Die fröhliche Wissenschaft - Friedrich Nietzsche - E-Book

Die fröhliche Wissenschaft E-Book

Friedrich Nietzsche

0,0

Beschreibung

Erstmals 1882 erschienen, 1887 noch einmal bearbeitet ist Die fröhliche Wissenschaft ist eine Zusammensetzung aus Aphorismen. Hieraus entstammt auch der Ausruf Gott ist tot!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 344

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die fröhliche Wissenschaft

"Scherz, List und Rache." Vorspiel in deutschen Reimen.Erstes BuchZweites BuchDrittes BuchViertes BuchFünftes BuchAnhangAnmerkungen zu dieser AusgabeImpressum

"Scherz, List und Rache." Vorspiel in deutschen Reimen.

1.

Einladung.

Wagt's mit meiner Kost, ihr Esser! Morgen schmeckt sie euch schon besser Und schon übermorgen gut! Wollt ihr dann noch mehr, – so machen Meine alten sieben Sachen Mir zu sieben neuen Muth.

2.

Mein Glück.

Seit ich des Suchens müde ward, Erlernte ich das Finden. Seit mir ein Wind hielt Widerpart, Segl' ich mit allen Winden.

3.

Unverzagt.

Wo du stehst, grab tief hinein! Drunten ist die Quelle! Lass die dunklen Männer schrein: "Stets ist drunten – Hölle!"

4.

Zwiegespräch.

War ich krank? Bin ich genesen? Und wer ist mein Arzt gewesen? Wie vergass ich alles Das!

Jetzt erst glaub ich dich genesen: Denn gesund ist, wer vergass.

5.

An die Tugendsamen.

Unseren Tugenden auch soll'n leicht die Füsse sich heben: Gleich den Versen Homer's müssen sie kommen und gehn!

6.

Welt-Klugheit.

Bleib nicht auf ebnem Feld! Steig nicht zu hoch hinaus! Am schönsten sieht die Welt Von halber Höhe aus.

7.

Vademecum-Vadetecum.

Es lockt dich meine Art und Sprach, Du folgest mir, du gehst mir nach? Geh nur dir selber treulich nach: – So folgst du mir – gemach! gemach!

8.

Bei der dritten Häutung.

Schon krümmt und bricht sich mir die Haut, Schon giert mit neuem Drange, So viel sie Erde schon verdaut, Nach Erd' in mir die Schlange.

Schon kriech' ich zwischen Stein und Gras Hungrig auf krummer Fährte, Zu essen Das, was stets ich ass, Dich, Schlangenkost, dich, Erde!

9.

Meine Rosen.

Ja! Mein Glück – es will beglücken –, Alles Glück will ja beglücken! Wollt ihr meine Rosen pflücken? Müsst euch bücken und verstecken Zwischen Fels und Dornenhecken, Oft die Fingerchen euch lecken! Denn mein Glück – es liebt das Necken! Denn mein Glück – es liebt die Tücken! – Wollt ihr meine Rosen pflücken?

10.

Der Verächter.

Vieles lass ich fall'n und rollen, Und ihr nennt mich drum Verächter. Wer da trinkt aus allzuvollen Bechern, lässt viel fall'n und rollen –, Denkt vom Weine drum nicht schlechter.

11.

Das Sprüchwort spricht.

Scharf und milde, grob und fein, Vertraut und seltsam, schmutzig und rein, Der Narren und Weisen Stelldichein: Diess Alles bin ich, will ich sein, Taube zugleich, Schlange und Schwein!

12.

An einen Lichtfreund.

Willst du nicht Aug' und Sinn ermatten, Lauf' auch der Sonne nach im Schatten!

13.

Für Tänzer.

Glattes Eis Ein Paradeis Für Den, der gut zu tanzen weiss.

14.

Der Brave.

Lieber aus ganzem Holz eine Feindschaft, Als eine geleimte Freundschaft!

15.

Rost.

Auch Rost thut Noth: Scharfsein ist nicht genung! Sonst sagt man stets von dir: "er ist zu jung!"

16.

Aufwärts.

"Wie komm ich am besten den Berg hinan?" Steig nur hinauf und denk nicht dran!

17.

Spruch des Gewaltmenschen.

Bitte nie! Lass diess Gewimmer! Nimm, ich bitte dich, nimm immer!

18.

Schmale Seelen.

Schmale Seelen sind mir verhasst; Da steht nichts Gutes, nichts Böses fast.

19.

Der unfreiwillige Verführer.

Er schloss ein leeres Wort zum Zeitvertreib In's Blaue – und doch fiel darob ein Weib.

20.

Zur Erwägung.

Zwiefacher Schmerz ist leichter zu tragen, Als Ein Schmerz: willst du darauf es wagen?

21.

Gegen die Hoffahrt.

Blas dich nicht auf: sonst bringet dich Zum Platzen schon ein kleiner Stich.

22.

Mann und Weib.

"Raub dir das Weib, für das dein Herze fühlt! " – So denkt der Mann; das Weib raubt nicht, es stiehlt.

23.

Interpretation.

Leg ich mich aus, so leg ich mich hinein: Ich kann nicht selbst mein Interprete sein. Doch wer nur steigt auf seiner eignen Bahn, Trägt auch mein Bild zu hellerm Licht hinan.

24.

Pessimisten-Arznei.

Du klagst, dass Nichts dir schmackhaft sei? Noch immer, Freund, die alten Mucken? Ich hör dich lästern, lärmen, spucken – Geduld und Herz bricht mir dabei.

Folg mir, mein Freund! Entschliess dich frei, Ein fettes Krötchen zu verschlucken, Geschwind und ohne hinzugucken! – Das hilft dir von der Dyspepsei!

25.

Bitte.

Ich kenne mancher Menschen Sinn Und weiss nicht, wer ich selber bin! Mein Auge ist mir viel zu nah – Ich bin nicht, was ich seh und sah. Ich wollte mir schon besser nützen, Könnt' ich mir selber ferner sitzen. Zwar nicht so ferne wie mein Feind! Zu fern sitzt schon der nächste Freund – Doch zwischen dem und mir die Mitte! Errathet ihr, um was ich bitte?

26.

Meine Härte.

Ich muss weg über hundert Stufen, Ich muss empor und hör euch rufen: "Hart bist du; Sind wir denn von Stein?" – Ich muss weg über hundert Stufen, Und Niemand möchte Stufe sein.

27.

Der Wandrer.

"Kein Pfad mehr" Abgrund rings und Todtenstille!" – So wolltest du's! Vom Pfade wich dein Wille! Nun, Wandrer, gilt's! Nun blicke kalt und klar! Verloren bist du, glaubst du – an Gefahr.

28.

Trost für Anfänger.

Seht das Kind umgrunzt von Schweinen, Hülflos, mit verkrümmten Zeh'n! Weinen kann es, Nichts als weinen – Lernt es jemals stehn und gehn?

Unverzagt! Bald, solle ich meinen, Könnt das Kind ihr tanzen sehn! Steht es erst auf beiden Beinen, Wird's auch auf dem Kopfe stehn.

29.

Sternen-Egoismus.

Rollt' ich mich rundes Rollefass Nicht um mich selbst ohn' Unterlass, Wie hielt' ich's aus, ohne anzubrennen, Der heissen Sonne nachzurennen?

30.

Der Nächste.

Nah hab den Nächsten ich nicht gerne: Fort mit ihm in die Höh und Ferne! Wie würd' er sonst zu meinem Sterne? –

31.

Der verkappte Heilige.

Dass dein Glück uns nicht bedrücke, Legst du um dich Teufelstücke, Teufelswitz und Teufelskleid. Doch umsonst' Aus deinem Blicke Blickt hervor die Heiligkeit!

32.

Der Unfreie.

Er steht und horcht: was konnt ihn irren? Was hört er vor den Ohren schwirren? Was war's, das ihn darniederschlug?

Wie jeder, der einst Ketten trug, Hört überall er – Kettenklirren.

33.

Der Einsame.

Verhasst ist mir das Folgen und das Führen. Gehorchen? Nein! Und aber nein – Regieren! Wer sich nicht schrecklich ist, macht Niemand Schrecken: Und nur wer Schrecken macht, kann Andre führen. Verhasst ist mir's schon, selber mich zu führen!

Ich liebe es, gleich Wald- und Meeresthieren, Mich für ein gutes Weilchen zu verlieren, In holder Irrniss grüblerisch zu hocken, Von ferne her mich endlich heimzulocken, Mich selber zu mir selber – zu verführen.

34.

Seneca et hoc genus omne.

Das schreibt und schreibt sein unausstehlich weises Larifari, Als gält es primum scribere, Deinde philosophari.

35.

Eis.

Ja! Mitunter mach' ich Eis: Nützlich ist Eis zum Verdauen! Hättet ihr viel zu verdauen, Oh wie liebtet ihr mein Eis!

36.

Jugendschriften.

Meiner Weisheit A und O Klang mir hier: was höre ich doch! Jetzo klingt mir's nicht mehr so, Nur das ew'ge Ah! und oh! Meiner Jugend hör ich noch.

37.

Vorsicht.

In jener Gegend reist man jetzt nicht gut; Und hast du Geist, sei doppelt auf der Hut! Man lockt und liebt dich, bis man dich zerreisst: Schwarmgeister sind's –: da fehlt es stets an Geist!

38.

Der Fromme spricht.

Gott liebt uns, weil er uns erschuf!- "Der Mensch schuf Gott!" – sagt drauf ihr Feinen. Und soll nicht lieben, was er schuf? Soll's gar, weil er es schuf, verneinen? Das hinkt, das trägt des Teufels Huf.

39.

Im Sommer.

Im Schweisse unsres Angesichts Soll'n unser Brod wir essen? Im Schweisse isst man lieber Nichts, Nach weiser Aerzte Ermessen.

Der Hundsstern winkt: woran gebricht's? Was will sein feurig Winken? Im Schweisse unsres Angesichts Soll'n unsren Wein wir trinken!

40.

Ohne Neid.

Ja, neidlos blickt er: und ihr ehrt ihn drum? Er blickt sich nicht nach euren Ehren um; Er hat des Adlers Auge für die Ferne, Er sieht euch nicht! – er sieht nur Sterne, Sterne.

41.

Heraklitismus.

Alles Glück auf Erden, Freunde, giebt der Kampf! Ja, um Freund zu werden, Braucht es Pulverdampf! Eins in Drei'n sind Freunde: Brüder vor der Noth, Gleiche vor dem Feinde, Freie – vor dem Tod!

42.

Grundsatz der Allzufeinen.

Lieber auf den Zehen noch, Als auf allen Vieren! Lieber durch ein Schlüsselloch, Als durch offne Thüren!

43.

Zuspruch.

Auf Ruhm hast du den Sinn gericht? Dann acht' der Lehre: Bei Zeiten leiste frei Verzicht Auf Ehre!

44.

Der Gründliche.

Ein Forscher ich? Oh spart diess Wort! – Ich bin nur schwer – so manche Pfund'! Ich falle, falle immerfort Und endlich auf den Grund!

45.

Für immer.

"Heut komm' ich, weil mir's heute frommt" – Denkt Jeder, der für immer kommt. Was ficht ihn an der Welt Gered': "Du kommst zu früh! Du kommst zu spät!"

46.

Urtheile der Müden.

Der Sonne fluchen alle Matten; Der Bäume Werth ist ihnen – Schatten!

47.

Niedergang.

"Er sinkt, er fällt jetzt" – höhnt ihr hin und wieder; Die Wahrheit ist: er steigt zu euch hernieder! Sein Ueberglück ward ihm zum Ungemach, Sein Ueberlicht geht eurem Dunkel nach.

48.

Gegen die Gesetze.

Von heut an hängt an härner Schnur Um meinen Hals die Stunden-Uhr: Von heut an hört der Sterne Lauf, Sonn', Hahnenschrei und Schatten auf,

Und was mir je die Zeit verkünd't, Das ist jetzt stumm und taub und blind: – Es schweigt mir jegliche Natur Beim Tiktak von Gesetz und Uhr.

49.

Der Weise spricht.

Dem Volke fremd und nützlich doch dem Volke, Zieh ich des Weges, Sonne bald, bald Wolke – Und immer über diesem Volke!

50.

Den Kopf verloren.

Sie hat jetzt Geist – wie kam's, dass sie ihn fand? Ein Mann verlor durch sie jüngst den Verstand, Sein Kopf war reich vor diesem Zeitvertreibe: Zum Teufel gieng sein Kopf – nein! nein! zum Weibe!

51.

Fromme Wünsche.

"Mögen alle Schlüssel doch Flugs verloren gehen, Und in jedem Schlüsselloch Sich der Dietrich drehen!" Also denkt zu jeder Frist Jeder, der – ein Dietrich ist.

52.

Mit dem Fusse schreiben.

Ich schreib nicht mit der Hand allein: Der Fuss will stets mit Schreiber sein. Fest, frei und tapfer läuft er mir Bald durch das Feld, bald durchs Papier.

53.

Ein Buch.

Schwermüthig scheu, solang du rückwärts schaust, Der Zukunft trauend, wo du selbst dir traust: Oh Vogel, rechn' ich dich den Adlern zu? Bist du Minerva's Liebling U-hu-hu?

54.

Meinem Leser.

Ein gut Gebiss und einen guten Magen – Diess wünsch' ich dir! Und hast du erst mein Buch vertragen, Verträgst du dich gewiss mit mir!

55.

Der realistische Maler.

"Treu die Natur und ganz!" – Wie fängt er's an: Wann wäre je Natur im Bilde abgethan? Unendlich ist das kleinste Stück der Welt! – Er malt zuletzt davon, was ihm gefällt. Und was gefällt ihm? Was er malen kann!

56.

Dichter-Eitelkeit.

Gebt mir Leim nur: denn zum Leime Find' ich selber mir schon Holz! Sinn in vier unsinn'ge Reime Legen – ist kein kleiner Stolz!

57.

Wählerischer Geschmack.

Wenn man frei mich wählen liesse, Wählt' ich gern ein Plätzchen mir Mitten drin im Paradiese: Gerner noch – vor seiner Thür!

58.

Die krumme Nase.

Die Nase schauet trutziglich In's Land, der Nüster blähet sich – Drum fällst du, Nashorn ohne Horn, Mein stolzes Menschlein, stets nach vorn! Und stets beisammen find't sich das: Gerader Stolz, gekrümmte Nas.

59.

Die Feder kritzelt.

Die Feder kritzelt: Hölle das! Bin ich verdammt zum Kritzeln-Müssen? – So greif' ich kühn zum Tintenfass Und schreib' mit dicken Tintenflüssen.

Wie läuft das hin, so voll, so breit! Wie glückt mir Alles, wie ich's treibe! Zwar fehlt der Schrift die Deutlichkeit – Was thut's? Wer liest denn, was ich schreibe?

60.

Höhere Menschen.

Der steigt empor – ihn soll man loben! Doch jener kommt allzeit von oben! Der lebt dem Lobe selbst enthoben, Der ist von Droben!

61.

Der Skeptiker spricht.

Halb ist dein Leben um, Der Zeiger rückt, die Seele schaudert dir! Lang schweift sie schon herum Und sucht und fand nicht – und sie zaudert hier?

Halb ist dein Leben um: Schmerz war's und Irrthum, Stund' um Stund' dahier! Was suchst du noch? Warum? – – Diess eben such' ich – Grund um Grund dafür!

62.

Ecce homo.

Ja! Ich weiss, woher ich stamme! Ungesättigt gleich der Flamme Glühe und verzehr' ich mich. Licht wird Alles, was ich fasse, Kohle Alles, was ich lasse: Flamme bin ich sicherlich.

63.

Sternen-Mora.

Vorausbestimmt zur Sternenbahn, Was geht dich, Stern, das Dunkel an? Roll' selig hin durch diese Zeit! Ihr Elend sei dir fremd und weit! Der fernsten Welt gehört dein Schein: Mitleid soll Sünde für dich sein! Nur Ein Gebot gilt dir.- sei rein!

Erstes Buch

1.

Die Lehrer vom Zwecke des Daseins. – Ich mag nun mit gutem oder bösem Blicke auf die Menschen sehen, ich finde sie immer bei Einer Aufgabe, Alle und jeden Einzelnen in Sonderheit: Das zu thun, was der Erhaltung der menschlichen Gattung frommt. Und zwar wahrlich nicht aus einem Gefühl der Liebe für diese Gattung, sondern einfach, weil Nichts in ihnen älter, stärker, unerbittlicher, unüberwindlicher ist, als jener Instinct, – weil dieser Instinct eben das Wesen unserer Art und Heerde ist. Ob man schon schnell genug mit der üblichen Kurzsichtigkeit auf fünf Schritt hin seine Nächsten säuberlich in nützliche und schädliche, gute und böse Menschen auseinander zu thun pflegt, bei einer Abrechnung im Grossen, bei einem längeren Nachdenken über das Ganze wird man gegen dieses Säubern und Auseinanderthun misstrauisch und lässt es endlich sein. Auch der schädlichste Mensch ist vielleicht immer noch der allernützlichste, in Hinsicht auf die Erhaltung der Art; denn er unterhält bei sich oder, durch seine Wirkung, bei Anderen Triebe, ohne welche die Menschheit längst erschlafft oder verfault wäre. Der Hass, die Schadenfreude, die Raub- und Herrschsucht und was Alles sonst böse genannt wird: es gehört zu der erstaunlichen Oekonomie der Arterhaltung, freilich zu einer kostspieligen, verschwenderischen und im Ganzen höchst thörichten Oekonomie: – welche aber bewiesener Maassen unser Geschlecht bisher erhalten hat. Ich weiss nicht mehr, ob du, mein lieber Mitmensch und Nächster, überhaupt zu Ungunsten der Art, also "unvernünftig" und "schlecht" leben kannst; Das, was der Art hätte schaden können, ist vielleicht seit vielen Jahrtausenden schon ausgestorben und gehört jetzt zu den Dingen, die selbst bei Gott nicht mehr möglich sind. Hänge deinen besten oder deinen schlechtesten Begierden nach und vor Allem: geh' zu Grunde! – in Beidem bist du wahrscheinlich immer noch irgendwie der Förderer und Wohlthäter der Menschheit und darfst dir daraufhin deine Lobredner halten – und ebenso deine Spötter! Aber du wirst nie den finden, der dich, den Einzelnen, auch in deinem Besten ganz zu verspotten verstünde, der deine grenzenlose Fliegen- und Frosch-Armseligkeit dir so genügend, wie es sich mit der Wahrheit vertrüge, zu Gemüthe führen könnte! Ueber sich selber lachen, wie man lachen müsste, um aus der ganzen Wahrheit heraus zu lachen, – dazu hatten bisher die Besten nicht genug Wahrheitssinn und die Begabtesten viel zu wenig Genie! Es giebt vielleicht auch für das Lachen noch eine Zukunft! Dann, wenn der Satz "die Art ist Alles, Einer ist immer Keiner" – sich der Menschheit einverleibt hat und Jedem jederzeit der Zugang zu dieser letzten Befreiung und Unverantwortlichkeit offen steht. Vielleicht wird sich dann das Lachen mit der Weisheit verbündet haben, vielleicht giebt es dann nur noch "fröhliche Wissenschaft". Einstweilen ist es noch ganz anders, einstweilen ist die Komödie des Daseins sich selber noch nicht "bewusst geworden", einstweilen ist es immer noch die Zeit der Tragödie, die Zeit der Moralen und Religionen. Was bedeutet das immer neue Erscheinen jener Stifter der Moralen und Religionen, jener Urheber des Kampfes um sittliche Schätzungen, jener Lehrer der Gewissensbisse und der Religionskriege? Was bedeuten diese Helden auf dieser Bühne? Denn es waren bisher die Helden derselben, und alles Uebrige, zeitweilig allein Sichtbare und Allzunahe, hat immer nur zur Vorbereitung dieser Helden gedient, sei es als Maschinerie und Coulisse oder in der Rolle von Vertrauten und Kammerdienern. (Die Poeten zum Beispiel waren immer die Kammerdiener irgend einer Moral.) – Es versteht sich von selber, dass auch diese Tragöden im Interesse der Art arbeiten, wenn sie auch glauben mögen, im Interesse Gottes und als Sendlinge Gottes zu arbeiten. Auch sie fördern das Leben der Gattung, indem sie den Glauben an das Leben fördern. "Es ist werth zu leben – so ruft ein jeder von ihnen – es hat Etwas auf sich mit diesem Leben, das Leben hat Etwas hinter sich, unter sich, nehmt euch in Acht!" Jener Trieb, welcher in den höchsten und gemeinsten Menschen gleichmässig waltet, der Trieb der Arterhaltung, bricht von Zeit zu Zeit als Vernunft und Leidenschaft des Geistes hervor; er hat dann ein glänzendes Gefolge von Gründen um sich und will mit aller Gewalt vergessen machen, dass er im Grunde Trieb, Instinct, Thorheit, Grundlosigkeit ist. Das Leben soll geliebt werden, denn Der Mensch soll sich und seinen Nächsten fördern, denn! Und wie alle diese Soll's und Denn's heissen und in Zukunft noch heissen mögen! Damit Das, was nothwendig und immer, von sich aus und ohne allen Zweck geschieht, von jetzt an auf einen Zweck hin gethan erscheine und dem Menschen als Vernunft und letztes Gebot einleuchte, – dazu tritt der ethische Lehrer auf, als der Lehrer vom Zweck des Daseins; dazu erfindet er ein zweites und anderes Dasein und hebt mittelst seiner neuen Mechanik dieses alte gemeine Dasein aus seinen alten gemeinen Angeln. Ja! er will durchaus nicht, dass wir über das Dasein lachen, noch auch über uns, – noch auch über ihn; für ihn ist Einer immer Einer, etwas Erstes und Letztes und Ungeheures, für ihn giebt es keine Art, keine Summen, keine Nullen. Wie thöricht und schwärmerisch auch seine Erfindungen und Schätzungen sein mögen, wie sehr er den Gang der Natur verkennt und ihre Bedingungen verleugnet: – und alle Ethiken waren zeither bis zu dem Grade thöricht und widernatürlich, dass an jeder von ihnen die Menschheit zu Grunde gegangen sein würde, falls sie sich der Menschheit bemächtigt hätte – immerhin! jedesmal wenn "der Held" auf die Bühne trat, wurde etwas Neues erreicht, das schauerliche Gegenstück des Lachens, jene tiefe Erschütterung vieler Einzelner bei dem Gedanken: "ja, es ist werth zu leben! ja, ich bin werth zu leben!" – das Leben und ich und du und wir Alle einander wurden uns wieder einmal für einige Zeit interessant. – Es ist nicht zu leugnen, dass auf die Dauer über jeden Einzelnen dieser grossen Zwecklehrer bisher das Lachen und die Vernunft und die Natur Herr geworden ist: die kurze Tragödie gieng schliesslich immer in die ewige Komödie des Daseins über und zurück, und die "Wellen unzähligen Gelächters" – mit Aeschylus zu reden – müssen zuletzt auch über den grössten dieser Tragöden noch hinwegschlagen. Aber bei alle diesem corrigirenden Lachen ist im Ganzen doch durch diess immer neue Erscheinen jener Lehrer vom Zweck des Daseins die menschliche Natur verändert worden, – sie hat jetzt ein Bedürfniss mehr, eben das Bedürfniss nach dem immer neuen Erscheinen solcher Lehrer und Lehren vom "Zweck". Der Mensch ist allmählich zu einem phantastischen Thiere geworden, welches eine Existenz-Bedingung mehr, als jedes andere Thier, zu erfüllen hat: der Mensch muss von Zeit zu Zeit glauben, zu wissen, warum er existirt, seine Gattung kann nicht gedeihen ohne ein periodisches Zutrauen zu dem Leben! Ohne Glauben an die Vernunft im Leben! Und immer wieder wird von Zeit zu Zeit das menschliche Geschlecht decretiren: "es giebt Etwas, über das absolut nicht mehr gelacht werden darf!" Und der vorsichtigste Menschenfreund wird hinzufügen: "nicht nur das Lachen und die fröhliche Weisheit, sondern auch das Tragische mit all seiner erhabenen Unvernunft gehört unter die Mittel und Nothwendigkeiten der Arterhaltung!" – Und folglich! Folglich! Folglich! Oh versteht ihr mich, meine Brüder? Versteht ihr dieses neue Gesetz der Ebbe und Fluth? Auch wir haben unsere Zeit!

2.

Das intellectuale Gewissen. – Ich mache immer wieder die gleiche Erfahrung und sträube mich ebenso immer von Neuem gegen sie, ich will es nicht glauben, ob ich es gleich mit Händen greife: den Allermeisten fehlt das intellectuale Gewissen; ja es wollte mir oft scheinen, als ob man mit der Forderung eines solchen in den volkreichsten Städten einsam wie in der Wüste sei. Es sieht dich jeder mit fremden Augen an und handhabt seine Wage weiter, diess gut, jenes böse nennend; es macht Niemandem eine Schamröthe, wenn du merken lässest, dass diese Gewichte nicht vollwichtig sind, – es macht auch keine Empörung gegen dich: vielleicht lacht man über deinen Zweifel. Ich will sagen: die Allermeisten finden es nicht verächtlich, diess oder jenes zu glauben und darnach zu leben, ohne sich vorher der letzten und sichersten Gründe für und wider bewusst worden zu sein und ohne sich auch nur die Mühe um solche Gründe hinterdrein zu geben, – die begabtesten Männer und die edelsten Frauen gehören noch zu diesen "Allermeisten". Was ist mir aber Gutherzigkeit, Feinheit und Genie, wenn der Mensch dieser Tugenden schlaffe Gefühle im Glauben und Urtheilen bei sich duldet, wenn das Verlangen nach Gewissheit ihm nicht als die innerste Begierde und tiefste Noth gilt, – als Das, was die höheren Menschen von den niederen scheidet! Ich fand bei gewissen Frommen einen Hass gegen die Vernunft vor und war ihnen gut dafür: so verrieth sich doch wenigstens noch das böse intellectuale Gewissen! Aber inmitten dieser rerum concordia discors und der ganzen wundervollen Ungewissheit und Vieldeutigkeit des Daseins stehen und nicht fragen, nicht zittern vor Begierde und Lust des Fragens, nicht einmal den Fragenden hassen, vielleicht gar noch an ihm sich matt ergötzen – das ist es, was ich als verächtlich empfinde, und diese Empfindung ist es, nach der ich zuerst bei Jedermann suche: – irgend eine Narrheit überredet mich immer wieder, jeder Mensch habe diese Empfindung, als Mensch. Es ist meine Art von Ungerechtigkeit.

3.

Edel und Gemein. – Den gemeinen Naturen erscheinen alle edlen, grossmüthigen Gefühle als unzweckmässig und desshalb zu allererst als unglaubwürdig: sie zwinkern mit den Augen, wenn sie von dergleichen hören, und scheinen sagen zu wollen "es wird wohl irgend ein guter Vortheil dabei sein, man kann nicht durch alle Wände sehen": – sie sind argwöhnisch gegen den Edlen, als ob er den Vortheil auf Schleichwegen suche. Werden sie von der Abwesenheit selbstischer Absichten und Gewinnste allzu deutlich überzeugt, so gilt ihnen der Edle als eine Art von Narren: sie verachten ihn in seiner Freude und lachen über den Glanz seiner Augen. "Wie kann man sich darüber freuen im Nachtheil zu sein, wie kann man mit offnen Augen in Nachtheil gerathen wollen! Es muss eine Krankheit der Vernunft mit der edlen Affection verbunden sein" – so denken sie und blicken geringschätzig dabei: wie sie die Freude geringschätzen, welche der Irrsinnige von seiner fixen Idee her hat. Die gemeine Natur ist dadurch ausgezeichnet, dass sie ihren Vortheil unverrückt im Auge behält und dass diess Denken an Zweck und Vortheil selbst stärker, als die stärksten Triebe in ihr ist: sich durch jene Triebe nicht zu unzweckmässigen Handlungen verleiten lassen – das ist ihre Weisheit und ihr Selbstgefühl. Im Vergleich mit ihr ist die höhere Natur die unvernünftigere: – denn der Edle, Grossmüthige, Aufopfernde unterliegt in der That seinen Trieben, und in seinen besten Augenblicken pausirt seine Vernunft. Ein Thier, das mit Lebensgefahr seine Jungen beschützt oder in der Zeit der Brunst dem Weibchen auch in den Tod folgt, denkt nicht an die Gefahr und den Tod, seine Vernunft pausirt ebenfalls, weil die Lust an seiner Brut oder an dem Weibchen und die Furcht, dieser Lust beraubt zu werden es ganz beherrschen; es wird dümmer, als es sonst ist, gleich dem Edlen und Grossmüthigen. Dieser besitzt einige Lust- und Unlust-Gefühle in solcher Stärke, dass der Intellect dagegen schweigen oder sich zu ihrem Dienste hergeben muss: es tritt dann bei ihnen das Herz in den Kopf und man spricht nunmehr von "Leidenschaft". (Hier und da kommt auch wohl der Gegensatz dazu und gleichsam die "Umkehrung der Leidenschaft" vor, zum Beispiel bei Fontenelle, dem Jemand einmal die Hand auf das Herz legte, mit den Worten: "Was Sie da haben, mein Theuerster, ist auch Gehirn".) Die Unvernunft oder Quervernunft der Leidenschaft ist es, die der Gemeine am Edlen verachtet, zumal wenn diese sich auf Objecte richtet, deren Werth ihm ganz phantastisch und willkürlich zu sein scheint. Er ärgert sich über Den, welcher der Leidenschaft des Bauches unterliegt, aber er begreift doch den Reiz, welcher hier den Tyrannen macht; aber er begreift es nicht, wie man zum Beispiel einer Leidenschaft der Erkenntniss zu Liebe seine Gesundheit und Ehre aufs Spiel setzen könne. Der Geschmack der höheren Natur richtet sich auf Ausnahmen, auf Dinge, die gewöhnlich kalt lassen und keine Süssigkeit zu haben scheinen; die höhere Natur hat ein singuläres Werthmaass. Dazu ist sie meistens des Glaubens, nicht ein singuläres Werthmaass in ihrer Idiosynkrasie des Geschmacks zu haben, sie setzt vielmehr ihre Werthe und Unwerthe als die überhaupt gültigen Werthe und Unwerthe an, und geräth damit in's Unverständliche und Unpraktische. Es ist sehr selten, dass eine höhere Natur soviel Vernunft übrig behält, um Alltags-Menschen als solche zu verstehen und zu behandeln: zu allermeist glaubt sie an ihre Leidenschaft als an die verborgen gehaltene Leidenschaft Aller und ist gerade in diesem Glauben voller Gluth und Beredtsamkeit. Wenn nun solche Ausnahme-Menschen sich selber nicht als Ausnahmen fühlen, wie sollten sie jemals die gemeinen Naturen verstehen und die Regel billig abschätzen können! – und so reden auch sie von der Thorheit, Zweckwidrigkeit und Phantasterei der Menschheit, voller Verwunderung, wie toll die Welt laufe und warum sie sich nicht zu dem bekennen wolle, was, "ihr Noth thue". – Diess ist die ewige Ungerechtigkeit der Edlen.

4.

Das Arterhaltende. – Die stärksten und bösesten Geister haben bis jetzt die Menschheit am meisten vorwärts gebracht: sie entzündeten immer wieder die einschlafenden Leidenschaften – alle geordnete Gesellschaft schläfert die Leidenschaften ein –, sie weckten immer wieder den Sinn der Vergleichung, des Widerspruchs, der Lust am Neuen, Gewagten, Unerprobten, sie zwangen die Menschen, Meinungen gegen Meinungen, Musterbilder gegen Musterbilder zu stellen. Mit den Waffen, mit Umsturz der Grenzsteine, durch Verletzung der Pietäten zumeist: aber auch durch neue Religionen und Moralen! Die selbe "Bosheit" ist in jedem Lehrer und Prediger des Neuen, – welche einen Eroberer verrufen Macht, wenn sie auch sich feiner äussert, nicht sogleich die Muskeln in Bewegung setzt und eben desshalb auch nicht so verrufen macht! Das Neue ist aber unter allen Umständen das Böse, als Das, was erobern, die alten Grenzsteine und die alten Pietäten umwerfen will; und nur das Alte ist das Gute! Die guten Menschen jeder Zeit sind die, welche die alten Gedanken in die Tiefe graben und mit ihnen Frucht tragen, die Ackerbauer des Geistes. Aber jedes Land wird endlich ausgenützt, und immer wieder muss die Pflugschar des Bösen kommen. – Es giebt jetzt eine gründliche Irrlehre der Moral, welche namentlich in England sehr gefeiert wird: nach ihr sind die Urtheile "gut" und "böse" die Aufsammlung der Erfahrungen über "zweckmässig" und "unzweckmässig"; nach ihr ist das Gut-Genannte das Arterhaltende, das Bös-Genannte aber das der Art Schädliche. In Wahrheit sind aber die bösen Triebe in eben so hohem Grade zweckmässig, arterhaltend und unentbehrlich wie die guten: – nur ist ihre Function eine verschiedene.

5.

Unbedingte Pflichten. – Alle Menschen, welche fühlen, dass sie die stärksten Worte und Klänge, die beredtesten Gebärden und Stellungen nöthig haben, um überhaupt zu wirken, Revolutions-Politiker, Socialisten, Bussprediger mit und ohne Christenthum, bei denen allen es keine halben Erfolge geben darf: alle diese reden von "Pflichten", und zwar immer von Pflichten mit dem Charakter des Unbedingten – ohne solche hätten sie kein Recht zu ihrem grossen Pathos: das wissen sie recht wohl! So greifen sie nach Philosophieen der Moral, welche irgend einen kategorischen Imperativ predigen, oder sie nehmen ein gutes Stück Religion in sich hinein, wie diess zum Beispiel Mazzini gethan hat. Weil sie wollen, dass ihnen unbedingt vertraut werde, haben sie zuerst nöthig, dass sie sich selber unbedingt vertrauen, auf Grund irgend eines letzten indiscutabeln und an sich erhabenen Gebotes, als dessen Diener und Werkzeuge sie sich fühlen und ausgeben möchten. Hier haben wir die natürlichsten und meistens sehr einflussreichen Gegner der moralischen Aufklärung und Skepsis: aber sie sind selten. Dagegen giebt es eine sehr umfängliche Classe dieser Gegner überall dort, wo das Interesse die Unterwerfung lehrt, während Ruf und Ehre die Unterwerfung zu verbieten scheinen. Wer sich entwürdigt fühlt bei dem Gedanken, das Werkzeug eines Fürsten oder einer Partei und Secte oder gar einer Geldmacht zu sein, zum Beispiel als Abkömmling einer alten, stolzen Familie, aber eben diess Werkzeug sein will oder sein muss, vor sich und vor der Oeffentlichkeit, der hat pathetische Principien nöthig, die man jederzeit in den Mund nehmen kann: – Principien eines unbedingten Sollens, welchen man sich ohne Beschämung unterwerfen und unterworfen zeigen darf. Alle feinere Servilität hält am kategorischen Imperativ fest und ist der Todfeind Derer, welche der Pflicht den unbedingten Charakter nehmen wollen: so fordert es von ihnen der Anstand, und nicht nur der Anstand.

6.

Verlust an Würde. – Das Nachdenken ist um all seine Würde der Form gekommen, man hat das Ceremoniell und die feierliche Gebärde des Nachdenkens zum Gespött gemacht und würde einen weisen Mann alten Stils nicht mehr aushalten. Wir denken zu rasch, und unterwegs, und mitten im Gehen, mitten in Geschäften aller Art, selbst wenn wir an das Ernsthafteste denken; wir brauchen wenig Vorbereitung, selbst wenig Stille: – es ist, als ob wir eine unaufhaltsam rollende Maschine im Kopfe herumtrügen, welche selbst unter den ungünstigsten Umständen noch arbeitet. Ehemals sah man es jedem an, dass er einmal denken wollte – es war wohl die Ausnahme! –, dass er jetzt weiser werden wollte und sich auf einen Gedanken gefasst machte: man zog ein Gesicht dazu, wie zu einem Gebet, und hielt den Schritt an; ja man stand stundenlang auf der Strasse still, wenn der Gedanke "kam" – auf einem oder auf zwei Beinen. So war es "der Sache würdig"!

7.

Etwas für Arbeitsame. – Wer jetzt aus den moralischen Dingen ein Studium machen will, eröffnet sich ein ungeheures Feld der Arbeit. Alle Arten Passionen müssen einzeln durchdacht, einzeln durch Zeiten, Völker, grosse und kleine Einzelne verfolgt werden; ihre ganze Vernunft und alle ihre Werthschätzungen und Beleuchtungen der Dinge sollen an's Licht hinaus! Bisher hat alles Das, was dem Dasein Farbe gegeben hat, noch keine Geschichte: oder wo gäbe es eine Geschichte der Liebe, der Habsucht, des Neides, des Gewissens, der Pietät, der Grausamkeit? Selbst eine vergleichende Geschichte des Rechtes, oder auch nur der Strafe, fehlt bisher vollständig. Hat man schon die verschiedene Eintheilung des Tages, die Folgen einer regelmässigen Festsetzung von Arbeit, Fest und Ruhe zum Gegenstand der Forschung gemacht? Kennt man die moralischen Wirkungen der Nahrungsmittel? Giebt es eine Philosophie der Ernährung? (Der immer wieder losbrechende Lärm für und wider den Vegetarianismus beweist schon, dass es noch keine solche Philosophie giebt!) Sind die Erfahrungen über das Zusammenleben, zum Beispiel die Erfahrungen der Klöster, schon gesammelt? Ist die Dialektik der Ehe und Freundschaft schon dargestellt? Die Sitten der Gelehrten, der Kaufleute, Künstler, Handwerker, – haben sie schon ihre Denker gefunden? Es ist so viel daran zu denken! Alles, was bis jetzt die Menschen als ihre "Existenz-Bedingungen" betrachtet haben, und alle Vernunft, Leidenschaft und Aberglauben an dieser Betrachtung, – ist diess schon zu Ende erforscht? Allein die Beobachtung des verschiedenen Wachsthums, welches die menschlichen Triebe je nach dem verschiedenen moralischen Klima gehabt haben und noch haben könnten, giebt schon zu viel der Arbeit für den Arbeitsamsten; es bedarf ganzer Geschlechter und planmässig zusammen arbeitender Geschlechter von Gelehrten, um hier die Gesichtspuncte und das Material zu erschöpfen. Das Selbe gilt von der Nachweisung der Gründe für die Verschiedenheit des moralischen Klimas ("wesshalb leuchtet hier diese Sonne eines moralischen Grundurtheils und Hauptwerthmessers – und dort jene?"). Und wieder eine neue Arbeit ist es, welche die Irrthümlichkeit aller dieser Gründe und das ganze Wesen des bisherigen moralischen Urtheils feststellt. Gesetzt, alle diese Arbeiten seien gethan, so träte die heikeligste aller Fragen in den Vordergrund, ob die Wissenschaft im Stande sei, Ziele des Handelns zu geben, nachdem sie bewiesen hat, dass sie solche nehmen und vernichten kann – und dann würde ein Experimentiren am Platze sein, an dem jede Art von Heroismus sich befriedigen könnte, ein Jahrhunderte langes Experimentiren, welches alle grossen Arbeiten und Aufopferungen der bisherigen Geschichte in Schatten stellen könnte. Bisher hat die Wissenschaft ihre Cyklopen-Bauten noch nicht gebaut; auch dafür wird die Zeit kommen.

8.

Unbewusste Tugenden. – Alle Eigenschaften eines Menschen, deren er sich bewusst ist – und namentlich, wenn er deren Sichtbarkeit und Evidenz auch für seine Umgebung voraussetzt – stehen unter ganz anderen Gesetzen der Entwickelung, als jene Eigenschaften, welche ihm unbekannt oder schlecht bekannt sind und die sich auch vor dem Auge des feineren Beobachters durch ihre Feinheit verbergen und wie hinter das Nichts zu verstecken wissen. So steht es mit den feinen Sculpturen auf den Schuppen der Reptilien: es würde ein Irrthum sein, in ihnen einen Schmuck oder eine Waffe zu vermuthen – denn man sieht sie erst mit dem Mikroskop, also mit einem so künstlich verschärften Auge, wie es ähnliche Thiere, für welche es etwa Schmuck oder Waffe zu bedeuten hätte, nicht besitzen! Unsere sichtbaren moralischen Qualitäten, und namentlich unsere sichtbar geglaubten gehen ihren Gang, – und die unsichtbaren ganz gleichnamigen, welche uns in Hinsicht auf Andere weder Schmuck noch Waffe sind, gehen auch ihren Gang: einen ganz anderen wahrscheinlich, und mit Linien und Feinheiten und Sculpturen, welche vielleicht einem Gotte mit einem göttlichen Mikroskope Vergnügen machen könnten. Wir haben zum Beispiel unsern Fleiss, unsern Ehrgeiz, unsern Scharfsinn: alle Welt weiss darum –, und ausserdem haben wir wahrscheinlich noch einmal unseren Fleiss, unseren Ehrgeiz, unseren Scharfsinn; aber für diese unsere Reptilien-Schuppen ist das Mikroskop noch nicht erfunden! – Und hier werden die Freunde der instinctiven Moralität sagen: "Bravo! Er hält wenigstens unbewusste Tugenden für möglich, – das genügt uns!" – Oh ihr Genügsamen!

9.

Unsere Eruptionen. – Unzähliges, was sich die Menschheit auf früheren Stufen aneignete, aber so schwach und embryonisch, dass es Niemand als angeeignet wahrzunehmen wusste, stösst plötzlich, lange darauf, vielleicht nach Jahrhunderten, an's Licht: es ist inzwischen stark und reif geworden. Manchen Zeitaltern scheint diess oder jenes Talent, diese oder jene Tugend ganz zu fehlen, wie manchen Menschen: aber man warte nur bis auf die Enkel und Enkelskinder, wenn man Zeit hat, zu warten, – sie bringen das Innere ihrer Grossväter an die Sonne, jenes Innere, von dem die Grossväter selbst noch Nichts wussten. Oft ist schon der Sohn der Verräther seines Vaters: dieser versteht sich selber besser, seit er seinen Sohn hat. Wir haben Alle verborgene Gärten und Pflanzungen in uns; und, mit einem andern Gleichnisse, wir sind Alle wachsende Vulcane, die ihre Stunde der Eruption haben werden: – wie nahe aber oder wie ferne diese ist, das freilich weiss Niemand, selbst der liebe Gott nicht.

10.

Eine Art von Atavismus. – Die seltenen Menschen einer Zeit verstehe ich am liebsten als plötzlich auftauchende Nachschösslinge vergangener Culturen und deren Kräften: gleichsam als den Atavismus eines Volkes und seiner Gesittung: – so ist wirklich Etwas noch an ihnen zu verstehen! Jetzt erscheinen sie fremd, selten, ausserordentlich: und wer diese Kräfte in sich fühlt, hat sie gegen eine widerstrebende andere Welt zu pflegen, zu vertheidigen, zu ehren, gross zu ziehen: und so wird er damit entweder ein grosser Mensch oder ein verrückter und absonderlicher, sofern er überhaupt nicht bei Zeiten zu Grunde geht. Ehedem waren diese selben Eigenschaften gewöhnlich und galten folglich als gemein: sie zeichneten nicht aus. Vielleicht wurden sie gefordert, vorausgesetzt; es war unmöglich, mit ihnen gross zu werden, und schon desshalb, weil die Gefahr fehlte, mit ihnen auch toll und einsam zu werden. – Die erhaltenden Geschlechter und Kasten eines Volkes sind es vornehmlich, in denen solche Nachschläge alter Triebe vorkommen, während keine Wahrscheinlichkeit für solchen Atavismus ist, wo Rassen, Gewohnheiten, Werthschätzungen zu rasch wechseln. Das Tempo bedeutet nämlich unter den Kräften der Entwickelung bei Völkern ebensoviel wie bei der Musik; für unseren Fall ist durchaus ein Andante der Entwickelung nothwendig, als das Tempo eines leidenschaftlichen und langsamen Geistes: – und der Art ist ja der Geist conservativer Geschlechter.

11.

Das Bewusstsein. – Die Bewusstheit ist die letzte und späteste Entwickelung des Organischen und folglich auch das Unfertigste und Unkräftigste daran. Aus der Bewusstheit stammen unzählige Fehlgriffe, welche machen, dass ein Thier, ein Mensch zu Grunde geht, früher als es nöthig wäre, "über das Geschick", wie Homer sagt. Wäre nicht der erhaltende Verband der Instincte so überaus viel mächtiger, diente er nicht im Ganzen als Regulator: an ihrem verkehrten Urtheilen und Phantasiren mit offenen Augen, an ihrer Ungründlichkeit und Leichtgläubigkeit, kurz eben an ihrer Bewusstheit müsste die Menschheit zu Grunde gehen: oder vielmehr, ohne jenes gäbe es diese längst nicht mehr! Bevor eine Function ausgebildet und reif ist, ist sie eine Gefahr des Organismus: gut, wenn sie so lange tüchtig tyrannisirt wird! So wird die Bewusstheit tüchtig tyrannisirt – und nicht am wenigsten von dem Stolze darauf! Man denkt, hier sei der Kern des Menschen; sein Bleibendes, Ewiges, Letztes, Ursprünglichstes! Man hält die Bewusstheit für eine feste gegebene Grösse! Leugnet ihr Wachsthum, ihre Intermittenzen! Nimmt sie als Einheit des Organismus! – Diese lächerliche Ueberschätzung und Verkennung des Bewusstseins hat die grosse Nützlichkeit zur Folge, dass damit eine allzuschnelle Ausbildung desselben verhindert worden ist. Weil die Menschen die Bewusstheit schon zu haben glaubten, haben sie sich wenig Mühe darum gegeben, sie zu erwerben – und auch jetzt noch steht es nicht anders! Es ist immer noch eine ganz neue und eben erst dem menschlichen Auge aufdämmernde, kaum noch deutlich erkennbare Aufgabe, das Wissen sich einzuverleiben und instinctiv zu machen, – eine Aufgabe, welche nur von Denen gesehen wird, die begriffen haben, dass bisher nur unsere Irrthümer uns einverleibt waren und dass alle unsere Bewusstheit sich auf Irrthümer bezieht!

12.

Vom Ziele der Wissenschaft. – Wie? Das letzte Ziel der Wissenschaft sei, dem Menschen möglichst viel Lust und möglichst wenig Unlust zu schaffen? Wie, wenn nun Lust und Unlust so mit einem Stricke zusammengeknüpft wären, dass, wer möglichst viel von der einen haben will, auch möglichst viel von der andern haben muss, – dass, wer das "Himmelhoch-Jauchzen" lernen will, sich auch für das "zum-Todebetrübt" bereit halten muss? Und so steht es vielleicht! Die Stoiker glaubten wenigstens, dass es so stehe, und waren consequent, als sie nach möglichst wenig Lust begehrten, um möglichst wenig Unlust vom Leben zu haben (wenn man den Spruch im Munde führte "Der Tugendhafte ist der Glücklichste", so hatte man in ihm sowohl ein Aushängeschild der Schule für die grosse Masse, als auch eine casuistische Feinheit für die Feinen). Auch heute noch habt ihr die Wahl: entweder möglichst wenig Unlust, kurz Schmerzlosigkeit – und im Grunde dürften Socialisten und Politiker aller Parteien ihren Leuten ehrlicher Weise nicht mehr verheissen – oder möglichst viel Unlust als Preis für das Wachsthum einer Fülle von feinen und bisher selten gekosteten Lüsten und Freuden! Entschliesst ihr euch für das Erstere, wollt ihr also die Schmerzhaftigkeit der Menschen herabdrücken und vermindern, nun, so müsst ihr auch ihre Fähigkeit zur Freude herabdrücken und vermindern. In der That kann man mit der Wissenschaft das eine wie das andere Ziel fördern! Vielleicht ist sie jetzt noch bekannter wegen ihrer Kraft, den Menschen um seine Freuden zu bringen, und ihn kälter, statuenhafter, stoischer zu machen. Aber sie könnte auch noch als die grosse Schmerzbringerin entdeckt werden! – Und dann würde vielleicht zugleich ihre Gegenkraft entdeckt sein, ihr ungeheures Vermögen, neue Sternenwelten der Freude aufleuchten zu lassen!

13.

Zur Lehre vom Machtgefühl. – Mit Wohlthun und Wehethun übt man seine Macht an Andern aus – mehr will man dabei nicht! Mit Wehethun an Solchen, denen wir unsere Macht erst fühlbar machen müssen; denn der Schmerz ist ein viel empfindlicheres Mittel dazu als die Lust: – der Schmerz fragt immer nach der Ursache, während die Lust geneigt ist, bei sich selber stehen zu bleiben und nicht rückwärts zu schauen. Mit Wohlthun und Wohlwollen an Solchen, die irgendwie schon von uns abhängen (das heisst gewohnt sind, an uns als ihre Ursachen zu denken); wir wollen ihre Macht mehren, weil wir so die unsere mehren, oder wir wollen ihnen den Vortheil zeigen, den es hat, in unserer Macht zu stehen, – so werden sie mit ihrer Lage zufriedener und gegen die Feinde unserer Macht feindseliger und kampfbereiter sein. Ob wir beim Wohl oder Wehethun Opfer bringen, verändert den letzten Werth unserer Handlungen nicht; selbst wenn wir unser Leben daran setzen, wie der Märtyrer zu Gunsten seiner Kirche, es ist ein Opfer, gebracht unserem Verlangen nach Macht, oder zum Zweck der Erhaltung unseres Machtgefühls. Wer da empfindet, "ich bin im Besitz der Wahrheit", wie viel Besitzthümer lässt der nicht fahren, um diese Empfindung zu retten! Was wirft er nicht Alles über Bord, um sich "oben" zu erhalten, – das heisst über den Andern, welche der "Wahrheit" ermangeln! Gewiss ist der Zustand, wo wir wehe thun, selten so angenehm, so ungemischt-angenehm, wie der, in welchem wir wohl thun, – es ist ein Zeichen, dass uns noch Macht fehlt, oder verräth den Verdruss über diese Armuth, es bringt neue Gefahren und Unsicherheiten für unseren vorhandenen Besitz von Macht mit sich und umwölkt unsern Horizont durch die Aussicht auf Rache, Hohn, Strafe, Misserfolg. Nur für die reizbarsten und begehrlichsten Menschen des Machtgefühles mag es lustvoller sein, dem Widerstrebenden das Siegel der Macht aufzudrücken; für solche, denen der Anblick des bereits Unterworfenen (als welcher der Gegenstand des Wohlwollens ist) Last und Langeweile macht. Es kommt darauf an, wie man gewöhnt ist, sein Leben zu würzen; es ist eine Sache des Geschmackes, ob man lieber den langsamen oder den plötzlichen, den sicheren oder den gefährlichen und verwegenen Machtzuwachs haben will, – man sucht diese oder jene Würze immer nach seinem Temperamente. Eine leichte Beute ist stolzen Naturen etwas Verächtliches, sie empfinden ein Wohlgefühl erst beim Anblick ungebrochener Menschen, welche ihnen Feind werden könnten, und ebenso beim Anblick aller schwer zugänglichen Besitzthümer; gegen den Leidenden sind sie oft hart, denn er ist ihres Strebens und Stolzes nicht werth, – aber um so verbindlicher zeigen sie sich gegen die Gleichen, mit denen ein Kampf und Ringen jedenfalls ehrenvoll wäre, wenn sich einmal eine Gelegenheit dazu finden sollte. Unter dem Wohlgefühle dieser Perspective haben sich die Menschen der ritterlichen Kaste gegen einander an eine ausgesuchte Höflichkeit gewöhnt. – Mitleid ist das angenehmste Gefühl bei Solchen, welche wenig stolz sind und keine Aussicht auf grosse Eroberungen haben: für sie ist die leichte Beute – und das ist jeder Leidende – etwas Entzückendes. Man rühmt das Mitleid als die Tugend der Freudenmädchen.

14.

Was Alles Liebe genannt wird.