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Ankommen in einem neuen Zeitalter: Der berührende dritte Band der Lindenhof-Saga Hohenlohe, 1999: Franziska Wagner wünscht sich nichts sehnlicher, als ihr Talent für Holzarbeit zu leben und die Zukunft des Lindenhofs mitzugestalten. Doch ihre Großmutter Marianne lässt sie nicht. Zu tief sitzen ihre Vorurteile gegen Franziskas Herkunft. Marianne möchte den Hof viel lieber an ihre Nichte Helena übergeben, die hinter ihrem Rücken Übles im Schilde führt. Franziska reißt aus geht ins Erzgebirge - auf den Spuren ihrer anderen Familie und der berühmten Seiffener Holzkunst. Dort lernt sie Christian kennen. Wird ihre Liebe Franziska endgültig vom Lindenhof trennen oder wird sie wieder mit den Wagners zusammenfinden? Drei Frauen kämpfen um Selbstbestimmung und die Liebe: Die Lindenhof-Saga. Band 1: Ein Neuanfang für uns Band 2: Zusammen können wir träumen Band 3: Gemeinsam der Zukunft entgegen
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Seitenzahl: 517
Katharina Oswald
Gemeinsam der Zukunft entgegen
Roman
Hohenlohe, 1999: Die junge Franziska hat schon früh gezeigt, dass sie ein besonderes Talent für Holzarbeiten hat und sie liebt den Lindenhof über alles. Doch ihre Großmutter Marianne misstraut ihr, da sie ahnt, wer Franziskas wahrer Vater ist. Da taucht unerwartet Franziskas Tante Helena auf und möchte den Lindenhof übernehmen. Doch Franziska vermutet, dass Helena ganz und gar nichts Gutes mit dem Familienbetrieb vorhat. Als sich der Konflikt zuspitzt, macht sich Franziska auf ins Erzgebirge - dort will sie mehr über den unbekannten Teil ihrer Familie herausfinden und die berühmte Seiffener Holzkunst kennenlernen. Dort angekommen trifft sie den jungen Sozialpädagogen Christian. Er gerät immer wieder in Schwierigkeiten, weil er seinen Schutzbefohlenen Rat gibt, der so gar nicht zu den Vorstellungen seiner Vorgesetzten passt. In Franziska weckt er eine rebellische Seite - wird sie das noch weiter von ihrer Familie auf dem Lindenhof entfernen oder wird Franziska beginnen, um ihr Erbe zu kämpfen?
Drei Frauen kämpfen um Selbstbestimmung und die Liebe: Die Lindenhof-Saga.
Band 1: Ein Neuanfang für uns
Band 2: Zusammen können wir träumen
Band 3: Gemeinsam der Zukunft entgegen
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Andrea Bottlinger und Claudia Hornung schreiben gemeinsam als Katharina Oswald. Beide sind in Baden-Württemberg geboren und lieben es, sich in Frauenschicksale verschiedener Jahrzehnte hineinzudenken. Sie kennen sich schon lange und ergänzen sich beim Schreiben perfekt: Andrea achtet immer auf die Struktur der Geschichte und Claudia vertieft sich ganz in die Details und Emotionen. Zusammen haben sie eine mitreißende Familiensaga geschaffen.
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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Epilog
Nachwort
Inhaltswarnung
Hohenlohe, Juli 1996
Franziska stieg als Letzte aus dem Schulbus.
»Trödel nicht so«, rief Miriam, die draußen ungeduldig auf und ab hüpfte. »Wir wollten doch heute Eis essen.«
»Ich komme lieber nicht mit.« Verlegen starrte Franzi auf ihre abgewetzten Turnschuhe.
»Wegen deinem Zeugnis?«, fragte Miriam.
Franzi nickte. Bis zuletzt hatte sie gehofft, dass sie versetzt werden würde. Trotz des blauen Briefs, den sie kurz vor Ostern mit nach Hause gebracht hatte. Es war nicht ihr erster blauer Brief gewesen, denn schlechte Noten bekam sie leider öfter, aber bisher hatte es am Schuljahresende trotzdem immer noch gerade so für die Versetzung in die nächste Klasse gereicht.
Dieses Mal nicht.
Dieses Mal war sie durchgefallen und würde die achte Klasse an der Haller Realschule nach den Sommerferien wiederholen müssen. Ohne Miriam und ihre anderen Freundinnen, die es alle in die neunte geschafft hatten.
Ziemlich bedrückende Aussichten, fand sie. Deshalb war sie auch kein bisschen mehr in Ferienstimmung.
»Jetzt guck nicht so traurig.« Miriam knuffte sie tröstend in die Seite. »Deine Eltern sind nett, die werden dir schon nicht den Kopf abreißen.«
»Nein, die wohl nicht.« Franzi seufzte. »Eher meine Oma.«
»Komm endlich! Die Schlange wird immer länger.« Miriams jüngerer Bruder zerrte ungeduldig an der Hand seiner Schwester. »Oder gib mir das Geld fürs Eis.«
»Ich komme ja schon. Schöne Ferien, Franzi!«
Und schon liefen die beiden auf das Waldenburger Café zu. An der Eistheke warteten bereits mehrere Kinder und Jugendliche, und zwei Frauen saßen davor an einem Tischchen unter der gestreiften Markise und tranken Kaffee. Franzi wäre Miriam am liebsten nachgelaufen, um das Unvermeidliche doch noch eine Weile hinauszuzögern. Aber stattdessen überquerte sie die gepflasterte Straße und schlug den Weg nach Hause ein.
Bald hatte sie die Häuser am Ortsrand hinter sich gelassen. Mit gesenktem Kopf trottete Franzi durch den Wald. Hier im Schatten war es angenehmer, das grüne Blätterdach hielt das Sonnenlicht und die Hitze ab.
Je näher sie dem Lindenhof kam, umso langsamer wurden ihre Schritte. Der Schulrucksack auf ihrem Rücken schien mit jedem Meter schwerer zu werden.
Ausgerechnet heute saß ihre Oma natürlich auf der Bank unter der Linde – keine Chance für Franzi, unbemerkt ins Haus zu kommen. Schon wandte sie lauschend den Kopf.
»Franziska, bist du das?«
»Ja«, sagte sie. »Hallo, Oma.«
»Du klingst nicht allzu fröhlich.«
Du auch nicht, hätte Franzi fast erwidert, aber das konnte sie sich gerade noch verkneifen. Frechheiten duldete Marianne nicht, darauf reagierte sie noch schärfer als ohnehin schon.
»Wie ist dein Zeugnis ausgefallen? Wieder so miserabel wie beim letzten Mal?«
»Ähm, also …«, Franzi suchte verzweifelt nach einem Vorwand, um zu verschwinden. Vor dem Haus parkte der Wagen ihres Vaters, der als Journalist sonst eher selten mittags zu Hause war – vielleicht konnte sie das als Grund vorschieben?
Doch schon griff ihre Oma nach dem Stock, mit dem sie sich beim Gehen behalf, und stand auf. »Bleib gefälligst hier, wenn ich mit dir rede! Wann begreifst du endlich, dass gute Noten wichtig sind?«
Franzi schob die Unterlippe vor.
»Du wirst im Leben nie etwas erreichen, wenn du das Lernen schleifen lässt«, setzte ihre Oma die Vorwürfe fort. »Ich begreife nicht, warum Corinna dir das durchgehen lässt. Sie sollte doch am besten wissen, was dabei herauskommt! Hast du in Mathematik wieder eine Fünf?«
Jetzt reichte es Franzi. »Ja.« Sie verschränkte die Arme. »Und damit du’s weißt, in Chemie und Geschichte auch. Ich bin sitzengeblieben!«
Das klang wütender und trotziger, als ihr innerlich zumute war. Ihre Augen brannten. Gleich würde sie anfangen zu weinen. Aber das konnte ihre blinde Oma nicht sehen.
»Bist du etwa auch noch stolz darauf?« Blanke Empörung zeichnete sich auf dem verhärmten Gesicht ab. »Willst du so enden wie deine Mutter? Dann mach nur so weiter!«
Franzi blinzelte. Sie begriff nicht, wovon ihre Oma sprach. Ihre Mutter leitete die Familienschreinerei, was Franzi toll fand. Außerdem hatte sie Abitur und war sehr belesen. »Mama hat sogar studiert.«
»Ich rede von deiner richtigen Mutter, nicht von Corinna!«
Franzi verschlug es die Sprache. In ihren Ohren rauschte es, als sie versuchte, die Worte zu erfassen.
Richtige Mutter? Corinna war ihre richtige Mutter! Oder etwa nicht? Sie sah ihren Eltern tatsächlich nicht sehr ähnlich, das hatten auch schon viele Leute angemerkt. Aber dass sie nicht ihre richtigen Eltern waren, das konnte doch nicht sein, das hätten sie ihr doch gesagt!
Plötzlich schien der Wald totenstill. Sogar das Gezwitscher der Vögel war verstummt.
»Was?«, stammelte sie. »Wer …?«
»Petra hat sich genauso wenig für die Schule interessiert wie du«, schimpfte Oma Marianne bereits weiter. »Und ich war so dumm, sie darin auch noch zu bestärken. Aber was hat’s ihr gebracht? Sie war viel zu leichtsinnig, dafür bist du ja der beste Beweis!«
Franzis Gedanken überschlugen sich. Sie wusste, wer Petra war – eine gute Freundin ihrer Mutter, die jung gestorben war. Drüben in der Werkstatt hing ein Foto von ihr. Petra hatte die Mondrakete und weitere Spielzeugmodelle gebaut, die sie heute noch herstellten.
»Petra war meine Mutter?« Franzis Stimme brach.
»Ja, sie ist bei deiner Geburt gestorben.« Erst jetzt schien ihre Oma zu bemerken, was sie da gerade im Zorn offenbart hatte. Doch, wie auch sonst, lag es ihr fern, sich einzugestehen, einen Fehler gemacht zu haben. »Deine Eltern hätten dir das schon viel früher erzählen sollen«, beharrte sie, anstatt die Enthüllung irgendwie zurückzunehmen. »Schließlich bist du kein kleines Kind mehr, und eine Adoption ist nichts Verwerfliches!«
Franzi wurde schwindelig. Der Waldboden unter ihren Turnschuhen fühlte sich mit einem Mal nicht mehr fest und vertraut, sondern weich und nachgiebig an. Als könne er ihr keinen Halt mehr geben. Ihr ganzes Leben, alles, woran sie bisher geglaubt hatte, geriet ins Wanken.
»Ich bin adoptiert worden?«
»Ja, kurz nach der Hochzeit. Vorher ging es ja nicht.«
Franzi starrte Oma Marianne an. Wenn es stimmte, was sie sagte, dann war diese strenge alte Frau gar nicht ihre Oma. Dann waren sie nicht miteinander verwandt.
»Und mein Vater …?«
»Marc ist ebenso wenig dein Vater, wie Corinna deine Mutter ist«, erklärte Marianne. »Dein wahrer Vater ist ein Taugenichts! Wenn du nicht in seine Fußstapfen treten willst, musst du dich mehr anstrengen. Ja, Petras Noten waren auch schlecht, aber sie hatte wenigstens Talent fürs Handwerk. Und du? Du hast dir beinahe die Fingerkuppen abgefräst, als du mal ein Stück Holz bearbeitet hast! Was soll aus dir bloß mal werden?«
Mit glühenden Wangen erinnerte Franzi sich daran, wie sie ihre Oma angebettelt hatte, ihr die Holzarbeit beizubringen. Der Versuch war gründlich schiefgegangen. Seitdem war ihre Oma der Ansicht, dass sie zu ungeschickt war, um mit »richtigem« Werkzeug umzugehen. Und Franzi hatte sich nicht wieder in die Werkstatt getraut. Dabei liebte sie den Duft des Holzes und das Gefühl der Maserung unter ihren Fingerspitzen. Sie würde das Fräsen nur allzu gerne noch einmal versuchen. Bloß nicht unter Anleitung ihrer blinden Oma.
»Aber wieso …?«, begann sie, gar nicht sicher, was sie eigentlich fragen wollte.
»Schluss jetzt mit der Fragerei!«, fuhr Marianne sie an. »Wenn du mehr wissen willst, wende dich an jene, die dir die Wahrheit viel zu lange verschwiegen haben.« Sie fuchtelte drohend mit dem Stock in der Luft, dann wandte sie sich ab und setzte sich wieder auf die Bank unter der Linde.
Franzi bewegte sich auf die Haustür zu. Mechanisch setzte sie einen Fuß vor den anderen, ohne wirklich zu merken, was sie da tat. Erst als sie die Tür aufschob, den Kaffeeduft aus der Küche roch und ihren Vater leise telefonieren hörte, wurde ihr klar, dass sie ihm oder ihrer Mutter jetzt nicht gegenüberstehen wollte.
Das waren nicht ihre Eltern!
Von einer Sekunde auf die andere hatte sich ihr Leben in nichts aufgelöst. Sie hatte keine Eltern, keine Familie. Alles, woran sie je geglaubt hatte, war eine Lüge gewesen.
Wen interessierte da noch ihr Zeugnis?
Franzi schmiss ihren Schulrucksack in den Flur, drehte sich auf dem Absatz um und rannte in Richtung Wald.
»Franzi?« Auf der Höhe der Schreinerei rief jemand nach ihr. Als sie sich umdrehte, stand der einarmige Ludwig dort. »Franzi, was ist denn los?«
Franzi schüttelte nur stumm den Kopf, fand nicht die Worte, um zu erklären, was gerade ihre Welt zerstört hatte. Ludwig winkte sie zu sich. »Komm erst mal rein. Dann kannst du mir erzählen, was los ist, während ich arbeite.« Franzi zögerte kurz, doch dann folgte sie Ludwig in die Werkstatt. Als der unverwechselbare Duft von frischen Sägespänen sie umgab, fühlte sie sich gleich etwas besser. Langsam kamen die Worte, und sie begann zu erzählen.
Hohenlohe, Mai 1999
»Ludwig!« Franzi wusste, dass sie eigentlich aus dem Alter raus war, wo man Leuten jauchzend entgegenrannte. Sie wurde im August achtzehn, demnächst würde sie mit der Schule fertig sein. Aber bei dem alten Freund der Familie war das etwas anderes. Selbst mit über siebzig Jahren blieb er stehen, ging in die Hocke und breitete seinen Arm aus, um sie aufzufangen. Sie sprang an seine linke Seite, um ihn nicht, weil ihm der andere Arm fehlte, aus dem Gleichgewicht zu bringen, und er schloss sie lachend in seinen einen Arm.
»Eines Tages wirfst du mich noch um.«
Franzi kicherte. »Oder ich falle einfach über dich drüber, weil ich längst zu groß bin, als dass du dich extra bücken müsstest.«
»Gewohnheit.« Ludwig richtete sich wieder auf und zerzauste ihr das Haar. »Aber was machst du eigentlich hier draußen? Solltest du nicht für deine Prüfungen lernen?«
Franzi verzog das Gesicht. Sie hatte am Ufer des Goldbachs herumgelungert, weil sie von dort aus das Tor zur Schreinerei im Auge behalten konnte. Mittwoch war einer von den Tagen, an denen Ludwig in der Regel nachmittags auftauchte. Zu seinem Vergnügen arbeitete er immer noch stundenweise in der Schreinerei. Und wenn er kam, nahm er meist Franzi mit in die Werkstatt, erlaubte ihr, dass sie ihm half. Jetzt deutete sie auf die Schulbücher, die zugeklappt neben der Decke im Gras lagen. »Ich habe gelernt.«
Zumindest hatte sie das vorgehabt, bis ein Eichhörnchen, das in einem nahen Baum herumgehopst war, sie abgelenkt hatte. Und dann war sie ins Träumen geraten, was in der Maisonne auch viel mehr Spaß machte, als Mathe und Physik zu büffeln. Aber das musste Ludwig ja nicht wissen.
Skeptisch betrachtete er die Bücher. Dann nickte er.
»Warst du heute schon drin?«, fragte er und kramte nach seinem Schlüssel. Das Tor war immer abgeschlossen, seit Franzi denken konnte. Ihre Mutter bestand darauf.
Franzi schüttelte den Kopf. »Drinnen ist die Stimmung schlecht.«
»Ja?« Ludwig überquerte die schmale Straße und schloss das Tor auf. Eilig sammelte Franzi ihre Bücher und die Decke ein, um ihm zu folgen. Er hielt ihr das Tor auf und schloss es gleich wieder hinter ihnen zu. Irgendwie eine etwas übertriebene Vorsichtsmaßnahme, aber so machten sie es alle.
»Es geht wohl um die Fernsehserien«, erklärte Franzi. »Papa hat angerufen, und seitdem stecken Lotte und Mama nur noch die Köpfe zusammen. Sie haben ganz kurzfristig eine Mitarbeiterversammlung einberufen.«
Zu gerne hätte Franzi gewusst, was dort besprochen wurde, aber Lotte hatte sie heute abgewimmelt, als sie darum bitten wollte, dabei sein zu dürfen. Es war frustrierend. Etwas Wichtiges passierte, und sie bekam es als Letzte mit.
»Hm …« Nun blickte auch Ludwig ernst drein. Er beschleunigte seine Schritte, und Franzi beeilte sich hinterherzukommen.
»Jetzt rede du doch wenigstens mit mir! Was denkst du denn, was da los ist?«
»Ich weiß es nicht, aber ich finde es heraus.«
»Und dann erzählst du es mir?«, fragte Franzi.
Ludwig drehte sich zu ihr um und lächelte sie an. »Dann erzähle ich es dir. Versprochen.«
Ungeduldig wartete Franzi im Holzlager auf seine Rückkehr. Sie hatte keine Lust, von ihrer Mutter erwischt und gefragt zu werden, wie es mit dem Lernen lief. Stattdessen stromerte sie zwischen den verschiedenen Holzklötzen und Brettern hindurch, die sich hier auf Paletten stapelten. Die meisten der Spielzeuge wurden aus Buche hergestellt, aber einige Steckverbindungen benötigten noch härteres Material, damit sie nicht zu schnell brachen. Der Lindenhof warb damit, alles aus Holz zu machen, sie verwendeten keine Schrauben und keine Nägel.
Franzi atmete tief den Duft von frisch geschnittenem Holz ein und sah sich dabei im Lager um. Am Ende eines Ganges entdeckte sie eine Kiste mit Balsaholz. Dieses besonders leichte Material war bestimmt für die Entwicklung eines neuen Projekts bestellt worden. Es wog kaum mehr als Pappe, und Franzi drehte eine der dünnen Platten fasziniert in den Händen.
»Das ist schön, nicht wahr?«, erklang Ludwigs Stimme hinter ihr.
Franzi zuckte zusammen und legte das Holz hastig weg. »Ja, aber für Spielzeug taugt es nicht. Das bricht doch zu schnell.«
»Wenn du es zwischen zwei andere Platten leimst, kannst du damit gut dickere Teile herstellen, ohne dass sie zu schwer werden.«
Daran hatte Franzi noch gar nicht gedacht. Das war interessant. Gerne hätte sie diese Technik einmal ausprobiert.
Ludwig hatte allerdings einen anderen Plan. »Wir machen heute Eichendübel.« Er hatte sich schon umgedreht, als er noch einmal innehielt und sich Franzi wieder zuwendete. »Außer du möchtest mir doch nicht helfen?«
Natürlich wollte Franzi ihm helfen. Dübel herstellen war zwar eine monotone Arbeit, aber auch sehr befriedigend, wenn man es genoss, die Späne fliegen zu sehen. Und das genoss Franzi immer!
Sie folgte Ludwig nach draußen. Da er in der Werkstatt keinen festen Arbeitsplatz mehr hatte, arbeitete er im Sommer gerne unter dem Vordach, das vor einigen Jahren angebracht worden war, um dort die Dinge anzufertigen, bei denen besonders viel Abfall entstand. Hier draußen waren sie außerdem die meiste Zeit allein und konnten ungestört reden.
»Also«, fragte Franzi, während sie die Lochschablone an einem schweren Arbeitstisch in den Schraubstock einspannte, »was hast du rausgefunden?«
»Hm …« Einen Moment lang wirkte Ludwig, als würde er zögern, es ihr zu verraten.
»Du hast es versprochen!«, erinnerte sie ihn.
»In Ordnung, in Ordnung.« In einer Geste der Kapitulation hob er seine linke Hand. »Es geht wirklich um die Serien. Sie werden eingestellt.«
Franzi runzelte die Stirn. Kurz nach ihrer Geburt waren beim Fernsehsender in Stuttgart zwei Kinderserien mit Spielzeug des Lindenhofs angelaufen. In einer der Serien ging es um Abenteuer im Weltraum, in der anderen um eine Familie, die auf einem Bauernhof lebte. Aber seit Jahren schon waren keine neuen Folgen mehr gedreht worden, und nicht einmal den Fernsehsender, der sie ausgestrahlt hatte, gab es noch. Letzten Herbst war aus dem SDR, bei dem ihr Vater gearbeitet hatte, der SWR geworden, und in dem Zuge hatte er seine Festanstellung eingebüßt. Seitdem arbeitete Marc freiberuflich und war noch weniger zu Hause als zuvor. »Die Folgen sind doch eh nur wiederholt worden. So schlimm kann das also nicht sein, oder?«
Ludwig wiegte den Kopf. Er zog einige Vierkanteichenleisten aus einer Kiste. Die Dübel für das Spielzeug mussten sehr fein sein, deshalb waren die Hölzer entsprechend dünn. Ludwig hatte für die Herstellung von Dübeln über die Jahre seine eigene Methode entwickelt und dazu auch selbst eine Schablone angefertigt. Jetzt musste nur die Holzleiste in die Bohrmaschine eingespannt und durch das Loch der Schablone getrieben werden, und hinten kam ein sauber gefrästes Rundholz heraus, das man dann in kleine Stücke zersägen konnte.
»Lotte sagt, die Verkäufe unserer Spielzeugklassiker ziehen jedes Mal wieder an, wenn eine der Serien im Fernsehen läuft. Dann wird’s wohl so sein, dass es ein Problem gibt, wenn sie in Zukunft nicht mehr gezeigt werden.« Ludwig zuckte mit den Schultern. »Aber auch wenn ich keine Ahnung von solchen Dingen hab, bin ich mir sicher, dass die Schreinerei schon Schlimmeres überstanden hat.«
Er warf die Bohrmaschine an, während Franzi das feine Schleifpapier bereithielt, um den Rundhölzern den letzten Schliff zu geben. Bei dem Lärm war eine Unterhaltung kaum möglich, doch Franzis Gedanken kreisten weiter um das Thema. Wenn ihre Großtante Lotte sich Sorgen machte, dann musste es einen triftigen Grund dafür geben. Seit sie denken konnte, war Lotte diejenige, die die Schreinerei mit am Laufen hielt, sie war der Fels in der Brandung. Was war, wenn die ganzen Klassiker, wie Ludwig die Spielsachen genannt hatte, nicht mehr gekauft wurden? Neben den traditionellen Puppenhausmöbeln gab es nur wenig, wofür der Lindenhof so richtig bekannt war. Immer wieder hatten Mitarbeiter kleinere neue Projekte entwickelt, zu denen Corinna sich Geschichten ausgedacht hatte, aber nichts davon war mehr ein Verkaufshit gewesen, geschweige denn für Verfilmungen genutzt worden. Allen Erzählungen zufolge, die Franzi auch über die Zeit vor ihrer Geburt gehört hatte, waren Corinnas Ideen damals die Rettung gewesen. Die Fernsehserien hatten das Lindenhof-Holzspielzeug bekannt gemacht und so dringend benötigtes Geld in die Kasse gespült. Ganz davon abgesehen, dass Franzi die Serien liebte, wie würden sie wohl ohne sie durchkommen?
Während Franzi später die fertigen Rundstäbe auf die richtige Länge zurechtsägte, wanderten ihre Gedanken weiter. Ihre Mutter hatte damals ihre Großmutter abgelöst und die Leitung der Schreinerei übernommen. Bis sie erfahren hatte, dass sie adoptiert war, hatte Franzi immer gedacht, dass sie irgendwann genauso in die Fußstapfen ihrer Mutter treten würde. Erst Mariannes böse Vorhaltungen damals, als sie die Klasse hatte wiederholen müssen, hatten sie daran zweifeln lassen. Aber was, wenn es ihr, so wie ihrer Mutter einst, auch gelingen würde, ein Konzept zu entwickeln, mit dem sie die Schreinerei erhalten konnten? Sie liebte die Arbeit mit Holz, und der Lindenhof war der einzige Ort, an dem sie sich heimisch fühlte. Vielleicht würde sie endlich ernst genommen, wenn sie sich stärker einbrachte. Dann würde sie die Neuigkeiten auch nicht mehr nur von Ludwig erfahren.
Die Frage war bloß, ob sie eine Idee hatte, die gut genug sein würde.
Zum Abendessen kam Franzi zu spät. Sie hatte noch beim Aufräumen geholfen und sich von Matthias, dem Drechsler, seine neuesten Arbeiten zeigen lassen. Wie sich herausstellte, hatte er das Balsaholz bestellt, um daraus einen komplexen Bausatz zu basteln. Auf dem kurzen Heimweg durch den Wald spukten Franzi immer noch die kleinen Zahnräder im Kopf herum, die perfekt ineinandergegriffen hatten. Vielleicht war Matthias da an etwas wirklich Großem dran.
Als Franzi das Esszimmer betrat, starrte Oma Marianne ihr mit blinden Augen missbilligend entgegen. »Ich erkenne dich an deinen Schritten, Franziska. Wo hast du dich so lange herumgetrieben?«
»Jetzt hack doch nicht gleich wieder auf ihr herum«, ging Corinna dazwischen.
Franzi zog den Kopf ein. Sie würden doch nicht schon wieder ihretwegen streiten? Zum Glück hatte sie die Schulbücher unterm Arm. Die hielt sie demonstrativ hoch, auch wenn Marianne das natürlich nicht sehen konnte. »Ich hab draußen gelernt.«
Ihre Oma schnaubte ungläubig, aber ihre Mutter lächelte ihr zu. »Wasch dir noch die Hände, bevor du dich an den Tisch setzt. Es gibt Maultaschen.«
Franzi beeilte sich, die Bücher wegzubringen und sich die Hände zu waschen. Als sie wieder zurückkam, saßen auch Lotte und Patentante Ella am Tisch. Die beiden Frauen waren unter der Woche oft zum Abendessen da. Dass sie noch später gekommen waren als Franzi, schien niemanden zu interessieren.
Während Franzi sich Maultaschen mit Brühe aus dem Topf schöpfte, wandte Marianne sich an Corinna. »Ich nehme an, ihr habt schon Pläne, was ihr jetzt, wo die Serien eingestellt werden, unternehmen wollt. Da bricht ja bald einiges an Einnahmen weg.«
»Mama, wir wissen es doch auch erst seit heute Morgen. Gib uns ein bisschen Zeit.«
Franzi schob den Topf möglichst leise in die Mitte des Tisches zurück. Wenn es um diese Themen ging, vergaßen alle besser, dass sie mit dabeisaß.
»Ihr habt doch sicher in der Mitarbeiterversammlung nicht nur Däumchen gedreht.«
»Wir haben den Mitarbeitern die Neuigkeit mitgeteilt und sie gebeten, Vorschläge zu machen. Bis nächste Woche.« Corinna rieb sich die Schläfen in einer matten Geste. Nun bemerkte Franzi auch die Ringe unter ihren Augen, die sie vergeblich versucht hatte zu überschminken. In letzter Zeit wirkte ihre Mutter immer erschöpft.
»Bis nächste Woche?«, brauste Marianne auf. »Wir hätten schon viel früher reagieren sollen. Spätestens, als Marc den Sender verlassen hat, hättest du einkalkulieren müssen, dass so etwas passieren könnte. Jetzt gilt es, Einsatz zu zeigen und schleunigst gegenzusteuern. Da kannst du doch nicht abwarten!«
Franzi beobachtete, wie ihre Mutter Marianne einen Moment lang müde anblickte. Ein Anflug von Ärger zog über ihr Gesicht, aber dann schüttelte sie einfach nur leicht den Kopf.
Instinktiv streckte Franzi die Hand aus, berührte den Arm ihrer Mutter. »Alles okay?«
Die wandte sich ihr zu, schenkte ihr ein Lächeln, während sie ihre Hand auf Franzis legte. »Ja, alles in Ordnung. Das Ganze ist nicht dein Problem, Franzi. Konzentrier du dich auf deine Prüfungen und mach dir keine Sorgen. Wir kriegen das schon hin.«
Franzi blickte genervt auf ihren Löffel. Es war immer dasselbe! Alle redeten mit ihr, als wäre sie noch ein kleines Kind, dem man kein Verantwortungsbewusstsein zutrauen konnte.
»Wir sollten ohnehin nicht beim Essen über die Arbeit reden«, schaltete Lotte sich ein. »Wir haben Feierabend.«
Mist, damit war das Thema erledigt. Dabei hätte Franzi liebend gerne weiter über die Arbeit geredet. Andererseits schien ihre Mutter wirklich dringend eine Pause zu brauchen.
Für eine Weile kehrte Schweigen am Tisch ein. Franzi beugte sich über ihre Maultaschen und lauschte auf das Klappern des Bestecks. Sie wünschte, ihre Großmutter würde nicht wie eine Matriarchin am Kopfende des Tisches thronen, stets bereit, jeden aufs Schärfste anzugehen, der es wagte, eine eigene Meinung zu äußern. Laut Ludwig war Marianne früher anders gewesen – voller Kreativität, Schwung und Lebensfreude. Aber der Tod ihres Mannes und der Verlust ihres Augenlichts hatten sie verbittern lassen.
Schließlich brach Ella die Stille.
»In unserem Betrieb wird bald ein Ausbildungsplatz frei.« Sie zwinkerte Franzi zu. »Wie wär’s, hättest du Interesse? Du hast doch zwei geschickte Hände.«
Das zu hören, nachdem Oma Marianne immer das Gegenteil behauptete, war unerwartet und tat richtig gut. Der Gedanke, mit ihrer zierlichen rothaarigen Patentante zusammenzuarbeiten, gefiel Franzi. Sie mochte Ella, hatte sie immer schon gemocht. Im Gegensatz zu Steffi, ihrer anderen Patin, die sie nur selten sah, war Ella eine wichtige Bezugsperson für sie. Aber Franzi hatte eigentlich nicht vor, Elektrikerin zu werden. Deshalb verzog sie das Gesicht. »Ich würde innerhalb kürzester Zeit an einem Stromschlag sterben.«
Ella lachte. »Teil der Ausbildung ist es natürlich auch zu lernen, wie man das vermeidet.«
»Trotzdem.« Franzi schüttelte den Kopf. »Danke, aber ich denke, das ist nichts für mich.«
»Allmählich wird es Zeit, dass du dir überlegst, was du machen willst. Es kann sicher nicht schaden, wenn du dir verschiedene Möglichkeiten einmal genauer ansiehst«, fügte Corinna hinzu. »Im Zweifelsfall machst du nach dem Abschluss im Sommer erst mal ein Praktikum.«
Franzi seufzte. Sie wusste doch schon, was sie wollte. »Ich will in der Schreinerei arbeiten.«
Marianne schnaubte. Es war nur ein leises Schnauben, aber für Franzis Ohren übertönte es alle anderen Geräusche. Ihre Großmutter wollte sie nicht im Familienbetrieb haben, so viel war klar.
Anscheinend hatte Corinna das Schnauben auch gehört, denn sie warf Marianne einen kurzen Blick zu.
»Franzi, Liebes, du hast dich doch noch gar nicht nach anderen Möglichkeiten umgeschaut«, sagte sie schließlich. »Unsere Schreinerei ist das Einzige, was du kennst, aber das bedeutet doch nicht, dass es für dich auch das Richtige ist. Guck dich doch erst mal um, streck deine Fühler aus! Du bist jung, die ganze Welt steht dir offen …«
Jetzt klang sie fast wie Marc, der Franzi neulich vom Herumreisen vorgeschwärmt hatte. Aber was bitte war so erstrebenswert daran, nie zu Hause zu sein? Alles, was sie wollte, befand sich hier.
»Probier dich aus. Nimm die Möglichkeiten an, die sich dir bieten«, drängte ihre Mutter. »Jede davon ist eine Chance, deinen Horizont zu erweitern. Wenn du dann feststellst, dass die Arbeit mit Holz wirklich das ist, was dir am meisten zusagt, kannst du immer noch irgendwo eine Schreinerlehre machen und auf die Walz gehen.«
Hauptsache, sie blieb nicht auf dem Lindenhof – oder was sonst sollte das heißen? Franzi presste die Lippen fest zusammen. Warum wollte sie eigentlich niemand hier haben? Weil sie adoptiert war und nicht wirklich zur Familie gehörte? War das der Grund?
»Du könntest danach natürlich immer noch in unserer Schreinerei anfangen.« Das kam von Lotte, und Franzi lächelte ihrer Großtante dankbar zu. Immerhin eine Stimme, die sich nicht dafür aussprach, dass sie für alle Zeiten fortging. Dennoch, warum konnte sie nicht einfach bleiben, wo sie war? Warum musste sie erst weggehen?
»Ich denk drüber nach«, murmelte Franzi.
Erst einmal musste sie ohnehin die Mittlere Reife schaffen. Dem Gesichtsausdruck ihrer Oma nach zu urteilen, glaubte die eh nicht daran, dass das gelingen würde.
Lotte drückte ihre Unterlagen an die Brust, während sie zum Versammlungsraum eilte. Sie war spät dran, hatte noch versucht, die aktuellsten Zahlen aus dem letzten Quartal in ihre Berechnungen miteinzubeziehen. Es war deutlich, dass der Mangel an Innovation dem Lindenhof schon länger nicht guttat. Die Zahlen stagnierten, waren unter Berücksichtigung der Inflation sogar rückläufig. Bisher hatten die regelmäßigen Wiederholungen der Kinderserien im Fernsehen immer wieder für kurzzeitige Zuwächse gesorgt, hatten ihnen die Möglichkeit gegeben, passende Werbung zu schalten und damit die Verkäufe anzukurbeln. Aber das würde jetzt nicht mehr passieren. Und bis zum Weihnachtsgeschäft war es noch viel zu lange hin.
Lotte stürmte als eine der Letzten in den Raum, beeilte sich, am Tisch ihren Platz neben Corinna einzunehmen. »Tut mir leid.«
Corinna lächelte. »Keine Sorge, du kommst genau rechtzeitig.« Sie klopfte mit dem Kugelschreiber auf den Tisch, um so um Ruhe zu bitten.
Langsam verstummten die Gespräche ringsum, und die Leute wandten sich ihr zu. Während sie darauf wartete, dass das letzte Husten und Stühlerücken vorüberging, musterte Lotte ihre Nichte von der Seite. Sie wirkte müde, wie schon seit Wochen, und dass sie Marianne beim Abendessen letztens nicht einmal Kontra gegeben hatte, beschäftigte Lotte noch immer. Es war zwar erfreulich, wenn die beiden nicht, wie sonst ständig, stritten, aber es hatte beinahe so gewirkt, als hätte Corinna aufgegeben.
Nun allerdings richtete sie sich auf. »Danke, dass ihr alle gekommen seid. Ich hoffe, ihr habt viele Ideen mitgebracht. Aber zuerst möchte ich noch etwas Wichtiges bekannt geben.«
Überraschtes Gemurmel erhob sich im Raum, und auch Lotte runzelte die Stirn. Corinna hatte ihr gegenüber nichts erwähnt. Worum mochte es gehen?
Corinna räusperte sich, doch gerade als sie anheben wollte zu sprechen, öffnete sich die Tür. Im ersten Augenblick blendete Lotte das Sonnenlicht, das von draußen hereinfiel, und sie konnte von der Gestalt im Türrahmen nur die Silhouette erkennen. Dann scharrte ein Stock über den Boden, und Marianne trat ein. Mit ihrem Blindenstock ertastete sie sich den Weg durch den Raum.
Eilig sprang Elvira auf und nahm ihren Arm. »Du kannst meinen Platz haben, ich hole mir einen anderen Stuhl.«
Ringsum wurde Marianne von den Mitarbeitern begrüßt, von den einen erfreut, von den anderen verhalten, von manchen verwirrt. Vor allem die älteren Mitarbeiter freuten sich, Marianne zu sehen. Die jüngeren hatten nie mit ihr gearbeitet, manche kannten sie kaum.
»Lasst euch nicht stören«, sagte Marianne, während Elvira ihr den Stuhl zurechtschob. »Ich will mir nur eure Ideen anhören.«
Neben sich hörte Lotte Corinna schlucken. Die Anwesenheit ihrer Mutter machte sie merklich nervös. Nun gut, da würde sie wohl durchmüssen. Seit Alexandres Tod, der nun schon fast zwei Jahrzehnte zurücklag, hatte es nicht viele Gelegenheiten gegeben, zu denen Marianne sich dazugesellt hatte. Eigentlich war es schön, dass sie heute Interesse zeigte.
Jetzt faltete sie die Hände auf dem Tisch. »Fahrt bitte fort.«
Corinna räusperte sich noch einmal. »Also, wie gesagt, ich wollte etwas bekannt geben.« Einen Moment lang starrte sie auf ihre Fingernägel, dann holte sie tief Luft. »Die beiden Fernsehserien, deren Ausstrahlung jetzt eingestellt worden ist, waren mein spezieller Beitrag zum Fortbestehen der Schreinerei.«
Zustimmendes Gemurmel kam auf, hier und dort war Lob zu hören. Aber Lotte spürte, dass ihre Nichte auf etwas anderes hinauswollte.
»Leider war das, denke ich, alles, was ich der Schreinerei bieten kann. Ich kenne mich nicht sonderlich gut mit Holz aus, da fehlt mir jedes Talent. Ich kann schreiben. Das ist, was ich tue und was ich immer getan habe. Nur reicht das jetzt nicht mehr. Ich kann mir weitere Figuren ausdenken und kleine Geschichten dazu schreiben, aber die gedruckten Heftchen, die wir den Spielsets beilegen, kosten im Grunde mehr, als sie einbringen. Die Konkurrenz auf dem Spielzeugmarkt ist groß, und mit den Serien fällt die beste Möglichkeit weg, unsere Produkte zu bewerben und uns von den anderen Anbietern abzusetzen.«
Jetzt schienen alle im Raum den Atem anzuhalten. Lotte hoffte bestürzt, dass diese Rede nicht auf das hinauslief, was sich als Folgerung aus ihren Worten schließen lassen konnte. Das durfte nicht sein. Nicht jetzt.
»Deshalb möchte ich meinen Platz räumen, für jemanden mit neuen Ideen. Ich werde mich aus dem Betrieb zurückziehen, sobald sich eine passende Nachfolge gefunden hat.« Mit diesen Worten lehnte Corinna sich zurück. Sie wirkte nun weniger nervös, eher erleichtert. Als wäre sie etwas losgeworden, das sie schon lange beschäftigte.
Und es ergab Sinn. Sie hatte sich von Anfang an nicht um die Führungsposition gerissen. Dennoch konnte Lotte das nicht einfach so hinnehmen. Sie beugte sich zu Corinna vor. »Bist du sicher, dass jetzt der richtige Zeitpunkt dafür ist?«, fragte sie halblaut.
Müde hob Corinna die Schultern. »Es ist nie der richtige Zeitpunkt, und gerade sehe ich wirklich nicht, wie ich der Schreinerei weiterhelfen kann.«
Lotte nickte. Gleichzeitig jedoch kreisten ihre Gedanken um die Zukunft. Ausgerechnet jetzt brauchte es unbedingt an der Spitze Kontinuität, aber tatsächlich auch Erfahrung. Und sie selbst konnte die Führung ganz sicher nicht allein übernehmen. Es fehlte jemand, der einen richtigen Bezug zur Arbeit mit Holz hatte. Jemand wie Marianne oder Petra oder …
»Was ist mit Franziska?«, fragte sie, einer plötzlichen Eingebung folgend.
»Was soll mit Franziska sein?« Mariannes Stimme klang scharf, wie immer, wenn von ihrer Enkelin die Rede war. In Bezug auf Franziska hatte sie sich eindeutig in etwas verrannt. Und zwar in etwas, das rein gar nichts mit dem armen Mädchen zu tun hatte.
»Sie sagt selbst, dass sie gerne mit Holz arbeiten möchte«, führte Lotte aus. »Ich könnte mich darum kümmern, dass wir bei der IHK als Ausbildungsbetrieb zugelassen werden. Das haben wir bisher noch nicht gemacht, aber es sollte möglich sein, Matthias als Ausbilder anerkennen zu lassen. Dann könnte Franzi, wenn sie mit der Schule fertig ist, ihre Ausbildung hier machen und dabei parallel schon an Leitungsaufgaben herangeführt werden. Ich denke, sie würde frischen Wind in den Betrieb bringen.«
Mariannes Stock fiel mit einem Knall zu Boden.
Corinna zuckte zusammen. »Ich weiß nicht«, sagte sie zögernd, »ich möchte Franzi nicht dazu drängen, in den Familienbetrieb einzusteigen.«
»Auf keinen Fall werde ich das zulassen!« Mariannes Stimme hallte durch den Raum. »Ich habe nicht jahrzehntelang alles dafür getan, dass dieser Betrieb keinem Werwinkel in die Hände fällt, nur um ihn dann diesem Kuckuckskind zu überlassen.«
Irgendwo im Raum schnappte jemand nach Luft. Als Lotte den Blick schweifen ließ, sah sie in betroffene Gesichter. Doch keiner im Raum widersprach. Niemand wagte es, Marianne etwas entgegenzuhalten. Nicht einmal Corinna trat für ihre eigene Adoptivtochter ein. Sie starrte ihre Mutter nur fassungslos an.
»Franziska ist weder ihr Vater noch ihr Großvater«, sagte Lotte deshalb mit fester Stimme. »Sie kann nichts für das, was in der Vergangenheit passiert ist.«
»Franziska kommt nicht in Frage«, beharrte Marianne. »Und dabei bleibt es.«
»Aber wer würde denn sonst überhaupt in Frage kommen?«, meldete sich Sascha zu Wort. Er war der ältere von Tomasz’ Söhnen und hatte letztes Jahr nach seiner Ausbildung in der Schreinerei angefangen. Wahrscheinlich half es, dass er Marianne von klein auf kannte. Viele seiner alten Spielzeuge hatte sie gefertigt. Wie Lotte wusste er, dass hinter der schroffen, abweisenden Fassade auch ein freundlicher Mensch steckte. Lotte war froh, nicht die Einzige zu sein, die gegen ihre Schwester argumentierte.
»Helena«, verkündete Marianne.
»Henriettes Tochter?«, fragte Lotte überrascht.
»Ja, sie ist eindeutig die beste Wahl. Helena ist wesentlich älter und reifer als Franziska, und sie hat Führungskompetenzen, da sie einen eigenen Laden besitzt.« Mariannes Tonfall veränderte sich, nun klang sie fast triumphierend. »Zufälligerweise hat Helena sich vor kurzem erkundigt, ob es nicht möglich wäre, in der Schreinerei einzusteigen. Wie sie sagte, möchte sie sich aus privaten Gründen verändern. Der Zeitpunkt für einen Wechsel passt also perfekt.«
Lotte runzelte die Stirn. Das klang fast zu gut, um wahr zu sein, oder etwa nicht? Alles, was Lotte beruflich von Helena wusste, war, dass sie in Baden-Baden einen Laden für Geschenkartikel führte. Erfahrung als Geschäftsführerin mochte sie haben, aber eine Schreinerei zu leiten war doch etwas ganz anderes.
Ansonsten hatte Lotte seit Jahren nichts mehr von ihrer Nichte gehört. Dreißig oder einunddreißig müsste sie jetzt sein, wenn sie richtig tippte. Ella erinnerte sie zu Weihnachten und den Geburtstagen daran, eine Karte zu schicken, und meistens kam auch eine zurück. Aber über das Grußkarten-Niveau ging ihre Beziehung nicht hinaus.
Bevor Lotte etwas sagen konnte, meldete sich Matthias zu Wort. »Wir könnten uns zumindest anhören, was für Ideen sie hat«, sagte der Drechsler.
Zustimmendes Gemurmel erklang. Die meisten Mitarbeiter schienen froh zu sein, eine Lösung in Aussicht zu haben, die Mariannes Willen entsprach.
»Dann rufe ich sie an und lade sie ein«, sagte Marianne.
Ein richtiger Beschluss war das nicht. Normalerweise versuchten sie im Betrieb, einstimmige Entscheidungen zu treffen oder zumindest zu einem eindeutigen Mehrheitsentscheid zu kommen. Dass Marianne einfach so die Regeln überging, die sie ursprünglich selbst aufgestellt hatte, störte Lotte. Allerdings sah sie, wie ringsum größtenteils genickt wurde, und auch wenn es ihr leidtat, würde es Franzi nichts nützen, jetzt ihretwegen weiterzudiskutieren.
Mit einem Seufzer lehnte Lotte sich zurück. Neben ihr tat Corinna dasselbe. Offensichtlich waren sie beide zu einem ähnlichen Schluss gekommen.
Der Rest der Versammlung verlief schleppend und in gedrückter Stimmung. Niemand hatte eine wirklich zündende Idee, was unternommen werden könnte. Irgendjemand schlug vor, anstelle von Spielzeug normalgroße Möbel für Kinderzimmer herzustellen, aber mit dem Angebot eines gewissen schwedischen Konzerns würden sie niemals mithalten können. Da konnten sie den Versuch auch gleich bleiben lassen.
Schließlich vertagten sie sich, ohne zu einem richtigen Ergebnis gekommen zu sein. Lotte bemerkte, wie einige der Mitarbeiter ihrem Blick auswichen, während sie den Raum verließen. Auch Corinna stahl sich davon, ohne noch einmal mit ihr zu sprechen. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, nicht stärker für Franzi plädiert zu haben?
Entschlossen ging Lotte auf Marianne zu.
»Was bitte war das denn gerade?«
Mariannes Kopf drehte sich in ihre Richtung. »Was meinst du?« Elvira, die ihr den Stock gereicht hatte, hielt nun wartend inne.
»Du hast kein Vetorecht in dieser Runde. Und du kannst nicht so abfällig über deine Enkelin reden!«
Marianne versteifte sich sichtlich, packte ihren Blindenstock fester. Elvira murmelte eine Entschuldigung und verschwand eilig aus dem Raum. In einen Familienstreit wollte sie nicht geraten.
»Lottchen, du magst Franziska für ein nettes Mädchen halten, und vielleicht ist sie das auch, aber ich hatte bereits meine Gründe, ihrer Mutter nicht die Leitung des Betriebs zu überlassen. Erinnerst du dich nicht mehr an Petras Leichtsinn? An ihre blinde Verliebtheit und die Skandale, von denen man in der Zeitung lesen konnte? Und dann diese dumme Entscheidung, das Kind zu behalten! Hätte sie nur ein einziges Mal vernünftig gehandelt, wäre sie noch am Leben, und wir würden diese ganze Diskussion überhaupt nicht führen.«
»Du kannst Franzi doch nicht die Schuld an Petras Tod geben!« Das arme Kind. Zum Glück war Franzi nicht hier, um das mit anzuhören.
»Es ist eine Tatsache, dass Petra ohne sie nicht gestorben wäre«, beharrte Marianne. »Und es ist auch eine Tatsache, dass Franziska die Unzuverlässigkeit ihrer leiblichen Eltern geerbt hat, da nützt die ganze Erziehung wenig. Du redest darüber, welche Ausbildung sie nach der Schule machen soll, dabei steht noch nicht einmal fest, ob sie ihren Abschluss überhaupt schafft. Durchgefallen ist sie schon einmal, und kein bisschen geschämt hat sie sich für ihre Faulheit beim Lernen. Da kannst du ihr doch nicht ernsthaft die Schreinerei anvertrauen wollen. Nein, Franziska ist nicht geeignet!«
Lotte biss sich auf die Unterlippe. Natürlich war Franzi noch jung und ihre schulischen Leistungen alles andere als überragend, aber die Dinge, die sie begeisterten, lernte sie schnell. Über Kreativität und ein Talent für Handwerkliches verfügte sie zweifellos auch, sonst würde Ludwig ihr nicht so viel seiner Zeit widmen. Er hatte nie Mariannes Ansicht geteilt, dass Franzi zu tollpatschig im Umgang mit Werkzeug wäre.
Aber abgesehen davon, dass Marianne kein Recht hatte, in der Mitarbeiterversammlung aufzutauchen, lange nachdem sie die Leitung abgegeben hatte, um alle so einzuschüchtern, dass sie es nicht wagten, ihr zu widersprechen, kannte Lotte den harten Zug um den Mund ihrer Schwester nur zu gut. Es war exakt diese Sturheit, die es ihr möglich gemacht hatte, die Schreinerei damals in den schwierigen Jahren nach dem Krieg überhaupt wieder aufzubauen. Dagegen kam so leicht niemand an. Jetzt hatten sie es mit einem Problem zu tun, das sich, wenn überhaupt, nur mit Geduld lösen ließ. Keinesfalls aber hier und heute.
Lotte seufzte. »Komm«, sagte sie. »Ich bringe dich zurück ins Haus.«
Erzgebirge, nahe Olbernhau
Chris sah die Zufahrt zum Jugendheim bereits vor sich, als »Bohemian Rhapsody« im Radio anlief, und nahm den Fuß vom Gaspedal. Er hielt nicht viel von Regeln, aber wenn Queen lief, dann wartete man bis zum Ende des Songs, bevor man aus dem Auto stieg. Deshalb rollte er ganz gemütlich über den Schotterweg auf den Mitarbeiterparkplatz zu und summte dabei die Melodie mit. Es gab begabtere Sänger als ihn, und um lauthals den Text mit zu schmettern, reichten seine Englischkenntnisse leider nicht aus, trotzdem drehte er gut gelaunt den Regler hoch.
Kies knirschte unter den Reifen, als er vor dem zweistöckigen Hauptgebäude, das früher ein Gutshaus gewesen war, den Wagen abbremste. Die Fassade hatte dringend einen neuen Anstrich nötig, aber es war nicht so, als würden sie vom Landkreis sonderlich viel Förderung erhalten. Eigeninitiative war angesagt, wenn es um irgendwelche gewünschten Veränderungen ging. Und die Sanierung des Sportplatzes für die Jugendlichen ging vor, so viel stand fest. Jana, Chris’ Chefin, befürchtete schon lange, dass sich beim Fußballspielen auf dem mit Schlaglöchern übersäten Gelände jemand den Knöchel brach. Ein neuer Basketballkorb wäre auch sinnvoll, nicht alle im Haus spielten gern Fußball. Wenn er ehrlich war, konnte Chris dem Gebolze auch wenig abgewinnen. Er hatte oft den Eindruck, viele nutzten den Sport, um Aggressionen abzubauen, indem sie anderen kräftig in die Waden traten …
Eine flüchtige Bewegung ließ ihn nach oben schauen. Ein Stück Gardine wehte aus einem der weit geöffneten Dachgaubenfenster, bestimmt hatte Marco wieder heimlich in seinem Zimmer geraucht. Chris grinste. Er würde den Jungen jedenfalls nicht verraten. Seiner Ansicht nach gab es sanktionswürdigere Vergehen als das Rauchen, zumindest wenn es um normale Zigaretten aus dem Laden ging. Drogen waren natürlich tabu. Darauf achtete Chris genauso wie die anderen Betreuer im Haus. Bei manchen Jugendlichen gab es Sucht- oder Drogenprobleme in der Familie, sie benötigten dringend ein Umfeld, in dem sie clean bleiben konnten.
Chris machte den Motor aus, zog den Schlüssel aber noch nicht ab, damit das Radio weiterlief. Er wippte im Rhythmus, während sein Blick weiter über die Fassade glitt. Im Erdgeschoss entdeckte er hinter der Fensterscheibe des Gruppenraums höchst gelangweilte Gesichter. Dort fand gerade Nachhilfeunterricht statt. Einige der Grundschüler hielten die Aussicht offensichtlich für interessanter als das, was der Mathelehrer zu erzählen hatte. Leon stieß seinen Nebensitzer an, beide Kinder winkten Chris verstohlen zu. Gleich darauf schob sich der Rücken des Nachhilfelehrers vors Fenster und nahm ihm die Sicht.
Ein Blick auf die Uhr verriet Chris, dass er bereits drinnen im Büro sitzen müsste. Egal. Er war anwesend, das zählte.
Freddy Mercury und der Chor wechselten sich beim nächsten Part ab. Chris hob die Hände und tat so, als würde er ein unsichtbares Orchester dirigieren. Gleich kam der beste Teil des Songs – den durfte man auf keinen Fall verpassen. Ein letztes Mal fuchtelte Chris wild durch die Luft und … Ja, jetzt! Headbangend trommelte er auf dem Lenkrad im Takt. Dann war der Song fast zu Ende. Chris ließ noch den Schlussakkord durch seinen Golf schallen, bevor er endlich den Zündschlüssel zog, summend ausstieg und die Autotür zuschlug.
»Sie sind da ja gerade voll abgegangen.«
Ertappt blickte Chris sich um und entdeckte Katja, die zwischen zwei Büschen auf dem Grünstreifen zwischen Parkplatz und Gebäude hockte. Sie hatte die Arme um die Knie geschlungen, und wenn sie nichts gesagt hätte, hätte er sie wahrscheinlich gar nicht bemerkt.
»Solltest du nicht an deinen Hausaufgaben sitzen?«, fragte er.
Katja zuckte mit den Schultern, was Chris unter dem übergroßen Hoodie, den sie trug, nur erahnen konnte. Während die anderen Mädchen zu genießen schienen, dass es wieder Sommer wurde, und knappe T-Shirts trugen, hüllte Katja sich in so viel Stoff wie eben möglich. Vor allem in solchen, der ihren Körper darunter fast vollständig verbarg. So trug sie auch heute wieder Baggy Pants, wie sie bei den Jungs beliebt waren.
Chris näherte sich ohne vorwurfsvolle Miene. Katja war noch nicht lange hier, aber er hatte schon begriffen, dass es nichts brachte, mit ihr zu schimpfen. Sie machte dann einfach dicht, hörte kaum mehr zu. Und ihm lag etwas daran, ihr Vertrauen zu gewinnen. Vielleicht hörte sie dann endlich auf, ihn zu siezen. Das tat außer ihr keiner der Jugendlichen im Haus, Chris legte auch keinen Wert darauf. Er ließ den Autoschlüssel in seine Jackentasche gleiten und hockte sich neben Katja, wobei er darauf achtete, genug Abstand zwischen ihm und ihr zu lassen. Dafür hatte er schon immer ein besonderes Gespür gehabt. »Welches Fach nervt dich denn so?«
Sie lachte. »Alle.«
»Ich meinte eigentlich, auf welche Hausaufgaben du gerade keine Lust hast.«
Katja zog einen Flunsch. »Bio.« Nach kurzem Zögern fügte sie leise hinzu: »Sexualkunde.«
Chris nickte. Er war früher selbst in Olbernhau zur Schule gegangen und konnte sich gut vorstellen, dass dieses Thema je nach Lehrer recht unangenehm sein konnte. Auch wenn etliche der parteitreuen Lehrkräfte, die ihn damals drangsaliert hatten, mittlerweile nicht mehr im Dienst waren. Andere Zeiten waren das gewesen, zum Glück waren sie vorüber. »Meinst du nicht, es wäre wichtig zu wissen, wie du dich vor Krankheiten und ungewollten Schwangerschaften schützen kannst, wenn du mal jemanden kennenlernst?«
»Das würde voraussetzen, dass ich mal jemanden kennenlerne.« Katja zog die Knie enger an ihren Oberkörper. »Außerdem geht es eh nur darum, blöde Schaubilder abzuzeichnen. Wie Eizellen befruchtet werden und so.«
»Und das hast du so unangenehm gefunden, dass du lieber hier draußen neben dem Parkplatz im Gebüsch sitzt?«
»Erfasst.« Die Antwort kam knapp und machte deutlich, dass Katja nicht weiter darüber reden wollte.
Chris seufzte. Er wusste, dass es sein Job war, sie wieder zum Hausaufgabenmachen zu bewegen, aber so, wie sie da saß, brachte er es nicht übers Herz, sie zurückzuschicken. »Musst du außer Bio noch was anderes machen?«, fragte er.
»Mathe.« Der Mangel an Begeisterung war Katja deutlich anzuhören. »Da kapiere ich aber nicht, wie ich die Gleichung rechnen soll.«
»Okay, hör zu«, sagte Chris. »Ich müsste dich eigentlich verwarnen, aber hier ist der Deal. Du hilfst mir jetzt eine Stunde lang mit …« Es gab im Grunde nichts, wobei er unbedingt Hilfe brauchte, aber den meisten Jugendlichen, mit denen er arbeitete, tat es gut, sich nützlich zu fühlen. Also sagte er das Erstbeste, das ihm einfiel. »… mit den Beeten im Garten. Dann vergessen wir das mit der Verwarnung.«
Garten war zwar übertrieben als Bezeichnung für die paar Gemüse- und Kräuterbeete, die sie letztes Jahr in einem abgesteckten Bereich neben dem ehemaligen Stallgebäude angelegt hatten. Aber sie ermöglichten, dass die Kinder mit ihren eigenen Händen etwas erschaffen konnten. Und auf die bevorstehende Ernte der Johannisbeersträucher freuten sich alle.
»Helfen Sie mir dann später bei den Hausaufgaben?«
»Nein, das nicht. Aber wir fragen den Nachhilfelehrer der Jüngeren, ob er dir die Matheaufgabe erklären kann. Einverstanden?«
Katjas Begeisterung hielt sich weiterhin in Grenzen, aber sie nickte leicht. »Meinetwegen.«
Chris stand auf und hielt ihr lächelnd die Hand hin. »Komm schon, das wird Spaß machen.«
Grummelnd ließ Katja sich hochziehen. »Ich erzähl allen, wie Sie im Auto zu ›Bohemian Rhapsody‹ abgegangen sind.«
Chris lachte. »Ich habe kein Problem damit, wenn alle erfahren, dass ich einen exzellenten Musikgeschmack habe.«
Endlich stieß Katja ein kurzes Lachen aus. »Pah«, sagte sie. »Queen ist für alte Leute. Hip-Hop ist das einzig Wahre.«
»Hey, ich bin vielleicht älter als du, aber nicht alt! Wenn du mir demnächst mal was vorspielen willst, hör ich’s mir gern an. Es schadet nie, den Horizont zu erweitern.« Chris grinste. »Das gilt übrigens auch für dich.« Er wandte sich zum Gehen. »Komm, das Unkraut jätet sich nicht von selbst.«
Während Katja langsam hinter ihm hertrottete, kam Chris zu dem Schluss, dass das gar keine schlechte Idee von ihm gewesen war. Immerhin hatte er jetzt einen guten Grund, nicht den ganzen Nachmittag im Büro zu sitzen, sondern eine Stunde draußen in der Sonne zu verbringen.
Und wenn es ihm dabei noch gelang, dass Katja ein bisschen mehr Vertrauen zu ihm aufbaute, war das ein toller Erfolg.
Einladend glitzerte der Neumühlsee im Nachmittagslicht. Für Ende Juni war es ungewöhnlich heiß, und Franzi hatte sich die ganze Woche aufs Schwimmen gefreut. Endlich lagen die schriftlichen Prüfungen hinter ihr – Zeit, um ein bisschen Freiheit zu genießen und zu hoffen, dass ihre Noten für den Abschluss reichen würden.
Sie streifte die Turnschuhe ab, zog ihre Jeansshorts und das T-Shirt aus und warf beides auf das Handtuch. In den Badeanzug war sie schon zu Hause geschlüpft. Das Gras am Ufer kitzelte ihre nackten Fußsohlen, als sie zum Wasser lief, um prüfend die Zehen hineinzustecken. Warm genug, fand Franzi.
Gleich darauf kraulte sie mit großen Zügen in Richtung Seemitte. Dort angekommen drehte sie sich auf den Rücken und ließ sich einfach treiben. Der Himmel war nahezu wolkenlos und von einem wunderbar intensiven Blau. Sie hätte ewig so im Wasser liegen und vor sich hin träumen können, hätte nicht ein lauter Ruf vom Ufer sie aufgescheucht.
»Huhu, Franzi!«
Verwirrt hob sie den Kopf. »Ja?«
Neben ihrem Handtuch stand eine Frau und winkte. »Nun komm schon raus aus dem Wasser! Willst du nicht mit uns Kaffee trinken?«
Jetzt erkannte Franzi die Stimme. Helena! Ausgerechnet die tauchte hier auf, um sie zu holen. Gerade ihr hatte Franzi eigentlich aus dem Weg gehen wollen. Seit sie erfahren hatte, dass Helena sich für die Schreinerei interessierte und Oma Marianne ihr womöglich sogar die Leitung anvertrauen wollte, mochte sie die Verwandte aus dem Schwarzwald noch weniger als eh schon.
Franzi beschränkte sich daher auf ein mürrisches »Hallo«, als sie wenig später aus dem Wasser kam und ihr nasses Haar auswrang.
Helena trat hastig einen Schritt beiseite, um den fliegenden Tropfen auszuweichen. Sie trug silberne Riemchensandalen und einen engen Bleistiftrock. »Na, sieh einer an, du wirst ja allmählich richtig erwachsen«, sagte sie.
Es klang leicht spöttisch, und Franzi versteifte sich. Sie hasste es, auf diese Weise begutachtet zu werden. Ohne etwas zu erwidern, bückte sie sich und griff nach dem Handtuch.
»Sprechen kannst du aber schon, oder?« Helena schob ihre modische Sonnenbrille ins perfekt gestylte Haar. Ihr Gesicht war trotz der Hitze geschminkt. Vermutlich ging sie nie aus dem Haus, ohne ihr Aussehen dreimal im Spiegel zu überprüfen.
Franzi klaubte ihre Sachen zusammen.
»Du kannst dich ruhig umziehen, außer uns ist doch niemand hier.« Helena zwinkerte ihr zu. »Und ich habe schließlich schon alles von dir gesehen, was es zu sehen gibt. Hach, es kommt mir vor, als wäre es erst gestern gewesen, dass du ein quäkendes Baby in Windeln gewesen bist!« Sie lachte hellauf.
Franzi verzog das Gesicht. Sie hasste dieses Wie-groß-du-geworden-bist-Gerede. Das wurde immer eingesetzt, um sie wie ein kleines Kind zu behandeln, das man nicht ernst nehmen musste. Leute, die so etwas sagten, konnte Franzi nicht leiden.
»Du erinnerst dich natürlich nicht, aber ich war bei der Hochzeit deiner Eltern dabei. Damals, als du dein Taufkleid vollgespuckt und die Feier ruiniert hast …«
Franzi ballte die Fäuste und tat so, als würde sie auf dem Boden nach etwas suchen. Sie erinnerte sich vielleicht nicht selbst, aber sie hatte die Geschichte oft genug gehört.
»Man hätte glauben können, du hättest absichtlich damit bis zum Brautwalzer gewartet. Meine Güte, den Anblick werde ich nie vergessen! Und dann hast du auch noch angefangen zu brüllen, lauter, als die Musik spielen konnte … Tja, du warst eben schon immer sehr eigen.« Helena schüttelte den Kopf. »Aber egal, ich fand’s lustig.«
»Schön für dich«, sagte Franzi und wandte sich zum Gehen. Den gesamten Weg bis zum Lindenhof zog sie es vor zu schweigen.
Helena schien das nicht zu stören. Sie lief neben ihr her und quasselte unbeirrt weiter. Smalltalk war zweifellos eines ihrer größten Talente.
Der Kaffeetisch war bereits draußen vor dem Haus gedeckt. Oma Marianne saß unter dem schattigen Blätterdach der Linde und rührte energisch in ihrer Tasse. Sie hatte mal wieder zu viel Milch hineingegossen, etwas davon schwappte über den Rand. Franzis Mutter schnitt gerade den Kuchen an und tat so, als sähe sie die Flecken auf der Tischdecke nicht.
»Oh, du bist auch da«, sagte sie überrascht, als sie Franzi neben Helena entdeckte. »Dann musst du dir noch einen Teller aus der Küche holen.«
Na, großartig! Da wurde sie von Helena aus dem See gezerrt, nur um feststellen zu müssen, dass man sie vergessen hatte. Am liebsten hätte Franzi auf den Kuchen verzichtet. Aber die Erdbeeren darauf sahen so lecker aus, dass sie sich doch rasch umzog, die Haare föhnte und mit einem Teller wieder nach draußen kam.
Sie vertilgte zwei Stücke Kuchen in Rekordzeit und gab dann vor, noch etwas für die Schule machen zu müssen. Niemand hielt sie davon ab. Helena redete pausenlos, und die Kaffeerunde hörte ihren Geschichten so gebannt zu, als gäbe es nichts Interessanteres auf der Welt. Dass Franzi sich zurückzog, schien dagegen keiner zu bemerken. Selten hatte sie sich in ihrem eigenen Zuhause so fehl am Platz gefühlt. Was war bloß los in letzter Zeit?
Sie räumte den benutzten Teller in die Spülmaschine und überlegte, was sie tun sollte. Das mit der Schule war eine Lüge gewesen. Und sie hatte absolut keine Lust, nun deswegen den restlichen Nachmittag im Zimmer zu hocken.
Ratlos starrte sie aus dem Küchenfenster und bemerkte Ella, die ihr Motorrad in den Hinterhof schob. Das Tor zur Garage stand offen. Nachdem vor ein paar Jahren ein Ast auf das Auto ihres Vaters gefallen war und es beschädigt hatte, war die Doppelgarage gebaut worden. Ella bewahrte dort ihr Werkzeug auf, sie schraubte mit Hingabe selbst an allen Fahrzeugen herum. Die Suzuki Intruder hatte sie erst vor kurzem gebraucht gekauft und wollte sie nun instand setzen.
»Hallo«, sagte sie freundlich, als Franzi angeschlendert kam. »Willst du mir helfen?«
Franzi schüttelte den Kopf. »Kann ich einfach nur zugucken?«
»Sicher.« Ella lächelte – so warmherzig, dass Franzi sich sofort willkommen und verstanden fühlte. Nach der blöden Begegnung mit Helena tat das unglaublich gut.
Franzi setzte sich auf den Baumstumpf und zog die Knie an. Sie sah ihrer Patentante zu, wie sie konzentriert Teile des Motorrades ausbaute, um sich herum ausbreitete und säuberte. Das hatte sie auch damals bei dem Mofa gemacht, mit dem Franzi eine Weile herumgetuckert war, aber das alte Ding hatte trotzdem nie zuverlässig funktioniert. Nachdem Franzis Freundschaft mit Miriam eingeschlafen war, hatte sie das Mofa eh kaum noch benutzt – den Führerschein hatten sie mit fünfzehn zwar noch zusammen gemacht, aber als sie dann nicht mehr in eine Klasse gegangen waren, hatten sie ihre Ausflugspläne mit den Mofas nicht mehr weiterverfolgt. Schade, das Fahren hatte Franzi eigentlich Spaß gemacht – jedenfalls mehr, als Ella bei der Wartung zu assistieren …
Bald waren Ellas Hände ölverschmiert und auch ihr Arbeitsoverall zeigte dunkle Spuren. »Was ist los?«, fragte sie irgendwann. »Du wirkst heute so nachdenklich. Möchtest du über irgendwas reden?«
Franzi knibbelte unschlüssig an einem Fingernagel. »Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll«, begann sie. »Aber es kommt mir immer öfter so vor, als würde ich nicht dazugehören.«
»Wozu gehören?« Ella sah sie fragend an.
»Zu meiner Familie.«
»Warum denkst du das? Ist was vorgefallen?«
»Na ja, ich habe das Gefühl, überflüssig zu sein.« Zögernd schilderte sie, wie sie das Kaffeetrinken erlebt hatte. »Sag jetzt nicht, ich bilde mir das nur ein!«
Ella stand auf und wischte sich die Hände an einem Lappen ab. »Das würde ich nie sagen«, meinte sie. »Es ist wichtig, seinem Gefühl zu vertrauen. Und ich kann gut nachvollziehen, was du da sagst.«
»Danke«, murmelte Franzi. Nur änderte das leider an den Tatsachen nichts.
Ella lächelte sie liebevoll an. »Ich weiß, du hörst es nicht gern, aber vielleicht wäre es wirklich gut, ein bisschen unabhängiger zu werden. Es könnte für dich eine Chance sein, wenn du eine Weile von hier weggehst und dein eigenes Ding machst. Herausfindest, was du willst und wie deine Zukunft aussehen soll, ohne dass dir jemand von der Familie reinredet. Das kann nämlich auch sehr hemmend und störend sein.«
»Meinst du?«
»Ja, das meine ich.« Ella beugte sich vor. Der Geruch nach Öl und Schmierfett vermischt mit frischem Shampoo stieg Franzi in die Nase – ein Duft, so unverwechselbar wie Ella selbst. »Es lohnt sich immer, selbständig zu werden und eine eigene Perspektive zu suchen. Davon bin ich überzeugt. Warum solltest du an Gegebenheiten festhalten, die dich bloß einschränken, oder auf Menschen hören, die deine Fähigkeiten anzweifeln? Glaub an dich! Finde dein eigenes Ziel und lass dich von niemandem davon abbringen. Und wenn sich dir eine Gelegenheit bietet, dann ergreif sie mit beiden Händen. Du weißt nie, wo das Glück auf dich wartet, solange du nicht losgehst und danach Ausschau hältst. Verstehst du, was ich damit sagen will?«
Franzi nickte. So hörte sich das Ganze deutlich positiver an. Vielleicht konnte sie sich doch noch mit dem Gedanken anfreunden, den Lindenhof zu verlassen.
Ella hob den Daumen. »Egal, wie du dich entscheidest, ich bin jedenfalls auf deiner Seite.«
»Gut zu wissen.« Franzi lächelte.
Mit Ella zu reden, hatte wieder einmal geholfen.
Nachdem sie ihrer Patentante noch eine Weile beim Säubern der Motorradteile zugesehen hatte, wurde es Franzi zu langweilig. Ziellos streifte sie durch den Wald, bis sie zu der kleinen Lichtung gelangte. Dort saß sie im Schatten, beobachtete, wie sich das hohe Gras im Wind bewegte, und dachte über die Zukunft nach. Es war schon seltsam, wie anders der Vorschlag klang, den Ella ihr gemacht hatte, im Vergleich zu dem, den ihre Mutter ihr immer wieder unterbreitete. Dabei rieten sie ihr beide eigentlich dasselbe, nämlich sich die Welt anzusehen. Aber bei ihrer Mutter machte es fast den Anschein, als würde sie damit Franzis Wunsch abwehren wollen, in der Schreinerei mitzuarbeiten. Bei Ella dagegen hatte es so gewirkt, als ginge es ihr wirklich darum, Franzi bei ihrer Zukunftsplanung zu unterstützen.
Als es anfing zu dämmern, machte sich Franzi wieder durch den Wald auf den Heimweg. Zu ihrer Überraschung erspähte sie vor dem geschlossenen Tor der Schreinerei einen Mann, der einen Brief in der Hand hielt und offenbar nach dem Briefkasten Ausschau hielt.
»Warten Sie«, rief sie und eilte auf ihn zu.
Falls das wieder eine Absage war, wollte sie die lieber gleich an sich nehmen und verschwinden lassen, bevor ihre Mutter sie zu Gesicht bekam. Franzi hatte ein paar halbherzige Bewerbungen losgeschickt, weil der Beratungslehrer der Schule alle, die noch nicht wussten, wo sie eine Ausbildung machen würden, dazu gedrängt hatte – aber bislang ohne Erfolg. Allerdings war das auch kein Wunder, sie hatte sich beim Schreiben nicht wirklich Mühe gegeben.
Der Mann wandte den Kopf. Als er Franzi sah, leuchteten seine Augen auf. »Oh, hallo!«
Zögernd wich sie zurück. Das war nicht der Briefträger, den sie kannte. Und der Wagen mit dem schnittigen Verdeck, der neben ihm parkte, war auch definitiv kein Postauto.
»Wer sind Sie?«, fragte sie misstrauisch.
»Jochen Naumann, ich bin Privatdetektiv.« Er zog eine Karte aus der Innentasche seines Jacketts und reichte sie ihr.
Ungläubig starrte Franzi ihn an. »Privatdetektiv?«
»Ja.« Er nickte, als sei er es gewohnt, dass Menschen, die er ansprach, so auf ihn reagierten. »Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen? Und Sie bitten, den Inhalt unseres Gesprächs vertraulich zu behandeln?«
Fast hätte es ihr die Sprache verschlagen. »Äh, worum geht es denn?«
»Um Sie.«
Franzi verstand überhaupt nichts mehr. »Um mich?«
»Ja, Sie sind doch Franziska Wagner?« Er griff wieder in seine Innentasche, doch dieses Mal hielt er ihr ein Foto unter die Nase. »Und das ist Ihre Mutter, richtig?«
Obwohl Franzi das Foto noch nie gesehen hatte, erkannte sie Petra auf Anhieb. Strahlend lächelte sie in die Kamera, ein erhobenes Sektglas in der Hand. Der fransige Pony fiel ihr weit über die Augen, und mit knallpinken Lippen deutete sie einen Kussmund an. Das Foto wirkte, als sei sie glücklich gewesen in jenem Moment, in dem es aufgenommen worden war.
»Wo haben Sie das her?«, fragte Franzi.
»Von meinem Auftraggeber.« Er musterte sie prüfend. »Falls Sie das Foto behalten möchten, kann ich es Ihnen gern überlassen. Es ist nur ein Abzug.«
Jetzt sah sie auch, dass ihr Name auf dem Brief stand, den er in der anderen Hand hielt. Der Umschlag war aus steifem, teurem Papier. »Und der Brief ist auch für mich?«
»Ja.« Er reichte ihn ihr.
Stirnrunzelnd drehte Franzi ihn in den Händen. Es stand kein Absender darauf. »Was ist das?«
»Ein Schreiben von meinem Mandanten. Ich komme im Auftrag von Herrn Werwinkel, um Ihnen diese Einladung zu überbringen. Er möchte Sie gern persönlich kennenlernen.«
Sie sog scharf die Luft ein. »Mein …?« Nein, das Wort Vater kam ihr nicht über die Lippen. Aber wie sollte sie ihn sonst nennen? Erzeuger?
Gleich darauf stellte sich heraus, dass sie einem Irrtum unterlegen war. Nicht Sebastian, sondern ihr möglicher Großvater Theodor Werwinkel hatte Jochen Naumann geschickt, um mit ihr Kontakt aufzunehmen. »Es geht um das Erbe. Mein Mandant ist schon seit längerer Zeit krank, und ihm liegt viel daran, die Dinge in seinem Sinne zu regeln, solange er dazu noch in der Lage ist.«
»Welches Erbe …?« Franzi fühlte sich wie im falschen Film, als der Privatdetektiv andeutete, dass Herr Werwinkel über ein beträchtliches Vermögen verfügte, aber derzeit nicht gewillt war, es komplett seinem Sohn zu überlassen, weil er mit dessen Lebenswandel nicht einverstanden war. So ungefähr drückte er es jedenfalls aus.