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Träume werden wahr, wenn wir zusammenhalten: Der mitreißende zweite Band der Lindenhof-Saga 1980: Corinna Wagner will gerade ihr lang ersehntes Literaturstipendium antreten, da bekommt sie schreckliche Nachrichten: Auf dem Lindenhof hat es ein Unglück gegeben, sie muss sofort die Nachfolge ihrer Eltern antreten und die Leitung übernehmen. Ihre ehemalige Freundin Petra könnte ihr dabei eine Stütze sein, doch ihre Entfremdung ist nicht so leicht zu überwinden. Und dann ist da noch der Journalist Marc: Ist er wirklich an Corinna interessiert oder will er den Lindenhof noch tiefer in den Abgrund reißen? Drei Frauen kämpfen um Selbstbestimmung und die Liebe: Die Lindenhof-Saga. Band 1: Ein Neuanfang für uns Band 2: Zusammen können wir träumen Band 3: Gemeinsam der Zukunft entgegen
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Seitenzahl: 488
Katharina Oswald
Zusammen können wir träumen
Roman
1980: Corinna Wagner kann ihr Glück kaum fassen - sie hat endlich das heiß ersehnte Literaturstipendium ergattert, mit dem sie ihren Roman vollenden kann. Doch dann wird der Lindenhof gleich von mehreren Schicksalsschlägen erschüttert und Corinna muss die Leitung der geliebten Puppenmöbelmanufaktur ihrer Eltern übernehmen. Dabei fühlt sie sich völlig unvorbereitet. Ihre alte Freundin Petra greift ihr unter die Arme, doch alte Konflikte treiben die beiden Frauen immer wieder auseinander. Und der Lindenhof ist noch lange nicht sicher: Die Presse ist auf das Unglück aufmerksam geworden und droht, den guten Ruf der Firma zu zerstören. Kann der junge Journalist Marc Corinna helfen oder wird er das Schicksal des Lindenhofs besiegeln?
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Andrea Bottlinger und Claudia Hornung schreiben gemeinsam als Katharina Oswald. Beide sind in Baden-Württemberg geboren und lieben es, sich in Frauenschicksale verschiedener Jahrzehnte hineinzudenken. Sie kennen sich schon lange und ergänzen sich beim Schreiben perfekt: Andrea achtet immer auf die Struktur der Geschichte und Claudia vertieft sich ganz in die Details und Emotionen. Zusammen haben sie eine mitreißende Familiensaga geschaffen.
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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Epilog
Und so geht es weiter...
Prolog
Kapitel 1
[Inhaltswarnung]
Die große Kreissäge erinnerte Marianne an ein schlummerndes Raubtier. Fast dreißig Jahre hatte sie nun schon überdauert, hatte abgedeckt hinter der Trennwand in der Werkstattecke gestanden und ihre Zähne waren in all der Zeit immer stumpfer geworden. Dennoch hatte sie nie aufgehört, Marianne Respekt abzunötigen.
Und jetzt hatte Alexandre die verrosteten Teile ersetzt und sie geölt, denn die Kreissäge wurde zum ersten Mal seit dem Krieg wieder gebraucht.
»Vielleicht hätten wir doch eine neue kaufen sollen.« Marianne beobachtete, wie Alexandre das Ungetüm an den Strom anschloss und dann die Hand nach dem großen Schalter ausstreckte, um es zum Leben zu erwecken. Seine schlanken Künstlerfinger waren inzwischen leicht gekrümmt vom Alter, aber Marianne bewunderte trotz allem immer noch ihre Geschicklichkeit. All die Jahre hatten diese Hände an der Erfüllung ihres Traumes gearbeitet, und nie hatte Alexandre sich darüber beschwert, dafür seine eigene Künstlerkarriere in Paris aufgegeben zu haben.
Nun blickte er mit einem Lächeln zu ihr hinüber. »Ja, hätten wir. Aber wenn wir das Geld für eine neue hätten, müssten wir auch nicht darüber nachdenken, etwas anderes als Puppenmöbel herzustellen.«
Marianne seufzte. Wo er recht hatte, hatte er recht. Das Geschäft lief nicht mehr so gut, seit Barbie-Puppen und Action-Figuren den Spielzeugmarkt überschwemmten. Plastik war billiger und bunter und ließ sich schneller verarbeiten als das Holz, das sie verwendeten.
Aber mit der Kreissäge wären sie nicht allein auf die Herstellung von Puppenmöbeln angewiesen. Sie könnten dieselben Dinge herstellen wie zuvor, nur in Normalgröße. Und hoffentlich würden sie damit mehr Geld verdienen.
»Bist du bereit?«, fragte Alexandre.
Marianne nickte. Während er den Schalter drückte, hielt sie den Atem an.
Mit einem elektrischen Surren ging ein Ruck durch die alte Maschine. Schwerfällig setzte sich das Sägeblatt in Bewegung.
»Es funkti…!«
Die Worte blieben Marianne im Hals stecken, als das Ungetüm ein metallisches Knirschen und Kreischen von sich gab. Erschrocken hielt sie sich die Hände über die Ohren und sprang einen Schritt zurück.
Alexandre blieb ruhig. Die Hand am Kinn, die Stirn in Falten gelegt, beugte er sich vor und sah sich prüfend um.
Schon im nächsten Moment hellte sich sein Gesichtsausdruck auf. Mit dem Griff des Schraubenziehers, den er noch in der Hand hielt, schlug er einmal gegen die Aufhängung des Sägeblatts.
Das Kreischen erstarb sofort. Das Sägeblatt legte an Geschwindigkeit zu, drehte sich nun ohne Schwierigkeiten. Grinsend wandte Alexandre sich zu Marianne um. Sie liebte dieses spitzbübische Grinsen noch immer wie am ersten Tag. Langsam nahm sie die Hände wieder von den Ohren.
»Na, ich habe doch gesagt, ich krieg das hin!«
Marianne lachte, tat einen Schritt auf ihn zu.
Da sah sie es.
Das Sägeblatt wackelte mit einem Mal in seiner Aufhängung, schwang erst kaum sichtbar hin und her, dann immer deutlicher, ein wabernder Kreis aus Metall.
Einen Augenblick später kehrte das Kreischen zurück, nun viel lauter. Es verschluckte Mariannes Warnruf. Funken sprühten.
Und das Sägeblatt riss sich los.
Wie in Zeitlupe sprang es aus seiner Halterung, schlug Funken und Metallsplitter aus dem Rahmen der Maschine. Marianne warf sich nach vorne, die Hände nach dem Schalter ausgestreckt. Doch sie wusste bereits, dass es zu spät war.
Wie das Raubtier, als das die Maschine Marianne zuvor noch erschienen war, grub das Sägeblatt seine Zähne in Alexandres Rücken.
Sie sah das Entsetzen auf seinem Gesicht. Dann wieder den Funkenflug, die Splitter.
Der stechende Schmerz im rechten Auge kam im selben Moment, in dem ihre Finger den Schalter berührten. Sie schrie, sah Alexandre noch fallen. Der Schalter gab nach, aber Marianne hörte nicht mehr, ob das Surren der Maschine verstummte. Der Schmerz in ihrem Auge wurde stärker. Ein Funken? Sie tastete danach, spürte warme Feuchtigkeit auf ihrer Wange.
Dann wurde der Schmerz so unerträglich stark, dass er sie mit sich in die Dunkelheit riss.
Westberlin, Oktober 1980
»Corinna! Post für dich!«
Corinna blickte von der Schüssel mit Frühstücksflocken auf, die sie gerade in sich hineinschlang. Sie war mal wieder viel zu spät aufgestanden, und nun blieb ihr bis zur ersten Vorlesung des Tages kaum mehr Zeit für das Nötigste.
Ulrike, ihre Mitbewohnerin, war natürlich schon längst wach und, so wie es aussah, im nahegelegenen Park bereits joggen gewesen. Ihr Haar war zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden und an ihren Handgelenken trug sie Schweißbänder. Während sie ihre Turnschuhe abstreifte, wedelte sie mit einem Brief, den sie kurz darauf neben Corinna auf den Küchentisch legte.
»Ist vom Berliner Senat. Ich habe gehört, das Amt für Kulturförderung würde die Absagen immer zuerst verschicken, deshalb kommt dein Brief wahrscheinlich vor meinem.«
Corinna presste die Lippen aufeinander. Ulrike war bisher eigentlich eine sehr angenehme Mitbewohnerin gewesen, aber seit sie sich beide auf dasselbe Stipendium beworben hatten, hatte sie sich als ziemlich unausstehlich entpuppt.
Noch immer kauend, griff Corinna nach dem Brief. Vielleicht sollte sie ihn einfach später öffnen, wenn sie allein in ihrem Zimmer war und niemand mitansehen konnte, wie sehr ihr eine Absage zusetzte. Aber Ulrike blieb erwartungsvoll stehen.
»Na, bist du nicht gespannt?«
Corinna seufzte, schluckte den letzten Löffel Frühstücksflocken mit Milch hinunter. Um eine Diskussion zu vermeiden, riss sie den Brief auf.
»Sehr geehrte Frau Wagner, hiermit bedanken wir uns für Ihre Einsendung zum …« Rasch überflog sie den Text. Irgendwo musste doch stehen, ob sie das Stipendium bekam oder nicht. Aber nach dem, was Ulrike gesagt hatte, waren ihre Hoffnungen nicht sehr groß.
»Hiermit möchten wir Ihnen mitteilen, dass Sie mit Ihrem Werk ›Patroklos’ Fall‹ für das literarische Projektstipendium der Stadt Berlin …« Corinna stockte, rechnete fest mit einem ›nicht‹, fand aber keines. Aufregung machte sich in ihr breit. »… zur Förderung ausgewählt wurden!« Sie blickte auf, ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem Grinsen. »Ich hab’s geschafft! Ulrike, ich hab’s geschafft!«
Ulrikes Lächeln wirkte dünn. »Schön für dich.« Damit drehte sie sich um und verschwand türenknallend in ihrem Zimmer.
Corinna blinzelte, den Brief immer noch in der Hand.
Schade. Es wäre schön gewesen, jemanden zu haben, der sich mit ihr freuen konnte. Ulrikes Reaktion dämpfte ihr spontanes Glücksgefühl. Aber davon würde sie sich den Erfolg nicht vermiesen lassen. Später musste sie unbedingt ihren Vater anrufen. Er würde ganz sicher stolz auf sie sein.
Corinna las den Brief noch einmal und konnte nicht anders, als sich zu freuen und breit zu grinsen. Sie hatte das begehrte Stipendium ergattert! Ein Jahr lang würde sie Geld vom Senat dafür bekommen, sich voll und ganz auf das Schreiben ihres Romans zu konzentrieren.
Nun ja, neben ihrem Studium – aber vielleicht konnte sie sich dafür ein Freisemester nehmen. Wenn ihre literarische Karriere jetzt schon Fahrt aufnahm, musste sie vielleicht nicht einmal fertig studieren. Nach zwei Semestern Literaturwissenschaft an der Freien Universität fand sie es aufregender, selbst zu schreiben und schöpferisch tätig zu sein, statt bloß über Versmaße und Literaturgattungen oder angestaubte Texte aus vergangenen Jahrhunderten zu diskutieren.
Ihre Vorlesung musste sie natürlich trotzdem besuchen. Ein Blick auf die Küchenuhr sagte ihr, dass sie nun endgültig zu spät kam. Aber das ließ sich verschmerzen.
Eilig packte Corinna den Brief ein und ließ das benutzte Frühstücksgeschirr auf dem Tisch stehen. Falls Ulrike sich ärgerte, dass sie es nicht gespült und weggeräumt hatte, war ihr das egal. Der Tag versprach gut zu werden.
Corinna liebte Westberlin. Wenn sie daran dachte, dass sie Hall früher für eine große Stadt gehalten hatte, musste sie lachen. In Hall klappte man die Bürgersteige abends um zehn Uhr hoch. Aber hier, in der ehemaligen Hauptstadt, war tatsächlich rund um die Uhr etwas los und eine Sperrstunde gab es auch nicht.
Die 6-Zimmer-Altbauwohnung mit den hohen Decken gehörte Ulrikes Eltern, die in einer Villa im Grunewald lebten. Derzeit wohnten sie zu fünft in der WG – neben Juan, dem nickelbebrillten Philosophiestudenten aus Nicaragua, hinter dessen Tür es oft verdächtig nach Gras roch, gab es noch Berit, die Theaterwissenschaft studierte und sich für Kunst begeisterte. Sie trug meist Latzhosen und hatte Corinna im Sommer mehrmals in den neu eröffneten Kulturzirkus »Tempodrom« auf dem Potsdamer Platz mitgeschleppt. Das Zimmer am Ende des Flurs bewohnte Angie, die eigentlich Angelika hieß, und von der Corinna nicht wusste, ob sie überhaupt noch studierte. In letzter Zeit war Angie selten hier, sie übernachtete meistens bei ihrem Freund, der in einem besetzten Haus in Kreuzberg untergekommen war. Die Szene, in der Angie verkehrte, war Corinna nicht ganz geheuer. Politische Diskussionen mied sie, weil sie Sorge hatte, man würde ihr sonst allzu schnell anmerken, wie brav sie insgeheim war oder dass sie aus der Provinz stammte. Und genau deshalb war sie doch nach Berlin gekommen – um das Provinzielle, das ihr anhaftete, abzustreifen. Sie tat auch ihr Bestes, was das anging, zumindest in kultureller Hinsicht hatte sie sich gut eingelebt. Tagsüber musste sie nur einmal durch das Dahlemer Unigebäude, die Rost- und Silberlaube, laufen, um neue Ankündigungen für Lesungen, Workshops, Konzerte oder Podiumsgespräche zu entdecken, die sie interessierten.
Heute allerdings blieb sie nach der Vorlesung nur kurz vor einem Plakat für eine Ausstellung afrikanischer Masken stehen. Zu Hause wartete ihr Roman auf sie. Der Roman, für den sie seit neuestem ein Stipendium bekam!
»Hey, Corinna!« Schnelle Schritte erklangen hinter ihr, als sie den Weg zur Bushaltestelle einschlug. Als sie sich umdrehte, hatte Martin sie gerade eingeholt. Im vergangenen Semester hatten sie mehrere Seminare gemeinsam belegt, in diesem leider nur eines. Er war groß und schlank, fast schlaksig, und das Kassengestell seiner Brille wirkte riesig in seinem Gesicht. Ein wenig außer Puste ging er neben ihr her. »Ich war gerade auf dem Weg zur Mensa. Falls du auch zu Mittag essen willst, könnten wir zusammen …«
Der Satz hing unvollendet in der Luft, während er offensichtlich nach Worten suchte, die ein gemeinsames Essen in der Mensa zu etwas Besonderem machen würden. »… also, zusammen essen halt.«
Corinna zögerte. Martin mochte ein wenig schüchtern und nicht gerade ein Adonis sein, aber man konnte bis spät in die Nacht mit ihm über Bücher reden, zum Beispiel über Hermann Hesses »Siddhartha«.
Doch dann schüttelte sie den Kopf. »Mich zieht es zurück zu meiner Schreibmaschine. Erinnerst du dich, dass ich dir von meiner Bewerbung für das Stipendium erzählt habe?«
»Klar.«
»Ich habe heute die Zusage bekommen.«
Martins Miene hellte sich auf. »Ehrlich? Du kriegst das Stipendium? Das ist ja toll, herzlichen Glückwunsch!«
»Danke.« Ungeduldig trat Corinna von einem Fuß auf den anderen. Ihr Bus würde bald kommen.
Doch Martin fuhr fort. »Vielleicht können wir das gemeinsam feiern. Bei … einem Abendessen eventuell?«
Fragte er sie nach einer Verabredung? Für einen Moment vergaß Corinna ihren Bus. An der Schule hatte es nicht viele Jungs gegeben, die sie interessierten. Und die wenigen, die es gegeben hatte, fanden es seltsam, dass sie ständig mit der Nase in einem Buch steckte.
Martin war zwar nicht unbedingt der Mann, der Schmetterlinge in Corinnas Bauch flattern ließ, aber er war nett und belesen. Warum sollte sie nicht mit ihm ausgehen? Es konnte nicht schaden, es zu versuchen, oder? Zumindest würde sie sich mit ihm nicht langweilen.
»Gerne.«
Martins Lächeln vertiefte sich. »Morgen Abend? Ich habe gehört, es gibt ein neues arabisches Restaurant, gar nicht weit von dir entfernt. Man sitzt da, wie es dort traditionell üblich ist, auf dem Boden und isst mit den Händen ganz ohne Besteck. Was meinst du, wollen wir das ausprobieren?«
»Ja, das klingt großartig!« Auch das mochte Corinna an Berlin, dass es fast an jeder Ecke kulinarische Köstlichkeiten aus aller Welt zum kleinen Preis gab. Arabisch essen zu gehen, versprach ein besonderes Erlebnis zu werden. Sie hoffte nur, dass die Gerichte nicht ganz so scharf gewürzt waren wie bei dem indischen Imbiss, von dem Berit geschwärmt hatte. Corinna hatten schon nach dem ersten Bissen die Augen getränt, und sie hatte unmöglich weiteressen können, war somit gar nicht satt geworden.
»Dann bis morgen!« Martin winkte, beeilte sich, seinen Freunden, die gerade an ihnen vorbeigekommen waren, zur Mensa zu folgen.
»Bis morgen!« Beschwingt lief Corinna vor bis zur Haltestelle.
Schon im Bus holte sie ihr Notizbuch hervor und ordnete zuerst einmal ihre Gedanken. In ihrem Roman verwendete sie den Patroklos aus der griechischen Mythologie als eine Metapher. Verschiedene Charaktere, im Grunde alle Charaktere in der Geschichte waren Patroklos, allein gelassen mit einer Bürde, die eigentlich für jemand Stärkeren gedacht war.
Die ersten fünfzig Seiten des Romans hatte sie schon geschrieben. Der Rest existierte in Versatzstücken und noch unausgereiften Notizen.
Der nächste Abschnitt, den sie schreiben wollte, war der mit der alten Frau, deren Tochter gestorben war und ihr ein kleines Kind hinterlassen hatte, dessen einzige Verwandte sie nun war.
Eifrig schrieb Corinna Stichworte zur Einstiegsszene auf, zog Kreise um die wichtigsten Punkte, verband Elemente mit Pfeilen. Nach und nach wurde ihre Vorstellung davon klarer. Beim Aussteigen und auf dem Heimweg blickte sie kaum von ihrem Notizbuch auf.
Sie schob den Durchsteckschlüssel in die Wohnungstür und stieß sie mit dem Ellenbogen auf, während sie noch eilig eine neue Idee unten auf die volle Seite kritzelte.
Das Klingeln des Telefons begrüßte sie. Corinna klappte das Notizbuch zu, doch bevor sie ihre Sachen ablegen konnte, stürmte Ulrike schon aus ihrem Zimmer und hob den Hörer von der Gabel.
»Bei Doberg?«, meldete sie sich – ihr üblicher dezenter Hinweis darauf, wer in dieser WG die wichtigste Person war und das Sagen hatte. Alle anderen meldeten sich einfach mit Hallo, wenn sie ans Telefon gingen.
Während Ulrike lauschte, was auf der anderen Seite der Leitung gesagt wurde, schob Corinna die Tür zu und streifte ihre Schuhe ab.
»Ja, die ist gerade reingekommen, Moment.« Ulrike hielt ihr den Hörer hin. »Dein Onkel, oder so.«
»Wer?« Noch während Corinna sich wunderte, drückte ihre Mitbewohnerin ihr schon den Hörer in die Hand. Corinna trat einen Schritt näher an das Schränkchen neben der Garderobe, auf dem der Telefonapparat stand, damit sich das Kabel des Hörers nicht durch den halben Flur spannte. »Ja?«
»Corinna?«
»Ludwig, bist du das?« Corinna lachte. »Stell dir vor, meine Mitbewohnerin hat dich gerade für Onkel Herbert gehalten.«
Ludwig lachte nicht mit ihr. »Corinna, es tut mir schrecklich leid, aber du solltest heimkommen. So schnell wie möglich.«
Kälte kroch in Corinnas Glieder. Irgendetwas stimmte nicht. »Ist was passiert?«
Sie hörte Ludwig auf der anderen Seite der Leitung schlucken. »Es gab einen Unfall in der Schreinerei. Deine Mutter liegt im Krankenhaus, die Ärzte können noch nichts Genaues sagen.«
»Meine Mutter ist verletzt?«
»Ja, und dein Vater …« Die Pause dehnte sich endlos.
»Was ist mit meinem Vater?«
»Er ist … Die Kreissäge … Ich weiß nicht, wie ich dir das sagen soll. Er hat den Unfall nicht überlebt.«
Eisige Kälte ergriff von Corinnas ganzem Körper Besitz. Alles fühlte sich taub an. Wie aus weiter Ferne hörte sie das dumpfe Geräusch, mit dem ihr Notizbuch zu Boden fiel.
»Mein Vater ist tot?« Sie würgte an dem Kloß in ihrer Kehle. Zu unvorstellbar war es, diese Worte auszusprechen.
»Ja, und deine Mutter … sie braucht dich jetzt. Kannst du nach Hause kommen, Corinna?«
»Natürlich.« Sie räusperte sich, das Kratzen in ihrem Hals wurde stärker. Gleich würde sie anfangen zu weinen. So viele Fragen wollte sie stellen, aber keine davon kam heraus. Es war, als hätte der Schock alles in ihr gelähmt.
»Ich nehme den nächsten Zug.« Der Eisenbahnerstreik hatte mehrere Berliner S-Bahn-Linien lahmgelegt, aber soweit sie wusste, waren der Fernverkehr und die Transitzüge nicht betroffen. »Bis morgen sollte ich es wohl schaffen.«
»Sag Lotte Bescheid, wann genau du ankommst, dann kann sie dich am Bahnhof abholen.«
»In Ordnung.«
»Sie ist gerade im Krankenhaus und kümmert sich um deine Mutter. Es tut mir leid, dass du die schlimme Nachricht von mir erfahren musst, aber wir dachten, du solltest es wissen. Ich muss mich hier um alles kümmern. In Kürze kommt eine große Holzlieferung. Eigentlich hätte dein Vater …« Ludwigs Stimme erstarb.
»Danke, dass du mich angerufen hast«, sagte sie. »Ich komme, so schnell ich kann.«
»Bis bald, Corinna.«
Ein Knacken, dann ertönte das Freizeichen. Sie versuchte, den Telefonhörer auf die Gabel zurückzulegen, aber ihre Finger zitterten zu stark. Der Hörer rutschte zur Seite, fiel herunter und baumelte an seinem Kabel.
Es war ihr egal. Sollte er doch dort hängen bleiben. Langsam bückte Corinna sich nach ihrem Notizbuch, umklammerte es, als könne sie bei ihm Halt finden. Sie musste ihre Sachen packen und dann zum Bahnhof. Herausfinden, wann am Fernbahnsteig der nächste Zug in die gewünschte Richtung fuhr. Hoffentlich reichte ihr Bargeld für die Fahrkarte, sonst musste sie Ulrike anpumpen.
So viel gab es zu organisieren, sie hatte jetzt keine Zeit für Gefühle.
Dennoch flossen die ersten Tränen, noch bevor sie ihre Zimmertür erreichte.
Es war über ein Jahr her, dass Corinna ihre Tante zum letzten Mal gesehen hatte. Die Person, die ihr zuwinkte, als sie am Waldenburger Bahnhof erschöpft und zerschlagen aus dem Zug kletterte, erkannte sie kaum als Lotte wieder.
Bisher hatte Corinna immer das Gefühl gehabt, dass es bei ihrer Oma und der älteren Landbevölkerung noch nicht wirklich angekommen war, dass Frauen inzwischen auch Hosen tragen durften. Doch ihre Tante trug heute eine Tischlerhose mit weitem Schlag, die über bequem aussehende Stiefel fiel. Ihr Hemd hing zur Hälfte aus der Hose heraus, und das kinnlange Haar hatte sie unter einer Schirmmütze versteckt. Die Mütze verrutschte, als sie Corinna fest an sich drückte. »Es tut mir so leid.«
Corinna vergrub das Gesicht an Lottes Schulter und kämpfte wie so oft auf dieser Fahrt schon wieder mit den Tränen. »Du kannst ja nichts dafür.«
»Ach, ich hätte ihnen früher helfen müssen.« Mit einem tiefen Seufzer ließ Lotte Corinna wieder los. »Marianne hat mich letztes Jahr schon gefragt, ob ich die Buchführung übernehme. Wahrscheinlich hätte sie mich dringender gebraucht als Henni im Laden. Aber um ehrlich zu sein, wollte ich nicht aus der Stadt weg und aufs Dorf zurück.«
»Glaub mir, das kann ich gut verstehen.«
Corinna war von ihrer Mutter früher auch bedrängt worden, sich mehr ins Familienunternehmen einzubringen. Aber ein Studium in Berlin und die Aussicht, ihre literarischen Ambitionen in die Tat umzusetzen, waren ihr immer viel reizvoller erschienen.
Gemeinsam verließen sie den Bahnsteig und gingen zum Parkplatz. Lotte deutete auf einen schon etwas in die Jahre gekommenen VW-Golf. »Henni hat mir ihren Wagen geliehen. Sie war heute Morgen kurz im Krankenhaus bei Marianne, aber sie kann den Laden und die Mädchen nicht so lange allein lassen.«
Corinna nickte. Tante Henni war nett, aber auch laut und nicht allzu feinfühlig. Lottes Gesellschaft war ihr derzeit deutlich lieber. Die jüngste der drei Schwestern konnte am besten zuhören.
So saßen sie eine Weile schweigend im Wagen, während Lotte ihn vom Parkplatz lenkte und dann in Richtung Hall steuerte. »Wir können allerdings auch erst zum Lindenhof fahren und du besuchst Marianne morgen? Wär dir das lieber?«
Zuerst einmal daheim anzukommen, etwas zu essen und in ihrem ehemaligen Kinderzimmer auszuschlafen, klang verlockend. Andererseits, wer wusste schon, welche unschönen Streiche ihr das Schicksal als Nächstes spielen würde. Dass ihr Vater nicht mehr lebte, dass er ihr nie wieder entgegenkommen würde, mit seinem warmen Lachen und den Händen voller Farbe, wollte ihr einfach nicht in den Kopf. Nein, sie musste auf schnellstem Weg ins Krankenhaus und sich davon überzeugen, dass ihre Mutter wieder genesen würde.
»Erzähl mir, was genau passiert ist«, bat sie. »Wie geht es Mama?«
Lotte seufzte. »Das Sägeblatt hat wohl Splitter losgeschlagen, als es sich gelöst hat, und sie hat ein paar davon ins Gesicht bekommen. Das eine Auge ist nicht mehr zu retten. Das andere wird wohl wieder, sagen die Ärzte. Da ist die Sicht nur durch oberflächliche Verletzungen getrübt.«
Das war eine beängstigende Vorstellung. Corinnas Mutter ohne ihren sonst so scharfen und aufmerksamen Blick.
»Ich muss sie sehen.« Vielleicht machte es das erträglicher. Vielleicht malte sie sich die Situation schlimmer aus, als sie war. Marianne war eine Kämpferin, das war sie immer gewesen. Sie würde wieder auf die Beine kommen.
Lotte nickte. »Wenn du irgendetwas brauchst«, sagte sie. »Ich bin für dich da.«
Schon wieder drohten die Tränen zu fließen. Corinna schluckte. »Denkst du wirklich«, fragte sie schließlich, »du hättest etwas ändern können, wenn du ihnen schon vorher mit der Buchhaltung geholfen hättest?«
Lotte zog die Schultern hoch. »Ich weiß nur, dass sie große Möbel bauen wollten, weil sich die Puppenmöbel nicht mehr gut genug verkaufen. Vielleicht wäre mir eine sinnvolle Lösung eingefallen. Zumindest hätte ich irgendwo das Geld für einen Fachmann auftreiben können, der die Säge repariert und instand setzt.«
Die verdammte Kreissäge. Sie stand schon in der Schreinerei seit Corinna denken konnte, und hatte dort nur Staub gefangen. Das Vorkriegsteil hätte schon längst auf den Schrott gehört. »Sie würden nie jemanden dafür bezahlen, solange das Geld knapp ist. Sie wollten schon immer alles allein machen.«
»Wahrscheinlich hast du recht.« Lotte seufzte. »Sie sind solche Sturköpfe!«
Corinna konnte nicht anders, als zu denken, dass »sind« nicht mehr ganz korrekt war. Sie spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog.
Corinna hatte ihre Mutter nie als alt wahrgenommen und mit ihren 47 Jahren war Marianne das auch gewiss nicht. Doch zwischen den gestärkten Laken des Krankenhausbetts wirkte sie gebrechlich. Über dem rechten Auge trug sie einen Verband, das andere Auge wirkte gerötet und tränte. Als Lotte mit einem aufgesetzt fröhlichen »Hallo!« an ihr Bett trat, streckte sie die Hände aus, auf denen unzählige kleine Schnitte und Brandwunden zu sehen waren.
»Lottchen! Du hast Henni verpasst.«
»Ich weiß.« Lotte lächelte. »Aber ich musste noch deine Tochter vom Bahnhof abholen.«
Nun erst richtete sich Mariannes Blick auf Corinna. Sie blinzelte, schien sich anzustrengen, etwas zu erkennen. »Du bist extra aus Berlin gekommen?«
Die Ungläubigkeit in der Stimme ihrer Mutter machte sie betroffen. Ja, Corinna hatte bei ihrem Weggang kein Blatt vor den Mund genommen, was ihren Unwillen betraf, sich mit Holzspielzeug zu befassen. Aber das hieß doch nicht, dass sie nicht heimkam, wenn ihr Vater starb und es einen Notfall in der Familie gab.
»Natürlich bin ich hier.« Sie trat näher an das Krankenbett, wagte aber nicht, die geschundenen Hände ihrer Mutter zu berühren, also legte sie ihr die Hand auf die Schulter.
»Natürlich bin ich hier«, wiederholte sie. Ihre Stimme klang selbst in ihren eigenen Ohren erstickt. Und dann konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie strömten ihr über die Wangen.
Unbeholfen tätschelte Marianne ihr die Hand. Sie war nie sonderlich gut im Trösten gewesen. Es war eher Alexandre gewesen, der sich um Corinna gekümmert hatte, wenn sie sich weh getan oder es etwas gegeben hatte, das ihre kleine Welt erschütterte. Dann war sie immer zu ihm gelaufen. Der Gedanke, dass er sie nie wieder in den Arm nehmen würde, ließ Corinna aufschluchzen.
»Keine Zeit zum Trauern«, sagte ihre Mutter. »Du und Lotte, ihr müsst die Schreinerei führen. Ich bin sicher, du kannst das besser, als du denkst. Du bist eine Wagner-Frau, wir lernen schnell.«
Corinnas Tränen versiegten abrupt. Konnte ihre Mutter wirklich an nichts anderes denken als an ihre Firma? Schlagartig war ihr der Auslöser wieder präsent, weshalb sie sich eigentlich geschworen hatte, Distanz zu ihrer Mutter zu wahren. Die kleinen Lesungen, organisiert von der Schreibgruppe in Hall, zu denen sie hin und wieder gegangen war. Dann ihre eigene erste Lesung. Sie war so stolz gewesen.
Ihr Vater war gekommen, aber ihre Mutter … Sie hatte in der Schreinerei Überstunden gemacht – zusammen mit Corinnas damals bester Freundin Petra. Sie hatte ihre Tochter einfach durch eine andere ersetzt, die sie in dem unterstützte, was für sie wichtig war. Und nun besaß ihre Mutter die Unverschämtheit, trotzdem von ihr zu verlangen, den Weg einzuschlagen, den sie vorgab.
Es kostete Corinna ihre gesamte Willenskraft, nicht wütend aufzufahren. Sie schniefte, wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. »Erst einmal ist es wichtig, dass du wieder gesund wirst.«
Marianne schnaubte. »Ich werde nicht jünger und habe gerade meinen Mann und ein Auge verloren. Es wird Zeit, dass wir über meine Nachfolge reden.«
»Was?« Das war nicht fair. Corinna hatte auch gerade ihren Vater verloren. Und sie hatte ein eigenes Leben in Berlin! Aber wieder einmal wurde sie nicht gefragt, was sie eigentlich wollte. Das war typisch für ihre Mutter … Doch wenn sie die gebrochene Gestalt im Krankenbett sah, brachte sie es nicht fertig, sich zu widersetzen und einen Streit anzufangen.
»Jetzt warte doch erst mal ab«, versuchte sie es erneut. »Du brauchst vor allem Ruhe, und dann …«
»Ich brauche keine Ruhe!«, brauste Marianne auf. »Ich brauche Alexandre zurück!«
Erschrocken machte Corinna einen Schritt vom Bett weg. Im nächsten Moment sackte ihre Mutter in sich zusammen, als hätte dieser Ausbruch sie ihre letzte Kraft gekostet. Schluchzer schüttelten sie. »Ich kann nicht glauben, dass er nicht mehr bei mir ist. Oh, Alexandre …«
Sofort fühlte sich Corinna schlecht, weil sie ihre Mutter dafür verurteilt hatte, zuallererst an die Firma zu denken. Nun wurde ihr klar, dass das gar nicht so war. Ihre Mutter versuchte nur, von den Dingen, die ihr am Herzen lagen, die zu retten, die noch zu retten waren.
Mit zugeschnürter Kehle trat Corinna wieder an das Krankenbett. Während sie die Arme um ihre Mutter legte, spürte sie, wie Lotte neben sie trat und ebenfalls Mariannes Hände ergriff.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte sie mit rauer Stimme. »Wir kümmern uns um die Schreinerei, bis es dir besser geht.«
»Das tun wir«, bekräftigte Lotte.
Ihre Tante an ihrer Seite zu haben, war ein beruhigendes Gefühl. Dennoch fühlte sich Corinna ein bisschen wie eine Figur aus ihrem Roman. Sie fühlte sich allein gelassen mit einer Bürde, die für sie eigentlich viel zu schwer war.
Nach dem Unfall wieder die Schreinerei zu betreten fühlte sich an, als würde Petra mitten in eine Gruft marschieren. Die Werkbänke, an denen sonst immer so fleißig gearbeitet wurde, waren verwaist. Die Mitarbeiter des Lindenhofs hatten am Freitag eine Notversammlung abgehalten und beschlossen, vorerst zu Hause zu bleiben, bis klar war, wie es weitergehen sollte. Sie waren alle geschockt, zudem nagte die Sorge, angesichts der unsicheren Zukunft, an ihnen.
Auch Petra fühlte sich unwohl in ihrer Haut. Beim Anblick der leeren Werkstatt wurde ihr mulmig im Magen. An einer Trennwand lehnte ein von einer Plane verpackter flacher Gegenstand – das musste das Sägeblatt sein.
Petra blieb wie angewurzelt stehen. Da war ein dunkler Fleck auf dem Boden, direkt vor der Kreissäge.
Ohne nachzudenken stürzte sie sich auf eine Palette mit Puppenbetten und zerrte sie hastig hinüber zur Säge, bis der Fleck verdeckt war.
Danach stand sie einen Moment lang einfach nur schwer atmend und schweißüberströmt da.
Sie dachte, dass sie weinen sollte, dass es angemessen wäre zu weinen, aber es kamen keine Tränen. Stattdessen konnte sie nur den riesigen Aufbau der jetzt nutzlosen Kreissäge hilflos anstarren. Sie hatte nie verstanden, warum Marianne dieses grässliche Monster aus Vorkriegszeiten überhaupt behalten hatte. Aber Marianne, die wusste schon, was sie tat. Marianne hatte immer eine Lösung für jedes Problem. Sie hatte Petra alles beigebracht, was sie über die Arbeit mit Holz wusste, hatte sie darin unterstützt, eine Ausbildung zur Landschaftsgärtnerin anzufangen, obwohl Ruth darauf beharrt hatte, dass sie Abitur machte. Damals hatte Petra sich dank Marianne durchgesetzt. Sie hatte nicht länger das Vorzeigekind im Kinderdorf sein, sondern das tun wollen, was sie glücklich machte. Die Schule verlassen, mit den Händen arbeiten. Marianne hatte sie darin bestärkt. Am liebsten hätte Petra damals bei ihr gearbeitet, aber der Lindenhof war kein Ausbildungsbetrieb.
Nun stand Petra vor dem Beweis, dass auch Marianne Fehler machte. Die Erkenntnis jagte ihr Angst ein.
»Petra?« Ludwigs Stimme ließ sie zusammenzucken.
»Ich bin hier!«
Im nächsten Moment hörte sie seine Schritte. Sie drehte sich um und sah, wie er hinter der Trennwand hervortrat, die die Säge vom Rest der Schreinerei abschirmte.
Seit sie denken konnte, war Ludwig in der Schreinerei »der Mann für alles«. Schon damals, als sie noch mit Corinna hier gespielt hatte, war er nicht wegzudenken gewesen. Inzwischen war sein Haar grauer geworden und sein Rücken gebeugter, aber noch immer strahlte er Energie und Tatkraft aus.
Doch seit dem Unfall wirkte seine Haut blass und die Ringe unter seinen Augen waren tief.
»Geh nicht so nah ran«, sagte er. »Nicht, dass dir auch noch was passiert.«
Es konnte nichts passieren. Das Sägeblatt war ja nicht mehr in der Aufhängung und der Strom gekappt. Dennoch trat Petra ein Stück von der Maschine weg.
»Ich wollte dem schrecklichen Ding nur einen Fußtritt verpassen«, log sie und ballte die Fäuste.
Den Fleck konnte sie später immer noch erwähnen. Im Moment hatten sie genug andere Probleme, und die Stimmung war schon düster genug.
Ludwig rang sich ein schwaches Lächeln ab. »Das ändert leider auch nichts mehr. Komm, wir müssen dem Holzlaster das Tor öffnen. Und Alexandre hat den Transporter mitten in der Einfahrt stehen lassen. Kannst du den beiseitefahren?«
Nebeneinander gingen sie nach draußen. Petra sah, was Ludwig meinte. Der Transporter war so vor dem Holzlager geparkt, dass der Zulieferer nicht herankam, um abzuladen. Sicher hatte Alexandre vorgehabt, eine Bestellung aufzuladen und auszuliefern.
Aber dann hatte er es nicht mehr gekonnt.
Petra schlang die Arme um ihren Oberkörper, als sie plötzlich fröstelte. Sofort versuchte sie, den Gedanken daran zu verscheuchen.
»Ist die Ware noch im Wagen?«
»Ja, und die sollte eigentlich schnellstmöglich zum Kunden gebracht werden«, sagte Ludwig. »Vielleicht kann mein Schwager als Fahrer einspringen. Meinst du, wir schaffen es bis zum Milchhof? Wenn wir ihm den Transporter vorbeibringen, sagt er bestimmt nicht nein.«
»Das geht nicht«, protestierte sie. »Ich hab doch keinen Führerschein.«
»Bist du nicht trotzdem schon mal Auto gefahren?« Ludwig sah sie hoffnungsvoll an. »Ich dachte, die meisten Jugendlichen im Dorf machen das.«
Petra schüttelte den Kopf. »Ich bin ein Mädchen, ich lasse mich immer fahren.« Sie zwinkerte keck, aber gleichzeitig war ihr bewusst, dass das ihr Problem nicht lösen würde.
Ludwig seufzte. »Das hilft uns jetzt auch nicht weiter. Ich gehe nicht davon aus, dass wir kurzfristig einen deiner Verehrer hierher beordern können. Und mir fehlt nun einmal leider der Arm zum Schalten.« Er klopfte mit seiner linken Hand dorthin, wo sein rechter Arm hätte sein sollen. Soweit Petra wusste, hatte er ihn im Krieg verloren.
Nachdenklich starrte Petra den Wagen an. Es war der klapprige alte Transporter, mit dem Alexandre auch Farben, Pinsel und sonstige Einkäufe besorgte. Er hatte nicht einmal ein Fenster hinten, durch das man beim Zurücksetzen hätte sehen können, wohin man fuhr. Nie im Leben konnte sie das Ding fahren! Selbst wenn es bis zu Lisbeths Milchhof nicht weit war.
»Drüben ist auch niemand, der uns helfen könnte.« Ludwig blickte hinüber zu dem Waldweg, der zum Wohnhaus der Familie Wagner führte. Durch die dichtstehenden Bäume war der Lindenhof nur zu erahnen, nicht zu sehen.
Petra war vorhin dort gewesen. Sie nickte, »Ja, ich weiß.«
Die gespenstische Stille hatte sie bedrückt. Nicht einmal Barbara hatte sie angetroffen, und die Haustür war verschlossen gewesen. Petra glaubte nicht, dass das schon jemals der Fall gewesen war. Später am Abend würden Lotte und Corinna ankommen, aber bis dahin waren sie und Ludwig auf dem ganzen weiten Gelände allein. Ein seltsames Gefühl. Seit sich Petra erinnern konnte, war hier immer genug los gewesen.
»Ich schätze«, fuhr Ludwig fort, »dann bleibt uns nichts anderes übrig, als auf den Holzlaster zu warten und zu hoffen, dass der Fahrer bereit ist, den Transporter selbst zur Seite zu fahren.«
»Aber wir können ihn schlecht bitten, auch noch die Bestellung mitzunehmen«, wandte sie ein.
Vielleicht sollte sie doch versuchen, zu fahren. Oft genug hatte sie daneben gesessen, wenn jemand gefahren war – so schwierig konnte das doch nicht sein, oder? Und Ludwig brauchte ja eigentlich nur jemanden, der schaltete.
Das brachte sie auf eine andere Idee. »Sag mal, wenn du mir sagst, wann ich schalten soll, dann kann ich das doch vom Beifahrersitz aus machen, oder?«
»Hm.« Ludwig rieb sich das graubärtige Kinn. »Ja, warum nicht? Das könnte funktionieren.«
»Dann machen wir es so.« Sie lachte, um ihre Aufregung zu überspielen. »Los, ich öffne das Tor zur Straße, und du holst den Wagenschlüssel aus der Werkstatt.«
Petras Herz klopfte laut, als sie die Finger um den Schaltknüppel des Transporters schloss. Aber jetzt, wo es beschlossene Sache war, fand sie das Ganze eher spannend als beängstigend.
Ludwig ließ den Motor an. Eine stinkende Rauchwolke kam aus dem Auspuff.
»Igitt!« Petra kurbelte hastig das Fenster hoch. »Welchen Gang?«, fragte sie.
»Zum Anfahren immer der erste.«
Den Schaltknüppel in die richtige Position zu bringen war gar nicht so einfach. Am Ende musste Petra die zweite Hand dazunehmen. Doch schließlich gab Ludwig Gas und fuhr ruckelnd an.
Der Transporter rumpelte über den Vorplatz auf das Tor zu.
»Zweiter Gang«, rief Ludwig. »Jetzt!«
Das Geräusch des Motors änderte sich, dröhnte lauter. Gleich mit zwei Händen zog Petra den Schalthebel nach unten. Doch irgendwo in der Mitte traf sie auf Widerstand. War es normal, dass das Schalten so schwer war oder lag es am Alter des Transporters?
»Petra?«
Der Wagen holperte weiter, und Ludwig schien Schwierigkeiten zu haben, das Lenkrad mit einer Hand gerade zu halten. Endlich sprang der Gang rein. Ludwigs rechter Fuß wechselte das Pedal. Der Motor erstarb. Abgewürgt. Und das direkt vor dem Tor.
»Mist.« Ludwig fluchte. Hier konnten sie auf keinen Fall stehenbleiben. »Versuchen wir es noch mal.«
Aber der Transporter widersetzte sich ihren Bemühungen, sie kamen nicht mehr vorwärts. Sobald Petra den Gang eingelegt und Ludwig die Kupplung kommen ließ, machte der Wagen einen kleinen Satz, und der Motor war wieder aus.
Irgendwann schlug Ludwig frustriert mit der Faust gegen das Armaturenbrett. »Das hat keinen Sinn. Alexandre hätte diese Rostlaube längst verschrotten sollen! Leg den Rückwärtsgang rein, wir versuchen dort hinten neben dem Schuppen zu parken.«
Petra kämpfte mit dem Schalthebel. »So?«
Als Ludwig aufs Gaspedal trat, machte der Transporter einen großen Satz nach hinten. Petra schrie auf.
»Was tust du?«
»Gar nichts«, schimpfte Ludwig.
Der Motor war wieder aus. Sie rollten weiter rückwärts. »Siehst du überhaupt, wohin wir fahren?«
Ludwig gab keine Antwort, sondern riss am Lenkrad. Sein Fuß trat hektisch auf das mittlere Pedal. »Zieh die Handbr…«
»Was?«
Etwas kreischte, vielleicht die Bremse oder sie selbst, dann rammten sie auch schon eine Ecke des Schuppens.
Petra wurde nach vorn geschleudert. Mit Kopf und Schulter knallte sie hart gegen die Scheibe. Durch ihren Schädel fuhr ein stechender Schmerz und kurz hatte sie das Gefühl, taub zu sein.
Dann merkte sie, dass die Stille echt war. Alle Geräusche, die sie zuletzt wahrgenommen hatte, waren verstummt. Das Krachen und Splittern von Holz. Der röhrende Motor. Das Klirren, das sie nicht einordnen konnte, bis sie den Kopf wandte.
»Ludwig?«
Voller Entsetzen erblickte sie ihn, wie er schlaff über dem Lenkrad hing. Blut tropfte von seiner Stirn. Durch die Wucht des Aufpralls war die Seitenscheibe neben ihm geborsten, tausend winzige Scherben lagen um ihn verstreut.
Petra rutschte vorsichtig näher und berührte ihn an der Schulter. »Ludwig?« Als sie ihn leise stöhnen hörte, war sie unendlich erleichtert. »O Gott sei Dank!«
Er lebte. Aber es hatte ihn viel schlimmer erwischt als sie. Was sollte sie tun? Ihn aus dem Auto holen? Auf seiner Seite war die Tür durch den Schuppen eingedrückt, sie würde ihn über die Sitzbank auf ihre Seite ziehen müssen. Was, wenn sie ihn dabei noch stärker verletzte? Vermutlich war er auch zu schwer für sie.
»Ich hole Hilfe«, versicherte sie ihm. Und sollte der Holzlaster nicht bald hier sein? »Keine Sorge, alles wird gut«, sprach sie ihm und damit auch sich selbst Mut zu.
Aber eines war sicher. Alles schien sich im Moment gegen die Schreinerei verschworen zu haben. Der beschädigte Holzschuppen war da noch das kleinste Problem. Den konnte man reparieren. Petra hoffte, alles andere auch.
Corinna lehnte sich im Sitz zurück. Trotz allem fühlte es sich gut an, nach Hause zu kommen. Die schmale Straße in Richtung Lindenhof war nach ihrem Weggang offensichtlich neu asphaltiert worden, aber das machte das letzte Stück am Waldrand entlang kaum weniger holprig. In der Dämmerung neigten sich die schattigen Bäume dem Auto entgegen, als wollten sie es willkommen heißen.
Corinna erinnerte sich, wie sie diesen Weg unzählige Male mit dem Rad von der Schule nach Hause gefahren war. Schon damals hatte sie sich gewünscht, nicht so abgelegen zu wohnen. Abends ins Kino zu gehen oder sich mal eben mit Freundinnen zu treffen, war hier draußen kaum möglich gewesen.
Nun, diesmal würde es auf dem Hof wahrscheinlich noch ruhiger als damals sein. Als sie um die letzte Kurve bogen, blinkten ihnen aus der Zufahrt zur Schreinerei Lichter entgegen.
»Was ist denn da los?«, fragte Lotte.
Auch Corinna beugte sich vor. Der Platz vor der Werkstatt war viel heller erleuchtet, als sie es erwartet hatte. »Ich dachte, vorerst ist geschlossen?«
»Ja, das dachte ich auch.«
Ein großer Lastwagen mit der Aufschrift des Holzzulieferers versperrte ihnen zunächst die Sicht, als Lotte Hennis alten Golf durch das Tor lenkte. Die hinteren Türen standen offen, die Ladefläche schien größtenteils leer zu sein. Doch das Gefährt daneben beunruhigte Corinna viel mehr.
»Ist das die Polizei?«
»O Gott!« Lotte bremste abrupt hinter dem Laster ab. »Bitte lass nicht noch etwas passiert sein!«
Corinna hatte die Hand bereits am Türgriff, noch bevor das Auto komplett zum Stehen gekommen war. Kaum hatte Lotte den Motor abgestellt, löste Corinna den Gurt und sprang aus dem Wagen. Sie eilte auf den Mann in Uniform zu.
»Bitte bleiben Sie weg«, rief er ihr entgegen. »Hier gibt es nichts zu …«
»Mein Name ist Corinna Wagner«, unterbrach sie ihn. »Das hier ist die Schreinerei meiner Eltern. Was ist passiert?«
»Es gab einen Unfall.« Der Beamte klang, als wäre das nichts weiter als eine alltägliche Lappalie, aber Corinna stockte der Atem.
»Ein Unfall? Schon wieder? Was ist passiert?«
»Corinna?« Eine Gestalt löste sich aus dem Schatten neben dem Polizeiwagen. Im nächsten Moment kam Petra auf sie zu. Mit dem fransigen Stufenschnitt hätte Corinna sie fast nicht erkannt. Eine um ihre Schultern gelegte Decke wehte wie ein Cape hinter ihr her. »Da bist du! Marianne war sich nicht sicher, ob du kommst.«
Corinna runzelte die Stirn. Was machte Petra hier? Das Letzte, was Corinna von ihr gehört hatte, war, dass sie die Ausbildung zur Landschaftsgärtnerin abgeschlossen, aber keine große Lust dazu hatte, in ihrem erlernten Beruf zu arbeiten. Und was war das für eine Unterstellung?
»Mein Vater ist tot, und du denkst, ich komme nicht nach Hause?«
Immerhin hatte Petra den Anstand, betroffen zu schauen. »So war das doch nicht gemeint! Marianne hat sich nur Sorgen gemacht, du könntest vielleicht zu beschäftigt … Ich meine, dein Leben in Berlin und all das … Du bist seit Weihnachten nicht mehr hier gewesen.« Sie unterbrach sich, winkte ab. »Tut mir leid, ich kann gerade nicht richtig denken.« Sie zog die Decke enger um sich, wirkte damit klein und verletzlich, auch wenn sie äußerlich wohl unbeschadet aus dem Unfall hervorgegangen war.
Corinna seufzte. Ihre Freundin aus Kindertagen hatte gerade ganz offensichtlich einiges durchgemacht. Es war bestimmt nicht richtig, jetzt Streit mit ihr anzufangen. Allerdings tat es weh, dass ihre Mutter mit Petra augenscheinlich noch immer sehr vertraut war. Vertrauter als mit ihr.
Lottes Hand auf Corinnas Schulter gab ihr Halt. »Geht es dir gut?«, fragte sie an Petra gewandt. »War sonst noch jemand an dem Unfall beteiligt? Du hast doch nicht etwa allein versucht, den Transporter zu fahren?«
Petra machte eine hektische Geste, die aussah, als würde sie gleichzeitig nicken und den Kopf schütteln wollen. »Mir geht’s gut. Aber Ludwig, der … Also er saß am Steuer und … Ihr habt den Krankenwagen knapp verpasst.«
»Ludwig saß im Wagen?« Schlagartig wurde Corinna eiskalt.
Ludwig mochte nicht offiziell ihr Onkel sein, aber vom Gefühl her war er es immer gewesen. Seit sie denken konnte, war er Teil ihres Lebens. Oft, wenn ihre Eltern keine Zeit für sie gehabt hatten, weil sie arbeiten oder etwas anderes erledigen mussten, war er eingesprungen und hatte auf sie aufgepasst.
»Ist er verletzt?«, fragte sie. »Was ist passiert? Rede schon!«
»Es war nur wegen der Holzlieferung.« Petra gestikulierte in Richtung des Lasters, wobei ihr die Decke fast von den Schultern rutschte. »Normalerweise nehmen Marianne und ich die in Empfang, damit wir das Material prüfen können. Aber Marianne ist ja gerade verhindert.«
Die saloppe Formulierung empfand Corinna als unpassend, aber sie blieb stumm und versuchte, nur das Gesagte zu erfassen. Seit wann arbeitete Petra in der Schreinerei? Warum hatte ihr das niemand gesagt?
»Atme erst einmal tief durch.« Lottes Stimme hatte einen beruhigenden Klang, und Corinna war ihr dankbar, dass sie in der Situation einen kühlen Kopf behielt. »Und dann erklär uns, was genau Ludwig zugestoßen ist.«
Petra schloss die Augen, führte die Hände vor ihrem Körper nach unten und atmete tief ein. Eine Geste, die Corinna aus ihrer Kindheit unendlich vertraut war. Petra hatte gelernt, ihre Gefühle auf diese Weise innerhalb eines Augenblicks beiseitezuschieben, um alles tun zu können, was getan werden musste. Corinna war schon dabei gewesen, als ihre alte Freundin nach so einem Durchatmen lange Dornen aus ihrer eigenen Wade gezogen und dabei noch Scherze gemacht hatte.
Jetzt stieß Petra die Luft langsam und geräuschvoll wieder aus. »Alexandre hatte den Transporter direkt vor dem Holzlager stehen lassen, und wir wollten ihn wegfahren, damit der Laster genügend Platz zum Abladen hat. Also, Ludwig und ich wollten ihn wegfahren, zu zweit, es war schon fast ein bisschen lustig.« Wieder plapperte Petra dahin, als würde sie eine witzige Anekdote erzählen, und Corinna wünschte, sie würde die Sache ernster nehmen. »Wir sind rückwärts in den Schuppen gekracht, und Ludwig hat sich den Kopf am Lenkrad angeschlagen. Es tut mir echt leid. Also für ihn. Und für den Schuppen natürlich auch. Ich repariere das, versprochen. Und der Notarzt hat gesagt, Ludwig wird schon wieder. Er darf hoffentlich bald wieder heim, er soll sich dann nur ein paar Wochen lang nicht anstrengen und kann vielleicht nicht arbeiten.«
Eine Welle der Erleichterung durchflutete Corinna. Dafür, dass sie das Schlimmste befürchtet hatte, schien der Unfall mit dem Transporter eher glimpflich ausgegangen zu sein. Warum hatte Petra das nicht gleich gesagt?
Und es störte sie, dass Petra schon wieder schief grinste. »Das ist eine Geschichte, die ich wohl mal meinen Enkelkindern erzählen kann.«
»Du meinst die Geschichte, wie mein Vater gestorben ist und ich direkt bei der Heimkehr Angst hatte, noch einen weiteren Menschen verloren zu haben?«, brauste sie auf.
Petra lief dunkelrot an. Gut so. Corinna starrte sie wütend an.
»So war es nicht gemeint. Ich …«
Lotte trat vor, eine Hand immer noch auf Corinnas Schulter, ein stetiger Halt in dem Sturm aus Gefühlen. »Es ist spät, und wir haben in den letzten Tagen alle viel durchgemacht. Warum geht ihr beiden nicht rüber ins Haus, esst etwas und du legst dich dann schlafen, Corinna? Ich bleibe hier, bis alles geregelt ist und kümmere mich darum, dass der Fahrer des Holzlasters noch sein Geld bekommt. An den armen Kerl hat bisher wahrscheinlich noch keiner gedacht.«
Es war ein vernünftiger Vorschlag. Doch als Corinna ihre schwere Tasche aus dem Kofferraum des Golfs lud und über den dunklen Waldweg zum Haus schleppte, während Petra wie in alten Zeiten mit der Taschenlampe neben ihr herging, fühlte sie sich seltsam fremd.
Stumm beäugte sie Petra von der Seite. Sie hatten sich nicht mehr viel zu sagen gehabt im letzten Jahr, bevor Corinna nach Berlin gegangen war.
Aber warum hatte ihre Mutter ihr verschwiegen, dass ihre ehemals beste Freundin für sie arbeitete?
Normalerweise war es Mariannes Aufgabe, früh am Morgen die Werkstatt aufzuschließen und die anstehenden Arbeiten für den Tag vorzubereiten.
Nun stand Petra mit dem großen Schlüsselbund in der Hand vor der Tür. Sie hatte auf Lottes Vorschlag hin gestern in der zugigen Dachkammer auf dem Lindenhof übernachtet, die gelegentlich als Gästezimmer diente, und war deshalb als Erste hier. Beim Frühstück hatte ihr nur Corinnas Oma Gesellschaft geleistet, Mariannes verwitwete Mutter, die schweigend an ihrem Tee nippte. Von Corinna, die im Anbau in ihrem alten Kinderzimmer schlief, war kein Mucks zu hören gewesen. Petra hatte sie nicht wecken wollen. Ihr Wiedersehen nach dem Unfall gestern war schwierig gewesen, und ein bisschen fühlte sie sich immer noch schuldig.
Sie blickte ein letztes Mal zum grauverhangenen Himmel auf, dann drehte sie den Schlüssel im Schloss und schob die Tür auf. Der vertraute Geruch nach Holzstaub und Farbe empfing sie, dennoch fühlte es sich anders an als sonst.
Leer und kalt.
Marianne oder Ludwig oder irgendjemand anderes sollte hier sein. Sie sollte nicht die Verantwortung tragen müssen. Doch es war nur Stille, die hinter der Tür auf Petra wartete. Die begonnenen Arbeiten der letzten Tage lagen noch abgedeckt auf den Werkbänken, die Werkzeuge waren ordentlich weggeräumt. Darauf hatte Marianne immer Wert gelegt.
Zögerlich setzte Petra einen Fuß in den Raum. Vielleicht sollte sie lieber draußen warten, bis noch jemand kam?
Nein, das war Unsinn. Sie kannte diesen Ort und wusste, was zu tun war. Und die anderen würden sicher bald da sein. Die Arbeitszeiten wurden zwar flexibel danach ausgerichtet, wie viel es zu tun gab, aber die meisten Mitarbeiter erschienen morgens dennoch recht früh.
Ihre eigenen Schritte kamen Petra unnatürlich laut vor. Die große Kreissäge war hinter der Trennwand nicht zu sehen, trotzdem fühlte Petra sich, als würde das Monster sie belauern.
Sie gab sich einen Ruck und beschloss, als Erstes die neue Lieferung im Holzlager zu sichten. Das hatte Lotte gestern bestimmt nicht mehr erledigt, denn damit kannte sie sich im Gegensatz zu Petra ja auch gar nicht aus.
Das Holzlager war ihr Lieblingsraum. Dort verflog endlich auch das Gefühl, die große Kreissäge würde sie nicht aus den Augen lassen. Sie atmete tief ein und sog den Geruch der verschiedenen Holzsorten in ihre Nase. Jedes Holz roch anders, unverkennbar. Suchend ging sie zwischen den aufgeschichteten Blöcken, Brettern und zugeschnittenen Platten hindurch.
Schon vor dem Unfall war Petra eine Idee gekommen. Komplette Puppenstuben und Puppenhäuser aus Holz mochten nicht mehr so gefragt sein, aber was jedes Kind immer noch für seine neuen Plastikpuppen brauchte, waren Bettchen. Sie wollte eine Wiege bauen. Dort ließ sich die Puppe dann hineinlegen und in den Schlaf schaukeln. Sie hatte schon einen Entwurf vor Augen, der das ganze Bettchen wie eine Wolke wirken lassen würde. Und wer wollte denn nicht auf einer Wolke schlafen?
Hier und dort ließ sie die Finger über ein Holzstück gleiten, erspürte die Textur und Qualität. Dabei fiel bald jegliche Anspannung von ihr ab. Für eine Weile konnte sie vergessen, was geschehen war, konnte ganz in ihre Arbeit eintauchen. Sie wollte Buchenholz nehmen. Damit arbeitete sie am liebsten. Doch das Material musste die richtige Beschaffenheit aufweisen, das hatte sie von Marianne gelernt. Gegen die Maserung zu arbeiten, bedeutete unnötige Mühe und ein schlechteres Ergebnis.
Schließlich fuhren Petras Finger über zwei Holzplatten, deren Maserungen genau richtig verliefen für das, was sie vorhatte. Sie strahlte, sah das Ergebnis schon vor sich.
Als sie das Holz vom Lager in die Werkstatt trug, summte sie leise vor sich hin. Letztes Wochenende hatte sie auf der Kirmes mit einem süßen Tischler, der auf der Walz nach Hohenlohe gekommen war, Stehblues getanzt, zu dem Song, mit dem Johnny Logan beim Grand Prix gewonnen hatte. Die Melodie hatte sie immer noch im Ohr.
»What’s another year«, trällerte sie und machte ein paar Tanzschritte durch die Schreinerei.
Jäh flog die Werkstatttür auf. Petra stolperte vor Schreck und stieß mit der Hüfte gegen die Werkbank. Der Rest des Refrains blieb ihr in der Kehle stecken.
Im Eingang stand Szymon, der mit geröteten Wangen schnaufte. »Sie haben Elvira am Tor in die Ecke gedrängt!«
»Was?« Petra wünschte sich sehnlichst einen Tag, an dem alles glattlief und keine Katastrophen passierten. »Wer hat Elvira in die Ecke gedrängt?«
»Reporter«, stieß er hervor. Hastig blickte er sich in der Werkstatt um. »Bist du alleine hier?«
Sie nickte. »Welche Reporter?«
»Sie wollen über den Unfall schreiben, glaube ich. Ich wollte sie wegschicken, aber sie haben irgendwas von Behinderung der Pressefreiheit gesagt und dass sie schlecht über uns schreiben, wenn ich wütend werde.«
Herrje, und da mussten sie sich ausgerechnet die verhuschte Elvira herauspicken, die sich nicht zu wehren wusste und die schon beim Anblick eines winzigen Käfers in Schockstarre fiel. Nun, es war sonst niemand da, der Verantwortung übernehmen konnte, also würde Petra das wohl regeln müssen.
»Ich geh hin«, sagte sie. »Mal sehen, ob ich da was machen kann.« Sie stürmte an Szymon vorbei nach draußen.
Wenn sie ehrlich war, hatte sie nicht die geringste Ahnung, was sie unternehmen sollte. Aber sie schob den Gedanken beiseite und eilte die Zufahrt zur Straße hinauf.
Die Gruppe vor dem Tor war nicht zu übersehen. Elvira stand mit dem Rücken fest gegen das Zaun gepresst, als würde sie sich am liebsten durch den Maschendraht drücken. Vor ihr hatten sich zwei Männer mit Notizblöcken und Diktiergeräten aufgebaut.
»Können Sie etwas zu den Arbeitsbedingungen in Ihrem Betrieb sagen?«, rief ein Mann mit einer Pilzkopf-Frisur im Stil der Beatles aus den 60ern. Aus welcher Mottenkiste war der denn gekrochen?
»Ich …« Elviras zartes Stimmchen war kaum mehr als ein Flüstern.
»Fühlen Sie sich als Angestellte hier sicher?« Der Reporter ließ nicht locker.
»Nein. Gerade fühle ich mich überhaupt nicht sicher.« Elvira drückte sich noch enger an den Zaun, und Petra konnte es ihr nicht verdenken. Auch sie hätte sich in dieser Situation unwohl gefühlt, dabei hatte sie normalerweise kein Problem damit, im Mittelpunkt zu stehen.
Endlich hatte sie das Tor erreicht. »Lassen Sie sie in Ruhe!«, rief sie. Das war das Erstbeste, was ihr einfiel.
Es sorgte dafür, dass sich die beiden Männer zu ihr umdrehten.
Petra erhob die Stimme. »Haben Sie nichts Besseres zu tun, als Leute auf dem Weg zur Arbeit zu bedrängen?« Wenn sie lange genug die Aufmerksamkeit der Reporter auf sich zog, konnte Elvira hoffentlich rasch durch das Tor schlüpfen und entkommen, ohne dass es ihnen gelang, ihr zu folgen.
Der Mann mit dem Pilzkopf streckte Petra über den Zaun das Aufnahmegerät entgegen. »Gehören Sie zur Geschäftsführung? Ihre Angestellte hat gerade mitgeteilt, dass sie sich im Betrieb nicht sicher fühlt. Was haben Sie dazu zu sagen?«
»Was? Das hat sie überhaupt nicht gesagt!« Was fiel diesem Kerl ein, Elviras Aussage so aus dem Zusammenhang zu reißen. Die Arme hatte sich mit ihrer Aussage ganz eindeutig auf das Hier und Jetzt bezogen, darauf, dass sie bedrängt wurde – und zwar von ihm.
»Leugnen Sie, dass es in Ihrem Betrieb ein Sicherheitsproblem gibt?«, bohrte der Reporter weiter.
Langsam reichte es Petra. »Und ob ich das leugne!«
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Elvira sich unauffällig zur Toröffnung vorschob. Ihr Gesicht war kalkweiß, die Augen aufgerissen. Die Unterlippe zitterte. Sie sah aus wie ein Gespenst. Hoffentlich kippte sie nicht um.
Petra redete tapfer weiter, um den Kerl von ihr abzulenken. »Aber wissen Sie, wer hier ein ernsthaftes Problem hat? Sie mit Ihrer Frisur! Die war vor zwanzig Jahren in Mode. Dass Sie sich damit überhaupt in die Öffentlichkeit wagen … Sehr mutig, kann ich da nur sagen.«
Für einen Moment tastete der Reporter tatsächlich nach seinem Haar, und Petra triumphierte innerlich. Allerdings nur kurz. Bevor sie noch sein gelbes Polohemd oder den unvorteilhaften Schnitt seiner Hose zum Thema machen konnte, legte sich ihr von hinten eine Hand auf die Schulter. »Ich glaube, das reicht.«
Petra drehte sich um und blickte in Corinnas aufgebrachtes Gesicht. Galt der Zorn etwa ihr? Sie hatte doch nur Elvira helfen wollen.
Als Petra sich nach Elvira umschaute, war die gerade durch das Tor geschlüpft und rannte auf die Schreinerei zu, wo Szymon in der Tür stand und sie herbeiwinkte.
Petra grinste zufrieden. »Du hast recht, es reicht.« Sie wandte sich noch einmal zu den beiden Reportern um. »Es war mir eine Freude, meine Herrschaften.« Sie knickste und gestattete Corinna dann, sie wegzuziehen.
»Findest du das lustig?«, herrschte die sie an, kaum dass sie außer Hörweite waren.
Petra blinzelte verwirrt. »Was meinst du?«
»Was ich meine? Diese Reporter gieren danach, irgendwelche Details über den Unfall meiner Eltern zu erfahren, und du lieferst ihnen auch noch eine Show.«
Hatte es so ausgesehen? Petra ließ die Schultern hängen. Früher hatten sie sich so gut verstanden, hatten so viel Unsinn zusammen machen können, aber irgendwann hatte Petra den Draht zu Corinna verloren. »Ich wollte Elvira doch nur helfen.«
Immerhin, ein Teil des Ärgers verschwand aus Corinnas Gesicht. Sie blickte dorthin, wo Szymon gerade die schluchzende Elvira im Arm hielt. Offenbar gelang es ihm nur schwer, sie zu beruhigen. Tröstend redete er auf sie ein und strich ihr immer wieder übers Haar.
»Danke«, sagte Corinna schließlich. Es klang, als koste es sie Anstrengung, die Zähne weit genug für dieses Wort auseinander zu bekommen. »Aber das nächste Mal überlass das Reden mit der Presse gefälligst mir.«
Petra nickte. Das sollte ihr recht sein. Vielleicht hauten die aufdringlichen Kerle auch bald wieder ab, jetzt, da sie kein Opfer mehr hatten, das sie in die Mangel nehmen konnten. »Lass uns nach Elvira sehen. Nicht, dass sie nach dem Schreck doch noch in Ohnmacht fällt und wir wieder einen Krankenwagen rufen müssen.«
Einen Moment lang sah Corinna sie mit einem Blick an, den Petra nicht zu deuten wusste, dann nickte auch sie.
Corinna hatte den Vormittag eigentlich nur damit verbringen wollen, sich selbst leidzutun und sich in ihren Roman zu verkriechen. Sie wusste nicht, ob sie tatsächlich hätte schreiben können, aber auch wenn sie nur ein paar alte Szenen überarbeitet hätte, wäre sie auf jeden Fall von dem Unglück abgelenkt gewesen, das ihr Leben derzeit überschattete.
Stattdessen setzte sich die Reihe schrecklicher Ereignisse fort. Noch bevor sie gefrühstückt hatte, passierte dieses ganze Drama mit Elvira. Szymon hatte die verstörte Frau in die Werkstatt geführt, wohin Corinna ihnen jetzt gefolgt war. Es gab dort einen Tisch, an dem sie schmal und still gesessen hatte, seit Corinna denken konnte, um gemeinsam mit Alexandre die filigranen Motive und Muster auf die Puppenmöbel zu malen. Als Szymon sie dorthin schob, nahm sie ganz automatisch ihren Platz ein, starrte dann aber nur reglos auf die Farbtöpfchen, Tuben und Pinsel. Sie schien ihre Umgebung gar nicht richtig wahrzunehmen. Ihre Hände zitterten, und eine Träne lief ihr über die Wange.
Corinna zog den Hocker ihres Vaters heran und setzte sich neben sie. Aus der Jackentasche kramte sie ein Päckchen Taschentücher. Dankbar nahm Elvira es entgegen.
»Sie … sie wollten mich nicht durchgehen lassen.«
Petra legte ihr die Hand auf die Schulter. »Es ist okay, hier drin bist du sicher. Die Mistkerle werden nicht über den Zaun klettern.«
»Sieht aber auch nicht so aus, als hätten sie vor, bald zu verschwinden.« Szymon stand an der Tür der Schreinerei und spähte hin und wieder nach draußen.
Er hatte recht. Die Reporter würden auch dem nächsten Mitarbeiter auflauern und ihn bedrängen.
»Was sollen wir tun?« Aus irgendeinem Grund blickten alle Corinna an, als müsste sie die Antwort auf diese Frage geben. Sogar Petra, die vorhin noch so eigenmächtig vorgeprescht war, schien auf eine Anweisung zu warten.
Corinna räusperte sich. Für den Moment musste sie wohl das Zepter in die Hand nehmen. Das hieß aber noch lange nicht, dass sie die Nachfolge ihrer Mutter antrat.
»Szymon«, sagte sie. »Sieh zu, ob du dich rausschleichen und die anderen abfangen kannst, falls sie auf dem Weg hierher sind. Sag ihnen, wir arbeiten ab morgen wieder. Sie sollen dann möglichst von hinten über den Waldweg kommen, nicht vorne durch das Tor an der Straße. Und rede auf keinen Fall mit den Reportern. Kein Wort. Alles, was du sagst, können sie verdrehen und gegen uns verwenden.«
Corinna wagte es noch gar nicht sich auszumalen, was Petras kleiner Auftritt in dieser Hinsicht bewirkt haben mochte. Man würde ihnen zumindest nachsagen, die Unfälle auf dem Hof nicht ernst genug zu nehmen.
Szymon nickte und tippte sich zum Abschied an die Mütze. »Gut, bis morgen dann.« Er schien froh zu sein, gehen zu dürfen, aber er würde seinen Auftrag erfüllen. Er arbeitete seit Jahrzehnten in der Schreinerei, auf ihn war Verlass.
Corinna dachte nach, was sie noch unternehmen konnten.
Lotte! Ihrer Tante musste sie auf jeden Fall Bescheid geben. Eigentlich allen, die es betraf.
»Gibt es hier eine Telefonliste?«, fragte sie. »So können wir die Angestellten am schnellsten informieren, dass sie heute nicht herkommen sollen.«
»In einer der Schubladen von Mariannes Schreibtisch vielleicht«, sagte Petra. »Ich kann danach suchen, wenn du willst.«
Corinna nickte, für den Moment einfach nur froh, dass ihr eine Aufgabe abgenommen wurde.
Doch im nächsten Moment durchfuhr sie ein weiterer Gedanke. Diese Reporter waren doch sicher nicht auf Verdacht hergekommen. Es musste schon irgendeine Meldung in der lokalen Presse gegeben haben, die sie hergelockt hatte.
»Ich brauche eine aktuelle Zeitung. Gibt es hier eine?«
Elvira schnäuzte sich verstohlen. »Vermutlich steckt sie noch im Briefkasten. Normalerweise bringt Marianne die morgens immer zusammen mit der Post mit.«
Seit sie im Krankenhaus lag, hatte wohl niemand mehr den Briefkasten am Tor geleert. Beim Gedanken, nach draußen zu gehen und sich diesen zwei aufdringlichen Männern zu stellen, graute es Corinna, aber wenn sie nicht ging, würde es Petra tun und sich womöglich wieder auf einen Wortwechsel mit ihnen einlassen. Seufzend erhob sie sich. »Gut, ich gehe mal nachsehen.«