihm das erklären? Wie lange muss ich denn dortbleiben? Sie meinen nicht auswandern, oder?«