Die fünfhundert Millionen der Begum - Jules Verne - E-Book

Die fünfhundert Millionen der Begum E-Book

Jules Verne.

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Beschreibung

Jules Verne bei Null Papier Komplett neu überarbeitet; reichhaltig illustriert und kommentiert Zwei verfeindete Männer müssen sich die größte Erbschaft aller Zeiten teilen: 500 Millionen Francs. Der eine baut eine fortschrittliche Industriestadt, der andere eine "Stahlstadt", deren Waffen auf Erstere zielen. Ist der größenwahnsinnige Erfinder der Stahlstadt noch zu stoppen? Erstmalig liegt hier die unzensierte Bearbeitung der Erstübersetzung vor, die nicht um antideutsche Passagen bereinigt wurde. Null Papier Verlag

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Jules Verne

Die fünfhundert Millionen der Begum

Illustrierte und unzensierte Komplettübersetzung

Jules Verne

Die fünfhundert Millionen der Begum

Illustrierte und unzensierte Komplettübersetzung

(Les Cinq Cents Millions de la Bégum)Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]: Léon BenettÜbersetzung und Fußnoten: Jürgen Schulze EV: A. Hartleben, 1880 2. Auflage, ISBN 978-3-962815-11-0

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Ju­les Ver­ne – Le­ben und Werk

Im Zei­chen der deutsch-fran­zö­si­schen Feind­schaft.

Ers­tes Ka­pi­tel – In dem Mr. Sharp sich bei dem Le­ser ein­führt.

Zwei­tes Ka­pi­tel – Zwei Stu­ben­bur­schen

Drit­tes Ka­pi­tel – Un­ter »Ver­misch­tes«

Vier­tes Ka­pi­tel – Je­der sei­nen Teil

Fünf­tes Ka­pi­tel – Die Stahl­stadt

Sechs­tes Ka­pi­tel – Der Al­brechts-Schacht

Sieb­tes Ka­pi­tel – Die Zen­tral-An­la­gen

Ach­tes Ka­pi­tel – Die Höh­le des Dra­chen

Neun­tes Ka­pi­tel – Ab­schied

Zehn­tes Ka­pi­tel – Ein Ar­ti­kel aus »Un­ser Jahr­hun­dert« – deut­sche Re­vue

Elf­tes Ka­pi­tel – Ein Abendes­sen bei Dr. Sar­ra­sin

Zwölf­tes Ka­pi­tel – Der Kriegs­rat

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel – Mar­cel Bruck­mann an Pro­fes­sor Schult­ze, Stahl­stadt

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel – Fer­tig zum Kamp­fe!

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel – Die Bör­se von San Fran­cis­co

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel – Zwei Fran­zo­sen ge­gen eine Stadt

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel – Er­klä­run­gen mit Pul­ver und Blei

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel – Des Rät­sels Lö­sung

Neun­zehn­tes Ka­pi­tel – Eine Fa­mi­li­en­an­ge­le­gen­heit

Zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Schluss

Ein Nach­wort

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie die­ses E-Book aus mei­nem Ver­lag er­wor­ben ha­ben.

Ju­les Ver­ne ge­hört zu den Au­to­ren, die je­der schon ein­mal ge­le­sen hat. Eine Be­haup­tung, die man nicht über vie­le Schrift­stel­ler auf­stel­len kann. Die Ge­schich­ten von Ver­ne sind un­ter­hal­tend, lehr­reich und im­mer sehr at­mo­sphä­risch.

In un­re­gel­mä­ßi­ger Fol­ge wird mein Ver­lag die Wer­ke von Ver­ne ver­öf­fent­li­chen – die be­kann­ten wie die un­be­kann­ten. Im­mer in der über­ar­bei­te­ten Er­st­über­set­zung, um den (sprach­li­chen) Ch­ar­me der Zeit bei­zu­be­hal­ten.

Kor­ri­giert und kom­men­tiert wer­den Orts- und Per­so­nen­na­men oder of­fen­sicht­lich falsche An­ga­ben. Sie fin­den die Er­läu­te­run­gen in Fuß­no­ten.

Ich habe es mir auch nicht neh­men las­sen, die ur­sprüng­li­chen Na­men zu ver­wen­den: Aus dem Jo­hann wird so wie­der der ur­sprüng­li­che Jean, aus Lud­wig wie­der Louis und aus Ma­ri­an­ne wie­der Ma­rie. Ich den­ke, das tut den Ge­schich­ten nur gut.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

Ihr Jür­gen Schul­ze null-pa­pier.de/kon­takt

Ju­les Ver­ne bei Null Pa­pier

Rei­se um die Erde in 80 Ta­gen

Mi­cha­el Strogoff - Der Ku­ri­er des Za­ren

Zwan­zig­tau­send Mei­len un­ter dem Meer

Eine Idee des Dok­tor Ox

Eine Über­win­te­rung im Eis

Schwarz-In­di­en – Oder: Die Stadt un­ter der Erde

Fünf Wo­chen im Bal­lon

Ro­bur der Ero­be­rer

Der Herr der Welt

Von der Erde zum Mond

und wei­te­re …

Ju­les Ver­ne – Le­ben und Werk

Bei­na­he wäre Klein-Ju­les als Schiffs­jun­ge nach In­di­en ge­fah­ren, hät­te eine Lauf­bahn als See­mann ein­ge­schla­gen und spä­ter un­ter­halt­sa­mes See­manns­garn ge­spon­nen, das ver­mut­lich nie die Drucker­pres­se er­reicht hät­te.

Ju­les Ver­ne

Ver­liebt in die aben­teu­er­li­che Li­te­ra­tur

Glück­li­cher­wei­se für uns Le­ser hin­dert man ihn dar­an: Der Elf­jäh­ri­ge wird von Bord ge­holt und ver­lebt wei­ter­hin eine be­hü­te­te Kind­heit vor bür­ger­li­chem Hin­ter­grund. Ge­bo­ren am 8. Fe­bru­ar 1828 in Nan­tes, wächst Ju­les-Ga­bri­el Ver­ne in gut si­tu­ier­ten Ver­hält­nis­sen auf. Als äl­tes­ter von fünf Spröss­lin­gen soll er die vä­ter­li­che An­walt­spra­xis über­neh­men, wes­halb er ab 1846 in Pa­ris Jura stu­diert.

Viel span­nen­der fin­det er schon zu die­ser Zeit al­ler­dings die Li­te­ra­tur. Ver­ne freun­det sich so­wohl mit Alex­and­re Du­mas als auch mit sei­nem gleich­na­mi­gen Sohn an. Ge­mein­sam mit Va­ter Du­mas ver­fasst er Opern­li­bret­ti und ers­te dra­ma­ti­sche Wer­ke. Nach dem Ab­schluss sei­nes Stu­di­ums be­schließt er, nicht nach Nan­tes zu­rück­zu­keh­ren, son­dern sich völ­lig der Dra­ma­tik zu wid­men.

Zwar schreibt er nicht ganz er­folg­los – drei sei­ner Er­zäh­lun­gen er­schei­nen in ei­ner li­te­ra­ri­schen Zeit­schrift. Doch zum Le­ben reicht es nicht, wes­halb der jun­ge Au­tor 1852 den Pos­ten ei­nes In­ten­danz-Se­kre­tärs am Théâtre ly­ri­que an­nimmt. Im­mer­hin wird die­se Ar­beit zu­ver­läs­sig ver­gü­tet und Ver­ne darf sich als Dra­ma­ti­ker be­tä­ti­gen. In sei­ner Frei­zeit ver­fasst er wei­ter­hin Er­zäh­lun­gen, wo­bei ihn aben­teu­er­li­che Rei­sen am meis­ten in­ter­es­sie­ren.

Als er 1857 eine Wit­we hei­ra­tet, die zwei Töch­ter in die Ehe mit­bringt, muss sich der Li­te­rat nach ei­ner bes­ser be­zahl­ten Ein­kom­mens­quel­le um­se­hen. Wäh­rend der nächs­ten zwei Jah­re schlägt er sich als Bör­sen­mak­ler durch, wo­bei er ge­nug Zeit fin­det, län­ge­re Schiffs­rei­sen zu un­ter­neh­men, be­vor 1861 sein Sohn Mi­chel ge­bo­ren wird.

Ver­liebt ins li­te­ra­ri­sche Aben­teu­er

Letzt­lich ist es ei­ner be­son­de­ren Be­geg­nung im Jahr 1862 ge­schul­det, dass al­les, was der Au­tor bis­her »geis­tig an­ge­sam­melt« hat, in sei­nen künf­ti­gen Ro­ma­nen kul­mi­nie­ren darf: Der Ju­gend­buch-Ver­le­ger Pier­re-Ju­les Het­zel ver­öf­fent­licht Ver­nes uto­pi­schen Rei­se­ro­man »Fünf Wo­chen im Bal­lon«. Die­ses von ihm oh­ne­hin be­vor­zug­te Su­jet wird den Schrift­stel­ler nie wie­der los­las­sen – die aben­teu­er­li­chen Rei­sen, auf wel­cher Rou­te auch im­mer sie ab­sol­viert wer­den. Het­zel ver­legt Ver­nes noch heu­te be­lieb­tes­te Schrif­ten: 1864 »Rei­se zum Mit­tel­punkt der Erde«, im fol­gen­den Jahr »Von der Erde zum Mond«, 1869 »Rei­se um den Mond« und »Zwan­zig­tau­send Mei­len un­ter dem Meer«. Mit »Rei­se um die Erde in 80 Ta­gen« er­scheint 1872 Ju­les Ver­nes er­folg­reichs­ter Ro­man über­haupt.

Die Zu­sam­men­ar­beit mit Het­zel, der gleich­zei­tig als sein Men­tor fun­giert, sorgt in den spä­ten 1860er Jah­ren da­für, dass der höchst pro­duk­ti­ve Schrift­stel­ler sei­ner Fa­mi­lie ei­ni­gen Wohl­stand bie­ten und sich selbst »ju­gend­traum­haf­te« Rei­se­wün­sche er­fül­len kann. Sein Ver­le­ger stellt ihn nam­haf­ten Wis­sen­schaft­lern vor – in Kom­bi­na­ti­on mit den er­wähn­ten Rei­sen ent­steht auf die­se Wei­se ein un­ge­heu­rer Fun­dus der In­spi­ra­ti­on: Ju­les Ver­nes Zet­tel­kas­ten ent­hält an­geb­lich 25.000 No­ti­zen!

Zwar ist er seit »Rei­se um den Mond« glei­cher­ma­ßen wohl­ha­bend und ge­ach­tet; er en­ga­giert sich seit den spä­ten 1880er Jah­ren so­gar als Stadt­rat in Amiens, wo­hin er 1871 mit sei­ner Fa­mi­lie über­ge­sie­delt war. Der »Rit­ter­schlag« aber bleibt aus: In der Aca­dé­mie françai­se möch­te man den Ju­gend­buch­au­tor nicht ha­ben, er gilt als nicht se­ri­ös ge­nug.

Den Ze­nit sei­nes Schaf­fens hat der Li­te­rat be­reits über­schrit­ten, als er 1888 blei­ben­de Ver­let­zun­gen durch den Schuss­waf­fen-An­griff ei­nes geis­tes­ge­stör­ten Ver­wand­ten da­von­trägt. Den­noch ar­bei­tet der Au­tor un­un­ter­bro­chen wei­ter. Als Ju­les Ver­ne im März 1905 stirbt, hin­ter­lässt er ein ge­wal­ti­ges Ge­samt­werk: 54 zu Leb­zei­ten er­schie­ne­ne Ro­ma­ne, wei­te­re elf Ma­nu­skrip­te be­ar­bei­tet sein Sohn Mi­chel nach dem Tod des Va­ters. Er­gänzt wird Ver­nes Œu­vre durch Er­zäh­lun­gen, Büh­nen­stücke und geo­gra­fi­sche Ver­öf­fent­li­chun­gen.

Ge­liebt und miss­ach­tet

Je­nes zwie­späl­ti­ge Ver­hält­nis, das sich be­reits in der Ab­leh­nung der Aka­de­mie­mit­glie­der äu­ßert, kenn­zeich­net die aka­de­mi­sche Re­zep­ti­on bis heu­te: Ju­les Ver­ne ist eben »nur ein Ju­gend­buch­au­tor«. We­ni­ger be­fan­ge­ne Re­zi­pi­en­ten frei­lich schrei­ben ihm eine ganz an­de­re Be­deu­tung zu, die dem Vi­sio­när und lei­den­schaft­li­chen Er­zäh­ler bes­ser ge­recht wird.

Wenn­gleich der al­tern­de Li­te­rat zum Ende sei­nes Schaf­fens durch­aus nicht mehr in gläu­bi­ger Tech­nik­be­geis­te­rung auf­geht, blei­ben uns doch ge­nau jene Wer­ke in lie­be­vol­ler Erin­ne­rung, in de­nen tech­ni­sche und mensch­li­che Groß­ta­ten die Hand­lung be­stim­men: »Rei­se um die Erde in 80 Ta­gen« oder »Zwan­zig­tau­send Mei­len un­ter dem Meer« bei­spiels­wei­se. Wer als Kind von Nemo und sei­ner Nau­ti­lus liest, wird un­wei­ger­lich ge­fan­gen von die­sem tech­ni­schen Wun­der­werk und des­sen Ka­pi­tän. Ver­nes Ro­ma­ne ge­hö­ren zu je­nen Ju­gend­bü­chern, die man als Er­wach­se­ner ger­ne noch­mals zur Hand nimmt – und man staunt er­neut, er­in­nert sich, lässt sich wie­der­um ein­fan­gen und fragt sich, warum man ei­gent­lich so sel­ten Ver­ne liest…

So wie der Au­tor sich selbst durch Rei­sen und Wis­sen­schaft in­spi­rie­ren lässt, die­nen sei­ne Wer­ke seit je­her der In­spi­ra­ti­on sei­ner Le­ser­schaft. Wie prä­sent die­ser ex­zel­len­te Un­ter­hal­ter in den Köp­fen sei­ner Le­ser bleibt, be­le­gen Be­nen­nun­gen in See- und Raum­fahrt: Das ers­te Atom-U-Boot der Ge­schich­te ist die ame­ri­ka­ni­sche USS Nau­ti­lus. Ein Raum­trans­por­ter der Eu­ro­päi­schen Raum­fahr­t­agen­tur heißt »Ju­les Ver­ne«, ein As­te­ro­id und ein Mond­kra­ter tra­gen eben­falls den Na­men des Schrift­stel­lers. Die »Ju­les Ver­ne Tro­phy« wird seit 1990 für die schnells­te Wel­t­um­se­ge­lung ver­lie­hen, was dem be­geis­ter­ten Jacht­be­sit­zer Ver­ne ge­wiss ge­fal­len hät­te.

Der kom­mer­zi­el­le Li­te­ra­tur­be­trieb so­wie die Film­wirt­schaft be­trach­ten den fran­zö­si­schen Va­ter der Science-Fic­ti­on-Li­te­ra­tur eben­falls mit Wohl­wol­len: Un­zäh­li­ge Neu­auf­la­gen der Ro­man­klas­si­ker, Hör­bü­cher und Ver­fil­mun­gen der ra­san­ten, stets mit­rei­ßen­den Hand­lun­gen spre­chen Bän­de. Mitt­ler­wei­le gel­ten die äl­tes­ten Ver­fil­mun­gen selbst als kul­tu­rel­le Mei­len­stei­ne, die kei­nes­wegs nur ein jun­ges Pub­li­kum er­freu­en.

Ju­les Ver­nes Be­deu­tung für die Li­te­ra­tur

Der Ein­fluss Ver­nes auf nach­fol­gen­de Science-Fic­ti­on-Au­to­ren ist gar nicht hoch ge­nug ein­zu­schät­zen: Aus heu­ti­ger Sicht ist er ei­ner der Vor­rei­ter der uto­pi­schen Li­te­ra­tur Eu­ro­pas, der noch vor H. G. Wells (»Krieg der Wel­ten«) und Kurd Laß­witz (»Auf zwei Pla­ne­ten«) das neue Gen­re be­grün­det. Sein­er­zeit gibt es die­sen Be­griff noch nicht, wes­halb Het­zel die Ro­ma­ne sei­nes Er­folgs­schrift­stel­lers als »Au­ßer­ge­wöhn­li­che Rei­sen« ver­mark­tet

Der Fran­zo­se sieht, an­ders als Wells und ähn­lich wie Laß­witz, im tech­ni­schen Fort­schritt das künf­ti­ge Wohl der Mensch­heit be­grün­det. Trotz­dem ist Ju­les Ver­ne vor al­lem Er­zäh­ler: Er will we­der war­nen wie Wells noch be­leh­ren wie Laß­witz, son­dern in ers­ter Li­nie un­ter­hal­ten. Im Ver­gleich zum sprö­den Rea­lis­mus ei­nes Wells wir­ken sei­ne Ro­ma­ne für mo­der­ne Le­ser aus­ufernd, viel­leicht so­gar ge­schwät­zig. Den­noch sind sie leich­ter zu­gäng­lich als das sti­lis­tisch ähn­li­che Schaf­fen des Deut­schen Laß­witz, weil sie Uto­pie und Tech­nik­be­geis­te­rung nicht zum Zweck ih­res In­halts ma­chen, son­dern le­dig­lich zu des­sen Trä­ger: Schließ­lich ist es ein­fach auf­re­gend, in ei­nem Bal­lon eine Welt­rei­se an­zu­tre­ten oder Ka­pi­tän Nemo in sein ge­hei­mes Reich zu fol­gen.

Im Zeichen der deutsch-französischen Feindschaft.

Wie so vie­le Ge­schich­ten des aus­ge­hen­den 19. Jahr­hun­derts, die in Eu­ro­pa spie­len, zeigt auch »Die fünf­hun­dert Mil­lio­nen der Be­gum« Res­sen­ti­ments auf, die zwi­schen den »großen Na­tio­nen« Eu­ro­pas herrsch­ten.

Die­ser vom Na­tio­na­lis­mus ge­schür­te Hass war lei­der weit ver­brei­tet. Je nach po­li­ti­scher Groß­wet­ter­la­ge wech­sel­ten die Koali­tio­nen, Fron­ten und An­sich­ten über Freund und Feind mun­ter hin und her.

Nur all­zu ger­ne wur­den dann die­se Vor­ur­tei­le in Über­set­zun­gen ent­schärft. Gera­de deut­sche Ver­le­ger zeig­ten sich un­ge­hemmt dar­in, fran­zö­si­sche oder bri­ti­sche Wer­ke ih­rer an­ti­deut­schen Töne zu be­rau­ben.

Wo der Preu­ße zu­nächst noch im Zack-Zack und ohne je­den Hu­mor die Län­der der Welt un­ter­jo­chen will (Ori­gi­nal), will er dann doch nur un­ter­ent­wi­ckel­te Völ­ker durch sanf­tes »Über­re­den« zu ih­rem Glück, sprich: Zi­vi­li­sa­ti­on, ver­hel­fen (Über­set­zung).

Al­lein für die­ses Werk habe ich drei ver­schie­de­ne Be­ar­bei­tun­gen der ers­ten, an­ony­men Über­set­zung be­ar­bei­tet. Und ich war in der Lage, nur an den be­las­se­nen Pas­sa­gen das Ver­öf­fent­li­chungs­da­tum zu erah­nen. Herrsch­te bei Ver­öf­fent­li­chun­gen vor­19 45 noch ein Be­dürf­nis nach Ent­schär­fung an­ti­deut­scher Pas­sa­gen, so ziel­te die Sche­re im Kopf der Ver­le­ger be­son­ders nach 1945 auf den Mi­li­tär­jar­gon im All­ge­mein, dann wur­den aus Be­feh­len und Füh­rer schon mal An­wei­sun­gen und Vor­ge­setz­te.

Über sol­che Stel­len und – wenn nö­tig – über das fran­zö­si­sche Ori­gi­nal in­for­mie­re ich in Fuß­no­ten. Üb­ri­gens ist Herr Schult­ze auch im Fran­zö­si­schen »Herr« und nicht »Mon­sieur«.

Ihr Jür­gen Schul­ze, Neuss 2018

Die fünfhundert Millionen der Begum

Erstes Kapitel – In dem Mr. Sharp sich bei dem Leser einführt.

»Die­se eng­li­schen Zei­tun­gen leis­ten doch wirk­lich al­les mög­li­che!« sprach der wa­cke­re Dok­tor so für sich hin, wäh­rend er sich’s in dem großen, le­der­be­zo­ge­nen Lehn­stuh­le be­quem mach­te.

Dok­tor Sar­ra­sin lieb­te den Mo­no­log von je­her als eine Art Zer­streu­ung.

Er war ein Mann von fünf­zig Jah­ren, mit fei­nen Zü­gen, leb­haf­ten, durch die Stahl­bril­le her­vor­blit­zen­den Au­gen und erns­ter, doch lie­bens­wür­di­ger Phy­sio­gno­mie,1 kurz, er ge­hör­te zu den Leu­ten, bei de­ren ers­tem An­blick man sich sagt: Das ist ein bra­ver Mann. Auch in heu­ti­ger frü­her Mor­gen­stun­de zeig­te sich der Dok­tor, ohne dass sei­ne Er­schei­nung et­was Ge­such­tes ver­riet, schon frisch ra­siert und mit blen­dend wei­ßer Kra­wat­te.

In sei­nem Ho­tel­zim­mer zu Brighton la­gen da und dort die Ti­mes, der Dai­ly Te­le­gra­ph und die Dai­ly News aus­ge­brei­tet. Es schlug eben zehn Uhr, doch hat­te der Dok­tor schon Zeit ge­fun­den, einen Weg in die Stadt zu ma­chen, ein Kran­ken­haus zu be­su­chen und, nach sei­nem Ho­tel zu­rück­ge­kehrt, in den wich­tigs­ten Ta­ges­blät­tern Lon­d­ons den aus­führ­li­chen Be­richt über eine Denk­schrift zu le­sen, die er erst vor­ges­tern dem großen in­ter­na­tio­na­len hy­gie­ni­schen Kon­gres­se vor­ge­legt hat­te und wel­che einen von ihm er­fun­de­nen »Blut­kü­gel­chen-Zäh­ler« be­traf.

Auf ei­nem mit sau­be­rer Ser­vi­et­te über­deck­ten Tee­bret­te stan­den vor ihm ein schwach ge­bra­te­nes Ko­te­lett, eine Tas­se damp­fen­den Tees und meh­re­re de­li­ka­te Röst­schnitt­chen, wel­che die eng­li­schen Kö­chin­nen so vor­züg­lich zu­be­rei­ten, weil ih­nen die Bä­cker dazu eine be­son­de­re Sor­te klei­ner Bro­te lie­fern.

»Ja, ja«, wie­der­hol­te er, »die Zei­tun­gen des Ve­rei­nig­ten Kö­nig­reichs leis­ten wirk­lich al­les mög­li­che, das ist nicht zu leug­nen! … Der Speech des Vi­ze­prä­si­den­ten, die Ant­wort des Dok­tor Ci­go­gna aus Nea­pel, die Dar­le­gung aus mei­ner Denk­schrift – al­les ist im Flu­ge, auf fri­scher Tat er­fasst, fo­to­gra­fiert möcht’ ich’s nen­nen.«

»Dok­tor Sar­ra­sin aus Douai hat das Wort. Das eh­ren­wer­te Mit­glied des Kon­gres­ses spricht fran­zö­sisch. ›Die ver­ehr­ten Zu­hö­rer wer­den ent­schul­di­gen‹, be­ginnt er, ›dass ich mir die­se Frei­heit neh­me; Sie ver­ste­hen aber je­den­falls alle mei­ne Mut­ter­spra­che bes­ser, als ich mich in der ih­ri­gen aus­zu­drücken ver­möch­te‹ …«

»Fünf Spal­ten klei­ner Schrift! … Ich weiß nicht, ob der Be­richt der Ti­mes den Vor­zug ver­dient oder der im Te­le­gra­ph … zu­ver­läs­si­ger und ein­ge­hen­der kann man eben nicht re­fe­rie­ren! …«

Hier stand Dok­tor Sar­ra­sin eben in sei­nem Ge­dan­ken­gan­ge, als der Ze­re­mo­ni­en­meis­ter in höchstei­ge­ner Per­son – einen ge­rin­ge­ren Ti­tel wür­de man der un­ta­del­haft schwarz­ge­klei­de­ten Per­sön­lich­keit kaum bei­zu­le­gen wa­gen – an die Tür klopf­te und an­frag­te, ob »Mon­siou« zu spre­chen sei …

»Mon­siou« ist eine be­lieb­te All­ge­mein­be­zeich­nung bei den Eng­län­dern, wel­che sie in­stink­tiv al­len Fran­zo­sen ge­gen­über ge­brau­chen, so wie sie ge­gen alle Re­geln des An­stan­des zu ver­sto­ßen fürch­ten wür­den, wenn sie einen Ita­lie­ner nicht mit »Si­gnor« und einen Deut­schen nicht mit »Herr« an­re­de­ten. Ge­wiss hat die­se durch­gän­gig ein­ge­bür­ger­te Ge­wohn­heit min­des­tens den Vor­teil, die Na­tio­na­li­tät der Leu­te gleich von vorn­her­ein kennt­lich zu ma­chen.

Dok­tor Sar­ra­sin hat­te die ihm über­reich­te Kar­te in der Hand. Er­staun­te er über­haupt schon dar­über, in ei­nem Lan­de, wo er kei­nen Men­schen kann­te, Be­such zu er­hal­ten, so war das noch mehr der Fall, als er auf dem klei­nen, läng­lich vier­e­cki­gen Kärt­chen las:

Mr. Sharp, Sol­li­ci­tor 93 Southamp­ton row, Lon­don.

Er wuss­te, dass ein »Sol­li­ci­tor« der ein­hei­mi­sche eng­li­sche An­walt war, oder viel­mehr ein Ba­stard-Rechts­be­flis­se­ner, ein Zwi­schen­ding zwi­schen Kanz­lei­an­walt und Ad­vo­kat, etwa der frü­he­re Pro­ku­ra­tor.

»Was, zum Teu­fel, kann ich mit die­sem Mr. Sharp zu schaf­fen ha­ben«, frag­te er sich selbst. »Soll­te ich mich un­be­wus­s­ter­wei­se ver­gan­gen ha­ben? … Sind Sie si­cher, dass die­se Kar­te mir gilt?«

»O yes, Mon­siou.«

»Gut, las­sen Sie den Herrn ein­tre­ten.«

Der Ze­re­mo­ni­en­meis­ter öff­ne­te die Tür ei­nem noch jun­gen Man­ne, den der Dok­tor auf den ers­ten Blick als An­ge­hö­ri­gen der großen Fa­mi­lie der »To­ten­köp­fe« er­kann­te. Sei­ne dün­nen oder viel­mehr ver­trock­ne­ten Lip­pen, die lan­gen wei­ßen Zäh­ne, die un­ter der per­ga­ment­ar­tig durch­schim­mern­den Haut fast of­fen lie­gen­den Schlä­fen­gru­ben, der mu­mi­en­haf­te Teint und die klei­nen Au­gen mit ih­rem wahr­haft ste­chen­den Bli­cke ver­setz­ten ihn un­zwei­fel­haft in die Klas­se je­ner, uns im­mer et­was ab­sto­ßen­den Er­schei­nun­gen. Sein Ske­lett ver­barg sich von den Fer­sen bis zum Hin­ter­haup­te un­ter ei­nem groß­ka­rier­ten Über­rock, und in der Hand trug er eine Rei­se­ta­sche von la­ckier­tem Le­der.

Die­se Per­son trat ins Zim­mer, grüß­te flüch­tig, leg­te Rei­se­ta­sche und Hut ab, setz­te sich, ohne eine Auf­for­de­rung dazu ab­zu­war­ten, und sag­te:

»Wil­liam Hen­ry Sharp ju­ni­or, As­so­cié des Hau­ses Bil­lows, Green, Sharp & Comp … Ich habe doch die Ehre, Herrn Dok­tor Sar­ra­sin …«

»Ge­wiss, mein Herr.«

»François Sar­ra­sin?«

»Das ist mein Name.«

»Aus Douai?«

»Mein ge­wöhn­li­cher Auf­ent­halts­ort.«

»Ihr Va­ter hieß Isi­do­re Sar­ra­sin?«

»Ganz rich­tig.«

»Wir ge­hen also da­von aus, dass er Isi­do­re Sar­ra­sin hieß.«

Mr. Sharp zog ein No­tiz­buch aus der Ta­sche und fuhr fort:

»Isi­do­re Sar­ra­sin, ge­stor­ben zu Pa­ris im Jah­re 1857, 6. Ar­ron­dis­se­ment, Rue Ta­ran­ne Nr. 54, Ho­tel des Eco­les, jetzt ab­ge­bro­chen.«

Doktor Sarrasin

»Al­les in Ord­nung«, be­stä­tig­te der Dok­tor mit wach­sen­dem Er­stau­nen. »Wür­den Sie mir nun er­klä­ren …«

»Sei­ne Mut­ter hieß Ju­lie Lan­ge­vol«, fuhr Mr. Sharp un­be­irrt fort. »Sie stamm­te aus Bar-le-Duc,2 war eine Toch­ter von Be­ne­dict Lan­ge­vol, wohn­haft in der Sack­gas­se Lo­ri­ol, ge­stor­ben 1812, wie aus den amt­li­chen Re­gis­tern ge­nann­ter Stadt her­vor­geht – die­se Re­gis­ter sind eine höchst schätz­ba­re Ein­rich­tung, mein Herr, eine un­ge­mein un­schätz­ba­re – Hm! … Hm! … und Schwes­ter von Jean Jac­ques Lan­ge­vol, Tam­bour­ma­jor des 36. leich­ten …«

»Ich ge­ste­he Ih­nen«, fiel hier der über die­se um­fas­sen­de Kennt­nis sei­ner Ge­nea­lo­gie ver­wun­der­te Dok­tor ein, »dass Sie über ver­schie­de­ne Punk­te bes­ser un­ter­rich­tet schei­nen, als ich es selbst bin. Wirk­lich lau­te­te mei­ner Groß­mut­ter Fa­mi­li­enna­me Lan­ge­vol, das ist aber auch al­les, was ich von ihr weiß.«

»Sie ver­ließ Bar-le-Duc im Jah­re 1807 mit Ihrem Groß­va­ter Jean Sar­ra­sin, den sie schon 1799 ge­hei­ra­tet hat­te. Bei­de wand­ten sich zur Eta­blie­rung ei­nes Klemp­ner­ge­schäf­tes nach Me­lun und ver­blie­ben dort bis 1811, in wel­chem Jah­re Ju­lie Lan­ge­vol, ver­ehe­lich­te Sar­ra­sin, mit Tod ab­ging. Ih­rer Ehe ent­stamm­te nur ein ein­zi­ges Kind, Isi­do­re Sar­ra­sin, Ihr Va­ter, mein Herr. Von hier ab weiß man nun nichts Wei­te­res, bis auf den To­des­tag des letz­te­ren, der in Pa­ris wie­der auf­tauch­te …«

»Den ver­lo­re­nen Fa­den bin ich aber im­stan­de, wie­der an­zu­knüp­fen«, sag­te der Dok­tor, den die­se wirk­lich ma­the­ma­ti­sche Ge­nau­ig­keit wi­der Wil­len mehr und mehr fes­sel­te. »Mein Groß­va­ter eta­blier­te sich spä­ter in Pa­ris, um sich die Er­zie­hung sei­nes Soh­nes, der me­di­zi­ni­schen Stu­di­en ob­lag, zu er­leich­tern. Er starb im Jah­re 1832 in Palai­seau bei Ver­sail­les, wo­selbst mein Va­ter prak­ti­zier­te und ich selbst 1822 ge­bo­ren wur­de.«

»Sie sind mein Mann«, er­klär­te Mr. Sharp. »Kei­ne Brü­der oder Schwes­tern? …«

»Nein. Ich war und blieb der ein­zi­ge Sohn, und mei­ne Mut­ter starb schon, als ich erst zwei Jah­re zähl­te. Doch wer­den Sie mir end­lich mit­tei­len, mein Herr, wozu das …«

Mr. Sharp er­hob sich.

»Sir Bryah Jo­wa­hir Mo­thoora­nath«, sag­te er, die­se Wor­te mit all dem Re­spekt aus­spre­chend, den je­der Eng­län­der ge­gen­über vor­neh­men Ti­teln be­ob­ach­tet, »ich schät­ze mich glück­lich, Sie ge­fun­den zu ha­ben und als der ers­te Ih­nen mei­ne Hul­di­gung dar­zu­brin­gen.«

»Der Mann ist von Sin­nen«, dach­te der Dok­tor, »kommt ja bei To­ten­köp­fen häu­fi­ger vor.«

Der Sol­li­ci­tor er­riet sei­nen Ge­dan­ken.

»Hal­ten Sie mich um al­les in der Welt nicht etwa für geis­tes­krank«, sag­te er sehr ru­hig. »Zur Stun­de sind Sie der ein­zi­ge be­kann­te Erbe des Baro­net-Ti­tels, wel­cher auf Vor­schlag des Ge­ne­ral-Gou­ver­neurs einst Jean Jac­ques Lan­ge­vol ver­lie­hen wur­de, der 1819 in den eng­li­schen Un­ter­ta­nen­ver­band ein­trat und spä­ter Wit­wer und Nutz­nie­ßer der Be­sit­zun­gen der Be­gum (Ehren­ti­tel der in­di­schen Fürs­tin­nen) Go­kool war, wel­che 1841 starb und nur einen Sohn hin­ter­ließ, der als Idi­ot ohne Nach­kom­men und ohne Te­sta­ment im Jah­re 1869 ver­schied. Die Nach­las­sen­schaft be­trug vor drei­ßig Jah­ren schon ge­gen fünf Mil­lio­nen Pfund Ster­ling. Sie ward un­ter vor­mund­schaft­li­ches Se­ques­ter ge­stellt und wäh­rend der Le­bens­zeit des schwach­sin­ni­gen Soh­nes Jean Jac­ques Lan­ge­vols fast durch die vol­len Zin­se­ner­träg­nis­se ver­mehrt. Im Jah­re 1870 be­rech­ne­te sich jene Ver­las­sen­schaft auf rund ein­und­zwan­zig Mil­lio­nen Pfund Ster­ling oder fünf­hun­dert­fünf­und­zwan­zig Mil­lio­nen Fran­cs. In Aus­füh­rung ei­ner Ent­schei­dung des Ge­rich­tes in Agra, wel­che die hö­he­re In­stanz in Del­hi und zu­letzt auch der Ge­hei­me Rat des Rei­ches be­stä­tig­te, wur­den die be­weg­li­chen und un­be­weg­li­chen Gü­ter des Er­b­las­sers ver­äu­ßert, der Er­trag des Ver­kau­fes ein­ge­zo­gen und das gan­ze bei der Bank von Eng­land de­po­niert. Jetzt lie­gen da­selbst fünf­hun­dert­sie­ben­und­zwan­zig Mil­lio­nen Fran­cs, die Sie durch eine ein­fa­che An­wei­sung er­he­ben kön­nen, so­bald Sie dem Kanz­ler­am­te die Be­wei­se Ih­rer Ab­stam­mung bei­ge­bracht ha­ben und auf wel­che Sum­me ich mich schon hier­mit er­bie­te, Ih­nen bei der Bank­fir­ma Trol­lop, Smith and Kom­pa­nie einen Vor­schuss in je­der be­lie­bi­gen Höhe …«

Dok­tor Sar­ra­sin war ver­stei­nert. Eine kur­ze Zeit lang ver­moch­te er kei­ne Wor­te zu fin­den. Dann er­wach­te doch der Geist des Zwei­fels wie­der in sei­nem In­nern, und da er die­se Ver­wirk­li­chung ei­nes Traum­bil­des aus »Tau­send­und­ei­ner Nacht« nicht so ohne wei­te­res an­er­ken­nen woll­te, sag­te er:

»Ja, mein Herr, wel­che Be­wei­se kön­nen Sie mir bei­brin­gen für die Wahr­heit die­ser gan­zen Ge­schich­te, und wie sind Sie auf mei­ne Spur ge­kom­men?«

»Die Be­weis­stücke be­fin­den sich hier«, er­wi­der­te Mr. Sharp, auf die Glanz­le­der­ta­sche klop­fend. »Dass ich Sie jetzt auf­fand, ging sehr ein­fach zu. Ei­gent­lich su­che ich Sie schon seit fünf Jah­ren. Die Aus­kund­schaf­tung der Be­rech­tig­ten, der next of kin,3 wie das eng­li­sche Recht sich aus­drückt, für die vie­len un­be­an­spruch­ten Nach­las­sen­schaf­ten, wel­che die Ge­rich­te in den bri­ti­schen Be­sit­zun­gen in Ver­wal­tung neh­men, ist eine Spe­zia­li­tät un­se­res Hau­ses. Gera­de die Erb­schaft der Be­gum Go­kool hält uns nun schon seit ei­nem gan­zen Lu­strum4 in Atem. Wir streck­ten un­se­re Füh­ler nach al­len Sei­ten hin aus und stell­ten Nach­for­schun­gen über mehr als hun­dert Fa­mi­li­en Sar­ra­sin an, ohne dar­un­ter eine zu fin­den, wel­che von je­nem Isi­do­re her­stamm­te. Ich be­ru­hig­te mich schon mit der Über­zeu­gung, dass es einen Sar­ra­sin in Frank­reich nicht mehr gäbe, als ich ges­tern mor­gens bei der Durch­le­sung der Dai­ly News den Be­richt von dem hie­si­gen hy­gie­ni­schen Kon­gres­se und dar­in den Na­men ei­nes Arz­tes fand, den ich noch nicht kann­te. So­fort nahm ich mei­ne ei­ge­nen No­ti­zen vor, ver­glich sie mit den Tau­sen­den von Schrift­stücken, die wir be­züg­lich die­ser An­ge­le­gen­heit auf­ge­sam­melt ha­ben, und er­kann­te dar­aus zur größ­ten Ver­wun­de­rung, dass die Stadt Douai un­se­rer Auf­merk­sam­keit ent­gan­gen war. In dem bei­na­he si­che­ren Be­wusst­sein, hier­mit die rich­ti­ge Spur ent­deckt zu ha­ben, be­nütz­te ich den ers­ten Zug nach Brighton, sah Sie selbst beim Ver­las­sen des Kon­gres­ses und – mei­ne Ah­nung war er­füllt. Sie sind das le­ben­di­ge Eben­bild Ihres Groß­va­ters Lan­ge­vol, wie ihn eine in un­se­rem Be­sitz be­find­li­che, nach ei­nem Öl­bil­de des in­di­schen Ma­lers Sa­ra­no­ni an­ge­fer­tig­te Fo­to­gra­fie dar­stellt.«

Mr. Sharp nahm eine Fo­to­gra­fie aus ei­nem No­tiz­bu­che und übergab sie Dok­tor Sar­ra­sin. Das Bild zeig­te einen hoch­ge­wach­se­nen Mann mit präch­ti­gem Bar­te, ei­nem Tur­ban mit flim­mern­der Ai­gret­te und ei­nem grün ver­bräm­ten Bro­ka­tro­cke in der be­lieb­ten Hal­tung der his­to­ri­schen Por­träts ei­nes kom­man­die­ren­den Ge­ne­rals, der den Be­fehl zu ei­nem An­grif­fe aus­fer­tigt, wäh­rend sein Auge auf das des Be­schau­ers ge­rich­tet ist. Den Hin­ter­grund bil­de­te die An­deu­tung des Ge­wühls ei­ner Schlacht und ei­ner Rei­te­r­at­ta­cke.

»Die­se Schrift­stücke wer­den Ih­nen mehr sa­gen als ich«, nahm Mr. Sharp wie­der das Wort. »Ich las­se die­sel­ben jetzt in Ihren Hän­den und kom­me mit Ih­rer Er­laub­nis nach zwei Stun­den wie­der, Ihre Auf­trä­ge ent­ge­gen­zu­neh­men.«

Mit die­sen Wor­ten ent­nahm Mr. Sharp sei­ner Rei­se­ta­sche sechs bis sie­ben teils ge­druck­te, teils ge­schrie­be­ne Ak­ten­pa­ke­te, leg­te die­sel­ben auf den Tisch nie­der und nä­her­te sich rück­wärts schrei­tend lang­sam der Türe.

»Sir Bryah Jo­wa­hir Mo­thoora­nath, ich habe die Ehre, mich Ih­nen zu emp­feh­len.«

Halb ver­trau­end und halb zwei­felnd er­griff der Dok­tor die Ak­ten­hef­te und be­gann, sie zu durch­blät­tern.

Schon eine flüch­ti­ge Prü­fung ge­nüg­te, ihn zu über­zeu­gen, dass die Sa­che in Ord­nung und je­der Zwei­fel un­be­grün­det sei, ge­gen­über so voll­wich­ti­gen Do­ku­men­ten wie dem fol­gen­den:

»Be­richt an die hoch­ehr­wür­di­gen Lords des Ge­hei­men Ra­tes der Kö­ni­gin, de­po­niert am 5. Ja­nu­ar 1870, be­tref­fend die un­be­an­spruch­te Nach­las­sen­schaft der Be­gum Go­kool von Rag­gi­nahra, Pro­vinz Ben­ga­len.

Tat­be­stand. – Es han­delt sich um das Ei­gen­tums­recht meh­re­rer Me­hals und 43.000 Ben­ga­les Acker­lan­des, ver­schie­de­ner Ge­bäu­de, Pa­läs­te, Wirt­schafts­hö­fe, Mo­bi­li­en, Ka­pi­ta­li­en, Waf­fen usw. usw., wel­che aus der Nach­las­sen­schaft der Be­gum Go­kool von Rag­gi­nahra her­rüh­ren. Aus mehr­fa­chen, dem Zi­vil­ge­richt in Agra und dem Ap­pela­ti­ons­ge­richt in Del­hi un­ter­brei­te­ten Dar­le­gun­gen geht her­vor, dass die Be­gum Go­kool, Wit­we des Ra­jah Luck­mis­sur und Er­bin höchst um­fang­rei­cher Be­sit­zun­gen, im Jah­re 1819 einen Aus­län­der, einen Fran­zo­sen von Ge­burt, na­mens Jean Jac­ques Lan­ge­vol ehe­lich­te. Die­ser Aus­län­der diente mit dem Gra­de ei­nes Un­ter­of­fi­ziers (Tam­bour­ma­jors) bis 1815 im 36. In­fan­te­rie-Re­gi­ment der fran­zö­si­schen Ar­mee und schiff­te sich, als die so­ge­nann­te Loi­re-Ar­mee da­mals auf­ge­löst wur­de, in Nan­tes als Fak­tor ei­nes Kauf­fah­rers ein. Er lang­te in Kal­kut­ta an, be­gab sich in das In­ne­re des Lan­des und er­hielt bald die Stel­le ei­nes In­struk­ti­ons-Haupt­man­nes der klei­nen Ar­mee von Ein­ge­bo­re­nen, wel­che der Ra­jah Luck­mis­sur zu hal­ten be­rech­tigt war. In kur­z­er Zeit avan­cier­te er zum Ober­be­fehls­ha­ber der­sel­ben und er­hielt, bald nach dem Tode des Ra­jah,5 auch die Hand von des­sen Wit­we. Aus Rück­sich­ten der Ko­lo­ni­al­po­li­tik und in An­be­tracht der wich­ti­gen Diens­te, wel­che Jean Jac­ques Lan­ge­vol den Eu­ro­pä­ern in Agra un­ter miss­li­chen Ver­hält­nis­sen er­wie­sen, sah sich der Ge­ne­ral-Gou­ver­neur der Prä­si­dent­schaft Ben­ga­len ver­an­lasst, für den Ge­mahl der Be­gum den Baro­nets­ti­tel zu er­bit­ten, der ihm auch zu­ge­stan­den wur­de. Das Ge­biet von Bryah Jo­wa­hir Mo­thoora­nath wur­de in­fol­ge­des­sen zum Le­hen er­ho­ben. Die Be­gum verstarb im Jah­re 1839 und hin­ter­ließ die Nutz­nie­ßung al­ler ih­rer Be­sit­zun­gen an Lan­ge­vol, der ihr zwei Jah­re spä­ter ins Grab nach­folg­te. Ih­rer Ehe ent­spross nur ein ein­zi­ger, von Kind­heit auf schwach­sin­ni­ger Sohn, der so­fort un­ter ob­rig­keit­li­che Vor­mund­schaft ge­stellt wer­den muss­te. Bis zu sei­nem im Jah­re 1869 er­folg­ten Tode wur­den des­sen Gü­ter usw. ge­treu­lich ad­mi­nis­triert. Jetzt exis­tie­ren für die un­ge­heu­re Nach­las­sen­schaft kei­ne be­kann­ten Er­ben. Da das Ge­richt von Agra und der Ap­pel­la­ti­ons­hof in Del­hi auf An­su­chen der Lo­kal­be­hör­den im Na­men des Staa­tes die Li­ci­ta­ti­on die­ses Nach­las­ses ver­fügt ha­ben, ge­ben wir uns die Ehre, die Lords des Ge­hei­men Ra­tes um ihre Be­stä­ti­gung der be­ab­sich­tig­ten Maß­nah­men zu er­su­chen usw. usw.«

Fol­gen die Un­ter­schrif­ten.

Die be­glau­big­ten Ko­pi­en der Ge­richts­be­schei­de aus Agra und Del­hi, die Ver­kaufs­ak­ten, Du­pli­ka­te der De­po­si­ten­schei­ne der Bank von Eng­land, ein Be­richt über die in Frank­reich ge­ta­nen Schrit­te zur Auf­fin­dung der Er­ben Lan­ge­vols, nebst ei­ner großen Men­ge auf die­sel­be Sa­che be­züg­li­cher Do­ku­men­te ver­scheuch­ten auch Dok­tor Sar­ras­ins letz­te Zwei­fel. Er war nach Ge­setz und Recht der next of kin und Erbe der Be­gum. Zwi­schen ihm und den in den Kel­lern der Bank von Eng­land de­po­nier­ten 527 Mil­lio­nen lag nur noch die Er­fül­lung ge­wis­ser For­ma­li­tä­ten, die ein­fa­che Her­bei­schaf­fung der be­glau­big­ten Ge­burts- und To­ten­schei­ne.

Ein so un­er­hör­ter Glücks­fall bringt ja­wohl auch das ru­higs­te Ge­müt et­was in Auf­re­gung, und auch der gute Dok­tor konn­te sich der­sel­ben, ge­gen­über die­ser un­er­war­te­ten Ge­wiss­heit, nicht völ­lig er­weh­ren. Je­den­falls hielt sei­ne Er­re­gung je­doch nicht lan­ge an und mach­te sich nur in ei­ner kur­z­en Pro­me­na­de durch das Zim­mer Luft. Dann ge­wann er wie­der die voll­kom­me­ne Herr­schaft über sich, ta­del­te je­nes vor­über­ge­hen­de Fie­ber als eine sei­ner un­wür­di­ge Schwä­che, warf sich in einen Lehn­stuhl und ver­sank eine Zeit lang in tie­fes Nach­sin­nen.

Hier­auf schritt er noch­mals im Zim­mer auf und ab. Jetzt leuch­te­ten sei­ne Au­gen, aber in rei­ne­rem Feu­er, man sah, dass sich aus sei­nem In­nern ein großer edel­mü­ti­ger Ge­dan­ke em­por­rang. Er er­kann­te ihn, über­leg­te, pfleg­te ihn mit Lie­be und ad­op­tier­te ihn zu­letzt.

Eben klopf­te es an der Tür. Mr. Sharp kehr­te zu­rück.

»Ich bit­te Sie um Ver­zei­hung we­gen mei­nes Zwei­fels«, re­de­te ihn der Dok­tor ver­trau­lich an. »Jetzt bin ich über­zeugt und dan­ke Ih­nen vor­läu­fig tau­send­mal für Ihre ge­hab­te Mühe.«

»Bit­te, bit­te … ein ein­fa­ches Ge­schäft … mein Me­tier …«, ant­wor­te­te Mr. Sharp. »Darf ich hof­fen, dass mir Sir Bryah sein wer­tes Ver­trau­en zu­wen­den wird?«

»Das ver­steht sich von selbst. Ich lege die gan­ze Sa­che in Ihre Hän­de … nur dar­um bit­te ich: Ver­scho­nen Sie mich mit je­nem lä­cher­li­chen Ti­tel …«

Lä­cher­lich! Ein Ti­tel im Wer­te von ein­und­zwan­zig Mil­lio­nen Pfund Ster­ling! sag­ten etwa die Ge­sichts­zü­ge des Mr. Sharp, der aber viel zu sehr Hof­mann war, um nicht so­fort nach­zu­ge­ben.

»Wie es Ih­nen be­liebt, Sie ha­ben zu be­feh­len«, ant­wor­te­te er mit ei­ner Ver­beu­gung. »Ich wer­de also wie­der nach Lon­don zu­rück­fah­ren und er­war­te Ihre wei­te­re Ent­schlie­ßung.«

»Darf ich die­se Ak­ten­stücke be­hal­ten?« frag­te der Dok­tor.

»Ge­wiss, wir be­sit­zen da­von Du­pli­ka­te.«

Als Dok­tor Sar­ra­sin al­lein war, be­gab er sich nach dem Schreib­ti­sche, nahm ein Stück Brief­pa­pier und schrieb wie folgt:

»Brighton, am 28. Ok­to­ber 1871.

Mein lie­ber Sohn! Es ist uns plötz­lich ein enor­mes, un­ge­heu­res, über­großes Ver­mö­gen zu­ge­fal­len! Hal­te mich nicht für geis­tig ge­stört, son­dern lies zu­nächst die ge­druck­ten Ak­ten­stücke, wel­che ich die­sem Brie­fe bei­le­ge. Du wirst dar­aus er­se­hen, dass ich Erbe des Ti­tels ei­nes eng­li­schen oder viel­mehr in­di­schen Baro­nets und ei­nes, jetzt bei der Bank von Eng­land de­po­nier­ten Ka­pi­tals von mehr als ei­ner hal­b­en Mil­li­ar­de Fran­cs bin. Ich weiß schon im vor­aus, mein lie­ber Oc­ta­ve, mit wel­chen Emp­fin­dun­gen Du die­se un­er­war­te­te Nach­richt auf­nimmst. Du wirst, gleich mir, ein­se­hen, dass sol­che Schät­ze uns ganz an­de­re Pf­lich­ten auf­er­le­gen, und die Ge­fah­ren be­grei­fen, die sie uns we­gen ih­rer Ver­wen­dung be­rei­ten kön­nen. Kaum eine Stun­de mit dem Sach­ver­halt be­kannt, er­stickt mir doch die Sor­ge um eine der­ar­ti­ge Verant­wort­lich­keit schon halb die Freu­de, wel­che mir der­sel­be zu­erst um Dei­net­wil­len be­rei­tet hat­te. Vi­el­leicht wirkt die­ser Glücks­wech­sel gar un­güns­tig auf un­ser spä­te­res Schick­sal ein! … Als be­schei­de­ne Pio­nie­re der Wis­sen­schaft fühl­ten wir uns in der Ver­bor­gen­heit glück­lich. Wird das so blei­ben? Nein, viel­leicht; doch ich will jetzt einen in mir auf­ge­stie­ge­nen Ge­dan­ken noch un­ter­drücken – wenn je­nes uns zu­ge­fal­le­ne Ver­mö­gen zu ei­nem neu­en mäch­ti­gen, wis­sen­schaft­li­chen Hilfs­mit­tel, zu ei­nem frucht­brin­gen­den Werk­zeug der Zi­vi­li­sa­ti­on wür­de … Doch da­von spre­chen wir spä­ter. Schreib’ mir und sag’ mir schnell, wel­chen Ein­druck die­se hoch­wich­ti­ge Neu­ig­keit auf Dich ge­macht, und sor­ge, dass auch Dei­ne Mut­ter da­von er­fährt. Ich hof­fe, dass sie als ver­stän­di­ge Frau die­se Nach­richt mit Ruhe und Ge­las­sen­heit auf­nimmt. Dei­ne Schwes­ter ist noch zu jung, als dass ihr ir­gend et­was Der­ar­ti­ges das Köpf­chen ver­wir­ren könn­te. Frei­lich ist sie schon recht ver­stän­dig; doch auch wenn sie sich alle mög­li­chen Fol­gen der Dir über­mit­tel­ten Nach­richt zu ver­ge­gen­wär­ti­gen ver­möch­te, bin ich doch der Über­zeu­gung, dass sie durch die­sen plötz­li­chen Wech­sel un­se­rer Ver­hält­nis­se am we­nigs­ten be­rührt wür­de. Ei­nen Hän­de­druck un­se­rem lie­ben Mar­cel. Er ist bei kei­nem mei­ner Zu­kunfts­plä­ne ver­ges­sen.

Dein wohl­ge­wo­ge­ner Va­ter Dr. Fr. Sar­ra­sin.«

Nach­dem er die­sen Brief mit den wich­tigs­ten Do­ku­men­ten in ein Ku­vert ge­steckt und die­ses mit der Auf­schrift »Herrn Oc­ta­ve Sar­ra­sin, Stu­die­ren­der an der Zen­tral­schu­le für Küns­te und Ge­wer­ke, 32, Rue du Roi-de-Si­ci­le, Pa­ris« ver­se­hen, nahm der Dok­tor sei­nen Hut, leg­te den Über­rock an und be­gab sich zum Kon­gress. Eine Vier­tel­stun­de spä­ter dach­te der bra­ve Mann nicht im ge­rings­ten mehr an sei­ne Mil­lio­nen.

Die äu­ße­re Er­schei­nung von Le­be­we­sen, ins­be­son­de­re des Men­schen und hier spe­zi­ell die für einen Men­schen cha­rak­te­ris­ti­schen Ge­sichts­zü­ge.  <<<

Klein­stadt im Nord­os­ten Frank­reichs  <<<

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Raja (Sans­krit »Kö­nig«, »Fürst«) ist der Ti­tel von in­di­schen Herr­schern, die weib­li­che Form lau­tet Rani. Ma­ha­ra­ja be­deu­tet Groß­kö­nig.  <<<

Zweites Kapitel – Zwei Stubenburschen

Oc­ta­ve Sar­ra­sin, der Sohn des Dok­tors, ge­hör­te nicht ge­ra­de­zu un­ter die Fau­len­zer. Er war we­der dumm noch ge­scheit, we­der schön noch häss­lich, we­der blond noch braun und über­haupt ein Mus­ter von Mit­tel­mä­ßig­keit nach al­len Sei­ten. Im Kol­leg er­rang er sich ge­wöhn­lich einen zwei­ten Preis und zwei oder drei Ac­ces­sits. Beim Bac­ca­lau­reats-Ex­amen lau­te­te sei­ne Zen­sur leid­lich. Ein­mal bei der É­co­le Cen­tra­le1 ab­ge­wie­sen, wur­de er bei ei­ner zwei­ten Prü­fung mit Num­mer 127 auf­ge­nom­men. Er war ei­ner je­ner un­ent­schie­de­nen Cha­rak­tere, ei­ner der Geis­ter, die sich schon mit ei­ner un­voll­stän­di­gen Si­cher­heit zu­frie­den­ge­ben, die mit dem »Un­ge­fähr« auf ver­trau­tem Fuß ste­hen und durchs Le­ben wan­deln wie ein Mond­strahl. In der Hand des Schick­sals glei­chen die­se Leu­te dem Kork­pfrop­fen auf dem Wel­len­kam­me. Je nach­dem der Wind von Nor­den oder Sü­den weht, wer­den sie nach dem Pole oder dem Äqua­tor hin­ein­ge­trie­ben. Ihre Lauf­bahn ent­schei­det nur der Zu­fall. Hät­te sich Dok­tor Sar­ra­sin nicht selbst ei­ni­gen Täu­schun­gen über den Cha­rak­ter sei­nes Soh­nes hin­ge­ge­ben, so wür­de er wahr­schein­lich ge­zö­gert ha­ben, ihm je­nen Brief zu schrei­ben; ein we­nig vä­ter­li­che Ver­blen­dung ist je­doch auch den bes­ten Köp­fen nach­ge­las­sen.

Darf ich diese Aktenstücke behalten?

Zum Glück ver­fiel Oc­ta­ve gleich im An­fan­ge sei­ner hö­he­ren Aus­bil­dung der Herr­schaft ei­ner ener­gi­schen Na­tur, de­ren et­was ty­ran­ni­scher, aber wohl­tä­ti­ger Ein­fluss sich ihm mit un­wi­der­steh­li­cher Ge­walt auf­dräng­te. Auf dem Ly­ze­um Char­le­ma­gne, wo­hin ihn sein Va­ter zur Been­di­gung der Stu­di­en ge­schickt hat­te, schloss Oc­ta­ve einen in­ni­gen Freund­schafts­bund mit ei­nem sei­ner Ka­me­ra­den, ei­nem El­säs­ser, Mar­cel Bruck­mann, der zwar ein Jahr jün­ger war als er, phy­sisch, geis­tig und mo­ra­lisch aber das ent­schie­dens­te Über­ge­wicht über ihn be­haup­te­te.

Marcel wandte sich wieder seinem Problem zu.

Der schon in sei­nem zwölf­ten Jah­re ver­wais­te Mar­cel Bruck­mann be­saß als Erb­teil eine klei­ne Ren­te, wel­che ge­ra­de hin­reich­te, sei­ne Kol­le­gi­en zu be­zah­len. Ohne Oc­ta­ve, der ihn wäh­rend der Fe­ri­en zu sei­nen El­tern mit­zu­neh­men pfleg­te, hät­te er wohl nie­mals den Fuß au­ßer die Mau­ern des Ly­zeums ge­setzt.

Er­klär­li­cher­wei­se wur­de Dok­tor Sar­ras­ins Fa­mi­lie bald auch die des jun­gen El­säs­sers. Trotz schein­ba­rer Käl­te, doch von tief­emp­find­sa­mer Na­tur, sag­te ihm eine in­ne­re Stim­me, dass er je­nen bra­ven Leu­ten, die ihm Va­ter- und Mut­ter­stel­le ver­tra­ten, sein gan­zes Le­ben zu wid­men habe. Es ging also ganz na­tür­lich zu, dass er Dok­tor Sar­ra­sin, des­sen Gat­tin und de­ren hüb­sches und schon recht ver­stän­di­ges Töch­ter­chen auf­rich­tig ver­eh­ren lern­te, doch gab er al­len sei­ne Er­kennt­lich­keit nicht durch Wor­te, son­dern mehr durch die Tat kund. Er stell­te sich näm­lich die an­ge­neh­me Auf­ga­be, aus Jean­ne, wel­che viel Wiß­be­gier­de zeig­te, ein jun­ges Mäd­chen mit kla­rem Ver­stan­de, mit fes­tem, ur­teils­fä­hi­gem Geis­te her­an­zu­bil­den, und Oc­ta­ve gleich­zei­tig zu ei­nem, sei­nem Va­ter wür­di­gen Sohn zu er­zie­hen. Die Er­rei­chung die­ser Zie­le mach­te ihm der jun­ge Mann al­ler­dings we­ni­ger leicht als das jun­ge Mäd­chen, das für sein Al­ter dem Bru­der of­fen­bar über­le­gen war. Mar­cel hat­te sich aber ein­mal in den Kopf ge­setzt, sei­ne Auf­ga­be nach bei­den Sei­ten hin zu er­fül­len.

Mar­cel Bruck­mann ge­hör­te zu den mann­haf­ten und klu­gen Köp­fen, wel­che El­saß-Loth­rin­gen all­jähr­lich zu ih­rer Er­pro­bung in den Stru­del des Pa­ri­ser Le­bens zu ent­sen­den pfleg­te. Schon als Kind zeich­ne­te er sich eben­so durch die Kraft und Ge­schmei­dig­keit sei­ner Mus­keln, wie durch sei­ne her­vor­ra­gen­den geis­ti­gen An­la­gen aus. Er war in­ner­lich eben­so ganz wil­lens- und tat­kräf­tig, wie äu­ßer­lich ein Hüne von Ge­stalt. Von der Schu­le her be­herrsch­te ihn stets das Be­dürf­nis, sich in al­lem aus­zu­zeich­nen, in der Ar­beit wie beim Spie­le, im Turn­saa­le wie im che­mi­schen La­bo­ra­to­ri­um. Ent­ging ihm ein Preis sei­ner jähr­li­chen Ern­te, so hielt er das Jahr für ver­lo­ren. Mit zwan­zig Jah­ren war er ein Rie­se an Kör­per, vol­ler Le­ben und Tä­tig­keit, eine hoch­an­ge­spann­te or­ga­ni­sche Ma­schi­ne von größ­ter Leis­tungs­fä­hig­keit. Sein in­tel­li­gen­ter Kopf er­reg­te die Auf­merk­sam­keit fei­ne­rer Beo­b­ach­ter. Als zwei­ter in die Zen­tral­schu­le ein­ge­tre­ten, hat­te er be­schlos­sen, sie nur als ers­ter zu ver­las­sen.