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Jules Verne bei Null Papier Komplett neu überarbeitet; reichhaltig illustriert und kommentiert Zwei verfeindete Männer müssen sich die größte Erbschaft aller Zeiten teilen: 500 Millionen Francs. Der eine baut eine fortschrittliche Industriestadt, der andere eine "Stahlstadt", deren Waffen auf Erstere zielen. Ist der größenwahnsinnige Erfinder der Stahlstadt noch zu stoppen? Erstmalig liegt hier die unzensierte Bearbeitung der Erstübersetzung vor, die nicht um antideutsche Passagen bereinigt wurde. Null Papier Verlag
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Jules Verne
Die fünfhundert Millionen der Begum
Illustrierte und unzensierte Komplettübersetzung
Jules Verne
Die fünfhundert Millionen der Begum
Illustrierte und unzensierte Komplettübersetzung
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019Fußnoten und Übersetzung: Jürgen SchulzeIllustrationen: Léon Benett EV: A. Hartleben, 1880 1. Auflage, ISBN 978-3-962815-11-0
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Inhaltsverzeichnis
Jules Verne – Leben und Werk
Im Zeichen der deutsch-französischen Feindschaft.
Erstes Kapitel – In dem Mr. Sharp sich bei dem Leser einführt.
Zweites Kapitel – Zwei Stubenburschen
Drittes Kapitel – Unter »Vermischtes«
Viertes Kapitel – Jeder seinen Teil
Fünftes Kapitel – Die Stahlstadt
Sechstes Kapitel – Der Albrechts-Schacht
Siebtes Kapitel – Die Zentral-Anlagen
Achtes Kapitel – Die Höhle des Drachen
Neuntes Kapitel – Abschied
Zehntes Kapitel – Ein Artikel aus »Unser Jahrhundert« – deutsche Revue
Elftes Kapitel – Ein Abendessen bei Dr. Sarrasin
Zwölftes Kapitel – Der Kriegsrat
Dreizehntes Kapitel – Marcel Bruckmann an Professor Schultze, Stahlstadt
Vierzehntes Kapitel – Fertig zum Kampfe!
Fünfzehntes Kapitel – Die Börse von San Francisco
Sechzehntes Kapitel – Zwei Franzosen gegen eine Stadt
Siebzehntes Kapitel – Erklärungen mit Pulver und Blei
Achtzehntes Kapitel – Des Rätsels Lösung
Neunzehntes Kapitel – Eine Familienangelegenheit
Zwanzigstes Kapitel – Schluss
Ein Nachwort
Danke, dass Sie dieses E-Book aus meinem Verlag erworben haben.
Jules Verne gehört zu den Autoren, die jeder schon einmal gelesen hat. Eine Behauptung, die man nicht über viele Schriftsteller aufstellen kann. Die Geschichten von Verne sind unterhaltend, lehrreich und immer sehr atmosphärisch.
In unregelmäßiger Folge wird mein Verlag die Werke von Verne veröffentlichen – die bekannten wie die unbekannten. Immer in der überarbeiteten Erstübersetzung, um den (sprachlichen) Charme der Zeit beizubehalten.
Korrigiert und kommentiert werden Orts- und Personennamen oder offensichtlich falsche Angaben. Sie finden die Erläuterungen in Fußnoten.
Ich habe es mir auch nicht nehmen lassen, die ursprünglichen Namen zu verwenden: Aus dem Johann wird so wieder der ursprüngliche Jean, aus Ludwig wieder Louis und aus Marianne wieder Marie. Ich denke, das tut den Geschichten nur gut.
Sollten Sie Hilfe benötigen oder eine Frage haben, schreiben Sie mir.
Ihr Jürgen Schulze
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Beinahe wäre Klein-Jules als Schiffsjunge nach Indien gefahren, hätte eine Laufbahn als Seemann eingeschlagen und später unterhaltsames Seemannsgarn gesponnen, das vermutlich nie die Druckerpresse erreicht hätte.
Jules Verne
Verliebt in die abenteuerliche Literatur
Glücklicherweise für uns Leser hindert man ihn daran: Der Elfjährige wird von Bord geholt und verlebt weiterhin eine behütete Kindheit vor bürgerlichem Hintergrund. Geboren am 8. Februar 1828 in Nantes, wächst Jules-Gabriel Verne in gut situierten Verhältnissen auf. Als ältester von fünf Sprösslingen soll er die väterliche Anwaltspraxis übernehmen, weshalb er ab 1846 in Paris Jura studiert.
Viel spannender findet er schon zu dieser Zeit allerdings die Literatur. Verne freundet sich sowohl mit Alexandre Dumas als auch mit seinem gleichnamigen Sohn an. Gemeinsam mit Vater Dumas verfasst er Opernlibretti und erste dramatische Werke. Nach dem Abschluss seines Studiums beschließt er, nicht nach Nantes zurückzukehren, sondern sich völlig der Dramatik zu widmen.
Zwar schreibt er nicht ganz erfolglos – drei seiner Erzählungen erscheinen in einer literarischen Zeitschrift. Doch zum Leben reicht es nicht, weshalb der junge Autor 1852 den Posten eines Intendanz-Sekretärs am Théâtre lyrique annimmt. Immerhin wird diese Arbeit zuverlässig vergütet und Verne darf sich als Dramatiker betätigen. In seiner Freizeit verfasst er weiterhin Erzählungen, wobei ihn abenteuerliche Reisen am meisten interessieren.
Als er 1857 eine Witwe heiratet, die zwei Töchter in die Ehe mitbringt, muss sich der Literat nach einer besser bezahlten Einkommensquelle umsehen. Während der nächsten zwei Jahre schlägt er sich als Börsenmakler durch, wobei er genug Zeit findet, längere Schiffsreisen zu unternehmen, bevor 1861 sein Sohn Michel geboren wird.
Verliebt ins literarische Abenteuer
Letztlich ist es einer besonderen Begegnung im Jahr 1862 geschuldet, dass alles, was der Autor bisher »geistig angesammelt« hat, in seinen künftigen Romanen kulminieren darf: Der Jugendbuch-Verleger Pierre-Jules Hetzel veröffentlicht Vernes utopischen Reiseroman »Fünf Wochen im Ballon«. Dieses von ihm ohnehin bevorzugte Sujet wird den Schriftsteller nie wieder loslassen – die abenteuerlichen Reisen, auf welcher Route auch immer sie absolviert werden. Hetzel verlegt Vernes noch heute beliebteste Schriften: 1864 »Reise zum Mittelpunkt der Erde«, im folgenden Jahr »Von der Erde zum Mond«, 1869 »Reise um den Mond« und »Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer«. Mit »Reise um die Erde in 80 Tagen« erscheint 1872 Jules Vernes erfolgreichster Roman überhaupt.
Die Zusammenarbeit mit Hetzel, der gleichzeitig als sein Mentor fungiert, sorgt in den späten 1860er Jahren dafür, dass der höchst produktive Schriftsteller seiner Familie einigen Wohlstand bieten und sich selbst »jugendtraumhafte« Reisewünsche erfüllen kann. Sein Verleger stellt ihn namhaften Wissenschaftlern vor – in Kombination mit den erwähnten Reisen entsteht auf diese Weise ein ungeheurer Fundus der Inspiration: Jules Vernes Zettelkasten enthält angeblich 25.000 Notizen!
Zwar ist er seit »Reise um den Mond« gleichermaßen wohlhabend und geachtet; er engagiert sich seit den späten 1880er Jahren sogar als Stadtrat in Amiens, wohin er 1871 mit seiner Familie übergesiedelt war. Der »Ritterschlag« aber bleibt aus: In der Académie française möchte man den Jugendbuchautor nicht haben, er gilt als nicht seriös genug.
Den Zenit seines Schaffens hat der Literat bereits überschritten, als er 1888 bleibende Verletzungen durch den Schusswaffen-Angriff eines geistesgestörten Verwandten davonträgt. Dennoch arbeitet der Autor ununterbrochen weiter. Als Jules Verne im März 1905 stirbt, hinterlässt er ein gewaltiges Gesamtwerk: 54 zu Lebzeiten erschienene Romane, weitere elf Manuskripte bearbeitet sein Sohn Michel nach dem Tod des Vaters. Ergänzt wird Vernes Œuvre durch Erzählungen, Bühnenstücke und geografische Veröffentlichungen.
Geliebt und missachtet
Jenes zwiespältige Verhältnis, das sich bereits in der Ablehnung der Akademiemitglieder äußert, kennzeichnet die akademische Rezeption bis heute: Jules Verne ist eben »nur ein Jugendbuchautor«. Weniger befangene Rezipienten freilich schreiben ihm eine ganz andere Bedeutung zu, die dem Visionär und leidenschaftlichen Erzähler besser gerecht wird.
Wenngleich der alternde Literat zum Ende seines Schaffens durchaus nicht mehr in gläubiger Technikbegeisterung aufgeht, bleiben uns doch genau jene Werke in liebevoller Erinnerung, in denen technische und menschliche Großtaten die Handlung bestimmen: »Reise um die Erde in 80 Tagen« oder »Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer« beispielsweise. Wer als Kind von Nemo und seiner Nautilus liest, wird unweigerlich gefangen von diesem technischen Wunderwerk und dessen Kapitän. Vernes Romane gehören zu jenen Jugendbüchern, die man als Erwachsener gerne nochmals zur Hand nimmt – und man staunt erneut, erinnert sich, lässt sich wiederum einfangen und fragt sich, warum man eigentlich so selten Verne liest…
So wie der Autor sich selbst durch Reisen und Wissenschaft inspirieren lässt, dienen seine Werke seit jeher der Inspiration seiner Leserschaft. Wie präsent dieser exzellente Unterhalter in den Köpfen seiner Leser bleibt, belegen Benennungen in See- und Raumfahrt: Das erste Atom-U-Boot der Geschichte ist die amerikanische USS Nautilus. Ein Raumtransporter der Europäischen Raumfahrtagentur heißt »Jules Verne«, ein Asteroid und ein Mondkrater tragen ebenfalls den Namen des Schriftstellers. Die »Jules Verne Trophy« wird seit 1990 für die schnellste Weltumsegelung verliehen, was dem begeisterten Jachtbesitzer Verne gewiss gefallen hätte.
Der kommerzielle Literaturbetrieb sowie die Filmwirtschaft betrachten den französischen Vater der Science-Fiction-Literatur ebenfalls mit Wohlwollen: Unzählige Neuauflagen der Romanklassiker, Hörbücher und Verfilmungen der rasanten, stets mitreißenden Handlungen sprechen Bände. Mittlerweile gelten die ältesten Verfilmungen selbst als kulturelle Meilensteine, die keineswegs nur ein junges Publikum erfreuen.
Jules Vernes Bedeutung für die Literatur
Der Einfluss Vernes auf nachfolgende Science-Fiction-Autoren ist gar nicht hoch genug einzuschätzen: Aus heutiger Sicht ist er einer der Vorreiter der utopischen Literatur Europas, der noch vor H. G. Wells (»Krieg der Welten«) und Kurd Laßwitz (»Auf zwei Planeten«) das neue Genre begründet. Seinerzeit gibt es diesen Begriff noch nicht, weshalb Hetzel die Romane seines Erfolgsschriftstellers als »Außergewöhnliche Reisen« vermarktet
Der Franzose sieht, anders als Wells und ähnlich wie Laßwitz, im technischen Fortschritt das künftige Wohl der Menschheit begründet. Trotzdem ist Jules Verne vor allem Erzähler: Er will weder warnen wie Wells noch belehren wie Laßwitz, sondern in erster Linie unterhalten. Im Vergleich zum spröden Realismus eines Wells wirken seine Romane für moderne Leser ausufernd, vielleicht sogar geschwätzig. Dennoch sind sie leichter zugänglich als das stilistisch ähnliche Schaffen des Deutschen Laßwitz, weil sie Utopie und Technikbegeisterung nicht zum Zweck ihres Inhalts machen, sondern lediglich zu dessen Träger: Schließlich ist es einfach aufregend, in einem Ballon eine Weltreise anzutreten oder Kapitän Nemo in sein geheimes Reich zu folgen.
Wie so viele Geschichten des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die in Europa spielen, zeigt auch „Die fünfhundert Millionen der Begum“ Ressentiments auf, die zwischen den „großen Nationen“ Europas herrschten.
Dieser vom Nationalismus geschürte Hass war leider weit verbreitet. Je nach politischer Großwetterlage wechselten die Koalitionen, Fronten und Ansichten über Freund und Feind munter hin und her.
Nur allzu gerne wurden dann diese Vorurteile in Übersetzungen entschärft. Gerade deutsche Verleger zeigten sich ungehemmt darin, französische oder britische Werke ihrer antideutschen Töne zu berauben.
Wo der Preuße zunächst noch im Zack-Zack und ohne jeden Humor die Länder der Welt unterjochen will (Original), will er dann doch nur unterentwickelte Völker durch sanftes „Überreden“ zu ihrem Glück, sprich: Zivilisation, verhelfen (Übersetzung).
Allein für dieses Werk habe ich drei verschiedene Bearbeitungen der ersten, anonymen Übersetzung bearbeitet. Und ich war in der Lage, nur an den belassenen Passagen das Veröffentlichungsdatum zu erahnen. Herrschte bei Veröffentlichungen vor19 45 noch ein Bedürfnis nach Entschärfung antideutscher Passagen, so zielte die Schere im Kopf der Verleger besonders nach 1945 auf den Militärjargon im Allgemein, dann wurden aus Befehlen und Führer schon mal Anweisungen und Vorgesetzte.
Über solche Stellen und – wenn nötig – über das französische Original informiere ich in Fußnoten. Übrigens ist Herr Schultze auch im Französischen „Herr“ und nicht „Monsieur“.
Ihr Jürgen Schulze, Neuss 2018
»Diese englischen Zeitungen leisten doch wirklich alles mögliche!« sprach der wackere Doktor so für sich hin, während er sich’s in dem großen, lederbezogenen Lehnstuhle bequem machte.
Doktor Sarrasin liebte den Monolog von jeher als eine Art Zerstreuung.
Er war ein Mann von fünfzig Jahren, mit feinen Zügen, lebhaften, durch die Stahlbrille hervorblitzenden Augen und ernster, doch liebenswürdiger Physiognomie,1 kurz, er gehörte zu den Leuten, bei deren erstem Anblick man sich sagt: Das ist ein braver Mann. Auch in heutiger früher Morgenstunde zeigte sich der Doktor, ohne dass seine Erscheinung etwas Gesuchtes verriet, schon frisch rasiert und mit blendend weißer Krawatte.
In seinem Hotelzimmer zu Brighton lagen da und dort die Times, der Daily Telegraph und die Daily News ausgebreitet. Es schlug eben zehn Uhr, doch hatte der Doktor schon Zeit gefunden, einen Weg in die Stadt zu machen, ein Krankenhaus zu besuchen und, nach seinem Hotel zurückgekehrt, in den wichtigsten Tagesblättern Londons den ausführlichen Bericht über eine Denkschrift zu lesen, die er erst vorgestern dem großen internationalen hygienischen Kongresse vorgelegt hatte und welche einen von ihm erfundenen »Blutkügelchen-Zähler« betraf.
Auf einem mit sauberer Serviette überdeckten Teebrette standen vor ihm ein schwach gebratenes Kotelett, eine Tasse dampfenden Tees und mehrere delikate Röstschnittchen, welche die englischen Köchinnen so vorzüglich zubereiten, weil ihnen die Bäcker dazu eine besondere Sorte kleiner Brote liefern.
»Ja, ja«, wiederholte er, »die Zeitungen des Vereinigten Königreichs leisten wirklich alles mögliche, das ist nicht zu leugnen! … Der Speech des Vizepräsidenten, die Antwort des Doktor Cigogna aus Neapel, die Darlegung aus meiner Denkschrift – alles ist im Fluge, auf frischer Tat erfasst, fotografiert möcht’ ich’s nennen.«
»Doktor Sarrasin aus Douai hat das Wort. Das ehrenwerte Mitglied des Kongresses spricht französisch. ›Die verehrten Zuhörer werden entschuldigen‹, beginnt er, ›dass ich mir diese Freiheit nehme; Sie verstehen aber jedenfalls alle meine Muttersprache besser, als ich mich in der ihrigen auszudrücken vermöchte‹ …«
»Fünf Spalten kleiner Schrift! … Ich weiß nicht, ob der Bericht der Times den Vorzug verdient oder der im Telegraph … zuverlässiger und eingehender kann man eben nicht referieren! …«
Hier stand Doktor Sarrasin eben in seinem Gedankengange, als der Zeremonienmeister in höchsteigener Person – einen geringeren Titel würde man der untadelhaft schwarzgekleideten Persönlichkeit kaum beizulegen wagen – an die Tür klopfte und anfragte, ob »Monsiou« zu sprechen sei …
»Monsiou« ist eine beliebte Allgemeinbezeichnung bei den Engländern, welche sie instinktiv allen Franzosen gegenüber gebrauchen, so wie sie gegen alle Regeln des Anstandes zu verstoßen fürchten würden, wenn sie einen Italiener nicht mit »Signor« und einen Deutschen nicht mit »Herr« anredeten. Gewiss hat diese durchgängig eingebürgerte Gewohnheit mindestens den Vorteil, die Nationalität der Leute gleich von vornherein kenntlich zu machen.
Doktor Sarrasin hatte die ihm überreichte Karte in der Hand. Erstaunte er überhaupt schon darüber, in einem Lande, wo er keinen Menschen kannte, Besuch zu erhalten, so war das noch mehr der Fall, als er auf dem kleinen, länglich viereckigen Kärtchen las:
Mr. Sharp, Sollicitor 93 Southampton row, London.
Er wusste, dass ein »Sollicitor« der einheimische englische Anwalt war, oder vielmehr ein Bastard-Rechtsbeflissener, ein Zwischending zwischen Kanzleianwalt und Advokat, etwa der frühere Prokurator.
»Was, zum Teufel, kann ich mit diesem Mr. Sharp zu schaffen haben«, fragte er sich selbst. »Sollte ich mich unbewussterweise vergangen haben? … Sind Sie sicher, dass diese Karte mir gilt?«
»O yes, Monsiou.«
»Gut, lassen Sie den Herrn eintreten.«
Der Zeremonienmeister öffnete die Tür einem noch jungen Manne, den der Doktor auf den ersten Blick als Angehörigen der großen Familie der »Totenköpfe« erkannte. Seine dünnen oder vielmehr vertrockneten Lippen, die langen weißen Zähne, die unter der pergamentartig durchschimmernden Haut fast offen liegenden Schläfengruben, der mumienhafte Teint und die kleinen Augen mit ihrem wahrhaft stechenden Blicke versetzten ihn unzweifelhaft in die Klasse jener, uns immer etwas abstoßenden Erscheinungen. Sein Skelett verbarg sich von den Fersen bis zum Hinterhaupte unter einem großkarierten Überrock, und in der Hand trug er eine Reisetasche von lackiertem Leder.
Diese Person trat ins Zimmer, grüßte flüchtig, legte Reisetasche und Hut ab, setzte sich, ohne eine Aufforderung dazu abzuwarten, und sagte:
»William Henry Sharp junior, Associé des Hauses Billows, Green, Sharp & Comp … Ich habe doch die Ehre, Herrn Doktor Sarrasin …«
»Gewiss, mein Herr.«
»François Sarrasin?«
»Das ist mein Name.«
»Aus Douai?«
»Mein gewöhnlicher Aufenthaltsort.«
»Ihr Vater hieß Isidore Sarrasin?«
»Ganz richtig.«
»Wir gehen also davon aus, dass er Isidore Sarrasin hieß.«
Mr. Sharp zog ein Notizbuch aus der Tasche und fuhr fort:
»Isidore Sarrasin, gestorben zu Paris im Jahre 1857, 6. Arrondissement, Rue Taranne Nr. 54, Hotel des Ecoles, jetzt abgebrochen.«
»Alles in Ordnung«, bestätigte der Doktor mit wachsendem Erstaunen. »Würden Sie mir nun erklären …«
»Seine Mutter hieß Julie Langevol«, fuhr Mr. Sharp unbeirrt fort. »Sie stammte aus Bar-le-Duc,2 war eine Tochter von Benedict Langevol, wohnhaft in der Sackgasse Loriol, gestorben 1812, wie aus den amtlichen Registern genannter Stadt hervorgeht – diese Register sind eine höchst schätzbare Einrichtung, mein Herr, eine ungemein unschätzbare – Hm! … Hm! … und Schwester von Jean Jacques Langevol, Tambourmajor des 36. leichten …«
»Ich gestehe Ihnen«, fiel hier der über diese umfassende Kenntnis seiner Genealogie verwunderte Doktor ein, »dass Sie über verschiedene Punkte besser unterrichtet scheinen, als ich es selbst bin. Wirklich lautete meiner Großmutter Familienname Langevol, das ist aber auch alles, was ich von ihr weiß.«
»Sie verließ Bar-le-Duc im Jahre 1807 mit Ihrem Großvater Jean Sarrasin, den sie schon 1799 geheiratet hatte. Beide wandten sich zur Etablierung eines Klempnergeschäftes nach Melun und verblieben dort bis 1811, in welchem Jahre Julie Langevol, verehelichte Sarrasin, mit Tod abging. Ihrer Ehe entstammte nur ein einziges Kind, Isidore Sarrasin, Ihr Vater, mein Herr. Von hier ab weiß man nun nichts Weiteres, bis auf den Todestag des letzteren, der in Paris wieder auftauchte …«
»Den verlorenen Faden bin ich aber imstande, wieder anzuknüpfen«, sagte der Doktor, den diese wirklich mathematische Genauigkeit wider Willen mehr und mehr fesselte. »Mein Großvater etablierte sich später in Paris, um sich die Erziehung seines Sohnes, der medizinischen Studien oblag, zu erleichtern. Er starb im Jahre 1832 in Palaiseau bei Versailles, woselbst mein Vater praktizierte und ich selbst 1822 geboren wurde.«
»Sie sind mein Mann«, erklärte Mr. Sharp. »Keine Brüder oder Schwestern? …«
»Nein. Ich war und blieb der einzige Sohn, und meine Mutter starb schon, als ich erst zwei Jahre zählte. Doch werden Sie mir endlich mitteilen, mein Herr, wozu das …«
Mr. Sharp erhob sich.
»Sir Bryah Jowahir Mothooranath«, sagte er, diese Worte mit all dem Respekt aussprechend, den jeder Engländer gegenüber vornehmen Titeln beobachtet, »ich schätze mich glücklich, Sie gefunden zu haben und als der erste Ihnen meine Huldigung darzubringen.«
»Der Mann ist von Sinnen«, dachte der Doktor, »kommt ja bei Totenköpfen häufiger vor.«
Der Sollicitor erriet seinen Gedanken.
»Halten Sie mich um alles in der Welt nicht etwa für geisteskrank«, sagte er sehr ruhig. »Zur Stunde sind Sie der einzige bekannte Erbe des Baronet-Titels, welcher auf Vorschlag des General-Gouverneurs einst Jean Jacques Langevol verliehen wurde, der 1819 in den englischen Untertanenverband eintrat und später Witwer und Nutznießer der Besitzungen der Begum (Ehrentitel der indischen Fürstinnen) Gokool war, welche 1841 starb und nur einen Sohn hinterließ, der als Idiot ohne Nachkommen und ohne Testament im Jahre 1869 verschied. Die Nachlassenschaft betrug vor dreißig Jahren schon gegen fünf Millionen Pfund Sterling. Sie ward unter vormundschaftliches Sequester gestellt und während der Lebenszeit des schwachsinnigen Sohnes Jean Jacques Langevols fast durch die vollen Zinsenerträgnisse vermehrt. Im Jahre 1870 berechnete sich jene Verlassenschaft auf rund einundzwanzig Millionen Pfund Sterling oder fünfhundertfünfundzwanzig Millionen Francs. In Ausführung einer Entscheidung des Gerichtes in Agra, welche die höhere Instanz in Delhi und zuletzt auch der Geheime Rat des Reiches bestätigte, wurden die beweglichen und unbeweglichen Güter des Erblassers veräußert, der Ertrag des Verkaufes eingezogen und das ganze bei der Bank von England deponiert. Jetzt liegen daselbst fünfhundertsiebenundzwanzig Millionen Francs, die Sie durch eine einfache Anweisung erheben können, sobald Sie dem Kanzleramte die Beweise Ihrer Abstammung beigebracht haben und auf welche Summe ich mich schon hiermit erbiete, Ihnen bei der Bankfirma Trollop, Smith and Kompanie einen Vorschuss in jeder beliebigen Höhe …«
Doktor Sarrasin war versteinert. Eine kurze Zeit lang vermochte er keine Worte zu finden. Dann erwachte doch der Geist des Zweifels wieder in seinem Innern, und da er diese Verwirklichung eines Traumbildes aus »Tausendundeiner Nacht« nicht so ohne weiteres anerkennen wollte, sagte er:
»Ja, mein Herr, welche Beweise können Sie mir beibringen für die Wahrheit dieser ganzen Geschichte, und wie sind Sie auf meine Spur gekommen?«
»Die Beweisstücke befinden sich hier«, erwiderte Mr. Sharp, auf die Glanzledertasche klopfend. »Dass ich Sie jetzt auffand, ging sehr einfach zu. Eigentlich suche ich Sie schon seit fünf Jahren. Die Auskundschaftung der Berechtigten, der next of kin,3 wie das englische Recht sich ausdrückt, für die vielen unbeanspruchten Nachlassenschaften, welche die Gerichte in den britischen Besitzungen in Verwaltung nehmen, ist eine Spezialität unseres Hauses. Gerade die Erbschaft der Begum Gokool hält uns nun schon seit einem ganzen Lustrum4 in Atem. Wir streckten unsere Fühler nach allen Seiten hin aus und stellten Nachforschungen über mehr als hundert Familien Sarrasin an, ohne darunter eine zu finden, welche von jenem Isidore herstammte. Ich beruhigte mich schon mit der Überzeugung, dass es einen Sarrasin in Frankreich nicht mehr gäbe, als ich gestern morgens bei der Durchlesung der Daily News den Bericht von dem hiesigen hygienischen Kongresse und darin den Namen eines Arztes fand, den ich noch nicht kannte. Sofort nahm ich meine eigenen Notizen vor, verglich sie mit den Tausenden von Schriftstücken, die wir bezüglich dieser Angelegenheit aufgesammelt haben, und erkannte daraus zur größten Verwunderung, dass die Stadt Douai unserer Aufmerksamkeit entgangen war. In dem beinahe sicheren Bewusstsein, hiermit die richtige Spur entdeckt zu haben, benützte ich den ersten Zug nach Brighton, sah Sie selbst beim Verlassen des Kongresses und – meine Ahnung war erfüllt. Sie sind das lebendige Ebenbild Ihres Großvaters Langevol, wie ihn eine in unserem Besitz befindliche, nach einem Ölbilde des indischen Malers Saranoni angefertigte Fotografie darstellt.«
Mr. Sharp nahm eine Fotografie aus einem Notizbuche und übergab sie Doktor Sarrasin. Das Bild zeigte einen hochgewachsenen Mann mit prächtigem Barte, einem Turban mit flimmernder Aigrette und einem grün verbrämten Brokatrocke in der beliebten Haltung der historischen Porträts eines kommandierenden Generals, der den Befehl zu einem Angriffe ausfertigt, während sein Auge auf das des Beschauers gerichtet ist. Den Hintergrund bildete die Andeutung des Gewühls einer Schlacht und einer Reiterattacke.
»Diese Schriftstücke werden Ihnen mehr sagen als ich«, nahm Mr. Sharp wieder das Wort. »Ich lasse dieselben jetzt in Ihren Händen und komme mit Ihrer Erlaubnis nach zwei Stunden wieder, Ihre Aufträge entgegenzunehmen.«
Mit diesen Worten entnahm Mr. Sharp seiner Reisetasche sechs bis sieben teils gedruckte, teils geschriebene Aktenpakete, legte dieselben auf den Tisch nieder und näherte sich rückwärts schreitend langsam der Türe.
»Sir Bryah Jowahir Mothooranath, ich habe die Ehre, mich Ihnen zu empfehlen.«
Halb vertrauend und halb zweifelnd ergriff der Doktor die Aktenhefte und begann, sie zu durchblättern.
Schon eine flüchtige Prüfung genügte, ihn zu überzeugen, dass die Sache in Ordnung und jeder Zweifel unbegründet sei, gegenüber so vollwichtigen Dokumenten wie dem folgenden:
»Bericht an die hochehrwürdigen Lords des Geheimen Rates der Königin, deponiert am 5. Januar 1870, betreffend die unbeanspruchte Nachlassenschaft der Begum Gokool von Ragginahra, Provinz Bengalen.
Tatbestand. – Es handelt sich um das Eigentumsrecht mehrerer Mehals und 43.000 Bengales Ackerlandes, verschiedener Gebäude, Paläste, Wirtschaftshöfe, Mobilien, Kapitalien, Waffen usw. usw., welche aus der Nachlassenschaft der Begum Gokool von Ragginahra herrühren. Aus mehrfachen, dem Zivilgericht in Agra und dem Appelationsgericht in Delhi unterbreiteten Darlegungen geht hervor, dass die Begum Gokool, Witwe des Rajah Luckmissur und Erbin höchst umfangreicher Besitzungen, im Jahre 1819 einen Ausländer, einen Franzosen von Geburt, namens Jean Jacques Langevol ehelichte. Dieser Ausländer diente mit dem Grade eines Unteroffiziers (Tambourmajors) bis 1815 im 36. Infanterie-Regiment der französischen Armee und schiffte sich, als die sogenannte Loire-Armee damals aufgelöst wurde, in Nantes als Faktor eines Kauffahrers ein. Er langte in Kalkutta an, begab sich in das Innere des Landes und erhielt bald die Stelle eines Instruktions-Hauptmannes der kleinen Armee von Eingeborenen, welche der Rajah Luckmissur zu halten berechtigt war. In kurzer Zeit avancierte er zum Oberbefehlshaber derselben und erhielt, bald nach dem Tode des Rajah,5 auch die Hand von dessen Witwe. Aus Rücksichten der Kolonialpolitik und in Anbetracht der wichtigen Dienste, welche Jean Jacques Langevol den Europäern in Agra unter misslichen Verhältnissen erwiesen, sah sich der General-Gouverneur der Präsidentschaft Bengalen veranlasst, für den Gemahl der Begum den Baronetstitel zu erbitten, der ihm auch zugestanden wurde. Das Gebiet von Bryah Jowahir Mothooranath wurde infolgedessen zum Lehen erhoben. Die Begum verstarb im Jahre 1839 und hinterließ die Nutznießung aller ihrer Besitzungen an Langevol, der ihr zwei Jahre später ins Grab nachfolgte. Ihrer Ehe entspross nur ein einziger, von Kindheit auf schwachsinniger Sohn, der sofort unter obrigkeitliche Vormundschaft gestellt werden musste. Bis zu seinem im Jahre 1869 erfolgten Tode wurden dessen Güter usw. getreulich administriert. Jetzt existieren für die ungeheure Nachlassenschaft keine bekannten Erben. Da das Gericht von Agra und der Appellationshof in Delhi auf Ansuchen der Lokalbehörden im Namen des Staates die Licitation dieses Nachlasses verfügt haben, geben wir uns die Ehre, die Lords des Geheimen Rates um ihre Bestätigung der beabsichtigten Maßnahmen zu ersuchen usw. usw.«
Folgen die Unterschriften.
Die beglaubigten Kopien der Gerichtsbescheide aus Agra und Delhi, die Verkaufsakten, Duplikate der Depositenscheine der Bank von England, ein Bericht über die in Frankreich getanen Schritte zur Auffindung der Erben Langevols, nebst einer großen Menge auf dieselbe Sache bezüglicher Dokumente verscheuchten auch Doktor Sarrasins letzte Zweifel. Er war nach Gesetz und Recht der next of kin und Erbe der Begum. Zwischen ihm und den in den Kellern der Bank von England deponierten 527 Millionen lag nur noch die Erfüllung gewisser Formalitäten, die einfache Herbeischaffung der beglaubigten Geburts- und Totenscheine.
Ein so unerhörter Glücksfall bringt jawohl auch das ruhigste Gemüt etwas in Aufregung, und auch der gute Doktor konnte sich derselben, gegenüber dieser unerwarteten Gewissheit, nicht völlig erwehren. Jedenfalls hielt seine Erregung jedoch nicht lange an und machte sich nur in einer kurzen Promenade durch das Zimmer Luft. Dann gewann er wieder die vollkommene Herrschaft über sich, tadelte jenes vorübergehende Fieber als eine seiner unwürdige Schwäche, warf sich in einen Lehnstuhl und versank eine Zeit lang in tiefes Nachsinnen.
Hierauf schritt er nochmals im Zimmer auf und ab. Jetzt leuchteten seine Augen, aber in reinerem Feuer, man sah, dass sich aus seinem Innern ein großer edelmütiger Gedanke emporrang. Er erkannte ihn, überlegte, pflegte ihn mit Liebe und adoptierte ihn zuletzt.
Eben klopfte es an der Tür. Mr. Sharp kehrte zurück.
»Ich bitte Sie um Verzeihung wegen meines Zweifels«, redete ihn der Doktor vertraulich an. »Jetzt bin ich überzeugt und danke Ihnen vorläufig tausendmal für Ihre gehabte Mühe.«
»Bitte, bitte … ein einfaches Geschäft … mein Metier …«, antwortete Mr. Sharp. »Darf ich hoffen, dass mir Sir Bryah sein wertes Vertrauen zuwenden wird?«
»Das versteht sich von selbst. Ich lege die ganze Sache in Ihre Hände … nur darum bitte ich: Verschonen Sie mich mit jenem lächerlichen Titel …«
Lächerlich! Ein Titel im Werte von einundzwanzig Millionen Pfund Sterling! sagten etwa die Gesichtszüge des Mr. Sharp, der aber viel zu sehr Hofmann war, um nicht sofort nachzugeben.
»Wie es Ihnen beliebt, Sie haben zu befehlen«, antwortete er mit einer Verbeugung. »Ich werde also wieder nach London zurückfahren und erwarte Ihre weitere Entschließung.«
»Darf ich diese Aktenstücke behalten?« fragte der Doktor.
»Gewiss, wir besitzen davon Duplikate.«
Als Doktor Sarrasin allein war, begab er sich nach dem Schreibtische, nahm ein Stück Briefpapier und schrieb wie folgt:
»Brighton, am 28. Oktober 1871.
Mein lieber Sohn! Es ist uns plötzlich ein enormes, ungeheures, übergroßes Vermögen zugefallen! Halte mich nicht für geistig gestört, sondern lies zunächst die gedruckten Aktenstücke, welche ich diesem Briefe beilege. Du wirst daraus ersehen, dass ich Erbe des Titels eines englischen oder vielmehr indischen Baronets und eines, jetzt bei der Bank von England deponierten Kapitals von mehr als einer halben Milliarde Francs bin. Ich weiß schon im voraus, mein lieber Octave, mit welchen Empfindungen Du diese unerwartete Nachricht aufnimmst. Du wirst, gleich mir, einsehen, dass solche Schätze uns ganz andere Pflichten auferlegen, und die Gefahren begreifen, die sie uns wegen ihrer Verwendung bereiten können. Kaum eine Stunde mit dem Sachverhalt bekannt, erstickt mir doch die Sorge um eine derartige Verantwortlichkeit schon halb die Freude, welche mir derselbe zuerst um Deinetwillen bereitet hatte. Vielleicht wirkt dieser Glückswechsel gar ungünstig auf unser späteres Schicksal ein! … Als bescheidene Pioniere der Wissenschaft fühlten wir uns in der Verborgenheit glücklich. Wird das so bleiben? Nein, vielleicht; doch ich will jetzt einen in mir aufgestiegenen Gedanken noch unterdrücken – wenn jenes uns zugefallene Vermögen zu einem neuen mächtigen, wissenschaftlichen Hilfsmittel, zu einem fruchtbringenden Werkzeug der Zivilisation würde … Doch davon sprechen wir später. Schreib’ mir und sag’ mir schnell, welchen Eindruck diese hochwichtige Neuigkeit auf Dich gemacht, und sorge, dass auch Deine Mutter davon erfährt. Ich hoffe, dass sie als verständige Frau diese Nachricht mit Ruhe und Gelassenheit aufnimmt. Deine Schwester ist noch zu jung, als dass ihr irgend etwas Derartiges das Köpfchen verwirren könnte. Freilich ist sie schon recht verständig; doch auch wenn sie sich alle möglichen Folgen der Dir übermittelten Nachricht zu vergegenwärtigen vermöchte, bin ich doch der Überzeugung, dass sie durch diesen plötzlichen Wechsel unserer Verhältnisse am wenigsten berührt würde. Einen Händedruck unserem lieben Marcel. Er ist bei keinem meiner Zukunftspläne vergessen.
Dein wohlgewogener Vater Dr. Fr. Sarrasin.«
Nachdem er diesen Brief mit den wichtigsten Dokumenten in ein Kuvert gesteckt und dieses mit der Aufschrift »Herrn Octave Sarrasin, Studierender an der Zentralschule für Künste und Gewerke, 32, Rue du Roi-de-Sicile, Paris« versehen, nahm der Doktor seinen Hut, legte den Überrock an und begab sich zum Kongress. Eine Viertelstunde später dachte der brave Mann nicht im geringsten mehr an seine Millionen.
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Zeitraum von fünf Jahren <<<
Raja (Sanskrit „König“, „Fürst“) ist der Titel von indischen Herrschern, die weibliche Form lautet Rani. Maharaja bedeutet Großkönig. <<<
Octave Sarrasin, der Sohn des Doktors, gehörte nicht geradezu unter die Faulenzer. Er war weder dumm noch gescheit, weder schön noch hässlich, weder blond noch braun und überhaupt ein Muster von Mittelmäßigkeit nach allen Seiten. Im Kolleg errang er sich gewöhnlich einen zweiten Preis und zwei oder drei Accessits. Beim Baccalaureats-Examen lautete seine Zensur leidlich. Einmal bei der École Centrale1 abgewiesen, wurde er bei einer zweiten Prüfung mit Nummer 127 aufgenommen. Er war einer jener unentschiedenen Charaktere, einer der Geister, die sich schon mit einer unvollständigen Sicherheit zufriedengeben, die mit dem »Ungefähr« auf vertrautem Fuß stehen und durchs Leben wandeln wie ein Mondstrahl. In der Hand des Schicksals gleichen diese Leute dem Korkpfropfen auf dem Wellenkamme. Je nachdem der Wind von Norden oder Süden weht, werden sie nach dem Pole oder dem Äquator hineingetrieben. Ihre Laufbahn entscheidet nur der Zufall. Hätte sich Doktor Sarrasin nicht selbst einigen Täuschungen über den Charakter seines Sohnes hingegeben, so würde er wahrscheinlich gezögert haben, ihm jenen Brief zu schreiben; ein wenig väterliche Verblendung ist jedoch auch den besten Köpfen nachgelassen.
Zum Glück verfiel Octave gleich im Anfange seiner höheren Ausbildung der Herrschaft einer energischen Natur, deren etwas tyrannischer, aber wohltätiger Einfluss sich ihm mit unwiderstehlicher Gewalt aufdrängte. Auf dem Lyzeum Charlemagne, wohin ihn sein Vater zur Beendigung der Studien geschickt hatte, schloss Octave einen innigen Freundschaftsbund mit einem seiner Kameraden, einem Elsässer, Marcel Bruckmann, der zwar ein Jahr jünger war als er, physisch, geistig und moralisch aber das entschiedenste Übergewicht über ihn behauptete.
Der schon in seinem zwölften Jahre verwaiste Marcel Bruckmann besaß als Erbteil eine kleine Rente, welche gerade hinreichte, seine Kollegien zu bezahlen. Ohne Octave, der ihn während der Ferien zu seinen Eltern mitzunehmen pflegte, hätte er wohl niemals den Fuß außer die Mauern des Lyzeums gesetzt.
Erklärlicherweise wurde Doktor Sarrasins Familie bald auch die des jungen Elsässers. Trotz scheinbarer Kälte, doch von tiefempfindsamer Natur, sagte ihm eine innere Stimme, dass er jenen braven Leuten, die ihm Vater- und Mutterstelle vertraten, sein ganzes Leben zu widmen habe. Es ging also ganz natürlich zu, dass er Doktor Sarrasin, dessen Gattin und deren hübsches und schon recht verständiges Töchterchen aufrichtig verehren lernte, doch gab er allen seine Erkenntlichkeit nicht durch Worte, sondern mehr durch die Tat kund. Er stellte sich nämlich die angenehme Aufgabe, aus Jeanne, welche viel Wißbegierde zeigte, ein junges Mädchen mit klarem Verstande, mit festem, urteilsfähigem Geiste heranzubilden, und Octave gleichzeitig zu einem, seinem Vater würdigen Sohn zu erziehen. Die Erreichung dieser Ziele machte ihm der junge Mann allerdings weniger leicht als das junge Mädchen, das für sein Alter dem Bruder offenbar überlegen war. Marcel hatte sich aber einmal in den Kopf gesetzt, seine Aufgabe nach beiden Seiten hin zu erfüllen.
Marcel Bruckmann gehörte zu den mannhaften und klugen Köpfen, welche Elsaß-Lothringen alljährlich zu ihrer Erprobung in den Strudel des Pariser Lebens zu entsenden pflegte. Schon als Kind zeichnete er sich ebenso durch die Kraft und Geschmeidigkeit seiner Muskeln, wie durch seine hervorragenden geistigen Anlagen aus. Er war innerlich ebenso ganz willens- und tatkräftig, wie äußerlich ein Hüne von Gestalt. Von der Schule her beherrschte ihn stets das Bedürfnis, sich in allem auszuzeichnen, in der Arbeit wie beim Spiele, im Turnsaale wie im chemischen Laboratorium. Entging ihm ein Preis seiner jährlichen Ernte, so hielt er das Jahr für verloren. Mit zwanzig Jahren war er ein Riese an Körper, voller Leben und Tätigkeit, eine hochangespannte organische Maschine von größter Leistungsfähigkeit. Sein intelligenter Kopf erregte die Aufmerksamkeit feinerer Beobachter. Als zweiter in die Zentralschule eingetreten, hatte er beschlossen, sie nur als erster zu verlassen.
Nur seiner unbeugsamen und für zwei Menschen völlig ausreichenden Energie verdankte Octave überhaupt seine Zulassung. Im Laufe eines Jahres hatte ihn Marcel »gedrillt«, an strenge Arbeit, auch an das schöne Bewusstsein des Erfolges gewöhnt. Ihn beseelte für diese schwächliche, schwankende Natur ein Gefühl freundschaftlichen Mitleids, ähnlich demjenigen, das ein Löwe etwa für einen jungen Hund haben kann. Es machte ihm Vergnügen, diese anämische Pflanze durch den Überschuss seines Lebenssaftes zu kräftigen und sie auch neben sich Früchte zeitigen zu lassen.