Die Gabe - Vladimir Nabokov - E-Book

Die Gabe E-Book

Vladimir Nabokov

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Beschreibung

«Die Gabe» erzählt die Geschichte des jungen Exilrussen Fjodor in Berlin zwischen 1925 und 1928. Es war der letzte Roman, den Nabokov in russischer Sprache schrieb.

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Seitenzahl: 913

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Vladimir Nabokov

Die Gabe

Aus dem Englischen und Russischen übersetzt von Annelore Engel-Braunschmidt, unter Benutzung einer Übersetzung von Ulla H. de Herrera

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

«Die Gabe» erzählt die Geschichte des jungen Exilrussen Fjodor in Berlin zwischen 1925 und 1928. Es war der letzte Roman, den Nabokov in russischer Sprache schrieb.

Über Vladimir Nabokov

Vladimir Nabokov ist einer der wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.

Er entstammte einer großbürgerlichen russischen Familie, die nach der Oktoberrevolution von 1917 emigrierte. Nach Jahren in Cambridge, Berlin und Paris verließ Nabokov 1940 Europa und siedelte in die USA über, wo er an verschiedenen Universitäten arbeitete.

In den USA begann er seine Romane auf Englisch zu verfassen, «Lolita» war Nabokovs Liebeserklärung an die englische Sprache, wie er im Nachwort selber schrieb. Nach einer anfänglich schwierigen Publikationsgeschichte wurde «Lolita» zum Welterfolg, der es Nabokov ermöglichte, sich nur noch dem Schreiben zu widmen.

Nabokov zog in die Schweiz, wo er schrieb, Schmetterlinge fing und seine russischen Romane ins Englische übersetzte.

Er lebte in einem Hotel in Montreux, wo er am 2. Juli 1977 starb.

 

Der Herausgeber, Dieter E. Zimmer, geboren 1934 in Berlin, 1959 bis 1999 Redakteur der Wochenzeitung «Die Zeit», seit 2000 freier Autor. Zahlreiche Veröffentlichungen über Themen der Psychologie, Biologie und Anthropologie, literarische Übersetzungen (u.a. Nabokov, Joyce, Borges).

 

Das Gesamtwerk von Vladimir Nabokov erscheint im Rowohlt Verlag.

Für Véra

Die Eiche ist ein Baum. Die Rose ist eine Blume. Der Hirsch ist ein Tier. Der Spatz ist ein Vogel. Russland ist unser Vaterland. Der Tod ist unvermeidlich.

P. Smirnowskij, Lehrbuch der russischen Grammatik

Kapitel 1

AN EINEM BEWÖLKTEN, gleichwohl hellen Tag, dem 1. April 192-[1] (ein ausländischer Kritiker bemerkte einmal, dass zwar viele Romane – die meisten deutschen zum Beispiel – mit einem Datum beginnen, dass aber nur russische Autoren – mit der unserer Literatur eigenen Aufrichtigkeit – die letzte Ziffer auslassen), hielt gegen vier Uhr nachmittags ein sehr langer und sehr gelber Möbelwagen, der an einen ebenfalls gelben Traktor mit hypertrophen Hinterrädern und schamlos nacktem Skelett gekoppelt war, vor dem Haus Tannenbergstraße 7 im Berliner Westen. Die Stirn des Möbelwagens trug einen sternförmigen Ventilator. Über die ganze Flanke hin zog sich der Name der Speditionsfirma, in meterhohen blauen Buchstaben, von denen jeder einzelne (einschließlich des quadratischen Punktes) seitlich mit schwarzer Farbe schattiert war: ein unredlicher Versuch, in die nächste Dimension aufzusteigen. Auf dem Bürgersteig vor dem Haus (in dem auch ich wohnen werde) standen zwei Personen, die offensichtlich herausgekommen waren, ihre Möbel in Empfang zu nehmen (ich habe mehr Manuskripte im Koffer als Hemden). Der Mann, in einen derben grünlich braunen Mantel gehüllt, dem der Wind riffelndes Leben verlieh, war hochgewachsen und alt; er hatte buschige Augenbrauen, und das Grau seines Backenbartes verwandelte sich in der Gegend des Mundes, in dem er achtlos einen kalten, halb abgeblätterten Zigarrenstummel hielt, in ein Rostrot. Die Frau, untersetzt und nicht mehr jung, mit O-Beinen und einem recht hübschen pseudochinesischen Gesicht, hatte eine Persianerjacke an; der Wind, der sie umrundet hatte, brachte den Hauch eines recht guten, aber leicht abgestandenen Parfums mit sich. Beide standen regungslos da und sahen gebannt zu, mit einer solchen Aufmerksamkeit, dass man hätte meinen können, sie seien im Begriff, übers Ohr gehauen zu werden, wie drei rotnackige, stämmige Burschen mit blauen Schürzen sich mit ihren Möbeln abmühten.

Irgendwann einmal, dachte er, muss ich eine solche Szene dazu verwenden, einen guten dicken altmodischen Roman zu beginnen. Der flüchtige Gedanke war von unbekümmerter Ironie gefärbt; einer Ironie jedoch, die völlig überflüssig war, denn irgendjemand in ihm hatte, für ihn und unabhängig von ihm, alles dies in sich aufgenommen, vermerkt und eingeordnet. Er selber war erst heute eingezogen und jetzt zum ersten Mal, in dem noch ungewohnten Status des Ortsansässigen, hinausgelaufen, um ein paar Dinge zu besorgen. Er kannte die Straße und sogar die ganze Gegend; die Pension, aus der er hergezogen war, lag nicht weit entfernt; bis jetzt jedoch hatte sich die Straße ohne irgendeine Beziehung zu ihm gedreht und war in diese oder jene Richtung geglitten; heute hatte sie plötzlich haltgemacht; von nun an würde sie als Verlängerung seines neuen Domizils einen festen Platz einnehmen.

Von Linden mittlerer Größe gesäumt, über deren verschlungene schwarze Zweige herabhängende Regentröpfchen der zukünftigen Anordnung der Blätter entsprechend verteilt waren (morgen würde jeder Tropfen eine grüne Pupille enthalten), durchgängig versehen mit einer glatten, geteerten Oberfläche von etwa zehn Metern Breite und abwechslungsreichen (von Hand verlegten und den Füßen schmeichelnden) Gehsteigen, stieg sie in einem kaum wahrnehmbaren Winkel an, beginnend mit einem Postamt und endend mit einer Kirche, wie ein Briefroman. Mit geübtem Auge forschte er, was in diesen Straßen zu einem täglichen wunden Punkt, einer täglichen Qual für seine Sinne werden würde; doch schien es nichts dergleichen zu geben, und das diffuse Licht des grauen Frühlingstages war nicht nur über jeden Verdacht erhaben, sondern versprach sogar jede Kleinigkeit zu mildern, die bei strahlenderem Wetter zweifellos zutage treten würde. Das konnte irgendetwas sein: die Farbe eines Gebäudes zum Beispiel, die sogleich einen unangenehmen Geschmack im Mund hervorrief, den Nachgeschmack von Haferschleim oder gar von Halva; ein architektonisches Detail, das jedes Mal, wenn man vorbeikam, mit großer Gebärde die Aufmerksamkeit auf sich zog; die ärgerliche Vortäuschung einer Karyatide – ein Anhängsel und kein Träger –, die schon unter einer leichteren Last zu Gipsstaub zerbröckelt wäre; oder die sinnlose, jedoch für immer und ewig erhaltene Ecke einer handschriftlichen Notiz (verlaufene Tinte, blauer entlaufener Hund), mit einem rostigen Reißnagel an einem Baumstamm befestigt, die ihren Zweck überdauert hatte, aber noch nicht vollständig abgerissen worden war; oder auch ein Gegenstand in einem Schaufenster, oder ein Geruch, der sich im letzten Moment weigerte, eine Erinnerung preiszugeben, die er gerade zu verkünden bereit schien, und der stattdessen an seiner Straßenecke verharrte: ein in sich selbst zurückgezogenes Geheimnis. Nein, es gab nichts Derartiges (vorläufig jedenfalls nicht); es wäre gut, dachte er, irgendwann einmal in Ruhe die Reihenfolge von drei, vier Arten von Geschäften zu prüfen und zu sehen, ob er mit seiner Vermutung Recht hätte, dass eine solche Reihenfolge sich an ihr eigenes Kompositionsgesetz hielt, dass man also, war die häufigste Anordnung herausgefunden, für die Straßen einer bestimmten Stadt den Normalzyklus ableiten konnte, zum Beispiel: Tabakwaren, Apotheke, Obst und Gemüse. In der Tannenbergstraße bildeten diese drei Geschäfte keine Einheit, denn sie befanden sich an verschiedenen Ecken; vielleicht war auch das rhythmische Schwärmen nur noch nicht zum Stillstand gekommen, und in Zukunft würden sie (wenn die Besitzer entweder Bankrott machten oder fortzogen) jenem Kontrapunkt gehorchen und sich allmählich dem richtigen Muster gemäß zu versammeln beginnen: Mit einem Blick über die Schulter würde der Gemüseladen die Straße überqueren und zunächst sieben, dann nur noch drei Häuser von der Apotheke entfernt sein – etwa in der Art, wie die durcheinandergeworfenen Buchstaben in einem Werbefilm ihren Platz finden; und am Schluss gibt es immer einen, der eine Art Salto vollführt und dann hastig seine Stellung einnimmt (eine komische Figur, der unvermeidliche Trottel unter den neuen Rekruten); und so warten sie denn, bis nebenan etwas frei wird, worauf sie beide zum Tabakladen hinüberblinzeln werden, als wollten sie sagen: «Schnell, hierher»; und ehe man sich versieht, liegen sie alle nebeneinander und bilden eine typische Reihe. Mein Gott, wie ich das alles hasse – die Sachen in den Schaufenstern, den stumpfsinnigen Anblick der Waren und vor allem das Zeremoniell des Geschäftsvorgangs, das Austauschen übertriebener Höflichkeitsbezeigungen vorher und hinterher! Und jene gesenkten Wimpern der bescheidenen Preise … der Edelmut des Rabatts … die Nächstenliebe der Reklame … diese ganze abstoßende Mimikry des Guten, die eine seltsame Anziehungskraft auf gute Menschen ausübt: Alexandra Jakowlewna zum Beispiel hat mir gestanden, sie werde, wenn sie in den ihr vertrauten Geschäften Einkäufe macht, moralisch in eine besondere Welt versetzt, wo sie sich berauscht fühle vom Wein der Redlichkeit, von der Süße gegenseitiger Gefälligkeiten, und wo sie das fleischfarbene Lächeln des Verkäufers mit einem Lächeln strahlender Verzückung erwidere.

Der Typ des Berliner Ladens, den er betrat, kann dank des kleinen Tisches in der Ecke, auf dem sich ein Telephon, ein Telephonbuch, eine Vase mit Narzissen und ein großer Aschenbecher befanden, hinlänglich bestimmt werden. Der Laden führte keine russischen Zigaretten mit Mundstück[2], wie er sie bevorzugte, und er wäre mit leeren Händen wieder hinausgegangen, wenn nicht die getüpfelte, mit Perlmuttknöpfen besetzte Weste des Tabakhändlers und der kürbisfarbene kahle Fleck auf seinem Kopf gewesen wären. Ja, mein ganzes Leben lang werde ich diese kleinen Sondervergütungen als Entschädigung dafür erhalten, dass ich für die Waren, die man mir andreht, regelmäßig zu viel bezahle.

Als er zur Apotheke an der Ecke hinüberging, prallte ein Lichtstrahl gegen seine Schläfe; unwillkürlich wandte er den Kopf und sah mit jenem raschen Lächeln, mit dem wir einen Regenbogen oder eine Rose begrüßen, ein blendend weißes Himmelsparallelogramm, das aus dem Möbelwagen ausgeladen wurde – eine Frisierkommode mit einem Spiegel, über den, wie über eine Kinoleinwand, ein makellos klares Bild von Ästen zog; sie bewegten und wiegten sich nicht baumartig, sondern mit menschlichem Schwanken, das durch die Natur derer verursacht wurde, die diesen Himmel, diese Zweige, diese dahingleitende Fassade trugen.

Er ging weiter und näherte sich dem Geschäft; aber was er soeben gesehen hatte, setzte in ihm – sei es, weil es ihm ein verwandtes Vergnügen bereitet, sei es, weil es ihn überrascht und geschüttelt hatte (so wie Kinder auf dem Heuboden in die nachgiebige Dunkelheit fallen) – jenes angenehme Etwas frei, das schon seit mehreren Tagen auf dem dunklen Grund aller seiner Gedanken gelegen hatte und beim geringsten Anlass von ihm Besitz ergriff: Meine Gedichte sind veröffentlicht; und wenn sein Geist Sprünge machte wie jetzt, das heißt, wenn er sich an die rund fünfzig Gedichte erinnerte, die gerade herausgekommen waren, überflog er in Gedanken in einem einzigen Augenblick das ganze Buch, sodass man in dem momentanen Nebel einer wahnsinnig beschleunigten Musik den aufblitzenden Versen keinen lesbaren Sinn entnehmen konnte – die vertrauten Worte rasten vorbei und wirbelten in einem wilden Schaum umher (dessen Brodeln sich in eine mächtige, fließende Bewegung verwandelte, wenn man den Blick darauf heftete, wie wir es vor langer Zeit zu tun pflegten, wenn wir von der zitternden Brücke einer Wassermühle hinabschauten, bis die Brücke zum Heck eines Schiffes wurde: Leb wohl!); und dieser Schaum und dieses Aufblitzen und ein einzelner Vers, der ganz allein vorbeiraste, von weitem in wilder Ekstase schrie, ihn wahrscheinlich nach Hause rief, all das ging, zusammen mit dem Cremeweiß des Einbandes, in einem glückseligen Gefühl ungewöhnlicher Reinheit auf … Was tue ich eigentlich!, dachte er, als er plötzlich zur Besinnung kam und merkte, dass er beim Betreten des nächsten Geschäfts als Erstes das Geld, das er beim Tabakhändler herausbekommen hatte, auf die kleine Gummiinsel in der Mitte des Ladentisches gelegt hatte, durch dessen Glasplatte er den versenkten Schatz von Parfumflakons erkennen konnte, während der Blick der Verkäuferin, seinem seltsamen Verhalten gegenüber herablassend, dieser zerstreuten Hand neugierig folgte, die für einen Gegenstand bezahlte, der noch gar nicht genannt worden war.

«Ein Stück Mandelseife bitte», sagte er würdevoll.

Darauf kehrte er mit dem gleichen federnden Schritt zum Haus zurück. Der Bürgersteig davor war jetzt leer, von drei blauen Stühlen abgesehen, die wie von Kindern zusammengestellt schienen. Drinnen im Möbelwagen lag ein kleines braunes Klavier auf dem Rücken, festgebunden, sodass es nicht aufstehen konnte, und streckte seine beiden kleinen Metallsohlen in die Luft. Auf der Treppe begegnete er den Möbelpackern, die mit schweren Schritten, die Knie nach außen gekehrt, herunterkamen, und als er an der Tür seiner neuen Bleibe klingelte, hörte er von weiter oben Stimmen und Hammerschläge. Seine Wirtin ließ ihn herein und sagte, sie habe ihm die Schlüssel in sein Zimmer gelegt. Diese große, gierige Deutsche hatte einen komischen Namen: Klara Stoboi – was für ein russisches Ohr mit gefühlvoller Festigkeit wie «Klara ist mit dir [Klara s toboj]» klang.

Und hier ist das längliche Zimmer und der geduldig wartende Koffer … und an diesem Punkt schlug seine sorglose Stimmung in Abscheu um: Gott bewahre jeden davor, die furchtbare und erniedrigende Langeweile kennen zu lernen, die wiederholte Weigerung, das elende Joch wiederholt neuer Behausungen hinzunehmen, die Unmöglichkeit, Auge in Auge mit völlig fremden Gegenständen zu leben, die unvermeidliche Schlaflosigkeit auf jenem Sofa!

Eine Zeitlang stand er am Fenster. Am Himmel, der wie geronnene Milch aussah, bildeten sich dort, wo die blinde Sonne kreiste, hin und wieder opalene Höhlen, und als Antwort darauf eilten die schlanken Schatten der Lindenzweige auf dem grauen gewölbten Dach des Möbelwagens ungestüm der Verkörperung entgegen, lösten sich jedoch auf, ohne Gestalt angenommen zu haben. Das Haus direkt gegenüber war zur Hälfte eingerüstet, während der gesunde Teil seiner Backsteinfassade mit Efeu bewachsen war, der die Fenster überwucherte. Am Ende des Weges, der den vorderen Hof zerteilte, konnte er das schwarze Schild eines Kohlenkellers erkennen.

Für sich genommen war das alles eine Aussicht, so wie das Zimmer eine Einheit für sich darstellte; jetzt aber war ein Mittelsmann auf den Plan getreten, und jetzt wurde diese Aussicht zur Aussicht aus diesem Zimmer und keinem anderen. Die Gabe des Gesehenwerdens, die es nun empfangen hatte, machte es nicht besser. Es dürfte schwer werden, sann er träumerisch, die Tapete (blassgelb mit bläulichen Tulpen) in eine ferne Steppe zu verwandeln. Die Wüste des Schreibtisches würde lange Zeit beackert werden müssen, ehe sie ihre ersten Reime hervorbringen konnte. Und viel Zigarettenasche würde unter den Armsessel und in seine Ritzen fallen müssen, ehe er sich zum Reisen eignete.

Die Wirtin kam, um ihn ans Telephon zu rufen, und er folgte ihr mit höflich gebeugten Schultern ins Esszimmer. «Erstens», sagte Alexander Jakowlewitsch Tschernyschewskij, «warum, mein lieber Herr, sind die Leute in Ihrer alten Pension so abgeneigt, Ihre neue Telephonnummer bekannt zu geben? Sie sind dort im Krach ausgezogen, stimmt’s? Zweitens möchte ich Ihnen gratulieren … Was, Sie haben es noch nicht gehört? Ehrlich nicht?» («Er hat noch nichts davon gehört», sagte Alexander Jakowlewitsch, die andere Seite seiner Stimme jemandem außerhalb der Reichweite des Telephons zuwendend.) «Nun, dann halten Sie sich fest und hören Sie sich das hier an – ich werde es Ihnen vorlesen: ‹Die kürzlich veröffentlichte Sammlung von Gedichten des bisher unbekannten Autors Fjodor Godunow-Tscherdynzew ist ein so leuchtendes Phänomen, und das dichterische Talent des Verfassers ist so unbestreitbar …› Wissen Sie was, ich lese nicht weiter, sondern Sie kommen heute Abend zu uns herüber. Dann kriegen Sie den ganzen Artikel. Nein, Fjodor Konstantinowitsch, mein lieber Freund, ich sage Ihnen jetzt gar nichts mehr, weder wer diese Besprechung geschrieben hat noch in welcher russischen Emigrantenzeitung sie erschienen ist; wenn Sie allerdings meine persönliche Meinung wissen wollen, dann seien Sie bitte nicht beleidigt, aber ich finde, der Bursche behandelt Sie viel zu freundlich. Sie kommen also? Ausgezeichnet. Wir erwarten Sie.»

Beim Auflegen des Hörers warf Fjodor beinahe den Ständer mit der biegsamen Stahlrute und dem daran befestigten Bleistift vom Tisch; er versuchte ihn aufzufangen und warf ihn dabei vollends hinunter; dann stieß er mit der Hüfte gegen die Ecke der Anrichte; dann ließ er eine im Gehen aus der Packung gezogene Zigarette fallen, schließlich unterschätzte er den Schwung der Tür, die so dröhnend aufflog, dass Frau Stoboi, die ausgerechnet in diesem Augenblick mit einem Schälchen voll Milch den Korridor entlangkam, ein eisiges «Upps» ausstieß. Er wollte ihr sagen, dass ihr blassgelbes Kleid mit den bläulichen Tulpen wunderschön sei, dass der Scheitel in ihrem gekräuselten Haar und ihre zitternden Hängebacken ihr die königliche Würde einer George Sand verliehen; dass ihr Esszimmer der Gipfel der Vollkommenheit sei; doch er beschränkte sich auf ein strahlendes Lächeln und stolperte beinahe über die Tigerstreifen, die mit der Katze nicht Schritt gehalten hatten, als sie zur Seite sprang. Im Grunde hatte er freilich nie daran gezweifelt, dass es so kommen würde, dass die Welt in Gestalt einiger hundert Literaturliebhaber, die St. Petersburg, Moskau und Kiew verlassen hatten, seine Gabe sofort zu schätzen wüsste.

Vor uns liegt ein schmaler Band mit dem Titel Gedichte (eine schlichte Schwalbenschwanzlivree, die in den letzten Jahren ebenso de rigueur[3] geworden ist wie die Litzen vor gar nicht langer Zeit – von «Mondscheinträumereien» zum symbolischen Latein[4]), der ungefähr fünfzig zwölfzeilige Gedichte enthält – alle einem einzigen Thema gewidmet: der Kindheit. Als der Autor sie mit Inbrunst verfasste, trachtete er einerseits danach, Erinnerungen zu verallgemeinern, indem er Elemente auswählte, die für jede glückliche Kindheit bezeichnend sind – daher ihre scheinbare Offensichtlichkeit; andererseits aber gestattete er nur seinem ureigensten Wesen, in die Gedichte einzudringen – daher ihre scheinbare Erlesenheit. Gleichzeitig musste er sich große Mühe geben, weder die Herrschaft über das Spiel noch den Blickpunkt des Spielzeugs zu verlieren. Die Strategie der Inspiration und die Taktik des Geistes, das Fleisch der Poesie und das Phantom luzider Prosa – das sind die Begriffe, die uns mit hinlänglicher Genauigkeit die Kunst dieses jungen Dichters zu charakterisieren scheinen … Und nachdem er die Tür verschlossen hatte, holte er sein Buch hervor und warf sich auf die Couch – sofort, ehe die Erregung erkalten konnte, musste er es noch einmal lesen, um sich der überragenden Qualität der Gedichte zu vergewissern und sich im voraus in allen Einzelheiten die hohe Anerkennung vorzustellen, die ihnen von dem intelligenten, herrlichen, bisher noch ungenannten Kritiker zuteilgeworden war. Und als er sie jetzt durchsah und prüfte, tat er genau das Gegenteil von dem, was er kurz zuvor getan hatte, als er in einem einzigen Augenblicksgedanken das ganze Buch überflogen hatte. Jetzt las er sozusagen in drei Dimensionen, untersuchte sorgfältig jedes Gedicht, das wie ein Würfel aus dem Rest herausgehoben und von allen Seiten in jene wundervolle flaumige Landluft gehüllt war, nach der man abends immer so müde ist. Mit anderen Worten, beim Lesen machte er wiederum Gebrauch von dem gesamten Material, das sein Gedächtnis schon einmal zusammengetragen hatte, um daraus die vorhandenen Gedichte zu gewinnen, und ließ vor sich alles, absolut alles wiedererstehen, so wie ein heimkehrender Reisender in den Augen eines Waisenkindes nicht nur das Lächeln der Mutter sieht, die er in seiner Jugend gekannt, sondern auch noch eine Allee, die in einem Aufflammen gelben Lichts endet, und jenes nussbraune Blatt auf der Bank, und alles, alles. Die Sammlung begann mit dem Gedicht Der verlorene Ball, und man fühlte, wie es zu regnen anfing. Einer jener wolkenschweren Abende, die so gut zu unseren nördlichen Tannen passen, hatte sich um das Haus zusammengezogen. Die Allee war für die Dauer der Nacht aus dem Park zurückgekehrt, und ihr Zugang war in Dämmerung gehüllt. Jetzt trennen die sich entfaltenden weißen Fensterläden das Zimmer von der Dunkelheit draußen, zu der die helleren Teile mehrerer Hausratsgegenstände schon übergewechselt sind, um ihre vorläufige Stellung auf den verschiedenen Ebenen des hilflos schwarzen Gartens einzunehmen. Jetzt ist es Zeit zum Schlafengehen.

Die Spiele werden uninteressant und ein wenig gleichgültig. Sie ist alt, und sie stöhnt gequält, als sie in drei mühseligen Etappen niederkniet.

Mein Ball sprang unter die Kommode

der Kinderfrau. Am Boden dort

zerrt jetzt das Kerzenlicht den Schatten

von Fleck zu Fleck – der Ball ist fort.

Der Feuerhaken ist zur Stelle,

er kreist und poltert ohne Glück

und fördert einen Knopf ins Helle

und dann ein halbes Zwiebackstück.

Und da ist er hervorgesprungen,

zitterndes Dunkel er durchdrang,

bis er ins Fort, noch nie bezwungen,

bis jäh er unters Sofa sprang.

Warum bin ich mit dem Epitheton «zitternd» nicht ganz zufrieden? Oder erschien hier für einen Augenblick des Puppenspielers kolossale Hand unter den Geschöpfen, auf deren Maß sich das Auge eingestellt hatte (sodass des Zuschauers erste Reaktion am Schluss der Vorstellung ist: «Wie groß bin ich doch geworden!»)? Schließlich hatte das Zimmer ja gezittert, und jene flackernde, karussellgleiche Bewegung von Schatten quer über die Wand, wenn das Licht fortgetragen wird, oder das Schattenkamel an der Decke, dessen riesige Höcker sich heben und senken, wenn die Kinderfrau mit dem sperrigen, schwankenden Rohrwandschirm kämpft (dessen Umfang umgekehrt proportional zu seiner Stabilität ist) – all das sind meine allerfrühesten Erinnerungen, diejenigen, die dem Ursprung am nächsten stehen. Mein forschendes Denken wendet sich oft jenem Ursprung zu, jenem umgekehrten Nichtsein. So erscheint mir der nebelhafte Zustand des Säuglings immer wie eine langsame Genesung von einer schrecklichen Krankheit, und die Entfernung von der ursprünglichen Nichtexistenz wird zu einem Sich-ihr-Nähern, wenn ich mein Erinnerungsvermögen aufs äußerste anspanne, um von jener Dunkelheit zu kosten und ihre Lektionen zu nutzen, um mich auf die künftige Dunkelheit vorzubereiten; aber während ich mein Leben auf den Kopf stelle, sodass Geburt Tod wird, kann ich am Rande dieses umgekehrten Sterbens nichts entdecken, was dem grenzenlosen Schrecken entspräche, den, wie es heißt, selbst noch ein Hundertjähriger empfindet, wenn er sich dem tatsächlichen Ende gegenübersieht; nichts, mit Ausnahme vielleicht der eben erwähnten Schatten, die von irgendwo unten heraufsteigen, sobald die Kerze abhebt, um das Zimmer zu verlassen (und der Schatten der linken Messingkugel am Fußende meines Bettes vorüberhuscht, gleich einem schwarzen Kopf, der anschwillt, wenn er sich bewegt), und ihre gewohnten Plätze über meinem Kinderbett einnehmen

und in den Ecken sich erfrechen,

das ihnen eigene Gesetz

im Übermut bei Nacht zu brechen.

In einer ganzen Reihe von Gedichten, die durch ihre Aufrichtigkeit entwaffnen … nein, das ist Unsinn. Warum muss man den Leser «entwaffnen»? Ist er gefährlich? In einer ganzen Reihe hervorragender … oder, um es noch stärker auszudrücken, bemerkenswerter Gedichte besingt der Autor nicht nur diese furchterregenden Schatten, sondern auch hellere Augenblicke. Unsinn, sage ich! So schreibt er nicht, mein namenloser, unbekannter Lobredner, und nur ihm zuliebe habe ich die Erinnerung an zwei kostbare und wahrscheinlich sehr alte Spielsachen in Verse gebracht. Das erste war ein üppiger bemalter Blumentopf mit einer künstlichen Pflanze aus einem sonnigen Land, auf der ein ausgestopfter tropischer Singvogel saß – so verblüffend lebensecht mit seinem schwarzen Gefieder und der amethystfarbenen Brust, dass es schien, er wolle sich im nächsten Augenblick aufschwingen; und wenn man der Haushälterin Iwonna Iwanowna den großen Schlüssel abgeschmeichelt, ihn in die Seite des Topfes gesteckt und mehrmals fest und belebend gedreht hatte, öffnete die kleine malaiische Nachtigall ihren Schnabel … nein, nicht einmal ihren Schnabel öffnete sie, denn irgendetwas Seltsames war der einen oder anderen Feder des ausgedienten Werks zugestoßen, die jedoch ihre Tätigkeit für später aufsparte: Sofort zu singen, weigerte sich der Vogel, vergaß man ihn aber und ging eine Woche später zufällig an seinem luftigen Sitz hoch oben auf dem Kleiderschrank vorüber, dann veranlasste ihn irgendein geheimnisvolles Zittern, plötzlich seinen magischen Schlag von sich zu geben – und wie wunderbar, wie lange tirilierte er mit seiner aufgeplusterten, vorgestreckten kleinen Brust; schließlich hörte er auf; dann trat man beim Hinausgehen auf ein anderes Dielenbrett, und als Erwiderung stieß er noch einen letzten vereinzelten Pfiff aus und verstummte mitten im Ton. Das andere Spielzeug, das ich in Verse gebracht hatte (es befand sich in einem anderen Zimmer, gleichfalls auf einem hohen Bord), verhielt sich ähnlich, nur war eine Spur närrischer Imitation dabei – wie der Geist der Parodie ja stets die wahre Poesie begleitet. Es war ein Clown mit Pluderhosen aus Satin, der sich auf zwei geweißte Barrenholme stützte und durch einen zufälligen Ruck in Bewegung versetzt wurde,

bei einer zierlichen Musik

mit einem komischen Akzent

die irgendwo unter seiner kleinen Plattform ertönte, wenn er die Beine, weiß bestrumpft und mit Pompons auf den Schuhen, mit kaum wahrnehmbaren Stößen höher und höher schwang – und plötzlich hörte alles auf, und in eckiger Haltung erstarrte er. Und vielleicht ist es mit meinen Gedichten dasselbe? Aber manchmal ist die Wahrheit von Gegenüberstellungen und Schlussfolgerungen diesseits des Wortgeheges besser aufgehoben.

Aus den sich reihenden dichterischen Stücken in dem Buch gewinnen wir nach und nach das Bild eines außerordentlich aufnahmefähigen Knaben, der in einer außerordentlich günstigen Umgebung aufwuchs. Unser Dichter wurde am 12. Juli 1900 im Herrenhaus von Leschino[5] geboren, das über Generationen hin der Landsitz der Godunow-Tscherdynzews gewesen war. Schon bevor der Junge das schulpflichtige Alter erreicht hatte, las er eine beachtliche Anzahl von Büchern aus der Bibliothek seines Vaters. In seinen interessanten Memoiren berichtet Soundso, mit welcher Begeisterung der kleine Fedja und seine Schwester Tanja, die zwei Jahre älter war als er, in Amateuraufführungen spielten und wie sie sogar selber Stücke für ihre Vorstellungen schrieben … Dies, mein Bester, mag auf andere Dichter zutreffen, aber in meinem Fall ist es eine Lüge. Mir ist das Theater stets gleichgültig gewesen; obwohl ich mich erinnere, dass wir tatsächlich ein Puppentheater besaßen – mit Bäumen aus Pappe und einem zinnenbewehrten Schloss mit himbeergeleefarbenen Zelluloidfenstern, durch die gemalte Flammen flackerten (ähnlich denen auf Wereschtschagins Bild vom Brand Moskaus[6]), wenn man drinnen eine Kerze anzündete – und diese Kerze war es, die nicht ohne unser Zutun schließlich das ganze Gebäude in Asche legte. Oh, aber wenn es um Spielzeug ging, waren Tanja und ich wählerisch! Gleichgültige Außenstehende schenkten uns oft ganz armselige Dinge. Alles, was in einem flachen Karton mit einem Bild auf dem Deckel kam, verhieß Schlimmes. Einem dieser Deckel versuchte ich meine vereinbarten zwölf Zeilen zu widmen, aber irgendwie stellte sich das Gedicht nicht ein. Eine Familie, die um einen runden, von einer Lampe beleuchteten Tisch sitzt: der Junge hat einen unmöglichen Matrosenanzug mit einem roten Schlips an, das Mädchen trägt Schnürstiefel, die ebenfalls rot sind; beide reihen mit dem Ausdruck sinnlichen Vergnügens Perlen in verschiedenen Farben auf Strohfäden und verfertigen daraus kleine Körbe, Vogelkäfige, Schachteln; und mit vergleichbarer Inbrunst nehmen ihre schwachsinnigen Eltern am selben Zeitvertreib teil: der Vater mit seinem preisgekrönten Bewuchs im zufriedenen Gesicht, die Mutter mit ihrem imposanten Busen; der Hund blickt ebenfalls auf den Tisch, und halb versteckt im Hintergrund sieht man die neidische Oma. Ebendiese Kinder sind jetzt erwachsen, und oft begegne ich ihnen in Anzeigen: Er, mit seinen glatten, gleichmäßig gebräunten Wangen, pafft wollüstig eine Zigarette oder hält mit raubtierartigem Grinsen ein Sandwich mit etwas Rotem dazwischen («Esst mehr Fleisch!») in seiner sehnigen Hand; sie lächelt einen Strumpf an, den sie selber trägt, oder gießt mit lasterhafter Wonne künstliche Sahne auf Dosenkompott; und mit der Zeit werden sie zu munteren, rosigen, gefräßigen alten Leuten – und haben die infernalisch schwarze Schönheit eichener Särge in einem palmengeschmückten Schaufenster noch vor sich … So entwickelt sich, Seite an Seite mit uns, in einer fröhlich-finsteren Beziehung zu unserem alltäglichen Leben, eine Welt schöner Dämonen; aber dem schönen Dämon haftet stets irgendein heimlicher Makel an, eine schmachvolle Warze auf dem Hinterteil dieses Abbilds von Vollkommenheit; der faszinierende Fresser auf dem Plakat, der sich mit Gelatinepudding vollstopft, kann niemals die stillen Freuden des Feinschmeckers kennen lernen, und seine Moden (die auf dem Anschlagbrett verweilen, während wir weiterschreiten) hinken denen des wirklichen Lebens immer ein klein wenig hinterher. Eines Tages werde ich noch einmal auf diese Nemesis zu sprechen kommen, die für ihren Schicksalsschlag genau dort eine schwache Stelle findet, wo die ganze Bedeutung und Stärke des Geschöpfes zu liegen scheint, das sie heimsucht.

Im allgemeinen zogen Tanja und ich wilde Spiele den ruhigen vor – Wettlauf, Versteck, Kriegsschlachten. Wie bemerkenswert erinnert das Wort ‹Schlacht› (srashenie) an das Geräusch des federnden Drucks, wenn man das Projektil ins Spielzeuggewehr schob – einen sechs Zoll langen Stock aus bemaltem Holz, seines Saugpfropfens beraubt, damit der Aufprall stärker wurde, mit dem er, eine beachtliche kleine Beule schlagend, auf das vergoldete Blech eines Brustharnischs traf (der von einer Kreuzung zwischen einem Kürassier und einer Rothaut getragen wurde).

Du lädst den Lauf auf Anschlag wieder

und drückst, sodass die Federn knarren,

ihn kräftig auf den Estrich nieder,

siehst – in der Tür versteckst du dich –

den anderen im Spiegel und

aus seinem Stirnband sträuben sich

die Federn regenbogenbunt.

Der Autor hatte die Möglichkeit (wir befinden uns jetzt im Haus der Godunow-Tscherdynzews am Englischen Kai der Newa[7], wo es heute noch steht), sich zwischen Vorhängen zu verstecken, unter Tischen, hinter den Rückenkissen seidener Ottomanen, in einem Kleiderschrank, wo Naphthalinkristalle unter den Füßen knirschten (und von wo aus man ungesehen einen langsam vorübergehenden Diener beobachten konnte, der seltsam anders schien als sonst, lebendig, ätherisch, mit einem Geruch nach Äpfeln und Tee) –

und bei der Wendeltreppenwand,

hinterm Buffet, das, längst vergessen,

einsam im leeren Zimmer stand

in dessen staubigen Fächern allerlei Gegenstände vegetierten, zum Beispiel: eine Halskette aus Wolfszähnen, ein kleiner nacktbäuchiger Götze aus Almatolit; ein anderer aus Porzellan, der im landesüblichen Gruß seine schwarze Zunge herausstreckte; ein Schachspiel mit Kamelen statt Läufern; ein mit Gelenken versehener hölzerner Drache; eine Sojoter Schnupftabaksdose[8] aus Milchglas; dito aus Achat; das Tamburin eines Schamanen mit der dazugehörigen Kaninchenpfote[9]; ein Stiefel aus Maral-Leder[10], dessen Innensohle aus der Rinde des blauen Geißblatts gefertigt war; eine schwertförmige tibetanische Münze; eine Schale aus Kara-Jade; eine silberne Brosche mit Türkisen; die Lampe eines Lamas und eine Menge ähnlichen Plunders, den mein Vater, der Ethnologie nicht ausstehen konnte, irgendwie durch Zufall – wie Staub, wie die Postkarte aus einem deutschen Kurort mit ihrem Perlmutt-‹Gruß› – von seinen sagenhaften Reisen mitgebracht hatte. Die wirklichen Schätze – seine Schmetterlingssammlung, sein Museum – wurden in drei verschlossenen Sälen aufbewahrt; aber der vorliegende Gedichtband enthält nichts darüber: Eine besondere Intuition sagte dem jungen Autor warnend voraus, eines Tages werde er auf eine ganz andere Weise, nicht in Versminiaturen mit Geplapper und Geklingel, sondern in sehr, sehr andersartigen, männlichen Worten über seinen berühmten Vater sprechen wollen.

Wieder ist etwas schiefgegangen, und man hört das respektlos flache Stimmchen des Rezensenten (vielleicht sogar weiblichen Geschlechts). Mit herzlicher Zuneigung erinnert sich der Dichter der Räume des elterlichen Hauses, wo er sie (seine Kindheit) verbracht hat. Es ist ihm gelungen, die dichterische Beschreibung der Gegenstände, zwischen denen er sie verbrachte, mit viel Poesie zu imprägnieren. Wenn man ihm genau zuhört … Wir alle, aufmerksam und andächtig … Die Akkorde der Vergangenheit … So schildert er zum Beispiel Lampenschirme, alte Stiche an den Wänden, sein Schülerpult, den allwöchentlichen Besuch der Parkettpolierer (die einen Geruch aus «Frost, Schweiß und Mastix» zurücklassen), und wie die Uhren nachgesehen wurden:

Ein Alter aus dem Uhrenladen

kam donnerstags gegen Mittag hin

zu uns ins Haus, um mit Bedacht

die Uhren zu stellen und aufzuziehn.

Verstohlen blickt er zum Handgelenk,

dann stellt er die Uhr, die an der Wand,

steht auf dem Stuhl und wartet ab,

dass der letzte Stundenschlag schwand.

Punkt zwölf. Gut so, vollbracht. Für ihn

war sie angenehm, diese Pflicht. Also rückt

er höflich und still den Stuhl wieder hin,

und es surrt die Uhr leise und tickt.

Wobei sie mit ihrem Pendel einen gelegentlichen Zungenschnalzer von sich gab und eine seltsame Pause machte, als wollte sie ihre Kräfte sammeln, ehe sie schlug. Ihr Ticken, einem abrollenden Zentimetermaß mit seinen Querstrichen vergleichbar, diente meinen schlaflosen Stunden als ein endloses Maß. Einzuschlafen fiel mir so schwer wie zu niesen, ohne die Nasenlöcher eigens innen zu kitzeln, oder wie der Selbstmord mit den dem Körper zu Gebote stehenden Mitteln (etwa indem ich meine Zunge verschluckte). Zu Beginn der qualvollen Nacht konnte ich noch Zeit gewinnen, indem ich von Unterhaltungen mit Tanja zehrte, deren Bett im Nebenzimmer stand; den Verboten zum Trotz öffneten wir die Tür ein wenig, und wenn wir unsere Gouvernante in ihr Zimmer gehen hörten, das neben dem Tanjas lag, schloss einer von uns sie leise: ein blitzschneller barfüßiger Sprint und dann ein Hechtsprung ins Bett. Solange die Tür angelehnt war, gaben wir uns gegenseitig Rätsel auf und verfielen dabei immer wieder in Schweigen (ich höre noch den Klang dieses Zwillingsschweigens im Dunkel), sie, um meine zu raten, ich, um mir neue auszudenken. Meine waren immer ein wenig ausgefallen und albern, während Tanja sich an die klassischen Vorbilder hielt:

mon premier est un métal précieux,

mon second est un habitant des cieux,

et mon tout est un fruit délicieux.[11]

Manchmal schlief sie ein, während ich geduldig wartete, in dem Glauben, sie kämpfe mit meinen Rätseln, und dann gelang es weder meinem Flehen noch meinen Verwünschungen, sie wieder zum Leben zu erwecken. Darauf reiste ich über eine Stunde lang durch das Dunkel meines Bettes, wölbte die Bettdecke über mir, um eine Höhle zu bilden, an deren fernem Ausgang ich ein Stückchen indirekten bläulichen Lichts erblickte, das nichts mit meinem Schlafzimmer, mit der Nacht über der Newa, mit den schweren, dunkel durchscheinenden Volants der Fenstervorhänge zu tun hatte. Die Höhle, die ich erforschte, barg in ihren Falten und Ritzen eine so traumhafte Wirklichkeit, war erfüllt von so bedrückendem Geheimnis, dass in meiner Brust und in meinen Ohren ein Pochen wie von einer gedämpften Trommel begann; dort drinnen, in ihrer Tiefe, wo mein Vater eine neue Fledermausart entdeckt hatte, konnte ich die hohen Backenknochen eines aus dem Fels gehauenen Götzen erkennen; und wenn ich endlich einschlief, warf ein Dutzend starke Hände mich um, und mit einem schrecklichen, an reißende Seide erinnernden Geräusch trennte mich jemand von oben bis unten auf, worauf eine flinke Hand in mich hineinschlüpfte und mein Herz kräftig zusammendrückte. Oder aber ich wurde in ein Pferd verwandelt und schrie mit mongolischer Stimme: Schamanen zerrten mit Lassos heftig an den Fesseln, sodass die Beine knirschend splitterten und im rechten Winkel zum Körper – meinem Körper – zusammenbrachen, der mit der Brust auf den gelben Boden gepresst dalag; und als Zeichen äußerster Qual stieg der Schweif des Pferdes gleich einer Fontäne auf; er fiel zurück, und ich erwachte.

Der Heizer – schäm dich, noch zu liegen! –

klopft prüfend mit der flachen Hand,

ob schon die Glut emporgestiegen,

auf die metallne Ofenwand.

Sie stieg empor. Des Feuers Sirren

entgegnet schon der Morgen leis

mit rötlichem lasurnem Flirren,

des Frühschnees makellosem Weiß.

Es ist seltsam, wie eine Erinnerung zu einer Wachsfigur wird, wie der Cherub auf verdächtige Weise im selben Maße hübscher wird, wie sein Rahmen nachdunkelt – seltsam, seltsam sind die Pannen der Erinnerung. Ich bin vor sieben Jahren ausgewandert; dieses fremde Land hat inzwischen seine fremdländische Aura verloren, so wie mein eigenes aufgehört hat, eine geographische Gewohnheit zu sein. Das Jahr sieben.[12] Der unstete Geist eines Imperiums machte sich diese Zeitrechnung sofort zu eigen, vergleichbar der, die einst von dem begeisterten französischen Bürger zu Ehren der neugeborenen Freiheit eingeführt wurde. Aber die Jahre vergehen, und Ehre ist kein Trost; Erinnerungen schmelzen dahin, oder aber sie nehmen einen tödlichen Glanz an, sodass uns statt wunderbarer Erscheinungen nur ein Fächer von Ansichtskarten bleibt. Nichts kann hier helfen, keine Poesie, kein Stereoskop – jenes Gerät, das mit unheilvollem, glotzäugigem Schweigen einer Kuppel eine derartige Wölbung verlieh und bechertragende Karlsbader Spaziergänger mit einem derart diabolischen Anschein von Raum umgab, dass mich nach dieser optischen Belustigung viel mehr Albträume quälten als nach Erzählungen über mongolische Folterungen. Die spezielle Stereokamera, an die ich mich erinnere, schmückte das Wartezimmer unseres Zahnarztes, eines Amerikaners namens Lawson, dessen französische Geliebte, Madame Ducamp, eine grauhaarige Harpyie, zwischen Glasfläschchen mit blutrotem Lawson’schen Mundwasser an ihrem Schreibtisch saß, die Lippen kräuselte und sich nervös den Kopf kratzte, wenn sie für Tanja und mich einen Termin zu finden versuchte, und die es schließlich mit einiger Anstrengung und einem Aufkreischen fertigbrachte, ihre spuckende Feder zwischen la Princesse Toumanoff – mit einem Klecks am Ende – und Monsieur Danzas – mit einem Klecks am Anfang – zu stechen. Hier ist die Beschreibung einer Fahrt zu diesem Zahnarzt, der tags zuvor warnend angekündigt hatte: «That one will have to come out …»[13] «Dieser wird herausmüssen …»

Und keine Stunde wird vergehen:

Wie werd ich in der Kutsche hocken?

Wie auf die schwarzen Zweige sehen

und staunend auf die weißen Flocken?

Wie sucht des Prellsteins weiße Zinnen

und seinen Wattehut mein Blick?

Werd ich der Hinfahrt mich entsinnen

und wie? auf meiner Fahrt zurück?

(Wenn ruhlos meine Hand sich regt,

ertastend zärtlich und erschrocken,

was ich ins Taschentuch gelegt

wie elfenbeinerne Berlocken.)

Jener «Wattehut» ist nicht nur doppelsinnig, er drückt nicht einmal annähernd das aus, was ich meinte – nämlich den hutartig aufgetürmten Schnee auf den durch eine Kette miteinander verbundenen Granitkegeln, irgendwo in der Nähe des Denkmals Peters des Großen.[14] Irgendwo! Ach, es fällt mir bereits schwer, all die Teile der Vergangenheit zusammenzutragen; schon fange ich an, Beziehungen und Zusammenhänge zwischen Gegenständen zu vergessen, die in meiner Erinnerung noch leben, Gegenständen, die ich damit dem Untergang weihe. Wenn das so ist, was für ein kränkender Hohn, mit zufriedener Miene zu behaupten:

So bleibt ein einstiges Erlebnis

im Eis der Harmonie bewahrt …

Was treibt mich dann, Gedichte über meine Kindheit zu verfassen, wenn meine Worte trotz allem das Ziel weit verfehlen oder aber beide, den Leoparden und den Hirsch, mit der explodierenden Kugel eines «exakten» Epithetons töten? Aber verzweifeln wir nicht. Der Mann sagt, ich sei ein wirklicher Dichter – das heißt, die Jagd war nicht vergeblich.

Hier ist ein weiteres zwölfzeiliges Gedicht über die Martern des Knabenalters. Es handelt von den Heimsuchungen des Winters in der Stadt, wenn, zum Beispiel, gerippte Strümpfe in den Kniekehlen scheuern oder wenn einem die Verkäuferin einen unmöglich engen Glacéhandschuh über die Hand zerrt, die wie auf einem Richtblock auf dem Ladentisch liegt. Es gibt noch mehr: das zweifache Zwicken des Hakens (beim ersten Mal war er abgerutscht), während man mit ausgebreiteten Armen dasteht, um sich den Pelzkragen schließen zu lassen; als Entschädigung aber dafür: welch amüsante Veränderung der Akustik, wie voll werden alle Laute, wenn der Kragen hochgestellt ist; und da wir schon einmal bei den Ohren sind: Wie unvergesslich die seidige, straffe, summende Musik, wenn dir die Bänder von den Ohrenschützern der Mütze zugebunden werden (heb das Kinn hoch).

Ausgelassen – um eine Redensart zu prägen – tollt die Jugend an einem frostigen Tag. Beim Parkeingang sehen wir den Ballonverkäufer; über seinem Kopf, dreimal so groß wie er, eine riesige raschelnde Traube. Seht, Kinder, wie sie wogen und sich aneinanderreiben, alle voll von Gottes Sonnenschein, in roten, blauen und grünen Tönen. Ein wunderschöner Anblick! Bitte, Onkel, ich möchte den größten (den weißen mit dem aufgemalten Hahn und dem innen schwimmenden roten Embryo, der, wenn seine Mutter kaputtgeht, hinauf zur Decke entwischt und einen Tag später völlig runzlig und ganz zahm herunterkommt). Jetzt haben die glücklichen Kinder ihren Rubelballon gekauft, und der freundliche Straßenhändler hat ihn aus dem gedrängten Bündel herausgezogen. Einen Augenblick, mein Junge, grabsch nicht so, lass mich die Schnur durchschneiden. Worauf er wieder seine Fäustlinge anzieht, die Kordel rund um die Taille prüft, an der die Schere baumelt, und, sich mit den Hacken abstoßend, langsam aufrecht emporzusteigen beginnt, höher und höher in den blauen Himmel hinauf: Seht, all seine Ballons sind jetzt nicht größer als ein paar Weintrauben, während unter ihm das dunstige, vergoldete, vielbesungene St. Petersburg liegt, hier und da – leider – ein wenig restauriert nach den besten Gemälden der Maler unseres Landes.[15]

Aber Scherz beiseite, es war wirklich alles sehr schön, sehr friedlich. Die Bäume im Park mimten ihre eigenen Gespenster, und die Gesamtwirkung offenbarte ungeheures Talent. Tanja und ich machten uns über die großen Schlitten unserer Altersgenossen lustig, besonders, wenn sie mit einem fransenbesetzten, teppichähnlichen Material ausgeschlagen waren und einen hohen (sogar mit einer Rückenlehne versehenen) Sitz hatten und Zügel, an denen sich der Fahrer festhielt, wenn er mit den Filzstiefeln bremste. Diese Schlitten schafften es nie bis zur letzten Schneewehe, sondern kamen fast sofort vom Kurs ab und begannen, sich hilflos um sich selbst zu drehen, während es weiter bergab ging, auf dem Sitz ein bleiches, gespannt aufmerksames Kind, das, wenn der Schlitten seinen Schwung verloren hatte, mit den Füßen nachhelfen musste, um das Ende der vereisten Rodelbahn zu erreichen. Tanja und ich hatten schwere Bauchschlitten von Sangalli[16]: Solch ein Schlitten bestand lediglich aus einem rechteckigen Samtkissen auf Eisenkufen, die an beiden Enden gebogen waren. Man brauchte ihn auf dem Weg zur Schlittenbahn gar nicht zu ziehen – er glitt so mühelos und so ungeduldig über den vergebens mit Sand bestreuten Schnee, dass er einem gegen die Hacken stieß. Hier sind wir am Hügel.

Man stieg auf ein von Spritzern glitzerndes Gerüst hinauf …[17] (Wasser, das man in Eimern hinauftrug, um es über die Schlittenbahn zu gießen, war auf die Holzstufen gespritzt, sodass sie sich mit glitzerndem Eis überzogen, aber der wohlmeinende Binnenreim vermochte all das nicht auszudrücken.)

Aufs spritzerglitzernde Gerüst

stieg man hinauf, fiel bäuchlings wild

auf seinen Schlitten, fegte holprig

durchs Blau … Dann finsterte das Bild:

Es loderte zur Weihnacht dunkel

des Scharlachs Fieberphantasie

im Kinderzimmer; und zu Ostern

folgte die nächste: Diphtherie.

Den übertriebnen Berg hinunter,

kristallnen Glitzer um sich sprühend,

schoss man dann knirschend in den Park,

halb taurisch und halb tropisch blühend.[18]

… einen Park, in den das Delirium den General Nikolaj Michajlowitsch Prshewalskij[19] mitsamt seinem steinernen Kamel aus dem Alexanderpark in unserer Nähe versetzt hatte und in dem sich dieser auf der Stelle in ein Standbild meines Vaters verwandelte, der sich in jenem Augenblick zum Beispiel irgendwo zwischen Kokand und Aschchabad[20] oder aber auf einem Abhang der Gebirgskette von Xining befand. Was für Krankheiten machten Tanja und ich durch! Bald gemeinsam, bald abwechselnd; und wie litt ich, wenn ich, zwischen dem Zuschlagen einer entfernten Tür und dem zurückhaltend leisen Ton einer anderen, ihre Schritte und ihr Gelächter durchbrechen hörte, das so himmlisch unbekümmert zu mir herüberklang, meiner nicht gewahr, unendlich weit entfernt von meiner dicken Kompresse mit ihrer lohfarbenen Wachstuchfüllung, meinen schmerzenden Beinen, meiner körperlichen Schwere und Verkrampftheit; war aber sie krank, wie irdisch und wirklich, wie sehr einem prallen Fußball gleich fühlte ich mich, wenn ich sie im Bett liegen sah, von einer Aura der Entrücktheit umgeben, als habe sie sich einer anderen Welt zugewandt und mir nur die kraftlose Hülle ihres Seins! Beschreiben wir den letzten Widerstand vor der Kapitulation, wenn man, noch ohne aus dem normalen Tageslauf hinausgetreten zu sein, das Fieber, den Schmerz in den Gelenken vor sich selber verbirgt, sich in mexikanischer Manier einwickelt und so tut, als gehörte das, was der Schüttelfrost erheischt, zu den Erfordernissen des Spiels; und wenn man sich dann eine halbe Stunde später ergeben hat und im Bett gelandet ist, glaubt der Körper nicht mehr, dass er kurz zuvor noch gespielt hat und auf allen vieren über den Boden der Halle, über das Parkich, über den Teppett gekrochen ist. Beschreiben wir Mutters beunruhigt fragendes Lächeln, wenn sie mir das Thermometer in die Achselhöhe geschoben hat (eine Aufgabe, die sie weder dem Diener noch der Gouvernante anvertraute). «Na, da hast du dir ja was Schönes eingebrockt, wie?», sagt sie, noch bemüht, darüber zu scherzen. Dann, eine Minute später: «Ich wusste es gestern, ich wusste, dass du Fieber hattest, du kannst mir nichts vormachen.» Und nach einer weiteren Minute: «Was glaubst du, wie viel du hast?» Und schließlich: «Ich glaube, wir können es jetzt herausnehmen.» Sie hält das weiß leuchtende Glasröhrchen nahe ans Licht, zieht ihre schönen Sealskin-Augenbrauen – die Tanja geerbt hat – zusammen und blickt lange auf das Thermometer … und dann, ohne ein Wort zu sagen, schlägt sie es ohne Eile hinunter und steckt es wieder in seine Hülse, wobei sie mich ansieht, als erkenne sie mich nicht so ganz, während mein Vater sein Pferd im Schritt durch eine frühlingshafte Ebene reitet, die über und über blau von Schwertlilien ist. Beschreiben wir auch die Fieberphantasien, in denen man riesige Zahlen wachsen fühlt, die einem das Gehirn anschwellen lassen, begleitet von jemandes unaufhörlichem Geplapper, das nichts mit einem selber zu tun hat, so als tauschten in dem dunklen Garten, der an das Tollhaus des Rechenbuches grenzt, einige von dessen Gestalten zur Hälfte (oder, genauer, zu siebenundfünfzig Hundertundelftel) aus ihrer schrecklichen Welt anwachsender Zinsen herausgelöst, in ihren stereotypen Rollen auf, als Apfelfrau, vier Grabenstecher und ein Jemand, der seinen Kindern eine Karawane von Brüchen hinterlassen hat, und schwatzten zur Begleitung des nächtlichen Ächzens der Bäume über etwas, was außerordentlich hausbacken und töricht, aber darum nur umso schrecklicher war, umso mehr dazu verdammt, sich in ebenjene Zahlen zu verwandeln, in jenes sich endlos ausdehnende mathematische Universum (eine Ausdehnung, die meiner Meinung nach ein merkwürdiges Licht auf die makrokosmischen Theorien heutiger Physiker wirft). Beschreiben wir schließlich die Genesung, wenn es nicht mehr nötig ist, das Quecksilber herunterzuschlagen und das Thermometer achtlos auf dem Nachttisch liegen bleibt, wo eine Ansammlung von Büchern, die gekommen sind, einem zu gratulieren, und ein paar Spielsachen (müßige Zuschauer) die halbleeren Flaschen mit den trüben Mixturen verdrängen.

Die Schreibmappe von damals – klar

seh ich sie heute noch vor mir,

mein Monogramm auf jedem Blatt. Auch war

ein Hufeisen auf dem Papier.

Fachmann war ich in jener Ära

für Initialen, Siegellack,

bronzen und rot, gepresste Blüten

(vom Mädchen an der Riviera).

Keines der Gedichte in dem Buch spielt auf ein gewisses ungewöhnliches Erlebnis an, das ich hatte, als ich von einer besonders schweren Lungenentzündung genas. Nachdem jedermann in den Salon gegangen war (um ein viktorianisches Klischee zu gebrauchen), sagte einer der Gäste, der (um damit fortzufahren) den ganzen Abend geschwiegen hatte … Das Fieber war im Laufe der Nacht zurückgegangen, und ich hatte endlich das Ufer erklommen. Ich war schwach, kann ich dir sagen, launisch und durchsichtig – so durchsichtig wie ein kristallenes Ei. Mutter war fortgefahren, um mir eines jener wunderlichen Dinge – was, wusste ich nicht genau – zu kaufen, nach denen ich von Zeit zu Zeit mit dem Gelüst einer schwangeren Frau verlangte und die ich hernach vollkommen vergaß; doch meine Mutter machte sich Listen von diesen Desiderata. Während ich inmitten bläulicher Schichten von Zimmerzwielicht ausgestreckt im Bett lag, spürte ich, wie ich eine unglaubliche Luzidität entfaltete, wie wenn sich zwischen langgezogenen Abendwolken ein ferner Streifen leuchtend blassen Himmels dehnt und man das Kap und die Untiefen Gott weiß welcher entlegenen Inseln erkennen kann – und es so aussieht, als werde man, wenn man den flüchtigen Blick nur noch ein wenig weiterschweifen ließe, ein auf den feuchten Sand gezogenes schimmerndes Boot und sich entfernende, mit klarem Wasser gefüllte Fußspuren wahrnehmen. In jener Minute, glaube ich, erreichte ich das höchste Maß menschlicher Gesundheit: Mein Geist war erst kürzlich in eine gefährliche, übernatürliche reine Dunkelheit getaucht und darin geläutert worden; und während ich jetzt still dalag und nicht einmal die Augen schloss, sah ich in Gedanken meine Mutter vor mir, wie sie mit Chinchillamantel und schwarz getupftem Schleier in den Schlitten stieg (der in Russland, verglichen mit dem gewaltigen gepolsterten Hinterteil des Kutschers, immer so klein erschien) und ihren taubengrauen flaumigen Muff an das Gesicht hielt, während sie hinter einem Zweiergespann schwarzer, mit einem blauen Netz bedeckter Pferde dahinsauste. Straße um Straße breitete sich aus – ohne irgendeine Anstrengung meinerseits; Klumpen kaffeebraunen Schnees schlugen gegen das Vorderteil des Schlittens. Jetzt hielt er an. Wassilij, der Lakai, steigt von seinem Trittbrett herunter und bindet dabei zugleich die Reisedecke aus Bärenfell los, und meine Mutter geht rasch auf einen Laden zu, dessen Namen und Auslage zu identifizieren ich keine Zeit habe, da gerade in diesem Augenblick mein Onkel, ihr Bruder, vorbeikommt und ihr einen Gruß zuruft (aber sie ist bereits verschwunden) und ich ihn unwillkürlich ein paar Schritte begleite, bemüht, das Gesicht des Herrn zu erkennen, mit dem er sich unterhält, während sie beide weitergehen; doch ich fange mich, kehre eilig um und gleite sozusagen flink in den Laden, wo meine Mutter schon zehn Rubel für einen ganz gewöhnlichen grünen Faber-Bleistift zahlt, welcher dann von zwei Gehilfen liebevoll in braunes Papier gewickelt und Wassilij ausgehändigt wird, der ihn bereits hinter meiner Mutter her zum Schlitten trägt, welcher durch anonyme Straßen zu unserem Haus zurückrast, das ihm jetzt entgegenkommt; doch hier unterbrach Iwonna Iwanowna, die mit Bouillon und Toast hereinkam, den kristallklaren Verlauf meines Hellsehens. Ich brauchte ihre Hilfe, um mich im Bett aufzusetzen. Sie gab dem Kissen einen kräftigen Schlag und stellte das Bett-Tablett (mit seinen Zwergfüßen und der ewig klebrigen Stelle unweit seiner südwestlichen Ecke) quer auf die lebendige Decke vor mir. Plötzlich öffnete sich die Tür, und Mutter kam herein, lächelnd und ein langes braunes Päckchen wie eine Hellebarde in der Hand. Zum Vorschein kam ein Faber-Bleistift, fast einen Meter lang und von entsprechender Dicke: ein Ausstellungsriese, der waagerecht als Reklame im Schaufenster gehangen und irgendwann einmal mein launenhaftes Verlangen geweckt hatte. Ich muss damals noch in jenem glückseligen Zustand gewesen sein, wo jede Merkwürdigkeit wie ein Halbgott zu uns herabsteigt, um sich unerkannt unter die sonntägliche Menge zu mischen, denn in jenem Augenblick empfand ich keine Verwunderung über das, was mir widerfahren war, sondern stellte für mich selber nur beiläufig fest, wie sehr ich mich hinsichtlich der Größe des Gegenstands geirrt hatte; doch später, als ich kräftiger geworden war und gewisse Ritzen mit Brot gestopft hatte, dachte ich mit abergläubischen Ängsten über meinen hellseherischen Anfall nach (den einzigen, den ich je erlebte), dessen ich mich so schämte, dass ich ihn selbst Tanja verheimlichte; und als wir bei meinem allerersten Ausgang zufällig einen entfernten Verwandten meiner Mutter, einen gewissen Gaidukow, trafen und er zu ihr sagte: «Dein Bruder und ich haben dich neulich in der Nähe von Treumann[21] gesehen», da brach ich vor Bestürzung beinahe in Tränen aus.

Inzwischen ist die Luft in den Gedichten wärmer geworden, und wir schicken uns an, aufs Land zurückzukehren, wohin wir in den Jahren bis zu meinem Schulbeginn (ich begann erst im Alter von zwölf) manchmal schon im April übersiedelten.

In Gräben liegt der Schnee vom Hang,

in Petersburger Frühlingstagen

mit Anemonen, Überschwang,

mit Schmetterlingen; doch was sagen

Vanessas mir, schon welk von Alter

und wintersiech. Ich brauche nicht

die schwächlichen Zitronenfalter,

durchflatternd Wälder, kahl und licht.

Vier Gazeflügel seh ich gleißen

am schönsten Spanner dieser Welt,

der auf dem Birkenstamm, dem weißen,

die Schwingen ausgebreitet hält.[22]

Dieses Gedicht ist dem Autor selber das liebste, aber er hat es nicht in die Sammlung aufgenommen, da wieder einmal das Thema mit dem des Vaters verknüpft ist und künstlerische Ökonomie ihm riet, dieses Thema nicht zu berühren, ehe der richtige Augenblick gekommen war. Stattdessen gab er Frühlingsimpressionen wieder, wie die erste Sinneswahrnehmung unmittelbar nach Verlassen des Bahnhofs: die Nachgiebigkeit des Bodens, seine dem Fuß so vertraute Nähe, und um den Kopf das völlig ungehinderte Fließen der Luft. Wetteifernd miteinander, ungestüm sich anpreisend, aufrecht auf ihren Wagenkästen stehend, die freie Hand schwenkend und ihren Lärm mit übertriebenen «Brrrs» verquickend, bestürmten die Droschkenkutscher die Frühankömmlinge. Ein wenig abseits, innen wie außen karmesinrot, erwartete uns ein Auto: Das Geschwindigkeitsdenken hatte sein Lenkrad bereits schräg gestellt (Meereskliffbäume werden verstehen, was ich meine), während sein sonstiges Aussehen – aus einem falschen Anstandsgefühl heraus, nehme ich an – noch immer eine unterwürfige Verbindung mit der Form einer Kutsche wahrte; doch wenn dies tatsächlich ein Mimikryversuch gewesen sein sollte, so wurde er völlig vereitelt durch das Dröhnen des Motors mit dem geöffneten Auspuffrohr, einem Dröhnen so wild, dass lange, ehe wir in Sicht kamen, ein Bauer auf einem aus entgegengesetzter Richtung kommenden Heuwagen absprang und versuchte, seinem Pferd einen Sack über den Kopf zu ziehen – worauf er und sein Wagen nicht selten im Graben landeten oder gar auf dem Feld, wo eine Minute später, wenn wir und unser Staub bereits vergessen waren, sich wieder kühl und sanft die ländliche Stille sammelte und nur eine winzige Lücke für den Gesang einer Feldlerche blieb.

Vielleicht werde ich eines Tages auf ausländischen Schuhsohlen und längst abgelaufenen Absätzen, mir selber – trotz der idiotischen Stofflichkeit der Isolatoren – wie ein Geist vorkommen, wenn ich wieder auf jenen Bahnhof heraustrete und ohne sichtbare Begleiter den Fußpfad entlang der Chaussee die etwa zehn Werst nach Leschino gehe.[23] Die Telegraphenmasten, einer nach dem anderen, werden summen, wenn ich mich ihnen nähere. Eine Krähe wird sich auf einem Findling niederlassen – sich niederlassen, um einen Flügel zu richten, der sich falsch zusammengefaltet hat. Wahrscheinlich wird es ein eher grauer Tag sein. Veränderungen im Aussehen der umgebenden Landschaft, die ich mir nicht vorstellen kann, sowie einige der ältesten Wahrzeichen, die ich irgendwie vergessen habe, werden mich abwechselnd grüßen und sich von Zeit zu Zeit sogar vermischen. Ich denke, beim Gehen werde ich, unisono mit den Masten, etwas wie ein Stöhnen von mir geben. Wenn ich zu den Stätten komme, wo ich aufgewachsen bin, und dies und jenes sehe – oder aber, infolge von Bränden, Umbauten, Holzfällerarbeiten oder der Nachlässigkeit der Natur weder dies noch jenes sehe (aber doch irgendetwas erkenne, was mir unbegrenzt und unerschütterlich treu geblieben ist, sei es auch nur, weil meine Augen am Ende aus dem gleichen Stoff gemacht sind wie das Grau, die Klarheit, die Feuchtigkeit jener Stätten), dann werde ich nach all der Erregung eine gewisse Leidenssättigung erfahren – vielleicht auf der Passstraße zu einer Art Glück, das zu kennen noch zu früh für mich ist (ich weiß nur, wenn ich es erreiche, dann mit der Feder in der Hand). Aber eines gibt es, was mich dort bestimmt nicht erwarten wird – das, was es tatsächlich lohnenswert machte, dieses ganze Exil zu kultivieren: meine Kindheit und die Früchte meiner Kindheit. Ihre Früchte – hier sind sie, heute, jetzt schon reif; während meine Kindheit selbst entrückt ist in eine Ferne, die noch entlegener ist als unser russischer Norden.

Der Autor hat eindrucksvolle Worte gefunden, um die Gefühle zu beschreiben, die er empfand, wenn er aufs Land kam. Wie viel Spaß, sagt er, macht es,

keine Mütze aufzusetzen,

die leichten Schuhe wechselnd nicht,

über den Ziegelstaub zu hetzen

im Garten, in das Frühlingslicht.

Im Alter von zehn kam ein neuer Zeitvertreib hinzu. Wir waren noch in der Stadt, als das Wunderding hereinrollte. Eine ganze Weile führte ich es an seinen Widderhörnern herum, von einem Zimmer ins andere; mit welch scheuer Anmut bewegte es sich über das Parkett, bis es sich auf einem Reißnagel selbst aufspießte! Verglichen mit meinem alten, klappernden und jämmerlich kleinen Dreirad, dessen Räder so dünn waren, dass es sogar im Sand der Gartenterrasse stecken blieb, war dem Neuankömmling eine himmlische Behändigkeit eigen. Der Dichter hat das in den folgenden Zeilen sehr gut zum Ausdruck gebracht:

Oh, erstes Rad, das wir bekamen:

sein Ruhm und Rang, sein Glanz, sein Wille;

«Pobeda» oder «Dux» am Rahmen[24];

der aufgepumpten Reifen Stille.

In der Allee: ein Schwanken, Wanken,

Lichtflecke auf den Händen gleißen,

wo schwarze Maulwurfshügel drohen,

sie könnten uns zu Boden reißen.

Schon morgen rast du über sie;

kein Traum zählt, den man stützen muss,

gestärkt durch diesen schlichten Schluss,

fällt und versagt dein Fahrrad nie.

Und tags darauf tauchen unweigerlich Gedanken an Fahrten im «Freilauf» auf – ein Wort, das ich bis heute nicht hören kann, ohne einen Streifen glatten, abschüssigen, feuchten Bodens dahinfliegen zu sehen, begleitet von einem kaum hörbaren Gemurmel von Gummi und einem unendlich leichten Lispeln von Stahl. Radeln und Reiten, Bootfahren und Baden, Tennis und Krocket; Picknicks unter Kiefern; die Lockung der Wassermühle und des Heubodens – das ist eine allgemeine Liste der Themen, die unseren Autor bewegen. Wie steht es nun mit der formalen Seite seiner Gedichte? Natürlich handelt es sich hier um Miniaturen, aber sie sind mit einer feinen, einzigartigen Meisterschaft ausgeführt, die jedes Haar deutlich hervortreten lässt, nicht etwa, weil alles mit einem übertrieben scharfen Pinselstrich gezeichnet wäre, sondern weil die Präsenz kleinster Züge dem Leser unwillkürlich durch die Integrität und Zuverlässigkeit eines Talents vermittelt wird, das für die Einhaltung aller Klauseln der künstlerischen Statuten seitens des Autors bürgt. Man kann darüber streiten, ob es sich lohnt, die Albumpoesie wieder aufleben zu lassen, aber man kann gewiss nicht leugnen, dass Godunow-Tscherdynzew innerhalb der Grenzen, die er sich gesetzt, sein metrisches Problem[25] korrekt gelöst hat.[26] Jedes seiner Gedichte schillert in bunten Farben. Wer immer das pittoreske Genre liebt, wird diesen kleinen Band zu würdigen wissen. Dem Blinden an der Kirchentür hätte er nichts zu sagen. Welch ein Sehvermögen hat der Autor! Wenn er früh am Morgen aufwachte, wusste er, wie der Tag sein würde, indem er auf einen Spalt im Fensterladen blickte, der

blau, blauer als die Bläue spielt,

so tief fast wie das Blau, das ich

in der Erinnerung behielt.

Und am Abend starrt er mit denselben zusammengekniffenen Augen auf das Feld, dessen eine Seite schon im Schatten liegt; auf der anderen, entfernteren indessen

wird das Feld

Vom Findlingsstein bis an den Waldrand

so grell noch wie am Tag erhellt.

Es will uns scheinen, es sei es in Wirklichkeit nicht die Literatur, sondern die Malerei, für die er von Kindheit an ausersehen war, und obschon wir über die gegenwärtige Situation des Autors nichts wissen, können wir uns desungeachtet deutlich einen Jungen mit Strohhut vorstellen, der mit seinen Aquarellutensilien höchst unbequem auf einer Gartenbank sitzt und die Welt malt, die ihm seine Vorfahren vermacht haben:

Waben aus Porzellan verwahren

den Honig, rot und grün und blau.

Der Stift im Auf- und Niederfahren

entwirft den Garten derb und rau.

Die Birken und der Seitenerker –

gefleckt vom Licht. So tauche ich

den Pinsel ein und dreh ihn stärker;

orangengelblich färbt er sich.

Dann im Pokal, zum Rand gefüllt,

Im Strahl geschliffnen Glases glüht,

o welche Farbe, lichtumhüllt,

o welche Freude dort erblüht!

Das also ist Godunow-Tscherdynzews kleiner Band. Fügen wir abschließend hinzu … Was noch? Was noch? Erfindungskraft, gib mir das Stichwort! Kann es wahr sein, dass all die hinreißend pulsierenden Dinge, von denen ich geträumt habe und vermittels meiner Gedichte noch immer träume, nicht in ihnen verloren gegangen sind und bemerkt wurden von dem Leser, dessen Kritik ich sehen werde, ehe der Tag vorüber ist? Kann es wirklich sein, dass er alles in ihnen verstanden hat, verstanden, dass sie außer dem guten alten «Pittoresken» auch einen besonderen Sinn haben (wo der Geist nach einem Rundgang durch das unbewusste Labyrinth seiner selbst mit einer neu gefundenen Musik zurückkehrt, die allein Gedichte zu dem macht, was sie eigentlich sein sollten)? Hat er sie, als er las, nicht nur als Worte gelesen, sondern als Raum zwischen Worten, so, wie man es tun sollte, wenn man Poesie liest? Oder hat er sie einfach überflogen, Gefallen an ihnen gefunden und sie gelobt, wobei er die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung ihrer Reihenfolge lenkte, ein modischer Zug in unserer Zeit, wo Zeit Mode ist: Wenn eine Sammlung mit einem Gedicht über einen «Verlorenen Ball» beginnt, muss es mit dem «Gefundenen Ball» enden.

Nur Bilder und Ikonen blieben

an ihrem Platz in jenem Jahr,

als unsre Kindheit schwand und etwas

im Haus geschah, das seltsam war:

Die Zimmer tauschten ohne Ende

rasch ihr gesamtes Mobiliar:

Wandschirme, Schränke, Gegenstände,

die ganze ungefüge Schar.

Und da war’s, dass auf nackten Dielen

unter dem Sofa, das dort stand,

lebendig und unsagbar teuer

er sich in einer Ecke fand.

Das Buch ist ansprechend aufgemacht.

 

Nachdem er dem Artikel den letzten Tropfen Süße abgepresst hatte, reckte sich Fjodor und stand von seiner Couch auf. Er war sehr hungrig. Die Zeiger seiner Uhr hatten vor kurzem angefangen, sich ungebührlich zu benehmen, indem sie sich hin und wieder plötzlich gegen den Uhrzeigersinn bewegten, sodass auf sie kein Verlass war; doch nach dem Licht zu urteilen, hatte der Tag, im Begriff, eine Reise anzutreten, sich mit seiner Familie zu einer Pause der Besinnung niedergesetzt. Als Fjodor ins Freie trat, fühlte er sich in feuchte Kälte getaucht (wie gut, dass ich den angezogen habe). Während er über seinen Gedichten träumte, hatte Regen die Straße von einem Ende zum andern lackiert. Der Möbelwagen war weg, und wo eben noch sein Traktor gestanden hatte, war neben dem Gehsteig ein vorwiegend violetter, wie eine Feder gekrümmter Regenbogen aus Öl zurückgeblieben. Ein Asphaltpapagei. Und wie war doch der Name der Speditionsfirma gewesen? Max Lux. Maximaler Luxus.

Habe ich die Schlüssel eingesteckt?, dachte Fjodor plötzlich. Er blieb stehen und fuhr mit der Hand in die Tasche seines Regenmantels. Dort fand er, gewichtig und beruhigend, eine rasselnde Handvoll. Als vor drei Jahren, während er hier noch als Student lebte, seine Mutter zu Tanja nach Paris gezogen war, hatte sie geschrieben, dass sie sich gar nicht daran gewöhnen könne, von den ständigen Fesseln befreit zu sein, die einen Berliner an das Türschloss ketten. Er stellte sich ihre Freude vor, wenn sie den Artikel über ihn läse, und für einen Augenblick spürte er mütterlichen Stolz auf sich selber; nicht nur das – am Rand seiner Augenlider brannte auch eine mütterliche Träne.

Doch was kümmert es mich, ob ich zu Lebzeiten Beachtung finde oder nicht, wenn ich nicht sicher bin, dass die Welt, staunend wie Ronsards alte Frau[27], bis zu ihrem letzten, dunkelsten Winter sich meiner erinnern wird? Und dennoch … Ich bin noch lange nicht dreißig und bin hier und heute bereits bekannt. Bekannt! Ich danke dir, du Vaterland … Eine lyrische Möglichkeit huschte vorüber, sang ganz nah an seinem Ohr. Ich danke dir für deine beste … Ich brauche die Endung ‹annt› nicht mehr: Der Reim hat Leben angefacht, aber der Reim selbst wird aufgegeben. Für diese Gabe, diesen Wahn … Ich nehme an, «Geste» wartet hinter den Kulissen. Hatte keine Zeit, in jener plötzlichen Erleuchtung meine dritte Zeile zu erkennen. Schade. Alles vorbei, habe mein Stichwort verpasst.

In einem russischen Lebensmittelladen, einer Art Wachsfigurenkabinett der Kochkunst der alten Heimat, kaufte er einige Piroggen (eine mit Fleisch, eine weitere mit Kohl, eine dritte mit Tapioka, eine vierte mit Reis, eine fünfte … eine fünfte konnte er sich nicht leisten) und verzehrte sie rasch auf einer feuchten Bank in einem kleinen Park.