Die Frau von Tsiolkovsky - Harald Muellner - E-Book

Die Frau von Tsiolkovsky E-Book

Harald Muellner

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Beschreibung

Unter strengster Geheimhaltung schickte die amerikanische Weltraumbehörde noch eine letzte bemannte Mission auf den Erdtrabanten – gefährlicher und risikoreicher als alle vorangegangenen -, zum Tsiolkovskykrater auf die erdabgewandte Seite des Mondes. Apollo 18 lautete das Rufzeichen der Mission, an Bord befanden sich drei Frauen. Doch die Weltöffentlichkeit erfuhr davon kein Sterbenswörtchen. 2092, über hundert Jahre später, findet der Journalist Robert in den Bibliotheken und Archiven keinerlei Beweise, die diese Geschichte bestätigten, die ihm der alte kauzige John während eines Marsflugs auftischt. Anstatt Roberts offene Fragen zu beantworten, füttert ihn John mit weiteren Verschwörungstheorien, die jede Menge neuer Fragen aufwerfen: Sollte die erste Frau auf dem Mars tatsächlich nicht die Frau gewesen sein, die als Erste den Mars betreten hatte? Sollte es ein abgekartetes Spiel gewesen sein, ein ausgemachter Schwindel, ein Täuschungsmanöver globalen Ausmaßes? Robert möchte schon an die Unzurechnungsfähigkeit des alten Herrn glauben, doch dafür sind dessen Schilderungen viel zu präzise. — »Der Roman gipfelt in einem emotionalen Feuerwerk, das den Leser nochmals verblüfft, und nach dem Epilog in eine versöhnliche, angenehm-sentimentale Stimmung entlässt, die bei mir noch lange Zeit nachwirkte.« —Erik Bauer

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Harald Muellner

Die Frau von Tsiolkovsky

Roman

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Epilog

Impressum

Widmung

Für meine Großväter, jenseits von Zeit und Raum

Vorwort

Bisher waren es meist Männer, die Grenzen überschritten, in Raketen flogen oder auf anderen Himmelskörpern landeten. Doch wie würde es in nicht allzu ferner Zukunft aussehen, wenn Frauen das Ruder, oder besser gesagt, die Computersteuerung übernehmen würden, um den Mars zu erobern?

Der Autor, seines Zeichens Techniker, Maler und Fotograf hat mit seinem zweiten Roman eine durchgehend witzige und spannende Geschichte vorgelegt, die den Spieß umdreht und Frauen im Weltall den Vortritt lässt.

Unvermittelt der Einstieg, verschwörerisch der Rahmen – gab es tatsächlich einen Flug Apollo 18 zum Mond? – und völlig überraschend der Schluss; das Buch hält in Atem und macht letztlich süchtig. Ich habe es in einem durchgelesen.

Seien wir also gespannt und lassen uns überraschen, wann sie wirklich passiert – diese erste bemannte Mission zum Mars – und wer dabei an Bord sein wird.

In diesem Sinne: Ad astra!

Erik Bauer

Kapitel 1

Robert Zubrin, 2092

»Sie wollen mir aber nicht allen Ernstes einreden, dass sich neunzehnhundertdreiundsiebzig die Frauen tatsächlich so klischeehaft verhielten, wie Sie es mir gerade geschildert haben? Das nehme ich Ihnen nicht ab. Abgesehen davon hört sich die Geschichte doch ziemlich … fantastisch an.« Robert betrachtete sein Gegenüber mit einer Mischung aus Skepsis und Interesse.

»Schauen Sie, ich habe bloß meiner Fantasie die Zügel etwas locker gelassen und Ihnen, wie Sie richtig bemerkten, bilderreich, klischeehaft und übertrieben – damit auch Sie in der Lage sind, der Handlung folgen zu können – eine Geschichte erzählt, wie Apollo 18 ausgesehen haben könnte. Drei Frauen in einem Raumschiff auf dem Weg zum Mond. Können Sie sich das vorstellen? Glauben Sie, dass es tatsächlich passiert sein könnte? Ein Apollo 18?«

Robert zog die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen. »Ich weiß nicht«, sagte er und fragte sich, was an der Handlung wohl so schwer zu verstehen gewesen sei. Unsicher rutschte er auf seinem Sitz vor und zurück. »Nach den Nachrichten heute weiß ich überhaupt nicht mehr, was ich glauben soll. Wissen Sie, ich finde es seltsam, dass man beinahe …«, er begann im Kopf Zahlen zu addieren, »hundertzwanzig Jahre nichts diesbezüglich gehört hat und dann taucht ohne Vorwarnung eine junge Frau auf, die behauptet, ihre Ur-Urgroßmutter sei die Kommandantin von Apollo 18 gewesen. – Andererseits …«

»Andererseits?«

»… wenn die Ur-Urgroßmutter wirklich von der Sorte Frau war, wie Sie sie gerade geschildert haben, kann ich nur zu gut verstehen, warum die Nachfahren erst so viele Jahrzehnte später damit herausrücken.« Robert lachte.

Der Alte verzog keine Miene.

»Ich weiß nicht. – Die achtzehn wurde doch damals gestrichen, wenn ich richtig informiert bin, gemeinsam mit neunzehn und zwanzig.«

»Um Apollo 18 rankten sich doch bereits ab dem Tag Mythen, an dem die Nasa das Programm damals völlig überhastet eingestellt hat. Der Grund für diese Mystifizierung war ebenso einleuchtend wie einfach. Viele weigerten sich zu glauben, die Verantwortlichen bei der Raumfahrtbehörde könnten so dämlich sein, drei – stellen Sie sich das einmal vor –, drei brandneue Saturn V Raketen auf der Erde verrosten zu lassen, statt sie zum Einsatz zu bringen.«

»Das spräche schon sehr gegen den gesunden Menschenverstand.« Robert betrachtete den Alten, dessen faltige Haut aussah wie die bizarre Canyon-Landschaft eines Exo-Planeten.

»Genau mein Gedanke! Und vermutlich war ich mit diesen Überlegungen nicht die einzige skeptische Person auf dem Planeten. Wo hätte sonst diese ungeheure Anzahl an fantastischen Mutmaßungen und Theorien über Apollo 18 ihren Ursprung? Kommt noch die Verschwendung von Steuergeldern dazu. Das muss damals ein Riesenthema gewesen sein. Aber nachdem die Steuerzahler, die die drei sinnlos produzierten Raketen finanziert haben, nun schon lange im übersäuerten Boden der Erde ruhen, soll uns das heute nicht mehr weiter berühren. Die Nasa stand ohnehin stets in dem Ruf, mit den Steuergeldern der US-Bürger relativ großzügig umzugehen.« Er nahm einen Schluck von seinem Tee. »Darum hofften ja auch viele, dass es nicht den Tatsachen entspräche, dass die drei letzten noch verbliebenen Saturn Trägerraketen ihre Ruhestätten in irgendwelchen Raumfahrtzentren gefunden hatten, wo sie von Touristenaugen bestaunt wurden, die eine Mondrakete nicht von einem Unterseeboot unterscheiden konnten.« Selbstzufriedenheit schimmerte durch das Lächeln des Alten.

Robert schickte seine Fantasie auf Reisen. Er versuchte sich gerade vorzustellen, wie ein U-Boot anno neunzehnhundertsiebzig wohl ausgesehen haben mochte. »Wäre das wirklich möglich?« Robert gab der Kellnerin mit einem Wink zu verstehen, dass er noch ein Bier bestellen wollte.

Sie jedoch schien seine ruckartigen Bewegungen mit den Armen nicht deuten zu können. Schwungvoll, ihr schulterlanges Haar hinter sich herziehend wie einen Kometenschweif, steuerte sie mit Kellnerinnentablett und entwaffnendem Lächeln auf ihn zu.

Robert war irritiert. Selbstbewusste Frauen hatten schon immer etwas Einschüchterndes. Instinktiv fuhr er sein Schutzschild hoch und verschränkte die Arme vor der Brust. War sein Kommunikationsversuch in interplanetarer Zeichensprache, alkoholische Getränke betreffend, nicht eindeutig gewesen? Aber das schien ihm ganz and gar unmöglich. Vermutlich war die Bedienung noch nicht lange im Job und musste sich erst auf die Gepflogenheiten der Gäste einstellen. Mit einem tiefen Seufzer wollte er gerade seinem Unmut über ihre Unbeholfenheit Luft machen, als sich seine Augen an ihren geschmeidigen Bewegungen in dem ultrakurzen, polarisierenden Synthetikstoff festsaugten und nicht mehr dazu zu bewegen waren, etwas anderes zu sehen. Sein Seufzer misslang und die dafür vorrätig gehaltene Luft machte sich in einem Stöhnen bemerkbar, an dem man einen Junggesellen, dessen letzte Beziehung eher Jahre als Monate zurücklag, eindeutig identifizieren konnte.

»Wäre das wirklich möglich? Sie machen mir Spaß! – Hören Sie mir überhaupt zu?« Der Alte versuchte mit seinen Händen die wenigen verbliebenen Haare, die sich locker hinter beiden Ohren gruppierten, zu bändigen.

Die Kellnerin trat vor Robert. »Was darf ich Ihnen bringen?«

»Ein Bier«, sagte Robert verdattert, um gleich noch ein verlorenes »bitte« anzufügen.

»Für mich bitte noch einen Tee«, setzte der Alte hinzu.

»Was war das für einer? Yogi?«

Der Alte nickte.

»Gerne.« Gekonnt machte sie auf den schwindelerregenden Absätzen kehrt.

Dem metronomen Wogen ihrer Hüften galt Roberts ganze Aufmerksamkeit. Er wollte, es möge sich bis an die Grenzen des Universums fortsetzen, doch bald schon setzte die unromantische Barriere der Bar seinem Wunsch ein allzu jähes Ende. »Wo waren wir?«

»Wo Ihre Gedanken gerade waren, weiß ich nicht. Ich denke aber, ich kann’s mir lebhaft vorstellen, junger Freund. Und dazu muss ich nicht mal meine Fantasie strapazieren. Ich ...«, er legte eine eigenwillge Betonung auf das Wort, »war gerade bei Apollo 18.« Seine buschigen Augenbrauen schienen den tadelnden Blick noch zu unterstreichen.

»Richtig.«

»Sie sind der Journalist. Ihre Berufsgruppe ist es doch, die immer wieder – manchmal sehr wider den gesunden Menschenverstand – Geschichten ans Licht bringt, von denen ich mich frage, ob diese wirklich passiert sind. Und wenn ja, wie diese in der Realität ausgesehen haben mögen, bevor sie einer eures Berufsstandes in die Finger bekam.«

Robert spürte ein Ziehen in seinem Magen. Ein sicheres Zeichen, dass er sich unsicher fühlte. Gleich darauf platzte auch noch die Verlegenheit zur Tür herein und überzog seine Wangen mit einem kräftigen Rot.

»Nehmen wir nur einmal an – rein hypothetisch natürlich –, dass die Geschichte um Apollo 18, die uns die Medien gerade schmackhaft machen wollen, tatsächlich stimmt. Nehmen wir weiters an, die Nasa hat es wirklich darauf angelegt, noch einen letzten Flug zum Mond zu unternehmen, einen, der anders sein sollte als alle anderen zuvor – interessanter, gefährlicher und wesentlich risikoreicher, als alles, was die Welt bis dato gesehen hatte. Nehmen wir weiters an, die Beteiligten schafften es, sämtliche damit verbundenen Fakten so geheim zu halten, dass bis zum heutigen Tag kein definitiver Beweis für diesen Flug und die angeblich damit verbundene erste Landung auf der erdabgewandten Seite des Mondes an die Öffentlichkeit drang.«

»Das wäre aber doch ziemlich fantastisch – oder nicht?« Robert kratzte seine Nase.

»Genau das ist die Frage, die es zu beantworten gilt. Theoretisch hätten sie den Start einer Saturn V als Skylab Mission tarnen und damit die drei Astronautinnen auf eine Trans-Lunar-Trajektorie – sprich zum Mond – schießen können.« Er betrachtete Robert, dessen schwarzes Haar widerspenstig und struppig von seinem Kopf abstand. – »Was ist denn mit einem Mal so komisch, junger Freund?«

Robert lachte laut auf, schnappte nach Luft, ehe er sich wieder beruhigte. »Es ist nur die Schlagzeile.«

»Welche Schlagzeile?«

»Die ich der Story geben würde: »Drei Frauen zum Mond geschossen. Ehemänner teilen sich die Kosten.« Tränen liefen über seine Wangen.

»Ihr jungen Leute habt schon einen eigenartigen Sinn für Humor. Und mir haben Sie vorhin unterstellt, ich denke in Klischees. Wir waren damals froh über jede Minute, die wir mit unseren Liebsten verbringen konnten. Hat sich das mittlerweile so dramatisch geändert? Zählt heute nur noch das narzisstische Individuum?«

Robert schwieg, tastete mit der linken Hand in seinen Nacken, als hoffte er dort etwas zu finden, das er schon lange Zeit vermisste.

»Wo war ich?«

Robert grinste nur.

»Ja. Zum Mond schießen war das Stichwort. Sagen wir auch, die Nasa schaffte es, das Training und die Anwesenheit von drei Frauen, vermutlich gab es aber auch noch eine Backup-Crew, also sagen wir von mindestens drei Frauen, vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Dann hätten sie noch zwei bis drei Satelliten im Mondorbit gebraucht, da anderenfalls die Besatzung, wenn sie einmal auf der erdfernen Seite des Erdtrabanten gelandet war, nicht mehr mit der Erde kommunizieren hätte können.«

»Warum das denn?«

»Überlegen Sie einmal logisch, junger Freund. Ich weiß, das ist, wenn ich mir die Berichterstattungen der letzten zwei, drei oder auch vier Jahrzehnte ansehe, in Journalistenkreisen nicht mehr sehr verbreitet und stellt vermutlich eine außergewöhnliche Belastung für Sie dar. Vermutlich wurden Sie auf der Uni auf eine Eventualität dieser Art auch gar nicht vorbereitet. Aber tun Sie einem alten Mann den Gefallen und versuchen Sie es zumindest.«

Robert stutzte. Ganz offensichtlich hatte der Alte ein Problem mit Journalisten. Wie sonst sollte er diese ständigen Seitenhiebe gegen seinen Berufsstand deuten? War das sein Ernst oder wollte er ihn bloß aus der Reserve locken, ihn verunsichern, lächerlich machen, als Idioten hinstellen? Konnte er Journalisten im Allgemeinen oder ihn im Besonderen nicht leiden? Doch warum sollte er, falls Letzteres zuträfe, überhaupt hier mit ihm sitzen und ihm Geschichten erzählen?

»Der Mond«, begann der Alte sachlich und unterbrach damit Roberts kreisende Gedanken, »kreist um die Erde. Logisch. Dabei weist immer dieselbe Seite des Mondes zur Erde. Landen wir nun auf der der Erde abgekehrten Seite, kann man die Erde von dort nicht sehen und ergo auch keine Funksignale zu den Bodenstationen schicken. Klar? Dazu benötigt man die Satelliten, als Zwischenstationen, die die Signale weiterleiten.«

»Sie gäben einen vorzüglichen Lehrer ab«, versuchte Robert zu schmeicheln. »Ich denke, ich verstehe das Prinzip.«

»Sehr schön«, schmunzelte der Alte und neigte den Kopf zur Seite. »Was die Saturn V auf der Erde betrifft, wäre es ein Leichtes gewesen, ein paar Stahlzylinder zusammenzuschweißen, diese mit viel Weiß und ein wenig Schwarz anzupinseln, und sie statt einem flugtüchtigen Original in irgendeinem Museum abzuliefern.«

»Hm?«, machte Robert.

»Glauben Sie’s nicht?«

»Ich weiß es nicht. Irgendwie sind mir zu viele Bedingungen an das Gelingen einer Vertuschungsaktion dieser Größenordnung geknüpft.«

»Ja, da stimme ich Ihnen zu. Aber bedenken Sie, an einen Mondflug sind nicht weniger Bedingungen geknüpft, die alle – ausnahmslos alle – erfüllt sein müssen, damit Sie überhaupt eine lebend zurückkehrende Crew haben, die Sie feiern können.«

Schon den ganzen Abend hatte Robert die Kellnerin im Verdacht, dass sie mit ihm kokettierte. Ständig lief sie an ihm vorbei, obwohl dies gar nicht der kürzeste Weg zu den Tischen der Gäste war. Sein Bier hatte er zwar erst zur Hälfte ausgetrunken, doch konnte er der Verlockung einfach nicht widerstehen, das nächste zu bestellen. Zu atemberaubend war der Blick in ihr wunderbares Dekolleté, wenn sie die Getränke brachte und vor ihm auf dem Tisch abstellte. Die Lounge war zwar nicht die billigste Möglichkeit, auf dem Schiff zu einem Drink zu gelangen, doch dafür war das Personal hier noch aus Fleisch und Blut. Und wie im Fall der Kellnerin noch dazu aus äußerst attraktivem.

Sie war wesentlich hübscher, wenn auch älter als seine letzte Freundin, mit der er eine Beziehung hatte, die über die magische Vierzehn-Tage-Grenze hinausging. Sabrina. Aber das musste doch schon mindestens – er überlegte – vier Jahre her sein. Ein ausgelassenes Energiebündel war sie, braunhaarig wie die Kellnerin auch. Hatte einen Abschluss in englischer Literatur und Geschichte. Wie oft hatte sie ihn geneckt, ihm vorgeworfen, er könne nicht recherchieren – zumindest nicht richtig. Er fände bei seinen Nachforschungen nur belangloses Zeug, er ginge an den wirklich spannenden Fakten vorbei, weil er nicht in der Lage wäre, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Er liebte sie und sie ihn. Zumindest dachte er das. Von einem Tag auf den anderen hat sie ihm dann offenbart, dass sie ihn verlasse, wegen eines Mr Erfolgreich, eines Mr Wichtig, eines Mr Unverzichtbar – eines Mr Arschloch, wie Robert ihn beinah vorurteilsfrei nannte. In seinem Kopf begann ein dumpfes Pochen. Möglicherweise lag der Grund in seinem Trennungsschmerz, vielleicht auch in seiner immer noch vorhandenen Liebe zu ihr, oder aber simpel und profan in seiner Persönlichkeit, dass er fortan schrieb wie der Teufel. Ungezählt waren die Journalistenpreise, die er einheimste; für die beste Kolumne über eine rezessive Weltwirtschaft, für die gewagte Theorie, die sich allerdings einmal im Dezennium zu bestätigen schien, dass Börsencrashes im Durchschnitt alle zehn Jahre vorkommen, für seinen Sachbuch-Bestseller »Die asoziale Sozialpolitik großer Staatengemeinschaften«. Aufgrund seiner Jugend und seiner beeindruckenden Zahl an Publikationen und Auszeichnungen war es nur noch eine Formsache gewesen, dass er diesen Job bekam. Dass er in seinem gesamten Leben noch nie etwas mit Technik oder Raumfahrt zu tun gehabt, schon gar nicht darüber geschrieben hatte, schien niemanden interessiert zu haben. Warum also sollte es ausgerechnet ihn kratzen? Es war die richtige Entscheidung gewesen, diesen Job anzunehmen, davon war er überzeugt. Auch wenn es dann wieder Augenblicke gab, in denen er daran zweifelte.

»Langweile ich Sie?«, riss ihn die Stimme des Alten aus seinen Gedanken.

Roberts Blick hing noch immer an den augenfälligsten Attributen der Kellnerin. »Äh …«

»Dachte ich mir.«

»Sagen Sie«, begann Robert in dem Versuch, dem Gespräch eine andere Richtung zu geben, »was ist eigentlich Ihr Reiseziel?«

Überrascht, wie zwei Triumphbögen am Forum Romanum wölbten sich die Augenbrauen seines Gesprächspartners. Verblüffung starrte ihm aus dem Gesicht des alten Mannes entgegen. Weißes Haar schien in dichten Büscheln aus dessen Ohren zu sprießen und unterstrich die fahle Physiognomie. Lange sagte er kein Wort, sah Robert nur an. Dieser rutschte unruhig in seinem Fauteuil vor und zurück. Dann sagte er: »Mich dünkt, heute schon einmal über Logik gesprochen zu haben. Aber das soll Sie in keinster Weise beunruhigen, junger Freund. Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut. So sagte man zumindest, und bisher habe ich noch nichts Gegenteiliges gehört. – Ich nehme an, dasselbe wie Ihres. Soviel ich weiß, fliegt das Schiff nur eine einzige Destination an, ohne Umwege und ohne Zwischenstopps. – Oder hatten Sie vor, ihre Großmutter auf Europa zu besuchen?« Das Lachen des Alten hatte nichts Freundliches.

Robert versuchte gleichgültig auszusehen.

»Bitte, für mich noch einmal dasselbe«, sagte er zur Kellnerin und etwas leiser, sodass es Robert gerade noch verstehen konnte, »bevor mir der junge Kollege hier beweist, dass meine Geduld nicht so grenzenlos ist wie der Kosmos.«

Robert fühlte sich auf dem Präsentierteller. Eine Hitze durchflutete seinen schmächtigen Körper, der Herzschlag beschleunigte sich und seine Arme und Hände bewegten sich unkontrolliert, wie von Geisterhand ferngesteuert. Pulsierend spürte er seine Halsschlagader als violettes Kabel hervortreten. Sein Glas wäre ihm beinahe aus der schweißnassen Hand gerutscht. Langsam begann der Alte zu nerven. Aber wirklich. Waren alle Alten so kompliziert? Warum mussten sie immer alles besser wissen? War es überhaupt eine Frage des Alters oder eher eine des Charakters, dass manche dachten, klüger, weiser und erfahrener zu sein? Oder wussten die Alten tatsächlich manches besser? Unruhig hämmerte Robert gegen die Armlehne. Trotz steigender Adrenalinkonzentration entschied er sich, ruhig zu bleiben. Er wollte nicht mit Kraft gegen Kraft ankämpfen. Er wollte keinen Streit entfesseln – zumindest nicht an diesem Abend.

»Es tut mir leid. Das Bier drängt und ich möchte vor dem Zubettgehen noch einiges zu der Apollo-Ära in der Bibliothek nachschlagen. Es hat mich gefreut mit Ihnen zu plaudern.« Robert konnte im Gesicht des Alten sehen, dass er den letzten Satz als reine Floskel abtat. Es überraschte ihn nicht. Er war müde, ausgelaugt, genervt. Genervt von der Konversation mit seinem Mitreisenden, von dem er weder wusste, wer er war, noch wie er hieß, noch warum er in seinem Alter diese beschwerliche Reise auf sich nahm, die selbst für Robert mittlerweile den Charakter einer Endlosschleife angenommen hatte. Und das, obwohl sie noch nicht einmal ein Drittel der Entfernung zurückgelegt hatten. Die Eintönigkeit des Fluges fing bereits an, sich in seinem Gemüt als Antagonistin breitzumachen. Langeweile war seine schlimmste Feindin, eine schreckliche Person, die nur von einem Sadistenehepaar gezeugt worden sein konnte. Auslauf gab es keinen auf dem Schiff. Es war ein fliegendes Gefängnis. Ein winziger Metallkäfig im Raum, der, wenn er rechts im Unendlichen verschwand, mit einem Mal links im Unendlichen wieder auftauchte. So stellte er sich, zumindest aufgrund seiner bescheidenen Mathematikkenntnisse, das unendliche All vor. Die Fluchtmöglichkeiten, die ein Universum dieser Bauart bot, waren damit aber mehr als bescheiden. Außer Lesen, per Film oder holografischer Projektion in eine virtuelle Welt zu entfliehen oder die Zeit auf die altmodische Art mit Unterhaltung zu verbringen, war ihm noch keine Möglichkeit eingefallen, wie er die Tristesse und Langeweile der Gegenwart austricksen hätte können. Vielleicht sollte er sich nach einem angenehmeren Gesprächspartner umsehen. Besser wäre eine Partnerin, die ihn mit ihrer positiven Stimmung auf ebenso positive Gedanken brächte. Möglicherweise könnte die Attraktive, die in der Lounge die Stimmungsverbesserer servierte und vermutlich knapp über dreißig war, auch seine Stimmung etwas verbessern.

Robert kaufte beim Verlassen der Lounge noch eine Flasche Wodka, die er mit in seine Kabine nahm. In seinen klaustrophobischen vier Wänden angekommen, schenkte er sich ein Glas ein, legte sich in die Koje und suchte in der Schiffsbibliothek nach Aufzeichnungen über das Apollo-Programm. Sein Bildschirm zeigte mehrere tausend Ergebnisse. Er wählte den ersten Eintrag, der ihm einen groben Überblick über die Zeit von 1960 bis 1975 verschaffte. Anschließend las er einen Bericht über die Entstehung der ersten Mondbasen. Nach Beendigung seiner Lektüre bemerkte er erst, dass ihm der Wodka in den Kopf gestiegen war. Verdammt soll er sein, dieser rechthaberische Alte. Er legte sich auf das Bett und versuchte zu schlafen. Die Metallkonstruktion des Schiffes knackte und knarrte. Vermutlich kommt es daher, dass das Schiff rotiert und immer eine andere Seite der Sonne zugewandt ist. – Er schmunzelte. Ich kann logisch denken, alter Mann! Ob seine Vermutung einer ernsthaften wissenschaftlichen Prüfung standhalten würde, wusste er nicht, doch für ihn klang sie logisch, verdammt logisch sogar.

Geräusche aus der Nachbarkabine drangen in die seine, als gäbe es keine Zwischenwand, die diese hätte aufhalten können. Sein Nachbar hatte es offenbar besser erwischt und tummelte sich gerade beischlafend mit einer namenlosen Schönen in der Koje. Was Robert überraschte, war, dass er dachte, den Unterschied zwischen einem Orgasmus und einem bloß vorgetäuschten, durch die seidene Trennwand, hören zu können. Robert, der Experte in Sachen Sex? Beinahe hätte er laut aufgelacht. Auf Anhieb konnte er nicht einmal mehr sagen, wann er das letzte Mal … Es musste Jahre her sein, dass er ... Sofort verbannte er den Gedanken in jenen Bereich seines Gehirns, in dem dieser von einer ausreichenden Wodkakonzentration eliminiert wurde. In dieser Nacht waren sie alle vorgetäuscht, so sein professionelles Urteil. Wer immer der Typ in der Nachbarkabine war, er hatte von Frauen so viel Ahnung wie Robert von der Raumfahrerei. Im Versuch endlich Schlaf zu finden, robbte er durch die Koje. Seine Gedanken kreisten um den Alten. Dessen Worte verfolgten ihn und ließen ihn auch im Dämmerzustand nicht zur Ruhe kommen. Er sprang auf, trank einen Schluck Wasser, legte sich wieder hin, starrte an die Decke. Irgendwann, es musste schon gegen Morgen gewesen sein, schlief er ein.

Es war schon beinahe Mittag, als Robert aufwachte. Er ging in den Speiseraum und nahm, weil ihm ohnehin keine andere Wahl blieb, dieses synthetisch schmeckende Essen zu sich, als handle es sich um eine kulinarische Köstlichkeit. Nach wenigen Minuten hatte er damit seine Vorstellungskraft überstrapaziert. Den Alten vom Vortag konnte er nirgends sehen. Am Nachmittag entschloss er sich zu einem Spaziergang auf dem mit Containern überfüllten Promenadendeck. Die Unruhe in ihm wuchs im selben Ausmaß, in dem die Zeit bis zum Abendessen sich verringerte. Einfalls- und geschmacklos hätte er das Abendessen eingestuft, falls er danach gefragt worden wäre – doch es fragte niemand . Als er seinen Gesprächspartner auch hier nicht traf, beschloss er, diesen typischen Reisetag bei einem Glas Bier in der Lounge ausklingen zu lassen. Ein Höhepunkt am Tag musste schließlich sein. Und wäre er ehrlich gewesen, hätte er sich eingestehen müssen, dass der Höhepunkt sich keineswegs hinter der bernsteinfarbenen Flüssigkeit, sondern hinter den ansprechenden Rundungen der Kellnerin verbarg. Gerne wollte er auch den Alten wieder treffen. Doch warum? Am Tag zuvor hatte er ihn genervt, hatte ihm Dinge gesagt, die er nicht hören hatte wollen. Dennoch gab es etwas an dem Alten, das ihn faszinierte. Lag die Faszination in dem Methusalem selbst oder in seinen Geschichten? In der Tatsache, diese könnten mehr als nur blanke Fantastereien sein oder in jener, dass sie zumindest originell erfunden waren? Lag es an seiner Art, seiner Ruhe, die manchmal in Roberts Gegenwart sich aufzulösen begann, oder gar seinem Alter? War es die Aura des Geheimnisvollen, die ihn wie ein Mantel aus intergalaktischem Staub umgab?

Die Lounge war, wie im Reiseprospekt mehrfach darauf verwiesen wurde, mit großzügigen Panoramafenstern ausgestattet, die in Gruppen zu jeweils drei Fenstern beinahe die gesamte Höhe des Raumes einnahmen und dem Reisenden einen uneingeschränkten Blick auf die Leere des Alls erlaubten. An den Wänden befand sich eine Holzvertäfelung, die das ungeschulte Auge in der zweiten Hälfte des einundzwanzigsten Jahrhunderts nicht von einer dunkel gebeizten Eiche des achtzehnten Jahrhunderts unterscheiden konnte. Kreisrunde Tischchen standen, an den Schnittpunkten einer imaginären Wabenstruktur, wie zufällig hingestreut. Um diese standen zwei, drei oder auch vier schwere Fauteuils, deren Bezug wie braunes Leder aussah. Gleich neben dem Eingang, den Panoramafenstern gegenüber, erstreckte sich die Bar, die die halbe Länge des Raums einnahm. Daneben sprang eine Einfassung hervor, in deren Öffnung so etwas wie Holz zu liegen schien, doch Robert ahnte, dass dies nur eine Täuschung sein konnte. Ein Ding dieser Bauart hatte er noch nie gesehen und er konnte sich auch absolut keinen Reim darauf machen, was es wohl für einen Zweck erfüllte. Imposant, beängstigend und schwarz flutete das All durch die überdimensionalen Fenster, als er die Lounge betrat.

Um der Unflexibilität des Alters entgegenzukommen, wählte Robert denselben Tisch wie am Vortag. Den Rücken kehrte er den Fenstern zu. Sein Interesse galt ohnehin den Dingen, wohlgeformt und proportioniert, die sich rund um die Bar abspielten. Vorweg zur Beruhigung bestellte er einen doppelten Single Malt schottischer Herkunft. Er wusste zwar nicht, ob dieser nun tatsächlich aus Schottland stammte oder aus einem exzellenten synthetischen Labor. Robert nahm gerade seinen zweiten Schluck, als der Alte in die Lounge kam. Dieser schien keine Eile zu haben. Lehnte sich an die Theke, wechselte ein paar Worte mit der Kellnerin, fixierte im Weitergehen einen Tisch mit zwei jungen Damen – vermutlich Auswanderinnen.

Diese erkannte Robert sofort an ihrem einzigartigen Erbgut, was soviel hieß wie, sie sahen nicht nur ausgesprochen attraktiv aus, um das Männchen anzulocken, sondern hatten auch einen gesunden und muskulösen Körperbau, für den Fall, dass sie dieses nach der Paarung töten und für das Fortkommen des Nachwuchses allein sorgen mussten. Am Tisch daneben saßen drei junge Männer. Auswanderer. Robert schätzte, dass sie ausnahmslos einen Kopf größer waren als er und mit ihren gut doppelt so breiten Schultern machten sie einen sehr stabilen und robusten Eindruck. Vermutlich wollte man es den Weibchen auch nicht zu einfach machen. – ›Survival of the fittest‹ war wieder einmal das Schlagwort, und Robert versuchte nicht daran zu denken, in welchem frühzeitigen Stadium wohl seine eigene zarte Gestalt in dem Kampf ums Überleben auf einem fremden Planeten ausscheiden würde. Ob ihm sein ausgezeichneter Geruchssinn, der in einer für einen Mann etwas zu stupsigen Nase steckte, eine Hilfe wäre?

Als hätte er sein Schamgefühl verloren – aber vermutlich hatte er nie eins – schmachtete der Alte die jungen Dinger an, sprach mit ihnen und brachte sie mehrmals zum Lachen. Robert spürte Zorn in sich aufsteigen. Als er nach der Ursache dieses Gefühls suchte, fand er zu seinem Entsetzen, dass er dem Alten gegenüber Neid empfand. Neid, weil dieser ein so viel glücklicheres Händchen im Umgang mit Frauen hatte als er selbst. Der Alte musste beinahe sechzig Jahre älter sein als Robert, doch seinen Humor, seine Bewunderung und seine Wertschätzung für das schöne Geschlecht hatte der Greis offensichtlich in all den Jahrzehnten nicht eingebüßt. Genießerisch tauchte er in das Bad aus faltenlosem Lachen. Schließlich schlenderte er zu Roberts Tisch.

»Guten Abend, junger Freund,« sagte der Alte gutgelaunt. »Ich habe Sie anfangs gar nicht gesehen.«

Wundert mich nicht. Nur Augen für die jungen Dinger. Eine Schwäche, die Robert nur all zu gut verstand.

Schwer ließ sich in den Fauteuil fallen. Gleich darauf brachte die aufmerksame Bedienung ein Bier, das er offensichtlich schon an der Theke geordert hatte. »Für einen Mann in ihrem Alter sind Sie nicht gerade sehr flexibel, mein Freund«, meinte der Alte. »Oder war es Zufall, dass Sie den gleichen Tisch wie gestern erwischt haben?«

»Ach! Saßen wir gestern auch hier?«, krächzte Robert und stürzte den noch im Glas verbliebenen Whisky in einem Zug hinunter. In Zukunft, so schwor er sich, würde er keinerlei Rücksicht mehr auf die Lebensjahre seines Reisebegleiters nehmen. »Wissen Sie etwas Neues von Apollo 18?«

»Vorläufig nicht. Die Behörden stöbern nun in den Akten, um Material zu finden, das die Behauptung der Frau bestätigen könnte. Aber bei der mustergültigen Ordnung, die die Nasa in ihren Archiven hat, wird das wohl ein Weilchen dauern. – Wussten Sie das?« Er sah Robert provokant an. »Im Jahre 2000 hatten sie die Originalaufnahmen der ersten Mondlandung gesucht und nicht gefunden. Sie durchstöberten Archiv um Archiv ihrer Einrichtungen auf amerikanischem Boden, doch alles, was sie ans Licht brachten, waren …«

»Was?«

»Kopien, mein Freund. Kopien! Wo die Originale von Apollo 11 gelandet waren, wusste niemand mehr. Glauben Sie mir, es ist gar nicht so aufwendig, bei der Nasa etwas geheim zu halten.« Er lachte und nahm einen großzügigen Schluck. Ein Flaum aus weißem Schaum blieb an seiner Oberlippe haften.

Robert gestikulierte mit dem Finger. Der Alte verstand sofort.

»Normalerweise habe ich keinen Schaum vorm Mund«, sagte er mit einem amüsanten Grinsen und wischte ihn mit seinem Handrücken ab, »was aber auch daran liegt, dass ich meist Tee trinke.«

»Ich habe gestern noch etwas recherchiert«, sagte Robert.

»Sie haben was?«, stieß der Alte erstaunt hervor.

»In der Bordbibliothek.«

»Nein, wirklich.« Dem Alten stiegen Tränen in die Augen und er versuchte den aufkeimenden Lachanfall abzuwehren. »Recherchiert – nein, wie herrlich.«

»Was ist daran so komisch?« Robert spürte ein unangenehmes Ziehen in seinem Magen.

»Spä-ter, spä-ter«, kam es abgehackt durch das Lachen. Dann räusperte er sich einmal, zweimal, dreimal, bis der letzte Anflug von Heiterkeit verflogen war. »Sie wollten mir erzählen, was Sie gefunden haben?«

»Ich habe mir gestern noch die Mühe gemacht nachzulesen und, was ich überaus überraschend fand, war nicht die Tatsache, dass die erste Mondbasis im Mare Tranquilitatis in unmittelbarer Nähe der Landestelle von Apollo 11 errichtet wurde, sondern die, dass man den zweiten bemannten Außenposten 2065 im Tsiolkovsky-Krater fertigstellte...« Er sog scharf die Luft ein. »... an den südlichen Ausläufern des Mittelgebirges, der vermeintlichen Landestelle von Apollo 18.«

»Interessantes Faktum, nicht wahr?« Der Alte kratzte sein spitzes Kinn, als bräuchten die letzten dort verbliebenen Härchen seine besondere Zuwendung. »Das hat mich auch schon zum Grübeln gebracht. Das wäre ein Punkt, der eindeutig dafür spräche, dass schon lange vor dem Baubeginn der Tsiolkovsky-Basis Menschen dort gewesen sein müssen. Ich denke nämlich, die Nasa war damals so stockkonservativ … Entschuldigung, die Nasa war ›immer‹ so stockkonservativ, dass die Verantwortlichen sicher nicht irgendwo auf Verdacht hin mit dem Bau einer Basis begonnen hätten. Nicht bevor nicht Menschen an diesem Ort gelandet wären. Die Risiken wären diesen kleinbürgerlichen Bürokraten viel zu groß gewesen.«

»Aber der Bau der Tsiolkovsky-Basis begann doch, wie ich nachgelesen habe, erst 2059, als es die Nasa schon Jahre nicht mehr gab.«

»Das ist richtig. Aber in den Archiven der Nasa wurden angeblich zuhauf Studien, Pläne und rudimentäre Spezifikationen gefunden, die die Errichtung einer Basis in besagtem Krater betrafen. Die LunEx Corporation hat diese Pläne dann überarbeitet, bis alle zu diesem Zeitpunkt noch offenen Fragen bis weit über das kleinste Detail hinaus geklärt waren. Dann begannen sie mit dem Bau. Und der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte.«

»Woher wissen Sie das alles«, konnte Robert seine Neugier nicht mehr länger zügeln. Die Frage brannte ihm schon die ganze Zeit über auf der Zunge wie roter Chili.

»Wissen Sie, junger Freund, ich war lange Zeit im Bereich Raumfahrt tätig, blieb aber stets mit beiden Beinen fest auf dem Boden.« Der Alte schmunzelte und nahm einen Schluck von seinem Bier. »Ich bin übrigens John.«

»Robert«, sagte Robert. »Dacht ich mir, dass es für Ihr profundes Wissen eine logische Erklärung gibt.« Er fuhr sich durch sein zerzaustes Haar. »Und die drei Frauen?«

»Was ist mit ihnen?«

»Ich meine die Tatsache, dass die drei Astronautinnen von Apollo 18 weiblich waren.«

»Was reden Sie denn da? Astonautinnen sind immer weiblich. War das ein kleines oder ein großes i, das ich da gerade vernehmen musste?«

»Wie bitte?«

»Wenn Sie schon gendern, dann gendern Sie gefälligst richtig – also mit Hausverstand und so, dass ich es auch verstehe.«

Robert zog den Kopf ein.

»Falls es die Mission wirklich gab, ist es wohl ziemlich müßig darüber zu diskutieren, wie viele Männer oder Frauen an Bord waren. Den einzigen Grund, den ich mir vorstellen könnte, warum man drei Frauen schickte, ist die Tatsache, dass es neu und einzigartig und einmalig war. Und um Ihre Fantasie anzustacheln.« Er grinste. – »Ich höre doch wohl nicht aus Ihrer Bemerkung ein kleines, alteingesessenes und nie bestätigtes Vorurteil heraus, mein Freund?«

Robert verschluckte sich beinahe an seinem Bier. »Nein!«, platzte er heraus, so laut, dass sich die Reisenden an den Nachbartischen nach ihm umdrehten. »Um Gottes willen, nein!«

»Lassen Sie Gott dabei aus dem Spiel; der Ärmste hat damit nichts zu tun.«

»Sorry, ist so ’ne Redensart. – Wissen Sie, was ich nicht verstehe?«

Der Alte lächelte ihn an.

»Ja, ich weiß schon. Sie denken, das wird sicher nicht das Einzige sein, das er nicht versteht.«

Erst hatte es den Anschein, als käme keinerlei Reaktion von seinem Gegenüber, doch dann bemerkte Robert ein dezentes, doch eindeutig zustimmendes Nicken.

»Ich muss Ihnen jetzt mal eine Frage stellen, die mich schon seit gestern beschäftigt: Können Sie Journalisten im Allgemeinen oder mich im Speziellen nicht ausstehen?«

Die Frage schien den alten John nun doch zu überraschen. Er zog die Augenbrauen zusammen, öffnete den Mund, schien nachzudenken. Eine Sekunde später war dieser andersartige Gesichtsausdruck wieder aus seiner Physiognomie verschwunden. »Habe ich wohl etwas übertrieben. Ja? Tut mir leid, junger Freund. Das war nicht meine Absicht. Manchmal gehen einem alten Mann die Erinnerungen doch sehr nahe und dann kann es vorkommen, dass das Temperament mit ihm durchgeht. Nehmen Sie meine Meldungen um Himmels willen nicht persönlich. Ich hoffe, Sie nicht damit beleidigt zu haben. Falls doch, entschuldige ich mich natürlich in aller Form. Es ist nur so, dass ich in den letzten fünfundzwanzig Jahren keine allzu positiven Erfahrungen mit Ihresgleichen gemacht habe.«

»Wie das?«

»Ich will mich nicht in schmerzlichen Details verlieren. Bitte nehmen Sie meine Antwort einfach zur Kenntnis.«

»Selbstverständlich.«

Für den Bruchteil eines Augenblicks wirkte der Alte auf Robert wie ein verschrecktes Kind, das sich in den Tiefen seiner Gedanken eine sichere Welt geschaffen hat.

»Warum, um alles in der Welt, wenn die Geschichte wirklich wahr ist, wenn sie sich wirklich so zugetragen hat, wie die Frau in den Medien behauptet, warum rückt sie erst jetzt damit heraus? Warum kam nicht schon ihre Mutter auf die Idee? Oder deren Mutter?«

»Vielleicht braucht sie einfach Geld.«

»Was?« Die Köpfe an den Nachbartischen drehten sich zu ihnen um. »Das sollte jetzt ein Scherz sein.«

Das Gesicht des Alten war entspannt, hatte nichts Spaßiges an sich. »Vielleicht, aber es war das erste, das mir spontan einfiel.«

Robert sah ihn entgeistert an.

»Sie sind doch vom Fach, junger Freund. Ihnen brauche ich doch nicht zu erzählen, wie viel Agenturen und Nachrichtensender für Neuigkeiten zahlen – ganz zu schweigen von den Blättern der Boulevardpresse.«

»Das schon, natürlich. Aber ich verwehre mich gegen die Unterstellung, dass das auch in diesem Fall nur des Geldes wegen geschah. Ich glaube nicht, dass man immer alles nur auf Geld reduzieren sollte.« Mit einem zügigen Schluck trank er sein Glas leer.

»Wie gesagt, ich weiß es nicht. Es war bloß eine Vermutung. – Was ich allerdings weiß, ist, dass wir uns nicht immer auf das verlassen sollten, was wir wissen bzw. wir glauben zu wissen, was uns so vertraut und logisch erscheint, vielleicht auch nur deshalb logisch, weil es uns so vertraut ist.«

Robert versuchte den Ausführungen des Philosophen zu folgen.

»Es ist nicht leicht zu verstehen und über all zu viel Erfahrung dürften Sie mit Ihren – wie alt sind Sie eigentlich, dreißig?«

»Siebenundzwanzig.«

»... mit Ihren siebenundzwanzig Jahren auch nicht verfügen. – Ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen, die Ihnen vielleicht bekannt vorkommt, vielleicht auch nicht. Sie beginnt ziemlich genau ein Jahr vor Ihrer Geburt und …«

»Bringen Sie mir bitte einen Tee, Earl Grey mit Milch«, rief Robert der Kellnerin zu, als sie in ihrem knappen Overall vorbeihuschte.

»Für mich auch einen, aber bitte mit Zitrone«, setzte der Alte hinzu. »Vom Erzählen krieg ich nämlich immer so ein Kratzen im Hals, überhaupt in dieser Atmosphäre, wo die Luftfeuchtigkeit nicht nur unter dem Minimum, sondern auch unter jeder Kritik liegt. – Also! Entspannen Sie sich, lehnen Sie sich zurück, junger Freund, und achten Sie besonders auf die Details, die Ihnen nicht so vertraut erscheinen.« Der Alte sah aus dem Fenster, als fände er in der Schwärze des Alls den roten Faden, dem er nur zu folgen brauchte.

Was Robert zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, war die Tatsache, dass er damit gar nicht so falsch lag.

»Meine Geschichte beginnt im Jahre 2065 auf der erdabgewandten Seite des Mondes …«

Kapitel 2

Mond, erdabgewandte Seite, 2065

Schwer stützte sie sich mit ihrem schlanken Arm an der Verkleidung ab, die das Fenster wie ein mittelalterlicher Wall umschloss. Ihre Augen waren leer. Sie spiegelten die Leere, in die sie starrten. In verkrampftem Weiß strahlend, hoben sich ihre Fingerknöchel von dem alles dominierenden Grau ab. Nur die blauen Augen und ihr blondes Haar brachten Farbe in das ansonsten so monotone Stillleben. Groß war die Zahl derer, die gerne gewusst hätten, was sie hier suchte, an einem Ort, so menschenverachtend und öde, dass es unmöglich schien, in den Weiten des Universums einen zweiten zu finden. Sie jedoch verstand all jene nicht, die sie nicht verstehen konnten, ihre Faszination und Begeisterung für diesen Ort nicht teilten, an dem der Tag vierzehn Erdentage dauerte, ebenso wie die Nacht. Stunden hätte sie am Fenster stehen und hinausstarren können; dorthin, wo nichts wuchs, wo kein Lufthauch über Berge und Ebenen strich, wo nur Sand existierte, menschenfeindlich, kalt und grau. Nie würde hier etwas wachsen, nie ein Lufthauch über die Caldera streichen, denn hier herrschte – dominant und unumschränkt – das Nichts. Doch ihr Job ließ ihr keine Zeit, um Löcher in die luftleere Atmosphäre zu starren, und ihre Vorgesetzten hätten auch keinen Funken Verständnis dafür gehabt. Ihr Arbeitgeber hatte sie hierher geschickt, um das Projekt nach all den Jahren der Planung, der Vorbereitung und des Aufbaus nun endlich erfolgreich abzuschließen. Und genau das würde sie tun. Ihre Gedanken hatten sich bereits verselbstständigt und tasteten zwischen dem Grau des Mondstaubs und dem Schwarz des Himmels nach der nächsten Sprosse auf ihrer Karriereleiter. Keineswegs war sie gewillt, auf den Aufzug zu warten, der, natürlich bequem, doch unberechenbar, irgendwann vorbeikommen musste, um sie weiter nach oben zu fahren. Sie wollte es aus eigener Kraft schaffen. Aktiv wollte sie empor klimmen, ihrem Ziel entgegen. Auch auf die Gefahr hin, dass die Tritte zu weit auseinanderstanden, um sie gefahrlos überwinden zu können.

Neu und unbewohnt war der Geruch, der ihrem Heim selbst nach acht Monaten noch anhaftete, als wären erst am Tag zuvor neue Möbel, neue Teppiche und frische Gardinen geliefert worden. Doch es gab hier keine Teppiche, keine Gardinen und keine Möbel – zumindest nicht im eigentlichen Sinn. Betten, Kästen, Regale und Tische waren schon von vornherein als standardisierte Komponenten in die einzelnen Module integriert worden. Für Sonderwünsche oder Ausgefallenes gab es kaum Spielraum. Nur da und dort gab es etwas Platz, eine kleine Nische, die Ecke eines Regals, wo man die wenigen persönlichen Dinge aufstellen konnte, die einem gestattet waren, mitzubringen. Es war schon etwas Besonderes, ein neu errichtetes Heim zu beziehen. Das Glas ohne Schrammen, die Kanten noch nicht abgeschlagen und der Boden ohne diese überdimensionalen Ameisenstraßen, die auf Generationen von Vormietern schließen ließen. Bei der letzten Lieferung hatte sogar jemand einen kleinen Philodendron mitgeschickt, damit der Wohnbereich auch etwas Wohnliches hatte. Doch bislang gab es noch keine konkreten Vorschläge, wie man die Pflanze an einen zweiwöchigen Tag-Nacht-Rhythmus gewöhnen könnte. Die Temperatur in der Station lag bei angenehmen zweiundzwanzig Grad. Hätten nicht die Ventile, die die umgewälzte Luft verteilten, dieses motivierte Geklapper von sich gegeben, hätte die Stille etwas Beängstigendes gehabt. Shannon kroch ein kalter Schauer die Arme hoch. In dem hellen Grau, das innerhalb der Basis alles und jedes mit dieser Tristesse an Farblosigkeit überzog, sah sie den Beweis für die sadistische Veranlagung des Architekten, dessen Einfallslosigkeit nur noch durch seinen Mangel an Empathie übertroffen wurde. Grau. Reichte es nicht schon, dass die gesamte Mondoberfläche in dieser Farbe strahlte? Warum um alles in der Welt musste das Innere der Basis ebenfalls grau sein? Shannon sah von einer Wüste in die andere, als könne sie dort draußen, zwischen den Staubkörnern die Beweggründe des Architekten finden, die ihr so unverständlich schienen. War es nicht eine Architektin gewesen?

Den Becher mit dem nur noch lauen Kaffee in der Hand, stand sie an einem der vier großen Fenster in der Zentrale, von denen sich die weitläufige Ebene des Tsiolkovsky-Kraters erschloss. Nach Süden eröffnete sich das ausgedehnte Panorama des Kraterbodens, der von einem zufällig ausgestreuten Muster kleinerer und größerer Krater überzogen war. Wie gerne hätte sie den Kraterrand gesehen, doch bei den enormen Abmessungen von hundertachtzig Kilometer im Durchmesser, lag dieser weit hinter dem Horizont. Das nördliche Panorama mutete interessanter an. Direkt hinter der Basis erhob sich das Mittelgebirge. Vermessungen zufolge kletterte es erst sanft, ab einer Höhe von fünfhundert Metern dann aggressiv und zielstrebig nach oben, bis es knapp viertausend Meter erreichte. Mit bloßem Auge gelang es jedoch weder Höhen noch Entfernungen aufgrund der fehlenden Atmosphäre abzuschätzen. Auch mit viel Erfahrung nicht.

Wäre es technisch möglich gewesen, eine Station in größerer Höhe in den Berghang zu bauen, wäre die Aussicht noch um einiges spektakulärer gewesen, doch der technische Aufwand dafür wäre in keinerlei Verhältnis zu dem daraus zu ziehenden Nutzen gestanden. Schließlich ging es LunEx mit dem Bau der Station nicht darum, möglichst viele Touristen auf die ›dunkle‹ Seite des Mondes zu locken.

Seit Tagen harrte Shannon ungeduldig der Lieferung des letzten Moduls. Die Arbeit daran, sowie die Integration aller technischen Komponenten war termingerecht beendet worden. Selbst der abschließende Integrationstest war zur großen Überraschung aller Beteiligten auf Anhieb erfolgreich gewesen. Dann streikten die Arbeiter im Pacifica-1F-Raumdock. Innerhalb der letzten zwei Jahre war dies nun bereits das elfte oder zwölfte Mal. Ein Ende war nicht absehbar. Und vermutlich würde es auch nicht das letzte Mal sein. Erneut wollten die Arbeiter auf die menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen aufmerksam machen, auf das Risiko, unter dem sie ständig versuchten, präzise und gewissenhafte Arbeit zu leisten. Dazu kam noch die gefährliche Strahlung im Orbit, die von den Arbeitsplätzen und Unterkünften, wegen drastischer Budgetkürzungen beim Bau, nur unzulänglich abgeschirmt wurde. Jedem einzelnen Arbeiter hätte Shannon gern persönlich eine Standpauke gehalten, warum der Streik gerade in diesem Moment, gerade für sie besonders ungünstig war. Doch sie hatte man auf den Mond verbannt, und so konnte sie nur hoffen, dass sich die Aufregung bald legen und der Normalbetrieb in ein paar Tagen wieder aufgenommen werden würde.

Unbeherrscht trat sie mit dem Fuß gegen die Kunststoffverkleidung, die sich mit einem Knacken über die brutale Behandlung beschwerte. Wie zum Trotz wollte die Delle, die eben noch nicht vorhanden gewesen war, nicht mehr verschwinden. Weder konnte sie die Arbeiter im Raumdock, noch deren Einstellung zur Arbeit leiden. Grobiane ohne Bildung und Benehmen. Arbeiteten nur des Geldes wegen, um ihre Familien zu ernähren, ihre Kinder auf eine Schule für zumindest durchschnittlich Begabte schicken zu können. Sie kannte keinen, der auch nur einen Funken Ehrgeiz oder intrinsische Motivation besessen hätte. Persönlich hatte sie noch mit keinem dieser, von Krethi und Plethi abstammenden, Grobiane auch nur ein Wort gewechselt. Doch allein deren Anblick, wenn sie beisammen standen, scherzten und lachten und nicht näher definierbare Getränke, vermutlich alkoholischen Inhalts, aus blickdichten, neutralen Flaschen tranken, um sich dann gemächlich wieder ihrer Arbeit zuzuwenden, hatte gereicht, um bei ihr einen nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen. Auch nagte ständig das unbestimmte Gefühl an ihr, die Einzige zu sein, die der Streik wirklich traf. Jede Woche Verzögerung konnte das Aus für ihre Karriere bedeuten; das Aus für ihr Leben, wie sie es sich in ihren täglichen Träumen und nächtlichen Fantasien bilderbuchmäßig, mit kräftigen, plakativen Pinselstrichen, ausgemalt hatte. Wer würde für ihren Verlust an Ansehen, Karriere, den damit verbundenen finanziellen Einbußen aufkommen? Ihr das ersetzen, ihr das geben, was ihr ihrer Meinung nach zustand? Die minderqualifizierten Idioten vom Raumdock? Wohl kaum. Sie strich sich das aschblonde Haar aus dem Gesicht und nahm einen Schluck dieser Brühe, die so öde und langweilig schmeckte, wie die Gegend rund um sie aussah. Mondkaffee 1.0 hatte sie das Gesöff getauft, denn an dem Automaten, der es zusammenbraute, musste wohl noch etwas gefeilt werden, bis das Getränk zumindest einem nicht verwöhnten Gaumen die Illusion von Kaffee vorgaukeln konnte.

Sie schreckte, was untypisch für sie war, aus ihren Gedanken, als Martin neben sie trat.

»Wir haben gerade Nachricht erhalten, dass Modul Six in drei Tagen eintreffen wird«, sagte er. Shannon nahm die feine Spitze seines deutschen Akzents kaum noch wahr.

»Wird auch Zeit!«, blaffte sie, ohne ihren Blick von dem schwarzen Kraterboden zu wenden.

Sie spürte, dass er sie ansah, reagierte jedoch nicht darauf. Unablässig starrte sie aus dem Fenster, als spielte sich dort draußen gerade das faszinierendste Ereignis seit der ersten Mondlandung ab.

»Es ist ohnehin das letzte Modul«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Das wird sich schon ausgehen.«

Es gab Situationen, in denen Shannon verrückt wurde durch die Ruhe und Gelassenheit, die andere um sie ausstrahlten. Dies war eine solche. »Dein Vertrauen möcht ich haben«, sagte sie nicht ganz so scharf wie zuvor, obwohl sie ihn am liebsten angesprungen hätte. Wie konnte er nur in dieser Situation so emotionslos bleiben? »Oder sollte es Blauäugigkeit sein? Der gesamte Planet da unten«, sie deutete auf ihre Füße, da sich die Erde irgendwo unterhalb davon auf der anderen Seite des Mondes befinden musste, »ist voll von Bürokraten, die keine Entscheidungen treffen wollen, von Arbeitern, die nicht arbeiten wollen und von Klugschwätzern, die immer alles schönreden …« Sie unterbrach sich, als sie bemerkte, dass sie gerade im Begriff war, Martin persönlich anzugreifen.

»Ich denke, ich verstehe«, sagte er und Shannon fühlte, wie die Kälte seiner Stimme in ihrem Nacken die feinen Härchen aufrichtete.

»Martin, ich …«, versuchte sie, wenn schon keine Entschuldigung, doch zumindest eine Rechtfertigung für ihre schlechte Laune zu geben. Martin aber war bereits aus der Zentrale verschwunden und hatte die Tür zu seiner Kammer hinter sich zugeknallt.

So schwer, wie es die geringe Mondgravitation zuließ, ließ er sich auf den Sessel seines Schreibtischs fallen. Eigentlich war es nur ein kleines Tischchen, das sich neben einem Regal und mehreren Ablagen gegenüber seiner Schlafkoje befand. Am Kopfende des Bettes stand ein Bilderrahmen, aus dem eine junge Frau mit kurzen Haaren lachte. Ein etwa ein Jahr altes Mädchen war offensichtlich gar nicht begeistert, im Arm ihrer Mutter verweilen zu müssen. Warum hatte er das Bild nicht schon längst in einer Ablage verschwinden lassen? Jedes Mal wenn er es betrachtete, krampften sich seine Eingeweide zusammen, fragte er sich, was er hier eigentlich machte und wie er überhaupt auf die absurde Idee gekommen war, sich für den Einsatz auf Tsiolkovsky zu melden. Am liebsten hätte er sich in seiner Koje verkrochen und geheult. Doch das passte so gar nicht in das Bild des erfolgreichen Astronauten auf der erdabgewandten Seite, das er von sich selbst irgendwann einmal gezeichnet hatte.

Ein kleines Bullauge am Ende der Koje, kaum einen halben Meter im Durchmesser, ließ abwechselnd gleißendes Sonnenlicht und triefendes Schwarz im Zwei-Wochen-Rhythmus in seine winzige Privatsphäre ein. Es zeigte ihm, dass, auch wenn er es nicht glauben wollte, die Zeit unaufhaltsam voranschritt. Neben dem Bild stand ein Plastikbecher mit einer einsamen roten Rose. Eine Rose so schön und so gleichmäßig; viel zu perfekt, um echt zu sein. Das Abschiedsgeschenk seiner Frau, als er vor mittlerweile über sieben Monaten zu seinem einjährigen Einsatz hierher aufgebrochen war.

Die fünf Monate bis zu seiner Rückkehr würden nicht einfach werden. Wenn zumindest seine Ablöse pünktlich einträfe. Quälend wie die Klinge von Damokles’ Schwert, die bereits seinen Nacken kitzelte, ängstigte ihn die Frage, wie lange seine Geduld noch standhalten würde, wie lange sie sich noch von seiner Vorgesetzten strapazieren ließe, ohne dass er cholerisch und handgreiflich reagierte. Oder zusammenbrach. Die Arbeit und die Abgeschiedenheit hier auf Tsiolkovsky ohne Ausblick auf die Erde und fernab von allem, was ihm lieb war, waren für sich allein schon eine Belastung, die er nicht so leicht wegsteckte. Es bedurfte nicht auch noch einer egozentrischen Kommandantin, die noch kübelweise Salz in die ohnehin schon versalzene Suppe schüttete. Auch hatte er absolut keine Lust, seine bescheidenen Energiereserven für Streit und Disput mit ihr zu verschwenden. Er erinnerte sich an einen weisen Spruch, den er einmal von einem Kollegen gehört hatte und der, sehr zu seiner Freude, in über achtzig Prozent der Fälle seine Gültigkeit bewiesen hatte: »Alles kommt von selbst zu dem, der warten kann.«

Also hieß es warten. Was Shannon betraf, rechnete er jedenfalls fest damit, dass sich seine Probleme von selbst lösen würden, wenn er nur etwas Geduld aufbrächte. Wenn nicht schon früher, so doch spätesten in fünf Monaten.

Seine Probleme sollten sich lösen. Doch die Art, wie das geschehen sollte, würde selbst ihn mit offenem Mund zurücklassen.

Ein Schmunzeln lief über sein Gesicht und verebbte ebenso rasch, wie es aufgetaucht war.

Drei Tage später traf pünktlich auf die Minute CMT (Coordinated Moon Time) das Frachtschiff mit dem letzten Element – Modul Six – ein. Die Zeiten eines Neil Armstrong, der für seine Landung noch einen Anflugkorridor von mehreren Kilometern Breite und dutzenden Kilometern Länge benötigt hatte, waren – der Technik sei Dank – schon seit längerem Geschichte.

---ENDE DER LESEPROBE---