Die Frauen der Grubers - Edelgard Lessing - E-Book

Die Frauen der Grubers E-Book

Edelgard Lessing

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Beschreibung

»Du bist eine richtige Gruber.« Ein Satz, der mich in Kindheit und Jugend begleitet hat. Eine richtige Gruber? Was macht eine richtige Gruber aus? Als die Tante von Edelgard Lessing, geborene Gruber, (Jahrgang 1938) verstirbt, erbt sie einen Familienschatz: Einen Karton mit alten Dokumenten, Geburts-, Heirats- und Sterbeurkunden, den Stammbaum der Familie, Fotos und Briefe, die in Kriegsgefangenschaft geschrieben wurden. Dieser Fund inspiriert sie, sich auf die Suche ihrer Ahninnen zu begeben. Die Geschichte beginnt im 17. Jahrhundert. Wie haben Gertraudis, Maria, Anna-Maria, Katharina, Caroline, Karoline, Klara, Hildegard, Erna und auch Edelgard gelebt? Wie sah das Leben der Frauen in den 350 Jahren europäischer Geschichte aus? Welche Möglichkeiten hatten sie, die Bäuerin, die Gebärenden, die Ehefrauen, die Mütter, die Geschäftsfrau, die Schneidermeisterin, die Familienfrauen, die Hausfrauen? Es entstand ein spannendes Zeitzeugnis über die Vertreibung aus dem Salzburger Land, Flucht aus Ostpreußen, Heimatsuche und Selbstbehauptung starker Frauen.

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Ich widme dieses Buch allen Vertriebenen und Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten.

INHALTSVERZEICHNIS

1. Prolog

2. Die Frauen der Grubers

Gertraudis Stainerin zu Egg 1678 - 1732

heiratet Thomas Gruber

Maria Leitner 1725 - 1787

heiratet Andreas Gruber

Maria Kreutzberger 1786 - 1795

Anna Maria Kreutzberger 1798 - 1906

Katharina Kreutzberger 1808 - 1836

sind mit Andreas Gruber verheiratet und 1765 - 1936

bekommen mit ihm insgesamt 19 Kinder

Caroline Ernsthaler 1826 - 1900

heiratet Carl Gruber

Karoline Okras 1851 - 1921

heiratet Karl Gruber

Klara Massalsky 1884 - 1958

heiratet Fritz Gruber

Erna Lakowitz 1911 - 2003

heiratet Kurt Gruber

Hildegard Lessing 1915 - 1999

heiratet Helmut Gruber

Edelgard Gertraud Gruber 1938

ist die Tochter von Erna und Kurt Gruber

Jette Gruber 1965

ist die Tochter von Udo Gruber

3. Epilog

4. So spricht Ostpreußen

5. Literaturverzeichnis

Prolog

Hildegard Gruber stirbt. Sie stirbt am Heiligabend.

Der Pastor hat gerade mit seiner Predigt begonnen, als Hilde den Kopf zurückwirft und aufgibt. »Tante Hilde, was ist mit Dir?«, schreie ich laut. Die kleine Andacht im Altenheim in Neumünster endet abrupt. Totenstille. Langsam setzt leises Murmeln ein. »Das ist die Frau Gruber.« Vier Menschen tragen die Sterbende aus dem Raum. Ich stolpere nebenher. Manfred, mein Mann, folgt. Hildegard Gruber wird im nächstbesten Zimmer auf ein Bett gelegt, der Notruf aktiviert. Nach wenigen Minuten ist der Rettungsdienst da. »Sollen wir versuchen, sie wieder zurückzuholen?« »Nein«, sagt die Heimleiterin, »ihre Seele ist schon gegangen.« Was hätte ich geantwortet? Ich denke lange darüber nach, froh, dass mir die Verantwortung abgenommen wurde. Hildegard Gruber, meine Tante, ist tot.

Ich habe von ihr einen Schatz geerbt. In einem großen Karton finden sich alte und sehr alte Dokumente, Geburtsurkunden, Heiratsurkunden, Familienbücher, Briefe, die im 2. Weltkrieg aus der Kriegsgefangenschaft und in die Kriegsgefangenschaft geschrieben wurden, viele Fotos und vor allem den Stammbaum der Familie. Der Stammbaum beginnt vor 1600 mit Johann Grueber/Gruber. Er kauft 1628 das Katzlmoos-Gut in St. Johann im Salzburger Land. Im Jahr 1645 verkauft sein Sohn das Gut und erwirbt auf der Sonnenseite des Tals. Gut Pichl am Rettenstein. Jakob Gruber bekommt von drei Frauen zwölf Kinder. Einer der Söhne, Thomas Gruber, verdingt sich als Knecht auf Gut Klinglberg.

Hier beginnt meine Geschichte der Frauen der Grubers. Die lange Geschichte der Frauen, die alle einen Gruber-Mann heirateten, soll erzählt werden. Wie haben Gertraudis, Maria, Anna-Maria, Katharina, Caroline, Karoline, Klara, Hildegard, Erna gelebt? Wie sah das Leben der Frauen in den 350 Jahren europäischer Geschichte aus? Wie haben sie sich behauptet? Welche Möglichkeiten hatten sie, die Bäuerin, die Gebärenden, die Ehefrauen, die Mütter, die Geschäftsfrau, die Schneidermeisterin, die Familienfrauen, die Hausfrauen? Meine Geschichte und die Geschichte von Jette, meiner Nichte, werden den Abschluss bilden. Meine Geschichte, die Krieg, Nachkriegszeit, Wirtschaftswunder, Kindheit, Jugend, Schule, Studium, zwei Heiraten, Kinder und Alter beinhalten. Die Geschichte von Jette, die 1965 geboren wird, ist die erste, die ein Universitätsstudium absolvieren kann und Juristin wird. Voran gehen die Frauen, die alle einen Gruber-Mann heirateten. Die geschilderten Kapitel vom Leben dieser Frauen stützen sich auf geschichtliche Ereignisse und auf Recherche, aber sie sind auch in meinem Kopf entstanden. Erfundenes und Erlebtes sind miteinander verwoben. Ich freute mich sehr, als meine Nichte, die Tochter meines Bruders, zustimmte, in meinem Buch ihr bisheriges Leben zu erzählen.

Gertraudis Stainerin zu Egg (1672 - 1732)

Gertraudis weint.

Tränen laufen lautlos über die Wangen den Hals hinab. Sie ist erschöpft, müde, verzweifelt. Fragen drängen an die Oberfläche. Wo ist er jetzt der Herr Jesus Christus, der gnädige Gott? Warum hat er zugelassen, dass sie ihren Hof verlassen musste, im Siechenhäusl landete? Warum wurden die Lutheraner im Winter über die Berge getrieben? Warum mussten so viele sterben? Kinder und Alte traf es am meisten. Warum ist sie jetzt in diesem öden, flachen Land? Wo sind ihre Berge, wo das Gut in St. Veit? Gertraudis will in die Heimat, zurück in ihr Salzburger Land. Gedanken gleiten nach St. Veit. Sie landen auf dem Hof Klinglberg. Sie geht die Alm hinauf. Das Gras ist weich. Almrosen und Enzian blühen. Sie achtet darauf, sie nicht zu zertreten. Bald hört sie die Glocken, die die Kühe um den Hals tragen. Sie dienen dazu, dass man die kleine Herde wiederfindet. Manchmal verläuft sich eine Kuh. Durch die Glocke wird sie meist lebend entdeckt. Außerdem schrecken die Glocken Wölfe und Bären ab. Da kann auch der stolze Stier nicht helfen. Auf ihn muss sie achten. Manchmal rastet er aus, dann wird es gefährlich. Die Glocken waren eine kostspielige Anschaffung. Aber es hat sich gelohnt. Es erleichtert die Arbeit auf der Alm. Sie denkt an den kräftigen Hahn mit seinem feuerroten Kamm. Von seinem lauten Krähen wurde sie manchmal wach. Stolz achtete er auf seine zahlreichen Hühner und bestieg jede Einzelne regelmäßig. Das kleine Brechlbad fällt ihr ein. Dort wurde nicht nur der Hanf getrocknet, da wurde auch geschwitzt. Danach fühlte sie sich sauber und wohl. Das war ein arbeitsreiches, aber gutes Leben auf dem Hof. Was wohl aus den Knechten und Mägden geworden ist? Ob der Pächter sie übernommen hat? Wohl kaum. Alle waren Anhänger des lutherischen Glaubens. Sie wurden wohl auch vertrieben. Sie atmet schwer, die Tränen laufen weiter.

Sie weiß, dass es viele gibt, die zurück möchten. Sie wollen das Geld und die vom König überlassenen großzügigen Gaben zum Aufbau und zur Bestellung des Landes mitnehmen. Sie werden ihrem lutherischen Glauben abschwören. Der König, Friedrich Wilhelm der Erste, hat das bei hohen Strafen verboten.

Für Gertraudis gibt es kein Zurück. Gertraudis wird sterben. Sie liegt auf einem Krankenlager in Pillkallen in Ostpreußen. Stöhnen, Ächzen und Gestank erfüllen den Raum. Ihr Mann Jakob und ihr Sohn Thomas besiedeln und bebauen das ihnen zugewiesene Land. Wertimlauken heißt der Flecken. Manchmal schauen sie nach ihr. Gertraudis stirbt im Sommer 1733. Ihr Krankenlager hat sie nicht mehr verlassen. Auf einem Feld in Wertimlauken wird ein kleiner Friedhof eingerichtet.

Dort wird sie begraben.

*****

Im Winter des Jahres 1731 in St. Veit im Pongau

Gertraudis wird plötzlich wach. Aufgeschreckt hört sie auf das Gepolter vor der Kammer, schwere Stiefel dröhnen auf Holzdielen, Frauen kreischen, Männer fluchen. Sie teilt ihre Kammer mit anderen Frauen. Auch diese fahren erschreckt hoch, reiben sich die Augen. Die Tür zur Kammer wird aufgerissen. »Alle, die den falschen Glauben haben aufstehen, anziehen«, brüllt eine Stimme. Fremde Männer starren sie an. Gertraudis weiß plötzlich: Die Vertreibung der Glaubensgenossen wird durchgeführt. Ihr Mann Thomas Gruber ist schon auf dem Weg.

Hastig zieht sie Kleider übereinander, klaubt ihren Rucksack unter der Liege hervor. Sie ahnt, was sie alle erwartet. Draußen ist es dunkel und eiskalt. Schneeflocken rieseln leise, Menschen weinen, schreien. Die Schergen treiben sie erbarmungslos voran.

***

Gertraudis wird am 19. Februar 1672 als Tochter eines Mautmüllers geboren. Sie ist das jüngste Kind. Die einzige Tochter. Die Lohnmühle gehört dem Grundherrn, dem Bischof von Salzburg. Die Familie ist katholisch.

»Wes Brot ich ess´, des Lied ich sing.«

Oder: »Cuius regio – eius religio.«

»Wer herrscht, bestimmt den Glauben.«

Das hat der Vater ihr gesagt.

Gertraudis wird in der Familie Traudl genannt. Traudl, das einzige Madl in der Familie. Alle, Vater, Mutter und die Brüder freuen sich. Sie wird geliebt und von den Brüdern auch manchmal ein bisschen gehänselt. Sie darf die Schule in St. Johann besuchen. Sie lernt schnell lesen und schreiben. Die Eltern fördern sie. Sie soll einmal einen »guten Mann« , einen Bauern, heiraten.

Gertraudis weiß, dass ein Schulbesuch nicht selbstverständlich ist. In der Schule liest sie in der Luther-Bibel. Das ist streng verboten. Einer der Jungen leiht sie ihr manchmal. Was sie liest, gefällt ihr. In den katholischen Gottesdiensten versteht sie kein Wort. Der Priester liest mit leiernder Stimme aus der lateinischen Bibel vor. Stundenlang muss man stehen und sich langweilen. Sie hat gehört, dass die Lutheraner ganz andere Gottesdienste feiern. Da soll es fröhlich zugehen. Warum sollen Menschen die Bibel nicht verstehen? Gertraudis möchte lieber zu den Lutheranern gehen.

Traudl hat rote Haare und Sommersprossen. Sie sieht anders aus. Leuchtet hervor. Von der Mutter hat sie gehört, dass es immer noch Hexenverbrennungen gibt. Das trifft besonders Frauen, die Heilkräfte besitzen oder sich von anderen Menschen unterscheiden. »Rote Haare Sommersprossen, sind des Teufels Volksgenossen.« Manchmal fühlt sie sich ganz klein, hat Angst.

Wenn der Vater mit den Bauern spricht, deren Korn gemahlen wird, hört Gertraudis manchmal heimlich zu. So gibt es einen regelmäßigen Austausch von Neuigkeiten. Sämer, also Händler, die über die Tauernpässe gehen und mit Wein oder Branntwein handeln, Pilger, Priester und fahrendes Volk kommen und gehen. So verbreiten sich Neuigkeiten schnell. Wenn Priester auftauchen, sind alle auf der Hut. Sie sind oft Späher des Bischofs. Sie stellen Fragen nach diesem und jenem. Sie suchen nach Luther-Bibeln. Gertraudis Angst nimmt dann zu. Viele Menschen in St. Johann und St. Veit hängen dem lutherischen Glauben an. Vater erzählt, dass diese Menschen sich regelmäßig Treffen und sich in ihrem Glauben bestärken. Der Ort wird geheim gehalten.

Das Mädchen erhält neben der Schule bei der Mutter eine gute Ausbildung. Sie lernt gärtnern, die beiden Kühe melken, Butter machen, backen, kochen und vieles andere mehr. Als sie 14 Jahre alt ist, fühlt sie zwischen ihren Beinen eine klebrige Feuchtigkeit. Was ist das? Sie greift sich zwischen die Beine. An ihrer Hand klebt eine bräunliche Masse. Ist sie krank? Sie läuft zur Mutter und zeigt auf ihre Hand. Was ist das? Die Mutter reagiert merkwürdig. Sie schaut verlegen zu Boden. Aber dann erklärt sie dem erschrockenen Mädchen, dass das eine Blutung ist, die sie nun jeden Monat haben wird. Die bräunliche Masse wird bald zu rotem Blut werden. Damit hat uns der »Herr« geschlagen. Das Blut soll giftig sein. Manche Frauen sagen auch, dass sich unser Körper dann von bösen Kräften reinigt. Sie reicht ihrer Tochter ein aus kleinen Leinenstücken zusammengenähtes Band und erklärt: »In die Mitte dieses Bandes legst Du ein gepresstes Bündel aus Heu. Du legst das Band zwischen Deine Beine und steckst es vorne und hinten in Deinen Rock. Das Heu kannst Du, wenn es zu feucht geworden ist, auswechseln. Das Ganze dauert vier oder fünf Tage. Manchmal wirst Du auch Schmerzen haben. Aber das ist nicht schlimm. Ach ja, wenn Du schwanger bist, wird der Blutfluss ausbleiben.«

Gertraudis hört sich erschrocken die lange Rede der Mutter an. »Haben das nur Frauen?«, fragt sie. »Ja«, antwortet die Mutter kurz. Gertraudis gewöhnt sich an die umständliche, aufwendige Prozedur. Es ist nicht leicht, einen geeigneten Platz für das Anlegen des Bandes zu finden. Im Winter geht sie zu den Kühen. Im Sommer in ein nahes Waldstück.

Bald entwickelt sie sich zu einem feschen, tüchtigen Mädchen. Sie merkt, dass die Buben ihr nachschauen und gerne mit ihr reden. Sie ist 17 Jahre alt, als ein Bauer um sie wirbt. Der Mann hat einen großen Hof. Eine gute Partie. Für Traudl ist er ein alter Mann. Er ist 40 Jahre alt und hat vor einem Jahr seine Frau verloren. Zwei Töchter hat er auch. Gertraudis ist entsetzt. Diesen alten Mann soll sie heiraten. Plötzlich Mutter werden? Der Vater droht. Widerstand lässt er nicht zu. Gertraudis muss heiraten. Der Bauer ist ein Lutheraner, das tröstet sie ein wenig. Die Bauernhochzeit wird auf Gut Klinglberg in St. Veit gefeiert. Sie dauert drei Tage, drei lange Tage. Gut Klinglberg steht auf der Sonnenseite des Tals. Da gibt es meist gute Ernten und die Kühe geben fleißig Milch.

Nach der Hochzeit rückt der alte Mann ihr auf den Leib. Sie darf nicht schreien. Er hat das Recht dazu. Das hat ihr die Mutter kurz vor der Hochzeit gesagt. Sie hält still. Das passiert nun oft. Langsam gewöhnt sie sich daran. Sie erträgt das Brennen und die Schmerzen geduldig. Sie gehört ja nun schließlich diesem alten Mann mit Haut und Haar. Die beiden Töchter mögen sie. Sie will ihnen eine gute Mutter sein. Sie beiden gehen in die Schule in St. Johann. Zwei hübsche, kluge Mädchen. Sie helfen der neuen Mutter fleißig in Haus und Garten.

Das Gut ist ein lebendiger Betrieb. Es gibt Knechte und Mägde. Gertraudis lernt schnell, die Mägde anzuleiten. Da sie freundlich und klug ist, klappt der Bereich, für den sie nun zuständig ist, bald reibungslos. Die Arbeit macht sie gern, sie erfüllt sie. Sie gewinnt die Achtung ihres Mannes und der Bediensteten. Sie hält am Abend kleine Andachten. Ehrfürchtig hören alle zu. Sie berät auch die Mägde, wie sie sich bei der monatlichen Blutung helfen können. Oft sind die Mädchen noch keine 14 Jahre alt und bekommen den Blutfluss zum ersten Mal. Sie sind froh, eine so kluge Bäuerin zu haben.

Ein Jahr später kündigt sich bei Gertraudis ein Kind an. Der Blutfluss hat plötzlich ausgesetzt. Ihr Bauch rundet sich. Die Arbeit in Haus und Hof fällt ihr zunehmend schwerer. Der dicke Bauch stört beim Bücken. Aber es muss ja weiter gehen. Eines Tages setzen schlimme Schmerzen ein. Eine erfahrene Magd sagt ihr, dass nun bald ihr Kind zur Welt kommen werde. Eine weise Frau, die sich auf Geburten versteht, wird gerufen. Die steht an ihrer Seite und ruft: Drücken, drücken, drücken, pressen. Stehend, stöhnend, schreiend merkt sie, dass sich zwischen ihren Beinen etwas öffnet und herauspresst. Die weise Frau zieht zwischen ihren Beinen ein kleines Kindchen heraus. Es ist ein Mädchen. Gertraudis sinkt erschöpft zu Boden. Der Bauer ist enttäuscht. Er hatte endlich einen Sohn erwartet. Wieder nur eine Tochter. Gertraudis fühlt sich müde und krank. Die Geburt war nicht einfach. Der Kopf des Kindes ist groß. Im Unterleib ist ein Riss entstanden. Es droht eine Entzündung. Die Hebamme legt einen Kräuterlappen auf die Wunde. Zwei Tage nach der Geburt nimmt Gertraudis ihre Arbeit wieder auf. Dank der Mägde kann sie es etwas langsamer angehen lassen. Sie legt jeden Abend einen neuen Kräuterlappen auf die Entzündung. Nach einigen Wochen fühlt sie sich besser. Zwei Jahre später meldet sich ein zweites Kind an. Eine Totgeburt. Jetzt muss Gertraudis einige Tage im Bett bleiben. Sie ist heiß und fiebrig. Eine kluge Magd versorgt sie. Trotzdem ist Gertraudis froh, als sie ihre Arbeit wieder aufnehmen kann.

Der Bauer stirbt ganz unerwartet. Der Stier hat ihn auf die Hörner genommen. Er überlebt die inneren Verletzungen nicht. Helfen kann ihm niemand.

Gertraudis ist Witwe. Sie ist 44 Jahre alt. Viel Trauer empfindet sie nicht. Aber der Hof braucht einen Mann, sonst läuft sie Gefahr, dass er ihr fortgenommen wird. Nach der angemessenen Zeit heiratet sie den Großknecht Thomas Gruber, einen Lutheraner. Endlich ein junger, fescher Mann. Dass er 15 Jahre jünger ist, stört sie nicht. Gertraud will ihren Hof behalten, und sie will den Mann. Von ihm bekommt sie ein Jahr später einen Sohn. Nun hat der Hof doch noch einen Erben. Sie ist 46 Jahre alt.

Thomas schwängert schon bald darauf eine junge Magd. Das Mädchen muss den Hof verlassen. Die junge Frau tut ihr leid. Sie ist nun einem sehr ungewissen Schicksal ausgeliefert. Helfen will Gertraud ihr nicht. Schuld hat das Madl. Warum lässt sie sich vom Bauern schwängern?

Ihr Mann Thomas ist ein Rebell. Er kämpft für die Lutheraner. Er wird zu einem ihrer Anführer. Bauer Thomas geht einmal in der Woche zu den Treffen. Da versammeln sich ungefähr 300 Männer, die sich gegenseitig in ihrem Kampf um den rechten Glauben bestärken. Vierzig von ihnen planen, wie sie in der Zukunft den zu erwartenden Repressionen begegnen können.

Thomas Grubers Vorfahren waren allesamt Bauern. Sein Großvater hat im Jahr 1668 Gut Pichl am Rettenstein gekauft. Sein Vater, als Ältester, hat den Hof geerbt und dreimal geheiratet. Er ist der Sohn der dritten Frau, mit der der Vater noch einmal acht Kinder bekam. Als einer der Jüngsten musste er den Hof bald verlassen. Auf Gut Klinglberg hat er sich vom Knecht zum Großknecht hochgearbeitet. Durch die Heirat ist er jetzt ein tüchtiger Wirt, ein Angesessener.

Im Jahr 1727 kommt Erzbischof Leopold Freiherr von Firmian an die Macht. Er und sein Kanzler Rall sind entschlossen, die Protestanten im Salzburger Land auszurotten. Die beiden wollen um jeden Preis die Glaubenseinheit in ihrem Land wiederherstellen. Die Lage spitzt sich zu. Die führenden 40 Männer der Lutheraner beraten, was sie nun tun können. Thomas gehört dazu. 1731 werden die Männer auf der Hohensalzburg strengen Verhören ausgesetzt. Sie sollen ihrem Glauben entsagen. Von Folterungen, wenig Schlaf und schlechtem Essen geschwächt, müssen die Männer das Land verlassen. Thomas ist auf dem Weg. Wohin wird er führen?

Von den Händlern bekommt Gertraudis manchmal Nachrichten von Thomas übermittelt. Sie ist voller Sorge und Angst. Sie muss den Hof jetzt alleine führen. Katholische Neider dringen darauf, sie zu enteignen. Gertraudis und ihr Sohn verlieren den Hof. Rebellengüter werden eingezogen.

Innerhalb von zwei Tagen haben sie den Hof zu verlassen. Gertraudis irrt durch die Ställe, blickt auf die Wiesen, geht zu den Kühen, die schon im Stall stehen, füttert noch einmal die Hühner. Ihr Pferd Else steht im Stall. Sie lehnt sich an seinen Kopf und weint.

»Wir müssen schnell das Nötigste einpacken«, mahnt der Sohn. »Was sollen wir denn mitnehmen?«, fragt sie. Getrocknetes Gemüse und Kleidung werden in ihre Rucksäcke gepackt.

»Das können sie doch nicht mit uns machen, das ist Unrecht«, klagt sie.

»Da müssen wir doch kämpfen.«

»Gegen wen?«, fragt der Sohn.

Knechte und Mägde stehen hilflos da. Der Vater und Bauer sitzt gefangen auf der Hohensalzburg. Am nächsten Tag stehen ein Mann und eine Frau mit vier Kindern vor der Tür.

»Wir sind die neuen Pächter!«

Mitleidlos verjagen sie Gertraudis und den Sohn.

»Um ihre Knechte und Mägde kümmern wir uns später«, sagt der Mann herrisch.

Gertraudis wird, weil sie 57 Jahre alt ist, ins Siechenhäusl eingewiesen. Der Sohn begibt sich zu befreundeten Glaubensgenossen. Dort wird er arbeiten, wo immer es nötig tut.

Am 11. 11. 1731 wird in allen Pfleggerichten verlautbart:

»Nicht der Religion halber, sondern wegen Rebellion und Störung des allgemeinen Friedens und Empörung gegen den rechtmäßigen Landesfürst sei die Emigration verfügt worden.«

Was für eine Lüge.

Gertraudis weiß, was auf sie zukommt. Sie hat Nachricht von Thomas. Wohin er gehen wird, weiß er noch nicht. Sie packt die warme Kleidung ein. Sohn Andreas wird das getrocknete Gemüse und geräuchertes Fleisch mitbringen. So haben sie es vereinbart. Sie trifft den Sohn auf dem Markt von St. Johann. Dort hat man die erste Gruppe der »Nichtansässigen« zusammengetrieben. 300 Menschen haben sich dort versammelt. Bald werden sie gnadenlos vorangetrieben. Der Schnee bildet eine dicke Schicht. Es ist sehr kalt. Wie das Vieh behandelt man sie. Bald sind viele entkräftet. Lutheraner, Wirte, (so werden Bauern im Salzburger Land genannt), denen die Vertreibung auch droht, stehen an den Wegrändern, verteilen warmen Kamillentee. Essbares wird geteilt. Ein Reiter voran, bringt sie über die Berge an die Grenzen Tirols und Bayerns. Die Strapazen sind kaum vorstellbar. Es geht unentwegt bergan. Ein Weg ist kaum erkennbar. Absturzgefahr droht. Jeder Schritt muss überlegt sein. Die Vorangehenden haben es am schwersten. Brot und Speck reichen bald nicht mehr. Hunger breitet sich aus. An der ersten Grenze werden sie abgewiesen. Der Salzburger Kanzler Rall, der engste Vertraute von Bischof Firmian, hat verbreiten lassen, dass da Aufsässige unterwegs seien, vor denen man sich hüten müsse. Der Zug muss weiterziehen. Den Besitzlosen wird der Durchzug nicht gestattet. Erst Anfang Dezember werden die bayrische Grenze bei Wagnis und Mitte Dezember die Tiroler Grenze geöffnet. Viele alte Menschen sind zu diesem Zeitpunkt schon völlig entkräftet. Sie sterben und bleiben liegen. Bei Müttern mit Säuglingen lässt der Milchfluss aus der Brust nach. Viele Säuglinge sterben. Gertraudis schreitet noch voran. Der 13-jährige Andreas und sie halten durch.

Am 1. und 2. Februar 1732 erlässt Friedrich-Wilhelm I. von Preußen das berühmte Patent zur Aufnahme, der aus dem Salzburger Land emigrierenden Menschen. Er verspricht günstige Möglichkeiten für einen Neuanfang. Das breitet sich wie ein Lauffeuer bei den »Unangesessenen« und Wirten aus, die zwischenzeitlich auch vertrieben wurden oder noch im Pongau ausharren. Gestärkt durch ihren Glauben und die Hoffnung, die aufblüht, setzen sie die Wanderung quer durch die deutschen Lande fort.

Die Wanderung dauert einige Wochen. Aber sie werden meist freundlich empfangen, bewirtet und dürfen in Räumen, häufig Kirchen, übernachten, sich ausruhen. Einige verdingen sich unterwegs auch als Knechte und Mägde auf Höfen. Handwerker werden gebraucht und bleiben. Traudl und Sohn Andreas werden mit einem Schiff von Stettin nach Königsberg übergesetzt. Das verlangt vor allem Gertraudis besondere Strapazen ab. Auf den Segelschiffen gibt es wenig Möglichkeiten, sich zu wärmen. Die beiden erreichen mit dem vierten Schiff, unter Aufsicht des Commissari Hermann Preußen, die neue Heimat.

Gertraudis wird zunehmend schwächer. Der kräftige, eisige Wind, beengende Nähe zu den anderen Emigranten, machen ihr zu schaffen. Sie gehören zu den »Unangesessenen«, die vom König im April 1732 empfangen werden. Der Jubel und die Freude sind groß. Auch in Gertraudis wächst die Hoffnung. Sie fühlt sich ein wenig besser.

Der König braucht Menschen, um Ostpreußen wieder zu einem fruchtbaren, ertragreichen Land zu machen. Hungersnöte sind in seinem Preußen immer noch an der Tagesordnung. Die Pest hat in den Jahren 1709 bis 1712 das Land völlig entvölkert. Agnes Miegel schildert das in ihrem Gedicht »Die Frauen von Nidden« sehr eindringlich:

»Und in dem Dorf, aus Kate und Haus,

sieben Frauen schritten heraus.

Sie schritten barfuß und tiefgebückt

in schwarzen Kleidern buntgestickt.

Sie kommen die steile Düne hinan,

Schuh und Strümpfe legten sie an.

Und sie sprachen: »Düne, wir sieben

Sind allein noch übrig geblieben.

Kein Tischler lebt, der den Sarg uns schreint,

Nicht Sohn noch Enkel, der uns beweint.

Kein Pfarrer mehr, uns den Kelch zu geben,

Nicht Knecht noch Magd ist mehr unten am Leben.«

Der König braucht Menschen. Trotzdem lässt er die Menschen strengen Glaubensprüfungen und Fragen zur Bibelfestigkeit unterziehen. Gertraudis hat schon als Jugendliche in der Bibel gelesen, jetzt kann sie zeigen, wie überzeugt sie vor allem vom Neuen Testament ist. Der König ist beeindruckt von den Salzburgern. Jeder, ob Frau, Mann oder Kind, bekommt etwas Geld, dass erst einmal das Überleben sichern soll. Er verspricht spontan 1000 Familien aufzunehmen. Im Juni 1732 wird das Angebot auf 10 000 erhöht. Aber das wird auch nicht ausreichen.

Thomas Gruber gehört zu den Ersten, die Königsberg auf dem Landwege erreichen. Er erwartet seine Familie sehnlichst. Er zieht durch die Kirchen und sucht. Endlich findet er sie. Die kleine Familie ist wieder vereint. Einige Monate müssen sie in Königsberg ausharren. Die Besitzverhältnisse der Familie müssen erst geklärt werden. Als klar ist, das Thomas Gruber und Gertraudis Stainerin Wirte in St. Veit auf Gut Klinglberg waren und sie »wahre Evangelische« sind, können sie weiterziehen.

Ostpreußen ist schon dichter besiedelt, als sie erwartet hatten. Der König hatte schon ab 1722 Nassauer, Pfälzer, Litauer und andere aufgenommen. Der Traum von einer Ansiedlung der Salzburger Emigranten möglichst nah beieinander, kann nicht realisiert werden. Trotzdem wird Gumbinnen zum Zentrum der Salzburger. Platz für die Stainer/Grubers ist dort nicht mehr.

Aber wieder ist es der König, der hilft. Im Frühjahr 1733 geht man die Ansiedlung derer, die noch nicht sesshaft geworden sind. Wüstes Land wird gerodet und urbar gemacht. Schließlich bekommen auch Gertraudis Stainerin, Thomas Gruber und Sohn Andreas eine Fläche zugewiesen. Die Fläche liegt auf einem Flecken, der Wertimlauken heißt. Der nächste Nachbar ist sechs Kilometer entfernt. Das kommt Thomas Gruber entgegen. Er braucht Ruhe nach der Vertreibung und den furchtbaren Erlebnissen auf der Hohensalzburg. Der König hat den Wirten mit den größeren Gütern zwei Hufen Ackerland mit dem erforderlichen Inventar, zwei Pferde, zwei Ochsen, einen Pflug, die übrigen Ackergeräte und das nötige Saatkorn zur Verfügung gestellt. Gertraudis ist so geschwächt, dass Mann und Sohn sie stützen müssen. Sie bleibt in Pilkallen, einer Kleinstadt in der Nähe von Wertimlauken, auf einem Krankenlager. Sie hofft, dort wieder gesund zu werden. Vater und Sohn ziehen weiter. In Wertimlauken müssen sie anpacken. Beide sind, trotz der Strapazen der Vertreibung, gesund und zuversichtlich. Sie wissen, dass sie es schaffen werden. Der König hat sie mit dem Nötigsten ausgestattet. Ein Haus und ein Stall müssen errichtet werden. Die Nachbarn helfen einander. Balken und Stroh stehen zur Verfügung. Sie schlafen in einem kleinen Zelt, im Winter bei den Nachbarn. Schnell pflanzen sie Gemüse an und immer wieder helfen Salzburger sich gegenseitig, auch wenn es um die Ernährung geht. Bei gemeinsamen Gottesdiensten am Sonntag besuchen sie Gertraudis. Sie haben einen kleinen Kastenwagen erworben. Eines der Pferde wird angespannt. So erreichen sie die Kleinstadt in einer halben Stunde.

Gertraudis ist schwach und hinfällig. Sie liegt auf einer Krankenstation in Pillkallen. Träume und Gedanken an die verlorene Heimat, an das Gut in St. Veit, quälen sie. Gegen Morgen meint sie, einen Hahn zu hören. Er kräht laut und deutlich. Kühe trampeln im Stall unruhig hin und her. Sie wollen gemolken werden. Sie möchte schnell zum Stall laufen. Mühsam richtet sie sich auf, will in den Stall laufen. Sie fällt stöhnend wieder zurück auf ihre Liege. Fledermäuse scheinen ihr Gesicht zu streifen. Manchmal duftet es nach Heu. Die Heimat scheint so nah. In wachen Momenten überwältigt sie die Wirklichkeit. Sie liegt auf einer stinkenden Liege. Sie kann nicht einmal mehr weinen, die Tränen sind versiegt. Nach einigen Wochen stirbt sie.

Gertraudis ist 61 Jahre alt geworden. In der neuen, ihr fremden Heimat, ist sie nie wirklich angekommen. Ein gutes, ein schweres, ein arbeitsreiches Leben ist zu Ende gegangen. Am Ende schließt sie Frieden mit ihrem Gott. Vater und Sohn begraben sie in der Nähe des neuen Hofes. Zum Trauern bleibt wenig Zeit.

Der König hat inzwischen eine Entschädigung der Wirte, für die in der Heimat verlassenen Höfe durchgesetzt. Sie bekommen eine Entschädigung. Der Betrag entspricht wohl nur 25 Prozent des eigentlichen Wertes, aber er erleichtert den Start. Bischof Firmian muss sich gegen massive Vorwürfe, die aus ganz Europa kommen, wehren. Der beginnende Humanismus und die vielen verwahrlosten, verlassenen Höfe schaden seinem Ruf und seinem Land.

Das neue Land muss für Vater und Sohn erst zur Heimat werden. Gertraudis fehlt.

*****

Maria Leitner (1725 - 1787)

Maria ist sieben Jahre alt, als sie mit ihren Eltern und der Großmutter den Bauernhof in St. Veit im Salzburger Land verlassen muss. Sie hat mit angehört, wie Vater und Mutter stritten. Die Mutter wollte ihrem lutherischen Glauben abschwören und wieder katholisch werden, so wie Bischof Firmian in Salzburg das verlangt. Der Vater hat sich durchgesetzt. Er will seinem Glauben treu bleiben. Es ist ihm noch gelungen, das Gut für 2170 Taler zu verkaufen. Er war Wirt eines größeren Hofs im Tal von St. Veit. Eine kleine Mühle am nahegelegenen Bach gehörte dazu. Ein begehrter Hof. Traurig, verzweifelt, wütend verlässt die Familie ihren Besitz. Die Mutter weint. Sie schreit. Zwei Pferde ziehen den Leiterwagen. Sie gehen mit Sack und Pack. Der Wagen ist voll beladen. Vorne sitzt die Großmutter. Mutter, Vater, die beiden älteren Schwestern und Maria laufen nebenher. Im Treck mit anderen Angesessenen geht es langsam voran.